Um 1800 hieß das neueste modische Kleinmöbel in Frankreich »Psyche«. In diesem waagerechten Kippspiegel konnte man sich von Kopf bis Fuß betrachten. Psyche aber bedeutet Seele! Eine Chance zu einer neuen Identität unter Einbeziehung des ganzen Körpers? Dazu war es noch zu früh. Den überwiegend gläubigen, wenn nicht gar frommen Frauen des 19. Jahrhunderts war beigebracht worden, der Leib sei der Seele Feind und Haupthindernis auf dem Weg zur Glückseligkeit. Außerdem erinnerte sie der Körper mit seinen Gebrechen daran, wie sehr er durch Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit zur Erhaltung der Art entfremdet worden war. Wie hätten sie sich mit ihrem Leib identifizieren können?
Mittelpunkt der weiblichen Identität war die Seele. Auch hierin waren sich säkulare Gesellschaft und Kirchen einig. Anthropologen wie Ärzte lehrten, Empfindlichkeit, Gefühle und Triebe seien bei Frauen überreich entwickelt und eine unverzichtbare Quelle von Eigenschaften, die für das reibungslose Funktionieren der Gesellschaft sorgen. Der Herz-Jesu-Kult nahm in katholischen Ländern krasse Formen an. Die entsprechende Heiligenmalerei zeigt einen aufgerissenen Brustkorb, bei dem auch im Herzen eine tiefe Wunde klafft: Symbole einer unmittelbaren und innigen Gemeinsamkeit oder Kommunion, die nicht durch Verstand oder Wissenschaft, sondern über das Wunder der Liebe zuteil wird.[1]
Durch die Fortschritte der Hygiene indes wurde das bisher unbestimmte und bruchstückhafte Bild des Körpers schärfer; er erhielt mehr Aufmerksamkeit und mit dem Geburtenrückgang auch andere Aufgaben. Zugleich drang wissenschaftliche Kultur in die Bildung der Frauen vor und überlagerte mehr und mehr die frühere, vorrangig affektive Kultur. Allmählich und unauffällig, aber unwiderruflich löste sich das Frauenbewußtsein aus seiner traditionellen Verankerung.
Der Leib
Zwar wurde über den Leib so gut wie nicht geredet,[2] doch stand Schönheit schon bald nach der Krise der Revolution wieder hoch im Kurs. Schönheit, die christlichen Moralisten verdächtig gewesen war, wurde vom Naturalismus der Aufklärung rehabilitiert. Schönheit sei nicht nur nützlich, um den Mann zur Zeugung zu veranlassen, sondern
die besondere und legitime Waffe des »schwachen Geschlechts«, das seine Schwäche ausgleichen könne, indem es das starke durch Schönheit bezähme. Diese Vorstellung hatte die Betonung der Andersartigkeit zur Voraussetzung. Der sexuelle Dimorphismus galt ohne Rücksicht auf die jeweils individuelle Morphologie als verbindliche Norm.
Jedes Merkmal von Zartheit und Empfindsamkeit wurde hoch bewertet: Pfirsichhaut mit feinen Äderchen, schwellende Formen, um Kleinkinder zu wiegen oder Kranke zu trösten, zierlicher Knochenbau, kleine Hände und Füße; aber auch alles, was auf natürliche Gebärfähigkeit hindeutete, ausladende Hüften, praller Busen, üppige Rundungen.
Soziale Definition: Die neuen Aufgaben der Schönheit
Jede Ähnlichkeit mit dem Mann machte aus der Frau eine angsteinflößende Anomalie. Das könnte den Dauererfolg des Korsetts erklären, das um 1810 erneut aufkam. Nicht mehr ganz so hochgeschlossen und atembeklemmend wie früher das Fischbeinkorsett, erfüllte es nun eine ästhetische Funktion: Betonen der Taille, Herauswölben von Brust und Gesäß. Mit dem Korsett hatte die Frau zudem ihre Formen und Posen immer so in der Gewalt, »wie sich's gehörte«; es bot der körperlichen und moralischen Würde einen Halt. Sein anhaltender Gebrauch ließ den modischen Wandel der weiblichen Formen durchaus zu, wie zwei Stars von internationalem Rang belegen. Um die Wende zum 19. Jahrhundert wurde die schlanke, blasse und keusche Juliette Recamier, an seinem Ende die üppige Sinnlichkeit der Gräfin de Castiglione gefeiert.
Die Romantik sehnte sich nach der körperlosen Frau. Die Ballerinen gaben mit ihrem Können dieser Sehnsucht Ausdruck. Mit der Erfindung des »Spitzentanzes« wurden Silhouetten gestreckt und Sprünge von ätherischer Leichtigkeit möglich. In Balletten wie Les Sylphides (1832) oder Giselle (1841) überwanden Frauen für kurze Zeit die Schwerkraft der Sterblichen. Romanheldinnen mußten grazil und anfällig sein, ihr Antlitz als Spiegel der Seele innere Stürme verraten. Das romantische Ich schmachtete in träger Blässe, möglichst überhöht durch schwarzes Haar, schwarzumrandete Augen und eine dicke Reispuderschicht.
Um die Jahrhundertmitte kam die gute Gesundheit wieder zu ihrem Recht. Ein üppiger Busen wurde abendlich offenherzig und milchweiß in Dekolletes ausgestellt. Um Männerblicken ein aufregendes Hohlkreuz zu bieten, zwängten sich die Frauen in Schnürleibchen, um Brust und Hinterteil herauszustrecken: Die Kreuzbeinsenkung wurde zur typisch weiblichen Fehlbildung. Auch als vornehme Blässe wieder außer Mode kam, galt Hellhäutigkeit weiterhin als Schönheitskriterium.
Die Damen waren bemüht, sich einen perlmutterfarbenen Teint zu bewahren und so auszusehen, als kämen sie wenig nach draußen und als liebten sie die Häuslichkeit. Neben schwellenden Rundungen und weißer Haut galt auch mattglänzende Haarfülle als Unterpfand der Schönheit. Die Dame wickelte lange »Korkenzieherlocken« sinnend um den Zeigefinger, trug ausladende Schleifen, breite Stirnbänder und schwere Dutts. Üppige Lockenpracht wurde mit falschen Haarteilen vorgetäuscht. Diese Mode verhalf armen Frauen vom Lande zu einem Nebenverdienst, wenn sie das grausame Opfer brachten, ihr Haupthaar zu veräußern, was durchaus nicht gern gesehen wurde, schon gar nicht von ihren Ehemännern. Aus Angst vor Erkältung wurden die Haare nie gewaschen, nur ausgiebig gebürstet. Der Geruch sollte angeblich die Männer verwirren. Doch wurden die Nasen allmählich empfindlicher. Gerüche des Frauenkörpers, lange als Aphrodisiakum betrachtet (schon wieder Michelet!), wurden allmählich - vielleicht wegen der drangvollen Enge in den Städten - eher als anstößig empfunden, vielleicht auch aufgrund zunehmender Raffinesse in Liebesdingen. Der Verbrauch an Kölnischwasser nahm im Laufe des Jahrhunderts stetig zu.
Seit der Revolution war mit der Abschaffung der Privilegien die Männerbekleidung streng und nüchtern geworden. Ehrgeizige Männer stellten ihren Erfolg und ihre Ansprüche nun an den Körpern von Frauen zur Schau, an dem Putz und Geschmeide von Gattinnen oder Mätressen. Womöglich niemals zuvor in der Geschichte hatten die Damen so viel Stoff zur Kleidung gebraucht wie jetzt. Die Kleider, im ersten französischen Kaiserreich noch enganliegend, schlauchartig und hochbusig, wurden immer bauschiger, bis hin zur Krinoline (1854-1868). Ein Reifrock konnte leicht drei Meter Durchmesser erreichen und dreißig Meter Stoff verbrauchen. Als dergestalt stattlich ausgerüstetes Objekt der Verehrung verwies Madame ihre gesamte Umgebung auf Distanz; sie konnte sich nur mit Mühe fortbewegen und hinsetzen, und aufs stille Örtchen mußte ihr eine Zofe helfen. Dieser monumentalen Kleidung folgten Schnürleibchen, Schleppen, Podexpolster mit anzüglich eleganter Betonung der weiblichen Formen. Taillenhöhe, Ärmelform und Ausschnitt änderten sich mit jeder Saison. Die Mode produzierte das Nebensächliche in immer schnellerem Takt, um eine Demokratisierung des Sich-Kleidens abzuwehren. Allerdings wurden die feinen Damen in dieser Konkurrenz rasch von der Halbwelt überflügelt. Daraufhin wurde dezente Zurückhaltung zum Kennzeichen wahrer Eleganz und echter Vornehmheit.
Zu bedeutenden Neuerungen kam es, als Männer sich dem Geschäft mit der Mode widmeten. In Frankreich war im ersten Kaiserreich der Damenschneider Leroy tonangebend. Doch zum eigentlichen Vater der Haute Couture entwickelte sich Worth; er war der Erfinder von Modeschauen und Mannequins; er regte die Hersteller zur Produktion von changierenden Geweben und graziösen Ornamenten an, die eine Toilette unverwechselbar persönlich machten. Seine märchenhaften Kreationen waren ebenso berühmt-berüchtigt wie seine atemberaubenden Rechnungen und seine Arroganz: Damen von Stand gaben sich bei ihm die Klinke in die Hand.
Für selbständige Schneiderinnen eröffneten sich gute Zeiten. Ihre Zahl wuchs schnell. Gefahr für ihr Gewerbe drohte ihnen nicht von den Modekönigen, sondern von der Konfektion, die alle Bekleidungsgewohnheiten revolutionierte. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts war es üblich, daß Kleider und Putzartikel von der Ober- an die Mittel- und Unterschicht weitergereicht wurden: Kleiderhändlerinnen, diese häufig als Verführerinnen und Kupplerinnen verdächtigten marchandes a la toilette, kauften abgelegte Röcke, Mäntelchen, Hauben, Nachthemden auf, um sie an putzsüchtige junge Frauen weiterzuverkaufen. Nun aber begannen neugegründete Kaufhäuser Kleidung von der Stange zu verkaufen. Die geräumigen, hellen Kaufhäuser mit Auslagen, die dazu aufforderten, die Waren zu besehen, zu betasten und anzuprobieren, boten den Frauen als Einkaufsparadies einen Tummelplatz für Augen, Finger und Sehnsüchte, einen neuen Ort des Glücks. Das Einkaufen mit seinen Überraschungen und Versuchungen wurde noch aufregender, als die Preise fielen. Frauen aus dem Mittelstand und selbst Arbeiterinnen erhielten Zugang zu der bis dahin unerreichbaren Euphorie des Kleiderauswählens. Wer früher zehn Jahre lang ein graues oder blaues Kleid aus Zwillich getragen hatte, ohne es zu waschen, konnte sich jetzt Jahr für Jahr ein paar Kattunkleidchen in verschiedenen Farben leisten!
Diese ansteckende Lust verbreitete sich allerdings nicht überall. Das platte Land blieb lange von städtischen Moden so gut wie verschont. Zwar setzte sich nach 1850 auch hier die Mode durch, doch sie bereicherte zunächst nur die landestypischen Trachten. Am malerischsten entwickelten sich diese in Holland, im Schwarzwald, im Voralpenland, im Elsaß, in der Bretagne und in Südfrankreich um Arles. Dort äußerten sich Sitte und Brauchtum weiterhin in einer komplexen Formensprache: Zuschnitt, Farbe, Größe, Kopfputz, Schultertuch, Schürze, Rock hatten jeweils eine festumrissene Bedeutung. Nach 1880 verschwanden die Regionaltrachten plötzlich in nur wenigen Jahren bzw. wurden nun allein folkloristisch gepflegt.
Trachten von Glaubensgemeinschaften hielten sich länger.[3] Die Sekten, deren Zahl damals ungemein zunahm, entwickelten eine erstaunliche Bekleidungsvielfalt. Unglaubliche Sorgfalt wurde auf die Auswahl von Häubchen, Schleier, Stirnband, Kragen, Skapulier, Ärmel und Manschetten, Farben und Stoffen verwendet. Hier wurde Kleidung zum
mystischen Symbol, jedes Einzelteil tat Buße kund. Zu einer Zeit, in der viele Frauen Analphabetinnen waren, übermittelte die Kleidung ohne Worte unmißverständliche Lehren über den Frauenleib, seine Pflichten und seine Bestimmung aus.
Die Kleidung sprach über die Unschuld von Mädchen. Weiß kleidete sich fortan die Braut, zumindest in der Stadt; weiß war das Kleid für die Erstkommunion; weiß auch der durchsichtige Musselin des ersten Ballkleids als Schleier züchtiger Jungfräulichkeit. Die ledige Jungfrau war Lilie, weiße Taube: Ihre Jugendfrische gemahnte an Frühling. Luxus durfte sie nicht treiben: Ihr Los war Bescheidenheit. Doch wies ihr die Aufgeputztheit der Mutter und Gattin, welcher Zuwachs an schmückender Schönheit ihr künftig zuteil werden würde.[4] Die Kleidung betonte auch die Stadien des Wachstums und der Persönlichkeitsbildung. Der Rocksaum einer jungen Frau ging bis zum Boden, und sie war kunstgerecht frisiert. Das heranwachsende Mädchen, das gerade in der Pubertät war, steckte das geflochtene Haar zu Schnecken fest oder befestigte es unter einem Haarnetz; der Rocksaum reichte erst bis zu den Knöcheln. Kleine Mädchen im Kindergartenalter trugen das Haar offen; das Röckchen war so kurz, daß die Schnürstiefel und sogar das Spitzenhöschen vorlugten. Beachtenswert, wie einprägsam kleine Mädchen in den Werken der Gräfin de Segur und Lewis Carrolls geschildert werden. Schon die vierjährige Sophie begehrt auf, und Alice tritt durch den Spiegel hindurch, um das Wunderland ganz allein zu entdecken.[5]
Lange und kurze Hosen machten eine eigenartige Entwicklung durch. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts für Frauen generell verpönt, wurden sie an seinem Ende zur Unterwäsche. Zwar ließen sich manche Frauen durch Verbote nicht von Männerkleidung abbringen. Manche trugen sie aus Bequemlichkeit - so etwa Madame Marbouty, die sich 1836 als Mann verkleidete, um Balzac nach Turin zu begleiten -, andere als Zeichen der Emanzipation - so etwa George Sand nach der
Trennung von ihrem Mann oder 1848 die »Vesuvierinnen«. Doch das waren Ausnahmen. Unterdessen setzte sich die kurze Hose als Unterwäsche durch. Erst wurde sie aus Gründen der Sittlichkeit den Operntänzerinnen vorgeschrieben (so entstand das Tutu), dann den beinewerfenden Damen vom Variete. Prostituierte bedienten sich um 1820 erstmals der Hose und hatten damit durchschlagenden Erfolg. Schließlich griffen auch anständige Frauen zur Unterhose, als es unter den Reifen der Krinoline mit ihrer weiten Abspreizung von Röcken und Unterröcken in der Körperzone zwischen Schnürleibchen und Strumpfbändern unangenehm kalt wurde. Aber war es zum Wärmen nötig, ein Ding mit zwei Hosenbeinen anzuziehen und so den Zugang zum Geschlecht zu verlegen? Dieser Sieg der Hose in der Frauenkleidung hatte vor allem symbolische Bedeutung, denn der »Kampf um die Hose« war ein uraltes, höchst populäres und immer erneut bearbeitetes Thema. Frauenunterhosen wurden sowohl als »Unentbehrliche« wie auch als »Unaussprechliche« umschrieben. Es galt als unschicklich, das zu bezeichnen, woran sie erinnerte, war es doch verpönt, Schenkel und Beine in voller Länge zu zeigen. Die Viktorianische Prüderie ging so weit, selbst Tisch- und Stuhlbeine zu umhäkeln. Es war sicher kein Zufall, daß der berühmte französische Cancan der Belle Epoque als trutzige Äußerung von Gegenkultur nichts als heftig hochgeworfene Beine, Beine, Beine zeigte.
Damals wurde eine Unzahl Dessous für Frauen erfunden: spitzenbesetzte Unterhöschen, Korsettschoner, Rundspencer, Schichtunterröcke, Leibchen, Brusttücher und anderes mehr. Die Mechanisierung der Textilindustrie, der Preisverfall bei Baumwollstoffen erklären dies nur zum Teil. Dieser fast neurotische Drang zu verdecken, zu verhüllen, zu verbergen drückte womöglich die Sehnsucht nach neuen Spielregeln in Liebessachen aus, den Versuch, in einer langsameren, sanfteren, zartfühlenderen Annäherung eine neue Balance zwischen Scham und Erotik zu finden. Spitzenunterröcke aber blieben ein unerschwinglicher Luxus für die allermeisten Frauen, von denen viele weiterhin nur Hemdchen besaßen, sich Unterröcke aus abgetragenen Kleidern nähten und bis nach dem Ersten Weltkrieg keine Unterhosen
kannten. Die Mädchen im Waisenhaus Bon Pasteur trugen noch 1903 keinerlei Unterwäsche: Sie erhielten nur eine grobe Kittelschürze, und diese kam, selbst wenn sie Flecken von der »Unpäßlichkeit« aufwies, nur alle drei Monate in die Wäsche.
Auch spitzenbesetzte Kopfkissen, kunstfertig bestickte Bettwäsche betonten die Schönheit der Dame. Darin erlebte sie hilflos die Hochzeitsnacht, darin kamen die Kinder zur Welt. Leibwäsche und Aussteuerwäsche dienten den Pflichten der Frau im Bett, am Tage und bei Tisch. Dieses war der Wert ihrer Aussteuer, ihr persönlicher Besitz, ihr unveräußerlicher Reichtum. Die Aussteuer zu nähen und zu besticken war eine wichtige Etappe der Erziehung. Mit dem Nähen erlernte das junge Mädchen geduldiges Arbeiten und Stillsitzen sowie ausgiebiges Sinnieren über den eigenen Leib, seine Körperöffnungen und deren Funktion. Von der Pubertät bis zur Hochzeit »zeichnete« die junge Frau
ihre Wäsche, indem sie ihre Initialen mit immer verschlungeneren Verzierungen hineinstickte. Das Ganze, liebevoll gestapelt, später kaum benutzt, bewahrte die Erinnerung an die Jungfernjahre wie ein Symbol einstiger Unabhängigkeit. Ein Kult um die Aussteuer wurde vor allem in Südeuropa (Südfrankreich, Spanien, Italien) getrieben, wo die Frauen noch stärker unterdrückt waren. Die Arbeit an der Aussteuer ließe sich durchaus auch als naive und eigensinnige Äußerungsform eines unausrottbaren Narzißmus lesen.[6]
Weißnäherin, Korsettmacherin, Wäscherin verstanden, teilten, unterstützten diesen Hang zu schöner und makelloser Feinwäsche. Von Berufs wegen erhielten sie Einblick in die Leibes- und Liebessachen ihrer Kundinnen. In viele Geheimnisse eingeweiht, sorgten sie über Standesgrenzen hinweg für diskrete Komplizenschaft unter Frauen. Die Zahl dieser Hausarbeitskräfte war Legion; sie hatten oft ihr gutes Auskommen und waren stolz auf ihre Arbeit, wie Gervaise in L'Assommoir.
An der Schwelle zum 20. Jahrhundert wurde das Erscheinungsbild des weiblichen Körpers einem radikalen Wandel unterworfen. Der Modeschöpfer Poiret riskierte um 1905 den Bannfluch gegen das Korsett: Er entwarf fließende und wallende Gewänder von nüchterner Eleganz, die sich eng an eine schlanke Figur schmiegten. Zur selben Zeit widersetzte sich die amerikanische Tänzerin Isadora Duncan der Mode der Tuturöckchen und Ballettschuhe. Sie tanzte barfuß und in
einer dem Vorbild des klassischen Griechenlands nachempfundenen Tunika. Sie setzte sich rasch durch, und ihre rauschenden Erfolge offenbaren nicht zuletzt den unter Frauen verbreiteten Wunsch nach Emanzipation.
Als die aufgeblähten Hüllen fielen, die den Frauenkörper verunstaltet hatten, änderte sich nicht nur eine Mode. Es war eine Kulturrevolution. Manche Autoren sahen darin den »Bankrott der Schönheit«. Der klarsichtigere Emile Zola schrieb: »...die Idee der Schönheit wandelt sich. Ihr verlegt sie nun in die Unfruchtbarkeit der Frau, in die lange und schlanke Gestalt, in schmale Hüften.«[77] Das ganze Jahrhundert hatte sich blindlings auf diesen Wandel zubewegt. Doch in dem Maße, wie die Fruchtbarkeit der Frauen abnahm, wurden die Lebensspenderinnen mit um so größerer Aufmerksamkeit bedacht.
Biologische Definition und Medikalisierung
»Schwangere müssen zum Gegenstand aktiver Fürsorge, religiöser Verehrung, eines regelrechten Kultes werden«, schrieb Doktor Marc 1816.[8] Diese Fürsorge galt vor allem dem Ungeborenen, kam aber auch der Frau zugute, die das Ungeborene im Leibe trug. Marc schlug Maßnahmen vor. die viel über das Los der Frauen aussagen, die er zu schützen empfahl. Er wollte sie vor der Gewalt bewahren, die in der Unterschicht herrschte: Zahlreiche Fehlgeburten seien auf brutale Attacken volltrunkener Ehemänner zurückzuführen. Er wollte schwangere Frauen von schwerer körperlicher Arbeit, die er in erschütternden Einzelheiten beschrieb, entlasten. Seine Ideen fanden allmählich Verbreitung. Für die betroffenen Frauen hatten sie nicht nur angenehme Folgen. Marc und seinesgleichen beanspruchten, Frauen auch vor sich selbst zu schützen. Sie versuchten, peinlich genau deren Lebenswandel zu überwachen und ausgelassene Vergnügungen auf Festen einzuschränken: Schaukeln und Walzer seien strikt zu verbieten. Der Paternalismus der Ärzte lief darauf hinaus, Schwangerschaft zur überwachten Askese zu machen. Dieses Programm eilte seiner Zeit weit voraus. Erst gegen Ende des Jahrhunderts kam es im Rahmen der Arbeitsschutzgesetze zum Mutterschutz.
Vorher aber wurde Schwangerschaft unter der viktorianischen Prüderie zum Tabu: Wer in »anderen Umständen« war, ging selten aus und zeigte sich so wenig wie möglich. Ein ähnliches Tabu lag über der Geburt: im Elsaß brachte der Klapperstorch das Kind, andernorts wuchs es auf einem Acker im Kohlkopf heran, oder die Hebamme hatte es mitgebracht. Vordergründig ging es darum, Kindern und jungen Mädchen nicht die Unschuld zu nehmen; aber ohne Zweifel waren diese Ammenmärchen auch ein Versuch, das Animalische im Menschen zu verleugnen oder zumindest zu vertuschen. Damals waren schwangere Prostituierte bei Bordellbesuchern besonders begehrt.
Die Medikalisierung der Geburt begann im 18. Jahrhundert und setzte sich im 19. Jahrhundert massiv durch. Auslöser war eine Art Geltungssucht. Weil ein Arzt für seine Dienste drei- oder viermal mehr verlangte als eine Hebamme, war es ein Zeichen von Wohlstand, wenn er gerufen wurde. Gebärende in bescheideneren Verhältnissen blieben den Hebammen treu, die Ärmsten gingen ins Spital. Daß sich die Frauen je nach Ort verschieden verhielten, hatte häufig wirtschaftliche Gründe. In den Armenvierteln des Londoner East End ließ 1892 die Hälfte aller gebärenden Frauen eine Hebamme kommen; im West End dagegen waren es nur zwei Prozent.[9] In Boston scheint bereits 1820 fast die
gesamte Geburtshilfe in Männerhänden gelegen zu haben.[10]
Vor 1870 scheint das Eingreifen der Ärzte nirgendwo die Sterblichkeit verringert zu haben. In Rouen, wo die Medikalisierung weit fortgeschritten war, aber zugleich viele Arme in Elendsquartieren hausten, lag die Müttersterblichkeit durchgehend bei etwa 11 Prozent. Im amerikanischen Bundesstaat Utah dagegen, wo noch die Matronen mit ihrer praktischen Erfahrung vorherrschten, lag sie bei 6 Prozent: Die Menschen lebten dort in einem offenen Gebiet am Fuße eines großartigen Gebirges, also in einem wahrhaftig seuchenarmen Paradies.[11]
Auch weist nichts darauf hin, daß Ärzte die Schmerzen hätten lindern können. Die Anästhesie, mit der seit Ende der 40er Jahre auf der Basis von Äther oder Chloroform experimentiert wurde, war ungeachtet der christlichen Lehre, die den Evastöchtern gebietet, ihre Kinder unter Schmerzen zu gebären, fast augenblicklich heiß begehrt. Königin Viktoria verlangte nach Chloroform, als die 1853 ihr achtes Kind zur Welt brachte. Doch die Ärzte setzten wegen möglicher Komplikationen diese Methode nur zögernd ein. Die französische Kaiserin Eugenie, die 1856 eine sehr schmerzhafte und komplizierte Geburt hatte, lehnte diese Erleichterung ab. Sie hat nach dieser Geburt kein weiteres Kind geboren. Hebammen warfen den Ärzten vor, sie hätten zu wenig Geduld und griffen voreilig nach der Zange.
Große Fortschritte in der Geburtshilfe gab es nicht bei Hausgeburten, sondern in Krankenhäusern. Diese aber wurden nur von den Ärmsten der Armen unter den Frauen aufgesucht. In den Augen der Öffentlichkeit war es nach wie vor unvorstellbar und eine Schande, wenn ein Kind nicht im eigenen Heim zur Welt kam. Seit Ende des 18. Jahrhunderts kam es vermehrt zu Anstrengungen, Schwangere vom Rande der Gesellschaft besser zu versorgen. Bestenfalls geschah dieses durch neuartige Einrichtungen, wie die 1794 eröffnete Geburtsklinik Port Royal in Paris, schlechtestenfalls wurden einer oder mehrere Kreißsäle von einem Hospiz abgetrennt. Die seit den 1850er Jahren in diesen Einrichtungen recht zuverlässig geführten Statistiken belegen, daß die Sterblichkeit mit 10-20 Prozent hier immer noch sehr hoch war, was
nur zum Teil daher rührte, daß die dort aufgenommenen Mütter Rachitis oder Tuberkulose hatten und sich in einem sehr schlechten Allgemeinzustand befanden. Hauptsächliche Todesursache aber war das Kindbettfieber. Dieses wurde vom Geburtshelfer selbst und seinen Studenten übertragen, weil sie ohne desinfizierende Vorkehrungen geburtsklinische Untersuchungen unmittelbar nach Autopsien vornahmen. Der österreichisch-ungarische Arzt Ignaz Semmelweiss hatte schon in den 40er Jahren vermutet, daß dieses die Infektionsquelle sei, und die Müttersterblichkeit in seiner eigenen Klinik dadurch drastisch gesenkt, daß er seine Untergebenen zwang, sich mit Karbolseife gründlich die Hände zu reinigen. In Frankreich wurde Tarnier zum vergleichbaren Pionier. Wirksam aber wurden diese Fortschritte erst, nachdem die Grundsätze der Antisepsis formuliert worden waren. Zwischen 1870 und 1890 akzeptierten alle Krankenanstalten in Europa und Amerika diese neuen Verhaltensregeln. Um 1900 fiel die Müttersterblichkeit auf etwa zwei Prozent. Erst jetzt war eine Geburt in der Klinik weniger riskant als eine Hausgeburt. Die Kombination von Anästhesie und Antisepsis und die Fortschritte in der Technik des Wundvernähens ermöglichten eine kühnere Chirurgie. Der Kaiserschnitt wurde an der Schwelle zum 20. Jahrhundert geläufige Praxis.
Während dieser Zeit verloren die Hebammen ihre Kundschaft. Ihre freiberufliche Tätigkeit rentierte sich nicht mehr. Hebammen arbeiteten zunehmend als Angestellte in Krankenhäusern und Privatkliniken. Dort mußten sie als Untergebene den Anweisungen der damals allmächtigen Ärzte Folge leisten und konnten so den Gebärenden nicht mehr uneingeschränkt beistehen. Eine traditionelle Form der Frauensolidarität zerbrach, und die Frauen büßten in der Reproduktion jegliche Autonomie ein. Schamgrenzen fielen schnell, was deutlich macht, daß dies nicht »naturbedingte«, sondern kulturelle Grenzen waren. Von nun an war der natürliche Beschützer einer Frau im Kindbett nicht mehr der Ehemann, sondern der Arzt.
Die Hebammen waren nicht die einzigen Opfer des medizinischen Fortschritts. Auch andere traditionelle Pflegekräfte mußten erleben, wie ihr Wissen und ihre praktische Erfahrung entwertet wurden. Nonnen, Krankenpflegerinnen, Naturheilkundige wurden seit der Ära Louis Pasteur den Ärzten untergeordnet und von diesen regelrecht domestiziert.
Einzig in den angelsächsischen Ländern konnten die nurses dank der Energie von Frauen wie Florence Nightingale eine gewisse Eigenständigkeit bewahren. Zwar kehrten Frauen nach einiger Zeit durch den Vordereingang wieder in die medizinische Praxis zurück, indem viele von ihnen Ärztinnen wurden. Doch wurde ihnen der Zugang zum Beruf erst spät und nur allmählich gewährt. Von den männlichen Berufskollegen lange Zeit mißtrauisch beäugt, verhielten sie sich wie
gefügige Schülerinnen, um eher akzeptiert zu werden; sie wagten es nicht, Anspruch auf verantwortliche und gestaltungsfähige Posten zu erheben. Bis auf einige wenige Ausnahmen[12] waren sie daher nicht
imstande, der Frauenmedizin entscheidende Impulse zu geben.
Die Frau des 19. Jahrhunderts galt als ewig Kranke. Die Medizin der Aufklärung konzipierte die Phasen eines Frauenlebens als Abfolge grauenhafter Krisen, selbst wenn keinerlei Krankheitsbild vorlag. Neben Schwangerschaft und Niederkunft wurden auch Pubertät und Wechseljahre als mehr oder minder gefahrvolle Prüfungen dargestellt, und selbst die Menstruation erschütterte als angebliche Verletzung der Eierstöcke monatlich das nervliche Gleichgewicht. Alle Statistiken belegen in der Tat, daß Frauen im 19. Jahrhundert eine höhere Morbidität und Mortalität hatten als Männer.[13] Die öffentliche Meinung und viele Ärzte führten dieses auf die »schwächliche weibliche Natur« zurück; diese biologische »Ursache« erschien als gottgegeben und allgemeingültig und drohte einen unüberwindlichen Fatalismus zu nähren. In Wirklichkeit aber wurden Mädchen und Frauen krank von den Lebensbedingungen, die ihnen auferlegt waren; doch nur wenige Ärzte waren damals imstande, soziale Faktoren in Rechnung zu stellen.
»Mädchen sind der anfälligste Teil der Menschheit«, behauptete Doktor Virey 1817.[14] Eine überhöhte Mädchensterblichkeit war in der Tat im ganzen Abendland vom fünften Lebensjahr an festzustellen. Bereits im Laufe des 18. Jahrhunderts sichtbar, verschärfte sie sich zwischen 1840 und 1860, und zwar offenbar am stärksten in Frankreich und Belgien.[15]
Die mörderischste Krankheit war die »Schwindsucht«. In Belgien erlagen ihr 20 Prozent der Mädchen zwischen dem siebten und dem fünfzehnten und 40 Prozent zwischen dem fünfzehnten und dem zwanzigsten Lebensjahr. Im allgemeinen erfaßte die Schwindsucht doppelt soviele Mädchen wie Jungen. Die Ärzte, die die Familien der Reichen betreuten, konnten nicht begreifen, warum diese verwöhnten und verzärtelten jungen Mädchen so anfällig waren. Die Zusammenballung in den Städten steigerte ohne Frage die Ansteckungsgefahr. Doch die besten Ärzte, so der große Laennec, zählten zu den Ursachen auch Kummer, Enttäuschung und Seelenschmerz. Der Fall der Schwestern Bronte scheint diesen Erklärungsansatz zu untermauern. Ist es Zufall, daß die Tuberkulose zur romantischen Krankheit par excellence wurde? Kummer und Enttäuschung, moralischer Verfall und Lebensüberdruß waren selbst wiederum Folgen allgemeiner Bedingungen. Mädchen waren schon von Geburt an weniger willkommen und wurden bewußt oder unbewußt zurückgesetzt. Nach einem auch von Michelet bekräftigten hartnäckigen Vorurteil durften sie kein Fleisch essen, vor allem kein rotes. Nach den Grundsätzen einer sittsamen Erziehung sollten die Fräuleins in draperieverhangenen Wohnungen ohne Luft, Sonne und Körperbewegung verharren und sich über Nadelarbeiten beugen. In bescheideneren Verhältnissen mußten sie schon im zartesten Alter kräftezehrende Hausarbeit leisten oder während überlanger Arbeitstage auf dem Feld, in der Fabrik oder in der Werkstatt arbeiten.
Die Tuberkulose zählte ebenfalls zu den Hauptursachen der sogenannten Müttersterblichkeit, die häufig eine natürliche Folge der Mädchenerziehung war. Gleiches läßt sich über die Rachitis sagen, eine andere und damals häufige Folge von Mangelernährung und körperlicher Verelendung. Unterernährte Frauen hatten ein verengtes Becken, und das erschwerte das Gebären. Aber auch die Fräuleins der Oberschicht verkrümmten sich das Rückgrat (Skoliose, Kyphose, Lordose fanden Eingang in den medizinischen Wortschatz) und hatten dann unter Geburtskomplikationen zu leiden.
Weitere signifikante Krankheiten zeigten sich an den Geschlechtsorganen. Die Ärzte wußten kaum Bescheid über deren Umfang, da sie sich nicht trauten, ihre schamhaften Patientinnen zu untersuchen. Viele glaubten, der Schanker sei unvermeidlich und allgemein verbreitet. Zwar war ihnen bekannt, daß venerische Krankheiten ansteckend sind, doch das scherte sie kaum: »Ehegatten teilen sich ihre Syphilis wie ihr täglich Brot.«[16] Die keusche Gattin, gemeinhin das Opfer dieses bereitwilligen »Teilens«, wurde häufig um des häuslichen Friedens willen über ihr Los im unklaren gelassen. Der Arzt behandelte sie nur mit Genehmigung des Ehemanns, denn die Behandlung hätte ihr alles verraten. Wir werden nie erfahren, wieviele junge Frauen, die um ihrer Mitgift willen geehelicht wurden, Opfer eines solchen Männerkomplotts wurden. Nicht alle ließen sich täuschen oder resignierten. Christina Trivulzio, Fürstin Belgiojoso von reichem lombardischem Adel, setzte sich ebenso wie die Stickerin Suzanne Voilquin in Paris offensiv
mit dieser Heimsuchung auseinander, die ihr Leben umstülpte. Beide setzten eine einvernehmliche Trennung von dem Gatten durch, der sie angesteckt hatte. Beide wandten sich der Heilkunde zu. Christina, die an rasenden Nervenschmerzen litt, erwarb aufgrund der eigenen Erfahrung ausgefeilte Kenntnisse über zeitgenössische Arzneilehren und konnte mit ihrem Wissen Familienmitgliedern und Freunden helfen. Während der Belagerung Roms 1849 organisierte und leitete sie die Spitäler und Notaufnahmen der Stadt mit einer Effizienz, die ungeteilte Bewunderung fand. Suzanne hingegen arbeitete sich zunächst in die homöopathische Lehre Doktor Hahnemanns ein. Später stieß sie zu
ihren exilierten saint-simonistischen Freunden in Kairo, um als Mann verkleidet in einem Spital Vorlesungen zu hören; mit einem Hebammenbrief versehen, übte sie den Beruf später in Frankreich und Rußland aus. Erst Ende des 19. Jahrhunderts, als die Syphilis zu einer wahren Volksgeißel geworden war, erhielten die Ärzte endlich die Befugnis, auch ehrbare und selbst verheiratete Frauen zu behandeln.
Weit verbreitet war außerdem die Behauptung, alle Frauen seien nervenleidend, seien es gewesen oder würden es zukünftig werden. In einer Zeit, da die friedliche Landidylle noch nostalgische Sehnsüchte weckte, gaben die Ärzte die Schuld an den Nervenleiden gerne dem Stadtgetriebe, das in der Tat die Stellung, Aufgaben und Lebensbedingungen
der Gattin und Mutter verändert hatte. Einige Ärzte ereiferten sich über die »Migränepüppchen«, an denen alle Therapieversuche abprallten. Hier kommen wir in den geheimnisumwitterten Bereich lähmender Leiden, die sich sehr wohl auch simulieren oder kultivieren lassen. Wie weit wurde die Migräne für enttäuschte und überforderte Frauen zur Zuflucht oder Ausrede? Wie weit bezeichnete sie schmerzhafte Identitäts- und Bewußtseinskrisen? Die Gräfin de Segur durchlebte das Klimakterium als furchtbare Zeit der Kopfschmerzen und der Lethargie; ihre Heilung fiel zusammen mit dem Beginn ihrer literarischen Tätigkeit.[17] Ein Gegenbeispiel ist Madame Vrau-Aubineau, eine Bürgersfrau aus Nordfrankreich. Als sie gezwungen war, ihre Gewerbetätigkeit aufzugeben, versank sie bis zum Ende ihrer Tage in Migräneanfällen.[18]
Noch stärker als die Migräne war die Hysterie damals, wenn man so sagen will, die Krankheit des »schwachen Geschlechts«. Manche Autoren erachteten sie als untrennbaren Teil der »Natur des Weibes«. Diese Krankheit versetzte die Familien, die Gesellschaft, ja sogar die ärztliche Wissenschaft in Unruhe; alle Welt schien mit diesem Leiden
geschlagen. Aus Angst vor Anfällen wurde die Hysterikerin von der Verwandtschaft wie ein rohes Ei behandelt und entwickelte sich dadurch bisweilen zur Familientyrannin. In einer Art Ansteckung konnte es zu beklemmenden Fällen kollektiver Hysterie kommen. Solches geschah etwa zwischen 1857 und 1873 in Morzine. Mädchen und Frauen kreischten, wanden sich in Krämpfen, beschimpften und schlugen Väter und Ehemänner, tranken Schnaps und wollten nicht mehr arbeiten. Die Staatsgewalt war beunruhigt und unternahm einen regelrechten Feldzug, um die betroffene Landbevölkerung aus Isolierung und Elend zu reißen: Sie ließ Straßen bauen, gründete eine Garnison, organisierte Bälle. Die Theatralisierung, der die psychiatrische Anstalt Salpetriere zwischen 1863 und 1893 unterlag, steigerte die Ängste und Anfälle von Hysterikerinnen aufs äußerste; sie zeigt gleichzeitig, welches Faszinosum das Leiden für die Ärzteschaft war. Freud bemühte sich als erster um ein ernsthaftes Verständnis dieser unglücklichen Frauen. Er rehabilitierte ihre Tiraden, ihre Träume, sogar ihre Sexualität; er hörte ihnen zu, wenn sie endlos über sich selbst redeten.
Die Anhängerschaft der Ärzte wurde im Laufe des Jahrhunderts immer zahlreicher, vor allem nach Pasteur, und die von den Ärzten vertretenen Werte setzten sich immer stärker durch. Schon die Aufklärung hatte betont, Hygiene sei zugleich hochmoralisch, weil sie den Körper vor Krankheit und zugleich die Seele vor Laster schütze. Doch die Hygiene stieß auf zwei Hindernisse. Ein erstes Hindernis war die Scham. Allzu genußvolle Waschungen vor allem der verborgenen Teile galten als Ausschweifung; lieber wurde die Wäsche gewechselt. Das zweite Hindernis war das Fehlen von fließendem Wasser und eines Ausgusses, Gesicht und Hände reinigte man sich (fast) jeden Tag in einer Waschschüssel, das Übrige allenfalls einmal pro Woche. Dusche und Vollbad blieben (als Hydrotherapie) lange Zeit Kranken vorbehaten. Selbst die glücklichen Besitzer einer eigenen Badewanne badeten, folgten sie der Empfehlung, nur einmal pro Monat. Die Badewanne (tub) war in England erfunden worden und verbreitete sich gegen Ende des Jahrhunderts auch auf dem Kontinent. An Degas' Malerei läßt sich nachvollziehen, wie die Gewöhnung an eine gründliche Körperwäsche den weiblichen Akt verändert: Die Badende wird zu einem fast trivialen Sujet.
Eine ordentliche Hygiene erforderte auch Freiübungen an der frischen Luft. Für Frauen, deren Haut makellos weiß bleiben mußte, war eine solche Vorschrift von zweifelhaftem Wert. Doch hatte Marie de Flavigny (die spätere Gräfin d'Agoult) schon um 1820 einen maitre de graces, also einen von seiner Wichtigkeit überzeugten Tanzmeister, und eine Fechtlehrerin, die sie im Florett unterwies; obendrein ritt sie häufig aus. Auch in den Stundenplänen von Mädchenpensionaten schlug sich die neue Tendenz nieder: Auf die »Haltungsstunde«, in der das Geradehalten für alle Momente des Tages und Lebens geübt wurde, folgten zu Beginn der 80er Jahre allmählich korsettfreie Turnübungen
und sogar Geräteturnen. Die wachsende Beliebtheit des Badens am Meer trug vermutlich erheblich dazu bei, den Körper der Frau schneller von seinen Hüllen zu befreien. Doch mehr als die Freiheit sollten die Frauen meist unter nationalistischen und oft unter rassenhygienischen Gesichtspunkten fortan Spannkraft und Physis pflegen.
Ausgehend von Deutschland und England hatte der Kreuzzug für das Mädchenturnen Ende des Jahrhunderts ganz Mitteleuropa erobert. Welche wilde Begeisterung das Turnen erweckte, belegt unter anderem ein ironisierender und schlüpfriger Roman von Edmondo De Amicis.[19] Doch Frauensport, vor allem in Form von Wettkämpfen, stieß auch auf große Ablehnung und manchmal entschiedene Gegnerschaft. Zeitgenössische Beobachter klagten, wie abstoßend eine Frau bei körperlicher Anstrengung wirke, redeten anmutiger Erschlaffung das Wort und warnten vor übermäßiger Muskelbildung, da sie der zukünftigen Gebärenden schaden könne. Dennoch begeisterten sich wohlhabendere Töchter und Frauen rasch für Schwimmen und Tennis.[20] Diverse Vereine machten Radfahren, Laufen, Springen, Geräteturnen populär. Und trotz Pierre de Coubertins hartnäckigen Widerstands nahmen Frauen bereits 1912 an den Olympischen Spielen teil.
Zur selben Zeit setzten sich Ärzte nachdrücklich für sexuelle Aufklärung der Mädchen ein, um der Syphilis Einhalt zu gebieten. Ein aufgeklärtes Mädchen lasse sich nicht so leicht verführen und werde vom Verlobten ein Gesundheitsattest verlangen. Aufklärungsbroschüren erschienen. Aber, da es schon an Revolution grenzte, den Frauen ein Recht auf den eigenen Körper einzuräumen, wie konnte man ihnen da obendrein noch ein Recht auf die Kontrolle über den Körper des Mannes gewähren?
Leib oder Seele
Das »Verhältnis zwischen Physis und Moral beim Menschen«[21] hatte die Ärzte der Aufklärung stark beschäftigt. Waren eheliche Liebe und Mutterliebe, deren die Gesellschaft so dringend bedurfte, hehre Gefühle
und auf immerdar in die weibliche Seele eingepflanzt? Oder waren sie nur ungewisse und zufällige Launen einer Gebärmutter, die nach Sperma und Fötus lechzte? Das Verhältnis zwischen Leib und Seele blieb ein Geheimnis. Hat sich im Laufe des Jahrhunderts mit den Veränderungen der Rolle des »schwachen Geschlechts« in Gesellschaft und
Familie auch diese Beziehung geklärt oder gewandelt? Wie entwickelte sich die Begegnung zwischen Frau und Mann, zwischen der Frau und dem Mann im Kind?
Das Geschlecht der Engel
Seit den 1840er Jahren wurde es üblich, mit dem französischen Wort »frigidite« die sexuelle Lustlosigkeit bei Frauen zu benennen. In der viktorianischen Zeit entstand im übrigen eine Literatur, die eine solche Lust glattweg leugnete. Es ist bekannt, daß etwa Michelet Athenais nicht zum »Erschauern« bringen konnte; diese war zufrieden damit, begehrt zu werden, gut zu essen und ruhig zu schlafen: Das war ihre ganze Sinnlichkeit. Da es zum Problem geworden war, Madame zu erwecken, gab Doktor Debay, Militärarzt und Realist, ein Aufklärungsbuch heraus, das zwischen 1848 und 1888 hundert Auflagen erlebte und die verschiedenen Methoden, eine Frau zu erregen, detailliert erläuterte.[22] William Acton, ein in angelsächsischen Ländern vielgelesener Arzt, hielt dagegen, die Sexualität der Frau sei mit Kinderkriegen und Haushalt völlig ausgelastet.[23] Er hat viel zur Definition von true womanhood und zur Trennung der »zwei Sphären« beigesteuert.
Zu beachten ist, daß Sexualität dem viktorianischen Moralismus allgemein nicht geheuer war. Derselbe Acton empfahl den Herren, sich in ihrer sexuellen Betätigung zu bremsen: Ein Beilager alle sieben oder zehn Tage reiche völlig aus. Mehrere französische Ärzte waren derselben Meinung. Die meisten Mediziner empfahlen einen kurzen Koitus, um die Manneskraft nicht zu vergeuden, was einem gleichzeitigen Orgasmus kaum dienlich sein konnte. Zudem fanden die zwischen 1840 und 1860 recht erfolgreichen Ovologen heraus, daß ein Höhepunkt der Frau für die Empfängnis nicht nötig ist. Mit dieser Entdeckung war die ausschließliche Berufung der Frau zur Mutter bestätigt, die Selbstbezogenheit des Mannes gerechtfertigt und die verhaßte Klitoris der Nutzlosigkeit überführt.[24] Es waren also mehrere
Faktoren, die zu einer neuen Auffassung und Praxis der sexuellen Beziehungen führten: Der für produktive Arbeit zuständige Ehemann dürfe nicht überstrapaziert, die Ehefrau müsse wegen ihrer Aufgaben als Mutter und Hausfrau geschont werden, und schließlich solle man auch das Zeugungsgeschäft nicht übertreiben. Für die Frauen war dabei nicht deren sexueller Appetit ausschlaggebend, sondern die vielfältigen Zwänge, denen sie unterworfen waren.
Elisabeth Blackwell, 1845 die erste Ärztin in den Vereinigten Staaten, behauptete, Frigidität sei in erster Linie ein Produkt der Erziehung: Mit dem Ziel, junge Mädchen bis zur Ehe jungfräulich zu halten, werde ihnen eingeschärft, es sei Sünde, an das Geschlecht zu denken.[25]
Mädchen lebten in der Tat durchaus nicht »natürlich«. Sie wurden zwischen zwölf und fünfzehn geschlechtsreif, durften aber im allgemeinen erst nach dem zwanzigsten Lebensjahr heiraten; dieser gesellschaftlich erzwungene Wartestand war wider die Natur. Damit sich Mädchen ohne übermäßigen Zwang auf das Warten einließen, wurde dafür Sorge getragen, daß das Verlangen nicht zu früh erwachte. Deshalb empfahl es sich, ihnen die fleischlichen Realitäten des Geschlechtslebens zu verheimlichen. Ein »reines« Mädchen sollte nichts wissen und nichts ahnen. So gesehen war Jungfräulichkeit nicht länger christliche Tugend: Freidenkenden Vätern und Ehegatten war daran nicht weniger gelegen als den gläubigen. Jungfräulichkeit galt als Gütesiegel einer zukünftigen Gattin.
Strenge Prinzipien regelten daher die Erziehung der Jungfrau, für die die Mutter zuständig war. Erziehungsbücher gaben sexualhygienische Empfehlungen über Ernährung (nur unaufreizende Schonkost, abends Milch) und Nachtruhe (kein weiches Pfühl, Frühaufstehen). Masturbation war kaum zu verhindern; Ärzte behaupteten, Mädchen frönten ihr häufiger als Knaben. Eine energische Vorkämpferin der Social Purity und Predigerin der Keuschheit stellte beim Lesen von Traktaten gegen das »heimliche Laster« mit Schrecken fest, daß sie sich diesem Laster jahrelang selbst in aller Unschuld hingegeben hatte.[26] Ein sittsames Mädchen behielt beim Waschen und sogar beim Baden das Hemd an
und kniff die Augen zu, wenn dieses gewechselt werden mußte.
Die Mutter sollte das Mädchen aufklären, wenn die erste Menstruation bevorstand. Sogar die Priester wünschten dies
Mit dem Ave Maria (»gebenedeit sei die Frucht deines Leibes«) könne man das Kind darauf vorbereiten und ihm erklären, die Regel sei dazu da, die Frau allmonatlich an ihre wahre Bestimmung zu erinnern. Wieviele Mütter trauten sich das zu? Madeleine Pelletier, eine Frau aus dem Arbeitermilieu, berichtete, wie sie eines Tages (1886, mit zwölf Jahren) total verängstigt mit blutbeflecktem Kleid in die Schule kam. Von der Nonne angeschnauzt,rannte sie nach Hause zurück, wo ihre frömmelnde Mutter keinerlei Fragen zulassen wollte. Schließlich habe sie der bettlägerige Vater mit ein paar zotigen Bemerkungen ein für allemal sexuell aufgeklärt.[27] Madeleine wurde Ärztin, brachte es aber nie über sich, einen Mann an sich heranzulassen. Sicher gingen manche Frauen wegen ähnlicher Erlebnisse ins Kloster. Wäre das erstaunlich? Mütter, die damit groß geworden waren, den eigenen Körper zu verachten und sich ihres Geschlechts zu schämen, konnten nur dummes und stummes Dulden lehren. Entsprechend hatten viele junge Frauen vor der
Hochzeitsnacht keine Ahnung, was auf sie zukam. Selbst da noch schwiegen die Mütter. Vielleicht fürchteten sie, Ekel vor dem Geschlechtsakt zu wecken, wenn sie ihn nur mit nackten Worten und ohne die Gefühle und Zärtlichkeiten, die ihn erst erträglich machten, beschrieben. Diese Furcht war nicht unbegründet: Zelie Guerin, die spätere Mutter von Therese von Lisieux, hatte sich reichen Kindersegen gewünscht, erlitt aber einen Nervenschock bei der Mitteilung, was sie dafür in Kauf nehmen sollte; ihr verständnisvoller Gatte wartete mehrere Monate, bevor er die Ehe vollzog.
Lieber wurde versucht, den »Mutterinstinkt« zu wecken. Josephine de Gaulle, die Großmutter des Generals, Verfasserin vieler Kinderbücher, schlug vor, Heranwachsenden ein Kätzchen oder Hündchen zur Pflege zu geben. »Große Mädchen« könnten auch Patin, das heißt, wie sie erklärt, spirituelle Mutter werden und das Patenkind moralisch miterziehen. Zur Vorbereitung auf die Mutterschaft aber diente in erster Linie die Puppe. Dieses Spielzeug verbreitete sich rasch und machte dabei äußerlich eine grundlegende Veränderung durch. Zu Beginn des Jahrhunderts sah die Puppe wie eine elegante junge Dame aus, als wolle man dem kleinen Mädchen Lust machen, groß und schön zu werden. Um 1850 brachten Fabrikanten Säuglingspuppen auf den Markt, die sofort reißenden Absatz fanden. Diese Säuglinge waren geschlechtslos wie Engelchen und blieben es bis lange nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit ihnen konnte das kleine Mädchen wunderbar
»Mutter und Kind« spielen.
Dem »unschuldigen« Mädchen wurde Verschämtheit zu einer Art unbewußtem Habitus; so entwickelte es sich zum typischen »Backfisch«. Die Erziehung zur engelhaften Unschuld verfestigte sich um die Jahrhundertmitte als Programm, setzte sich aber in der Praxis niemals für alle und überall durch. Auf dem Lande, wo alle zusehen können, wie Tiere kopulieren und Junge werfen, konnten Mädchen wohl kaum naiv gehalten werden. Rituale und Feste heidnischen Ursprungs trugen außerdem dazu bei, den Geschlechtstrieb zu wecken. In der Provence rannten die Jungen im Karneval den Mädchen nach und schmierten ihnen Modder auf Brust und Schenkel.[28] In Mittel- und Westfrankreich
wurden »Weibermärkte« abgehalten.[29] Obwohl auch die ländliche Gesellschaft ihre jungen Leute im Griff hatte, blieb der Umgang zwischen jungen Männern und jungen Frauen freizügig. In den Marais der Vendee durften Verliebte einander mit Duldung der Familie unter einem großen Regenschirm liebkosen; ausgiebige Zungenküsse wurden
dabei ebenso akzeptiert wie gegenseitiges Petting; die Mädchen waren wißbegierig genug, mehrere Liebhaber auszuprobieren. Die katholische Offensive hatte Ende des Jahrhunderts Mühe, diesen Mädchen Tugend beizubringen. In den Armenvierteln der Städte scheinen voreheliche Beziehungen allgemein üblich gewesen zu sein.[30]
In den Vereinigten Staaten wurde mitten im viktorianischen Zeitalter hemmungslos geflirtet. Diese Libertinage verblüffte immer wieder erneut die Besucher aus Europa, von Tocqueville in den 30er Jahren bis Mademoiselle Marie Dugard, der Repräsentantin der französischen Oberschule auf der Weltausstellung von Chicago 1893.[31] Junge Mädchen gingen ohne Anstandsdame mit Jungen ihrer Wahl aus und kamen erst spät nachts nach Hause: Aus vertraulichen Tagebüchern und Briefwechseln geht hervor, wieviel Spaß sie daran hatten, sich küssen und streicheln zu lassen und es hundertfach zu vergelten.[32] Zwanzig Liebeleien waren ihnen kein Hindernis, am Ende zu heiraten und patente Ehefrauen zu werden.
Selbst in den überspanntesten Kreisen des alten Europa durfte auch das wohlerzogene Mädchen etwa auf einem Ball Annäherungen dulden. Quadrillen und Kontertänze ahmten die schönsten Liebesmomente nach, Begegnung, Trennung, Sichwiederfinden; berühren durfte man einander nur mit den Händen oder Fingerspitzen. Doch mit dem Wiener Walzer brach eine neue Welt von Gefühlen und Empfindungen herein. Engumschlungen wirbelten die Paare übers Parkett: Dreivierteltakt, schwindelerregender Hautkontakt, Festlichkeit und Sinnenrausch. Ein Fräulein von Stand kann zudem »verrohte« Dienstboten[33] oder verbotene Bücher zu Rate ziehen: Louise Weiss schlich allnächtlich hinunter in die väterliche Bibliothek, um sich mittels Nachschlagewerken kundig zu machen.[34] Im übrigen wurde auch in Frankreich um die Wende zum 20. Jahrhundert heftig geflirtet.[35]
Ob Backfisch oder unberührte Jungfrau, eines Tages mußte das junge Mädchen heiraten. Selbst wenn die Hochzeitsnacht gut verlaufen war, stieß sie auf dem Weg zur erfüllten Sexualität alsbald auf Hindernisse: Das bei weitem größte war das Kinderkriegen. Fachleute meinten damals, Geschlechtsverkehr in der Schwangerschaft schade dem Kind und der Milch; darauf Rücksicht zu nehmen, hätte zwei Jahre Enthaltsamkeit bedeutet. Die Zahl derer, die die Geburten beschränken wollten, wurde ständig größer. Die Angst, schwanger zu werden, durchtränkte das Begehren, solange geglaubt wurde, die Lust begünstige die Empfängnis. Der Verhütung redeten fast ausschließlich Männer das Wort, hauptsächlich Engländer: Robert Malthus, Francis Place, Richard Carlyle, Charles Knowlton. Frauen und selbst Feministinnen vermieden noch lange, dieses Thema öffentlich anzusprechen. Doch insgeheim, in ihren Briefen und Tagebüchern sprachen sie von ihrer
Erschöpfung und ihrem Widerwillen. Königin Victoria war keine glückliche Mutter: Neun Schwangerschaften und Geburten mußte sie durchstehen, jede ein Martyrium, das ihr Eheleben belastete und ihr jegliche Bewegungsfreiheit nahm. Ihr Horror vor einer vielköpfigen Familie wurde in der englischen Oberschicht weitgehend geteilt, was nicht ausschloß, daß auch diese kräftig für Nachwuchs sorgte.
Die Geburtenverhütung kam nur langsam zum Zuge, und die auffallenden Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern sind schwer zu erklären. Am weitesten fortgeschritten waren Frankreich - wo die Geburten bereits seit 1790 deutlich zurückgingen - und die Vereinigten Staaten, wo der Geburtenrückgang nach 1880 einsetzte. Diese beiden Nationen hatten miteinander gemein, daß sie eine Revolution gemacht und die Menschenrechte sowie die Freiheit des Individuums verkündet hatten. Es läßt sich allerdings kaum beweisen, daß dies der entscheidende Faktor war. In den Ländern Nordeuropas ging die Zahl der Geburten erst nach 1870 zurück, in Südeuropa noch später. Man kann nicht sagen, daß der Geburtenrückgang mit der Industrialisierung zusammenhing, denn in Frankreich und den Vereinigten Staaten setzte die Industrialisierung erst sehr viel später ein. Der Geburtenrückgang war auch eine Reaktion auf die verminderte Kindersterblichkeit, welche nach der Pasteurschen Hygienerevolution stark zurückging. Auch war Geburtenkontrolle nicht vorrangig eine Praxis von Protestanten, die sehr auf Gewissensfreiheit achteten, denn Frankreich ist überwiegend katholisch. Das Verhalten der verschiedenen sozialen Schichten ist keineswegs eindeutig. Als Pioniere taten sich nicht die reichen und kultivierten Oberschichten hervor; so erreichten in Frankreich die Damen von Adel und Großbürgertum weiterhin die höchste Fruchtbarkeit. Die angeblich konservativen Bäuerinnen gingen bisweilen — so z. B. im aquitanischen Becken — sehr früh dazu über, die Zahl ihrer Geburten zu beschränken. Demgegenüber brachten Arbeiterinnen überall noch sehr viele Kinder zur Welt, zumindest bis die Kinderarbeit verboten wurde. In den Vereinigten Staaten ist zu beobachten, daß die bereits dort geborenen Frauen weniger Kinder bekamen als die Einwanderinnen. Es kam auch vor, daß Einwanderinnen nach dem Seßhaftwerden mehr Kinder gebaren. Das gilt zumindest für die Brabanterinnen, die zwischen 1852 und 1856 in Wisconsin siedelten.[36] Die Geburtenbeschränkung ist ein komplexes Phänomen, bei dem ökonomische, kulturelle und psychologische Faktoren zusammenspielten, jeder Fall ist ein Fall für sich. Selbst die These, daß die Mittelschichten hierbei eine Pionierrolle gespielt haben, ist daher gewagt.[37]
Die Methoden der Geburtenbeschränkung bzw. Familienplanung waren höchst unterschiedlich. Hier soll es weniger um deren Wirksamkeit als um deren Bedeutung gehen: Wieviel Initiative, Verantwortung, Freiheit ermöglichten sie den Gebärfähigen, welche Verfügungsgewalt über den eigenen Körper, wieviel Aussicht auf lustvolle Sexualität?
Das hergebrachte Muster von Spätehe, verlängerter Stillzeit und hoher Ledigenziffer blieb in vielen ländlichen Gebieten üblich. Das gilt für Irland, die Iberische Halbinsel, die Gebirgsregionen Frankreichs und Italiens. Doch mit dem Rückgang der Kindersterblichkeit reichten diese Vorkehrungen nicht mehr aus. Um die Übervölkerung zu vermeiden, hätten junge Frauen gegen Ende des 19. Jahrhunderts erst nach dem fünfunddreißigsten Lebensjahr heiraten dürfen oder zu vierzig Prozent ledig bleiben müssen. Nun heirateten aber um 1850 in Frankreich auf dem Land Frauen mit etwa fünfundzwanzig Jahren, und nur dreizehn Prozent aller Frauen blieben zeitlebens ledig.
Manche Ehepaare hatten getrennte Schlafzimmer: diese Lösung war wohl nur für reiche Leute mit großen Wohnungen praktikabel. Diese Methode funktionierte, doch getrennt zu schlafen, konnte frustrierend sein. Für wen? Dem Hausherrn, der auf seine Gattin »Rücksicht nahm«, machte es selten etwas aus, sie entweder mit ausgehaltenen Frauen
oder, als sparsamer Hausvater, mit einer Magd zu betrügen. Was aber war mit der Dame des Hauses?
In der Mittelschicht waren die Gatten eher auf Verhütung bedacht. Gewisse Methoden, in galanteren Kreisen schon lange üblich, drangen allmählich auch in ehrbare Haushalte vor. Soweit dafür Hilfsmittel erforderlich waren, setzten sie sich erst spät und nur in Grenzen durch: Kondom, Pessar, Spülungen waren lange Zeit zu teuer und zu unbequem. Analverkehr und Fellatio wurden in Prozessen als Scheidungsgrund angeführt; welche reale Verbreitung sie hatten, ist nicht bekannt. Alles deutet darauf hin, daß dem simplen und kostenlosen Coitus interruptus fast überall der Vorzug gegeben wurde. Er verlangt vom Mann eine problematische Selbstbeherrschung, und das Ergebnis hängt daher wesentlich von ihm ab. Die Methode entsprach also voll der patriarchalischen Logik, nach der sich die Frau passiv ihren »ehelichen Pflichten« zu unterwerfen hatte. Und dennoch wurde alles anders: Indem der Mann nun einzig und allein seine Lust suchte, gab er seiner Gefährtin ein Beispiel oder verhalf ihr zumindest zu einer bewußten Wahrnehmung der Situation. In jedem Fall verhielt sich der Gatte, auch wenn er nur Vaterpflichten vermeiden wollte, nun schonender gegenüber der Lebenskraft, Gesundheit und Freiheit der Erzeugerin seiner Kinder und gewährte ihr so eine Chance auf ein anderes Leben ohne Überlastung durch Mutterschaft.
Der katholische Klerus reagierte erst, als der Coitus interruptus bereits allgemein verbreitet war. Warum so spät? Seit der Revolution gingen in erster Linie die Frauen zur Beichte, und diese sprachen das Thema von sich aus nicht an und ließen sich ungern danach ausfragen. Die meisten fühlten sich ohnehin nicht zuständig, weil der Gatte die Sache in der Hand hatte. Manche beichteten ihre Komplizinnenschaft und behaupteten, des guten Glaubens gewesen zu sein, es sei keine Sünde, sondern im Gegenteil verantwortungsvolles Tun. Der Priester bohrte nie nach: Zeugung war Männersache. Die Ärzte protestierten dagegen in aller Klarheit und sehr früh. Etlichen machte zu schaffen, daß die Frauen um ihre Befriedigung betrogen wurden; sie ließen damit durchblicken, daß Frauen wohl gar nicht so frigide waren, wie gemeinhin behauptet wurde. Doktor Bergeret,[38] dessen Aufklärungswerk auch in englischer Übersetzung viel gelesen wurde, drohte den »Betrügern« mit den fürchterlichsten Krankheiten, was diese jedoch wenig beeindruckte.
Verhütungstechniken führten in der Praxis nicht dazu, die Zeiten zwischen den Geburten zu verlängern, sondern dazu, die Phase des Kinderkriegens insgesamt zu verkürzen.[39] Offenbar lag den Frauen
wenig daran, ihre Schwangerschaften weiter auseinanderzulegen; sie brachten diese Belastungszeit lieber schnell hinter sich, um dadurch Zeit für ein anderes, selbständigeres Leben zu gewinnen.
Abtreibung wird häufig als ein besonders in der Arbeiterschaft verbreitetes frauenspezifisches Verfahren dargestellt. Hier muß differenziert werden. In der Unterschicht war Abtreibung zweifellos allgemein üblich, doch abgetrieben wurde auch in besseren Kreisen. Einen Beleg dafür liefert Lady Henrietta Stanley, die sich ihrer zehnten Schwangerschaft mit einem Abführmittel, einem brühheißen Vollbad und einem Gewaltmarsch entledigte und dann ihren Gatten Lord Edward davon in Kenntnis setzte. Mit Sicherheit war Abtreibung Frauensache: Schon seit eh und je haben zahlreiche Frauen alleine eine Abtreibung ausgeführt oder einander dabei geholfen, ohne Schuldgefühl und in der Überzeugung, der Fötus lebe erst, wenn er treten könne, also vom vierten Monat an. Dieser Annahme folgte auch die englische und amerikanische Gesetzgebung.[40] Doch trotz aller Tradition veränderten sich Charakter und Bedeutung der Abtreibung durch die Technik und die zunehmende Beteiligung von Männern. Mit genauerer Kenntnis von Anatomie und Physiologie der Frau wurden Methoden möglich, die nicht so traumatisierend wirkten wie Pilzgifte oder Sprünge vom Heuboden: Mit einer Stricknadel wurde die Fruchtblase angestochen und später immer häufiger durch eine Kanüle Seifenwasser in die Gebärmutter geleitet; sofern dabei aseptisch vorgegangen wurde, hielt sich das Risiko in Grenzen.[41] Um 1910 war das Seifenwasser-Verfahren alltägliche Praxis geworden; professionelle Abtreiber, Ärzte und Hebammen boten ihre Dienste ziemlich unverhüllt an. Mit welcher Methode auch immer ausgeführt, die Zahl der Abtreibungen nahm in der zweiten Hälfte des 19, Jahrhunderts allenthalben zu. Sie war keine Verzweiflungstat verführter Mädchen oder kinderreicher Mütter, sondern ein Verfahren zur Geburtenbeschränkung. Eine früher der privaten und diskreten Frauenwelt vorbehaltene Praxis wurde nun in Männerhand kommerzialisiert: Die Gebrüder Chrimes hatten in London 1898 mindestens zehntausend Klientinnen.
Am Ende des Jahrhunderts kam es zu einer verblüffend allgemeinen und heftigen Reaktion auf diese Entwicklung. Die Abtreibung wurde zum politischen Problem Nummer eins. In den Vereinigten Staaten setzte diese Reaktion unmittelbar nach dem Bürgerkrieg ein; in England stand sie in einem gewissen Zusammenhang mit dem Aderlaß des Burenkriegs; in Frankreich war sie unterschwellig von Revanchegelüsten nach der Niederlage von 1870 gegen die Preußen motiviert. Nach
einem jeden Krieg gilt das Leben als heilig! Überall wurde nun Abtreibung mit Kindsmord gleichgesetzt: Fötus und sogar Embryo erklärte man zu vollwertigen Menschen. Das hatte das christliche Dogma zwar schon immer vertreten. Doch spielte sich nun alles so ab, als hätte sich die weltliche Gesellschaft diese Erkenntnis ganz plötzlich zu eigen
gemacht oder sich erstmals aufgerafft, sich allen daraus folgenden Konsequenzen zu stellen.
Was die Sexualität der Frau anbelangt, so dürfte die damals sehr schmerzhafte und bisweilen auch verstümmelnde Abtreibung das sexuelle Begehren gewiß nicht gefördert haben. Aus Polizeiakten über Ruhestörung geht hervor, daß viele Frauen der Unterschicht ihrem Mann die »eheliche Pflicht« verweigerten, selbst wenn sie deswegen verprügelt wurden. Eine von ihnen befriedigte sich selbst direkt neben ihrem Gatten, den sie kurz zuvor abgewiesen hatte.[42] Alle diese Frauen erklärten, sie wollten das Risiko einer Schwangerschaft und seltener auch der Syphilis vermeiden. Wie konnte Erotik bei solchen Hindernissen ins Ehebett finden?
Die Amerikanerinnen, energischer als die Europäerinnen, unternahmen in den letzten beiden Jahren des Jahrhunderts eine entschlossene Offensive.[43] Womöglich in der Hoffnung, so die Zahl der Schwangerschaften begrenzen zu können, lehnten sie unter Berufung auf die Religion ausdrücklich die bestehenden Geschlechterrollen und die ehelichen Rechte des Mannes ab. Militante Vorkämpferinnen für Social Purity verkündeten, allein der Gattin stehe es zu, über Häufigkeit und Zeitpunkt des ehelichen Verkehrs zu befinden, denn die Doktrin der »zwei Sphären« räume ihr uneingeschränkte Verfügung über ihre Privatsphäre ein. Es sei zwar eine irrige Annahme, daß Frauen weniger Lust verspürten als Männer; aber Frauen könnten sich beherrschen, während Männer Sklaven ihres Triebes seien. Welche Auswirkung hatte dieser puritanische und keineswegs feministische Kreuzzug? Eine nach f892 von der Ärztin Clelia Mosher durchgeführte Untersuchung läßt darauf schließen, daß sich eine Art Kompromiß durchgesetzt hatte. Eheleute hatten im Durchschnitt zweimal pro Woche Geschlechtsverkehr. Die Männer hatten gern dreimal, die Frauen aber nur
einmal gewollt.
Mit der geringeren Kinderzahl veränderte sich indes die Selbstwahrnehmung der Frauen. Auch wenn sich die Negation alles Geschlechtlichen als Kodex des Wohlverhaltens bis Ende des Jahrhunderts hielt, verlor Sexualität allmählich das Odium des Schandbaren, und die eheliche Liebe entwickelte sich zu mehr als bloßer Pflicht. Mit der Sensibilisierung für Lust wurde die Gattin zu einer empfindungsfähigeren und aktiveren, aber auch anspruchsvolleren Partnerin. Das erklärt auch den Wunsch der Paare nach mehr Intimität. Trotz aller Proteste von Seiten der Ärzte setzte sich die Mode der Hochzeitsreise rasch durch. Neuvermählte konnten sich auf diese Weise leichter indiskreten Fragen, Anspielungen, verständnisinnigem Lächeln entziehen. Das eheliche Schlafzimmer wurde zum unantastbaren Refugium. Gleichzeitig
aber wurde auch nach außen vertrauter Umgang demonstriert: Monsieur wird in aller Öffentlichkeit »Cheri« genannt und geküßt. Die ehelichen Beziehungen verfeinerten sich, spendeten intensivere Lust, verursachten aber auch Enttäuschung und Überdruß. Was auch immer im Gesetzbuch stand, der Mann war in der Ehe nicht mehr Herr und Meister und sollte es nie wieder werden. Er konnte Geliebter sein, im guten wie im schlechten Sinne. Auch die mütterlichen Gefühle veränderten sich von Grund auf. Fortpflanzung trat zugunsten von Erziehung in den Hintergrund: Eine Mutter mit weniger Kindern hatte mehr Zeit für jedes einzelne, konnte aufmerksamer und liebevoller sein; die Mutter-Kind-Idylle wurde genußvoll ausgelebt.
Die Frau und der Säugling
Ist die stillende Frau Weibchen oder Mutter? Wieviel an ihrem Verhalten ist allein animalischer Instinkt und wieviel menschliche Regung? Die europäischen Gesellschaften gaben hierauf keine eindeutige Antwort. Die Last dieser Ungewißheit hatten zwei Jammergestalten zu tragen: die Amme und die ledige Mutter.
Trotz aller Schriften Rousseaus blühte das Ammengewerbe im ganzen Abendland in verschiedenen Spielarten: im Süden der Vereinigten Staaten herrschte die schwarze Amme vor; die Engländerinnen beschäftigten hierfür ledige Mütter; die Französinnen bevorzugten verheiratete Bäuerinnen. Der Usus, Säuglingen eine Amme zu geben, hing damit zusammen, daß sexuelle Beziehungen während der Stillzeit tabu waren. Sobald Eva niederkommt, »muß sich Adam aus dem Paradies
schleichen«, jammerte Michelet.[44] »Die ehelichen Freuden sind einzuschränken oder zu untersagen« pflichtete Doktor Garnier 1879 bei.[45] Hervorzuheben ist, daß die Entscheidung darüber grundsätzlich immer noch beim Kindsvater lag.
Das Neue im 19. Jahrhundert war die wachsende Zahl von »Hausammen«, die mit den Eltern des Säuglings unter einem Dach lebten. Die Eltern wußten nur zu genau, wie leicht Kleinkinder sterben konnten, wenn sie einer ungebildeten Frau überlassen wurden, und wollten ihr Neugeborenes unter den Augen haben. Die Beziehungen zwischen Madame und der »Ersatzmutter« gestalteten sich bisweilen recht schwierig. Die junge Mutter wachte nunmehr eifersüchtig über ihre
Rechte; sie hatte mitunter ein Vermögen in Baby-Ausstattung, Wiege und Einrichtung des Kinderzimmers investiert und wollte sich nun mit ihrem »Baby« schmücken, sich an seinem ersten Lächeln freuen. Aber sie traute sich nicht, die Amme zu verärgern, da sie fürchten mußte, dieser könnte die Milch sauer werden. Die Amme aber wußte diesen Vorteil zu nutzen und zeigte sich manchmal anspruchsvoll und launisch.
Die Amme war vor allem ein gemieteter Körper, gut behandelt, aber botmäßig. Da sie für die Herrschaft ein Wohlstandssymbol darstellte, war sie immer adrett angezogen. Im Hause wurde sie verwöhnt; sie bekam Lohnerhöhungen und Geschenke. Sie schlief mit im Kinderzimmer und nicht etwa in einer Dachkammer wie das sonstige Gesinde. Ihr wurde strikteste Reinlichkeit abverlangt, doch durfte sie essen, wonach ihr der Sinn stand; auch hatte sie so gut wie keine Arbeit zu verrichten, allenfalls einige Näharbeiten. Im schweren Leben einer armen Frau war dieses eine eigenartige Zwischenexistenz, die untilgbare Spuren hinterlassen konnte.
Doch war diese Erfahrung mit schweren Opfern verbunden. Die Amme mußte die eigene Familie und den eigenen Säugling verlassen, den dann eine andere Frau recht oder schlecht aufzuziehen versuchte. Vor der Anstellung hatte ihr der Hausarzt die Brüste befühlt, ihre Milch gekostet, ihren Atem beschnuppert. Obzwar ihr sexuelle Beziehungen nicht strengstens verboten wurden (nicht immer traute man sich, ihr den Umgang mit ihrem Ehemann ganz zu untersagen), waren sie nicht gern gesehen. Ein Arzt drückte es brutal so aus: »Eine Amme ist als Milchkuh anzusehen. Wenn sie nicht mehr milchen kann, muß sie weg.«[46] Leute mit demokratischem Gewissen, von denen es in Frankreich unter der Dritten Republik immer mehr gab, bezeichneten die Situation der Amme als Skandal und verglichen sie mit der der Prostituierten.
Indessen kam das Ammengewerbe nicht nur durch den Egoismus der Reichen zustande. Schon seit langem wurden für Findelkinder und Kinder von Müttern mit langen Arbeitszeiten entlohnte Ammen herangezogen. In katholischen Ländern und besonders in Frankreich war das Ammenwesen sehr verbreitet.[47] Bäuerinnen, die bereit waren, fremde
Säuglinge aufzuziehen, holten sie aus den Spitälern oder besonderen Büros der Stadt ab. Vor allem sie waren gegen Ende des Jahrhunderts von der doppelten Revolution des Stillens, dem Siegeszug des Fläschchens und der Medikalisierung, betroffen.
Die Säuglinge, die von diesen Bäuerinnen mit nach Hause gebracht wurden, waren oft kränklich und von schwacher Konstitution. Durch ihr langes Tagewerk bereits überlastet, schenkten ihnen die Ammen nur wenig Aufmerksamkeit. Ohne große Gram sahen sie die Kleinen sterben. 1870 wurden in der Ammenregion Morvan 65-70 Prozent der »Pariserchen« (der aus Paris geholten Milchkinder) und immerhin 33 Prozent der lokalen Milchkinder, aber nur 16 Prozent der Muttersäuglinge vom Tod dahingerafft. Ärzte und Philanthropen zerbrachen sich lange Zeit ergebnislos die Köpfe über eine Verbesserung der Situation. Erst nach der militärischen Niederlage von 1870 wurde in Frankreich Alarm geschlagen. Für die spätere Revanche mußten massenhaft Rekruten her, und deshalb erschien es dringlicher denn je, jetzt die Kindersterblichkeit wirksam zu bekämpfen. Zum Vorbild nahm man sich die deutschen Sieger und die Bismarckschen Sozialmaßnahmen.
Mit dem Gesetz Roussel (1874) wurde die Überwachung der Ammen durch Amtsärzte eingeführt. Bei ihren Visiten entdeckten diese, unter welchen haarsträubenden Bedingungen die »Aufzucht« stattfand (über die Wortwahl aus der Tierwelt regte sich keiner auf), und sie waren empört. Wie zu Rousseaus Zeiten gaben sie der Unwissenheit und den
Vorurteilen der Bäuerinnen und vor allem der alten Bäuerinnen die Schuld an dem Elend der Säuglinge. Doch sie machten auch auf die elenden Wohnverhältnisse auf dem Land aufmerksam, die jeder Hygiene spotteten, und forderten die Einführung von Auswahlkriterien für Ammen. Unter dem Druck dieser Regelungen veränderte sich das Milieu: Berichte aus der Zeit nach 1900 nennen besser ausgestattete Häuser, in denen es mehrere Zimmer, Fenster und sogar Möbel gibt. Die Amme selbst mußte sich ärztlich untersuchen lassen.
Die Inspektoren verzeichneten auch den rasanten Vormarsch des Fläschchens: Mittlerweile ließen die Ammen ihre Brustmilch dem leiblichen Kinde zukommen. Da unter Beachtung der Pasteurisierung Mikroben abgetötet und Infektionen ausgeschaltet werden konnten, duldeten die Ärzte das Fläschchen und förderten es schließlich. Aus einer Stillkarte um 1900 [48] geht hervor, daß die stärker industrialisierte, wohlhabendere, besser gebildete Nordhälfte Frankreichs bereits mehrheitlich zum Fläschchengeben übergegangen war; die Südhälfte hielt sich noch etwa 20 Jahre länger an die Mutterbrust.
Durch den Siegeszug des Fläschchens wandelte sich die Beziehung zwischen Frau und Säugling sowohl symbolisch wie auch praktisch.[49] Der Erfolg der Amme in ihrem Beruf hatte von ihrer eigenen Fruchtbarkeit abgehangen. Sie hatte im Extremfall das Kinderkriegen auf sich genommen, nur um das eigene Kind im Stich zu lassen und die Muttermilch zu verkaufen, die dem eigenen Säugling zugestanden hätte. Ausgewählt wurde sie wegen ihrer physischen Eigenschaften. Das Fläschchen machte dieser Vermietung der Brüste ein Ende. Die Kinderamme hieß zwar noch so, war aber nur noch Erzieherin, Kindermädchen, und deren Alter und Gebärfähigkeit war bedeutungslos geworden. Das Bruststillen wurde nun zum ausschließlichen Vorrecht der Mutter. Bevor man das Kind an eine fremde Brust anlegte, bekam es notfalls abgepumpte Muttermilch aus dem Fläschchen. Das Bruststillen war nunmehr affektiv besetzt. Eine stillende Frau galt nicht mehr als »Milchkuh«, sondern als treusorgende Mutter.
Eine weitere Wirkung des Fläschchens war, daß es den Ärzten nun gelang, sich in die Beziehung zwischen Frau und Säugling einzuschalten, in der sie so lange nichts zu sagen gehabt hatten. Endlich durften sie nach der Menge und Güte der Muttermilch fragen, die ein Säugling in den verschiedenen Altersstufen brauchte, und optimale Stillzeiten ermitteln. Alsbald waren sie in der Lage, Mütter mit Säuglingen anzuleiten und zu beraten. Noch ein anderer Faktor veranlaßte sie zum Eingreifen: das Elend der ledigen Mütter.
Die Bezeichnung »fille mere« für ledige Mütter, die im Französischen »Mädchen als Mutter« besagt und während der Revolution aufkam, ist heute im Aussterben begriffen. Zwei Jahrhunderte lang galt sie in Frankreich Frauen, die die patriarchalische Logik in Frage stellten. Sobald nämlich unverheiratete Mütter im Diskurs und in der Gesellschaft ernstgenommen worden wären, hätte man bewußt oder unbewußt zugegeben, daß Frauen selber für ihre Kinder sorgen konnten, daß die Mutter-Kind-Gruppe den Vater links liegen lassen und sehr wohl ohne ihn auskommen konnte. Das aber rüttelte an den Grundfesten der Familien- und Gesellschaftsordnung.
Uneheliche Geburten waren auch in früheren Jahrhunderten gang und gäbe gewesen. Doch zwischen 1750 und 1850 wandelte sich ihr Status, als deren Zahl immer größer, die »Verführer« immer verantwortungsscheuer und dadurch die Staatsmacht immer stärker gefordert wurde. Mit gewissen zeitlichen Verschiebungen nahm die Zahl der unehelichen Geburten überall zu.[50] In ganz Frankreich stieg zwischen 1790 und 1840 der Anteil der unehelichen an der Gesamtheit aller Geburten von 3,3 auf 7,4 Prozent und hielt sich noch um die Wende zum 20. Jahrhundert bei 7 bis 8 Prozent. In Paris aber, wo die »gefallenen« Mädchen Legion waren, erreichte dieser Anteil in den 1830er und 1840er Jahren 30 Prozent. In England setzte die Zunahme unehelicher Geburten schon um 1750 ein, doch wurde deren Anteil niemals so erheblich.[51] Selbst in London waren es 1859 nur 4 Prozent. Dagegen scheint in Wien die Zahl der unehelichen Geburten höher gewesen zu sein als die der legitimen. Manche Frauen lebten in wilder Ehe mit dem Vater ihrer Kinder, ob er sie nun als eigene Kinder anerkannt hatte oder nicht. Die wirklich »ledigen Mütter« aber standen ohne jeden männlichen Beistand da. Fast alle waren aufgrund von Gewaltanwendung, Einschüchterung oder eines Heiratsversprechen gefügig gewesen. Vom Gesetz kaum geschützt, sah sich das einmal »gefallene« Mädchen auf dem Lande ebenso wie in der Stadt häufig als Freiwild behandelt. Die öffentliche Meinung ließ sogar Vergewaltigung zu.[52] Ein Mädchen, das nachgegeben hatte, auch unter Gewalt, war »entehrt«, »gefallen«, keiner Achtung und Rücksichtnahme mehr wert. Eine Frau, die schwanger geworden war, ohne verheiratet zu sein oder heiraten zu können, blieb bis auf wenige Ausnahmen[53] ganz auf sich allein gestellt.
Der Kindsmord verschwand nicht, ging allerdings mit steigenden Abtreibungszahlen zurück. Jede uneheliche Mutter, die ihr Kind am Leben ließ, mußte zwischen zwei gleichermaßen schlimmen Alternativen wählen: das Kind aussetzen oder versuchen, es alleine großzuziehen. Hier griff der Staat ein. Seine Maßnahmen sind äußerst aufschlußreich. In den südeuropäischen und katholischen Ländern setzten die Lokalbehörden lange Zeit auf Findelhäuser. In Frankreich wurden
die Drehladen der Findelhäuser während der Revolution zunächst geschlossen, aber schon 1811 wiedereröffnet. Die mit der Drehlade gebotene Möglichkeit, einen Säugling anonym auszusetzen, verringerte die Gefahr des Kindsmords, mußte sich die Frau, die das Kind aussetzte, doch nicht offenbaren, wenn sie ihre Unabhängigkeit zurückerlangen wollte. In Wirklichkeit aber hatte eine junge Frau, die »die Ehre« verloren hatte, weiter darunter zu leiden. Auch ohne Kind blieb sie der üblen Nachrede und Verachtung ausgesetzt. Gewissensbisse und Ängste blieben ihr selten erspart: Dem Findelkind war häufig ein Erkennungsmerkmal für später beigegeben oder ein Briefchen des Bedauerns mit der Bitte, gut für das Kind zu sorgen. Nach Ansicht der Behörden aber konnte eine ledige Mutter den lebenden Beweis ihres Fehltritts niemals lieben; und auch das Kind sollte die Frau, die es als Bastard in die Welt gesetzt hatte, nur verachten oder gar hassen können. Deshalb gehe es nicht an, daß eine ledige Frau Mutter sei.
Doch wurden die Findelhäuser dem Staat mit der Zeit zu teuer. Indem das Findelhaus die Kindesaussetzung erleichterte, förderte es sie. Selbst verheiratete Paare in mehr oder minder bedürftiger Lage schafften sich auf diesem Wege lästigen Nachwuchs vom Hals. Wegen allzu großer Nachfrage schlossen die Lokalbehörden ihre Findelhäuser. In Frankreich wurden die letzten 1860 aufgelöst, in Italien 1880. An ihre Stelle traten Ämter, bei denen ein Kind weiterhin abgegeben werden konnte, aber nicht mehr anonym. Erst 1904 wurde in Frankreich durch Gesetz die anonyme Niederkunft und Adoptionsfreigabe ermöglicht.
Unterdessen fand das englische Modell vermehrt Nachahmung. Um der jungen Frau zu helfen, gewährte man ihr Unterstützung. In England widmeten sich private Mütterwohlfahrtsvereine dieser Aufgabe. Schon der bloße Gedanke an eine solche Praxis löste in Frankreich und in Italien bei gläubigen Katholiken Entsetzen aus. Sie befürchteten, damit die sündige Lust zu fördern. Doch die Zeit arbeitete für die Wohlfahrt. In Frankreich machte der Geburtenschwund den Ökonomen Sorgen: Aus ihrer Sicht war das sogenannte natürliche Kind genausoviel wert wie jedes andere; es bei der Mutter zu lassen, schien die billigste und sicherste Form der Aufzucht. Von kirchlicher Seite wurde allmählich zugestanden, daß die junge Frau durch Pflege ihres Kindes Reue beweisen, Vergebung verdienen und auf Umwegen
schließlich auch zu Mutterwürden gelangen könne. Die revolutionäre Krise von 1848 beschleunigte diese Entwicklung. Die gesetzlich geregelte Beihilfe wurde von einem Armenausschuß verteilt, der das sittliche Verhalten der Geförderten streng überwachte. An die Stelle des Gatten und Vaters trat der französische Staat als Ernährer und maßte sich einen Teil von dessen Verfügungsgewalt an. Gleichwohl war die Beihilfe für die uneheliche Mutter ein kleines regelmäßiges Einkommen, um das sie beneidet wurde. Vermutungen wurden laut, ob die ledige Mutter ihr Kind allein aus Geldgier und nicht aus Liebe bei sich behielt. Um an die Beihilfe zu kommen, wurde möglicherweise der Kindsvater einfach verschwiegen und die geplante Heirat aufgeschoben.
Eine ledige Schwangere, die im Spital niederkam, wurde mehr oder minder gut behandelt. Das Preußen Bismarcks richtete schon vor der Jahrhundertwende Mütterstationen ein, wo Schwangere in Ruhe die Niederkunft abwarten konnten. In Frankreich und in Italien war die Unterbringung erheblich schlechter. Ledige Frauen wurden ohne Rücksicht auf Schamgefühl als Anschauungsobjekt für Medizinstudenten eingesetzt; nach der Geburt hatten sie zwei oder drei fremde Säuglinge zu ernähren, und man nahm ihnen das eigene Kind weg, damit sie es nicht bevorzugen konnten. Doktor Fodere beobachtete solche Praktiken schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Hotel-Dieu von Marseille. Seine vehemente Kritik blieb vergebens.[54] Die Praxis hielt sich auch in Mailand. Im Juli 1899 wurden dort im Ospedale 74 Säuglinge auf 32 stillende Mütter gezählt. In Mantua mußte eine im Januar 1900 niedergekommene ledige Mutter zwischen März und November 18 Neugeborene stillen. Manche der Säuglinge waren schon bei der Geburt mit Syphilis infiziert und steckten ihrerseits die Milchmutter an, die dann die Seuche auf weitere Kinder übertrug, die wiederum anderen Milchmüttern angelegt wurden und auch diese ansteckten. Die Ärzte sahen allein in den Milchmüttern die Schuldigen; sie brandmarkten das mehrfache Stillen und den häufigen Säuglingstausch aus Freundschaft oder des Verdienstes wegen.
Gegen dieses Gewimmel von Leibern und Mikroben traten Pasteur und die Hygienebewegung auf den Plan. Die Aufzucht von Menschen wurde humanisiert, kam aber zugleich unter die Aufsicht der Ärzte. Die Männer der Wissenschaft machten sich nun an die geduldige und methodische Ausbildung von Müttern und Ammen.
Als erstes schafften sie den »Mutterinstinkt« ab, der bis dahin für eine Trennung zwischen der durch Erfahrung, Gefühl und Tradition bestimmten Welt der Frauen und der durch Neuerungen, Rationalität und Wissenschaft bestimmten Welt der Männer gesorgt hatte. Mutterschaft bedurfte nach Meinung der Ärzte fortan auch in ihren körperlichen Aspekten einer wissenschaftlich hergeleiteten Kultur. Bei Frauen wohlhabenderer Kreise schlugen die Ärzte einen herablassend freundlichen Ton an. Gegenüber ärmeren Frauen bevorzugten sie den Kommandoton: die Zahl der Mahlzeiten und deren Zeitpunkt, das Sterilisieren von Fläschchen und Schnullern, das Säubern und Baden, die Schlafenszeiten, die Benutzung des Thermometers, all dies wurde strengstens vorgeschrieben. Um Frauen aus der Unterschicht zu unterweisen, führten Geburtshelfer in der Gebäranstalt eine Säuglingsberatung ein. Auch private Einrichtungen (in Frankreich die gouttes de laif) boten ihre Dienste an. Die Mütter scheinen eifrig um Rat nachgesucht und Anweisungen fügsam befolgt zu haben. Für jedes Kind wurde ein Gesundheitsbuch angelegt. Das erste, 1869 von dem Arzt Fonssagrives erfundene Muster, gelangte durch den Arzt M.-W. Garrison über den Atlantik. In diesem Buch sollten Gewicht, Körpergröße, Impfungen und Krankheiten notiert werden. Wohltätige Damen assistierten den Ärzten, knüpften Beziehungen zu den Ratsuchenden an und machten Hausbesuche zur Vergewisserung, daß die Vorschriften richtig verstanden worden waren. Eine neue Form gegenseitiger Frauenhilfe zeichnete sich ab: diese aber war nicht mehr selbständig, sondern stand völlig unter der Kontrolle von Ärzten.
Manche Mediziner wollten Säuglingskunde in die Lehrpläne der Grund- und Oberschulen für Mädchen einführen, um Mädchen frühzeitig auf ihre spätere Mutterschaft vorzubereiten, die in aller Augen die vorbestimmte Rolle des »schwachen Geschlechts« war. Dieses Vorhaben aber konnte sich nirgends durchsetzen. Die Lehrpläne für Mädchenschulen wurden zunehmend nach dem Muster derjenigen für Knaben gestaltet. Das aber mußte über kurz oder lang die spezifischen Frauenrollen in Familie und Gemeinwesen zum Verschwinden bringen.
Die Seele
Im Zuge der kulturellen und ökonomischen Entwicklung veränderte sich auch die Aufteilung der Rollen und Aufgaben zwischen den Geschlechtern. Allerdings ging man in Theorie und Praxis weiterhin vom Unterschied zwischen dem öffentlichen Leben als Betätigungsraum der Männer und dem Privatleben als Reich der Frauen aus, also von den »zwei Sphären«, wie sie in den Vereinigten Staaten genannt wurden. Es gab demnach eine Welt der Frauen, in der ständig eine
eigene, wesentlich sinnliche und gefühlsbetonte Kultur entwickelt und weitergegeben wurde. Wie aber gestaltete sich das Zusammenleben zwischen den Frauen sowie zwischen ihnen und den Männern?
Die Erziehung lief darauf hinaus, immer gefestigtere, selbständigere Persönlichkeiten zu formen. Wie aber konnten die so ausgebildeten Frauen schließlich ihre ureigenen Ziele mit dem, was sie ihren nächsten Angehörigen schuldeten, auf einen Nenner bringen?
Frauen unter sich
Victor Hugo schwelgte in seiner Beschreibung von Cosettes Zimmer ebenso wie Balzac beim Möblieren des Zimmers von Cesarine Birotteau in eigenen Phantasien. Junge Mädchen aber wollten schlicht ein Zimmer für sich allein. Keine Frau äußerte je, sie sehne sich nach der schwülen Gemeinsamkeit der alten Pensionatsschlafsäle zurück. Das Zimmer, wo alte Puppen gehütet, Erinnerungsstücke verborgen wurden, wo sie sich zum Träumen oder Weinen einschließen konnte,
wurde Zuflucht knospender Autonomie, der erste Ort, wo sich Persönlichkeit äußern konnte. Auch das geheime Tagebuch diente der Selbstvergewisserung.[55] Ein Tagebuch zu führen, war nicht neu, aber es wurde umfangreicher und erhielt eine andere Bedeutung. Zu Beginn des Jahrhunderts hatte noch die Gewissenserforschung als christliche
Bußform vorgeherrscht: Schon kleine Mädchen sollten aufschreiben, wo sie gesündigt hatten, in Versuchung geraten waren, und welche guten Vorsätze sie gefaßt hatten. Doch bald übten sich Tagebuchschreiberinnen in Selbstversenkung, Selbstentschlüsselung oder Selbstbetrachtung, wie es die Psychologen schon damals nannten. Junge Mädchen wie Marie Bashkirtseff brachten ihre Zukunftsangst oder auch ihre Auflehnung zu Papier, ihr Streben nach Unabhängigkeit. Manche
blieben auch als Erwachsene ihrem Tagebuch treu, um etwas wie innere Leere auszufüllen und um Tage festzuhalten, die ohne Spuren verrannen, wie es Eugenie de Guerin und Alix de Lamartine taten.[56] Für das kleine und sogar noch für die heranwachsenden Mädchen galt die Erziehung durch die Mutter als besser denn jede andere, weil nur sie
auf das Privatleben wirklich vorbereiten könne. In Briefen und Tagebüchern erscheint diese Erziehung sanft und einfühlsam, aus Vertraulichkeiten und Komplizinnenschaft gewoben. Zärtlichkeiten zwischen Mutter und Tochter wurden immer üblicher, das Siezen wurde durch das Duzen ersetzt, körperliche Züchtigungen waren zunehmend verpönt. Dies gilt vor allem für die Mittelschicht; im Adel und in Bauernfamilien wurde die alte Distanz und Erziehungstradition noch länger gewahrt.[57] Die Mütter betätigten sich gerne als Lehrerinnen oder Repetitorinnen ihrer Töchter, und vor allem die sittliche Erziehung stand allein ihnen zu. Viele stürzten sich auf Erziehungsbücher. Niemals zuvor scheint das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter eine solche Intimität erreicht zu haben, niemals zuvor war allerdings auch die soziale Rollenzuweisung nach Geschlecht so umstritten. Durch die geringere Kinderzahl wurden zudem dauerhaftere und persönlichere Beziehungen gestiftet. Doch der Rollenzwiespalt blieb. Nicht selten bedauerte eine Mutter, ein Mädchen geboren zu haben, »so tief ist die Vorstellung verwurzelt, daß ein Mann mehr Glück und Würde bedeutet«. Sie lief dann Gefahr, im Kind das eigene Geschlecht zu verachten und zu vernachlässigen; dafür gibt es zahlreiche Beispiele. Oder eine Mutter wollte, getragen vom »Gefühl der Identität«, in der Tochter ein neues, noch besseres »Ich erschaffen«, [58] eine idealisierte Doppelgängerin. In einem solchen Fall drohte mütterliche Erziehung zur Inquisition zu werden. Für junge Frauen war häufig die Trauer um die verstorbene Mutter das Allerschlimmste. Obwohl sie von weiblichen Verwandten und Freundinnen umgeben waren, fühlten sich Caroline Brame [59] und Stephanie Julien [60] grausam alleingelassen, vor allem bei so schwerwiegenden Entscheidungen wie der Gattenwahl.
Ende des Jahrhunderts wurde diese innige Vertrautheit noch aus anderer Richtung untergraben. Mütter konnten nicht mehr so genau wissen, was sie ihren Töchtern vermitteln sollten. Die Wissenschaftlerin Clemence Royer fühlte sich wie ein Zwitter. An die Tochter hatte sie nur eine Anforderung: Sie möge sie später »auf diesem Schlachtfeld ablösen«.[61] Mädchen aber konnten, wenn sie das durchlebten, was Louise Weiss die »moralische Pubertät« genannt hat, manchmal äußerst streng über die Mutter urteilen. Mit Bildung und Schulzeugnis versehen und nach Unabhängigkeit verlangend, lehnte die junge Frau das Vorbild der Mutter ab, ohne allerdings selbst auf das Flirten, Heiraten und Kinderkriegen zu verzichten. Diese widersprüchlichen Wünsche führten zu Spannungen, die schwer auszuhalten waren. Das könnte eine Ursache für das eigenartige Leiden gewesen sein, das der Arzt Lasegue 1873 als Anorexie [62] (Appetitlosigkeit) beschrieb.
In der Praxis wurden nur wenige Mädchen ausschließlich zu Hause erzogen. Liebend gern traten Mütter die Probleme, die es mit der heranwachsenden Tochter gab, an Mädchenpensionate ab. Das Internat deckte und dämpfte die Krise. Das Fräulein Tochter fand andere Vertraute, die gebotene Distanz zwischen Mutter und Tochter konnte sich einpendeln. So entwickelte etwa Marie de Flavigny nach ihrer Aufnahme in Sacre-Cceur eine starke Anhänglichkeit zu Madame Antonia,
einer hochgeborenen, distinguierten und liebenswürdigen Nonne. Ähnlich fand am unteren Ende der sozialen Leiter die kleine Marie-Claude im Waisenhaus Zärtlichkeit und Schutz bei Schwester Marie-Aimee. Weltliche Lehrerinnen hatten ein weniger gutes Renommee.
Viele junge Mädchen entdeckten im Pensionat die Freuden der Gemeinsamkeit, die Verschwesterung. Nicht selten verbündeten sich zwei junge Mädchen zu einer engen Seelenfreundschaft; sie wurden unzertrennlich, schworen einander ewige Treue und tauschten als Unterpfand unverbrüchlicher Zuneigung Medaillons mit verwobenen oder verflochtenen Haaren, Ringe oder Armreifen. In katholischen Klöstern unterband eine wachsame Aufsicht »sündiges Tun«, hatte aber
nichts gegen sentimentale Schwärmerei. In angelsächsischen Ländern scheint schrankenlose Libertinage geherrscht zu haben: Aus Briefwechseln geht hervor, daß die jungen englischen und amerikanischen Internatsschülerinnen intimsten Umgang hatten, Kleider tauschten, im selben Bett schliefen, einander bekochten und sich in eine »Kuschelkammer« zum Musizieren zurückziehen durften.[63]
Nach der Heirat lockerten sich diese Bande, zumindest auf dem europäischen Kontinent. In Amerika jedoch überdauerte die Leidenschaft füreinander häufig die Trennung. So tauschten Mary Hailock Foote und Helena Dekay Gilder Briefe, die über Zärtlickeit hinaus starkes körperliches Verlangen verraten. Sie konnten es kaum erwarten, einander zu treffen, zu umarmen, gemeinsam zu schlafen und tausend Liebkosungen auszutauschen. War das Homosexualität? Die Frauen selbst dachten nicht so, da ihnen ihre Kultur weder einen Begriff noch Worte dafür gab.[64] Im übrigen gehörten sie konservativen Familien von Rang an, die solche Beziehungen ohne Einwände akzeptierten und für durchaus vereinbar mit der Ehe hielten. Auch die Ehemänner regten sich nicht auf, da ihnen bekannt war, daß die Welt der Frauen eine Fülle von Emotionen, Gefühlsüberschwang und sogar spezieller Sinnenlust kannte, die sie nicht zu unterdrücken trachteten, weil sie diese Welt meistens ohnehin verachteten. Die viktorianische Ethik, häufig als starr und repressiv bezeichnet, bewies hier eine geschmeidige Anpassungsfähigkeit an die Bedürfnisse einer jeden Person.
Schwestern und Kusinen bildeten in den Familien eine Art Clan. In katholischen Ländern kam es nicht selten vor, daß mehrere von ihnen gemeinsam ins Kloster gingen. Der Wunsch nach Zusammenleben unter Frauen war offenbar Bestandteil der frommen Berufung. Nonnen konnten mit einem Schritt der Unterdrückung durch Vater oder Ehemann und den Sorgen und Nöten des Kinderkriegens entfliehen und sich lebenslang die Gemeinschaft mit Schwestern und einer Mutter sichern. Das klösterliche Eingeschlossensein bewirkte bisweilen Anfälle von Eifersucht und Intrigen, doch mit der Beichte vor den anderen konnten solche Konflikte Woche für Woche gelöst werden.[65] Nonnen spielten eine wichtige Rolle in der Gesellschaft. Eröffneten sie auf dem Land oder in der Stadt eine Poliklinik und eine Mädchenschule, wurden sie rasch zum Kristallisationspunkt der Frauensolidarität.[66] Manche Nonnen gelangten zu echter Macht: In den 1840er Jahren soll Schwester Rosalie, der Schutzengel der »gefährlichen Klassen« in Paris, die Macht gehabt haben, die Zusammensetzung eines jeden Kabinetts zu verändern, und Mutter Javouhey wurde 1848 in Mana in Französisch-Guyana von den schwarzen französischen Bürgern, die sie aus der Sklaverei befreit hatte, zur Abgeordneten gewählt, obwohl sie gar nicht wählbar war.
Außerhalb dieser institutionalisierten »Schwesternschaften» wurden die Beziehungen zwischen Frauen durch Familienstrukturen und ökonomische Bedingungen bestimmt. Diese waren alles andere als paradiesisch. In manchen armen ländlichen Gegenden lebten Frauen seit altersher in Mißtrauen und Feindschaft zusammen. Das gilt noch an der Schwelle zum 20. Jahrhundert für die italienische Provinz Friaul.[67] Dort wohnten mehrere Generationen zusammen unter einem Dach. Die Macht der Schwiegermutter stützte sich auf ihre Rolle als Gebärerin ihrer Söhne, die sie vor dem Despotismus des Ehemanns in Schutz nahmen. Heiratete ein Sohn, tauchte mit der Schwiegertochter eine Konkurrentin auf. Sie wurde erniedrigt und ausgebeutet und konnte ihren Status erst verbessern, wenn sie selbst einen Sohn geboren hatte. Das wiederum erklärt den Haß der Schwiegermutter auf die schwangere Schwiegertochter. Diese wurde nicht etwa geschont, sondern mußte bis zur Niederkunft hart arbeiten; man ließ sie alleine niederkommen, ohne daß sie ihre Mutter oder Schwestern benachrichtigen durfte; bisweilen kam ihr eine Nachbarin zu Hilfe. Später behandelte sie die eigene Schwiegertochter ganz genauso. Diese im Schoß der Familie gegeneinander ausgespielten, zu jeglicher Solidarität unfähigen Frauen legen Zeugnis ab von der Barbarei der ländlichen Welt des Mittelmeerraums, die von Männern dominiert war.
Doch die ökonomische Entwicklung sprengte die alten Familienstrukturen und ließ eine neue Vielfalt von Familienformen entstehen. Sogar auf dem Land kam es im 19. Jahrhundert zu unterschiedlichsten Beziehungen zwischen Frauen. An den Bäuerinnen von Minot etwa können wir sehen, daß sich ihre Beziehungen untereinander nie auf das Private beschränkten. Die Beziehungen wurden innerhalb der Dorfgemeinschaft gestiftet, und die Vielfalt dieser kollektiven Beziehungen vermochte die im engen Rahmen der Familie drohende Kleinlichkeit und Gehässigkeit weitgehend zu kompensieren. Im übrigen waren diese Beziehungen nicht starr, sondern ständig in Entwicklung.
In der Stadt konnten sich »anständige« Damen ebenfalls eine Welt nach ihrem Zuschnitt und Geschmack aufbauen. Ein eindrucksvolles Beispiel sind hierfür die Bürgersfrauen im Norden Frankreichs nach den 1850/60er Jahren[68] Zu Beginn des Jahrhunderts waren sie noch an allen Geschäften ihrer im Handel tätigen Väter und Gatten beteiligt gewesen. Ihre eigentlich weiblichen Aufgaben standen demgegenüber zurück. Die Frauen überließen ihre Kinder dem Hausgesinde, sie kümmerten sich kaum um den Haushalt und waren auch nicht sehr fromm. Das Aufkommen der Industrie in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts führte zur räumlichen Trennung von Fabrik und Familienvilla, verdinglichte die Abschottung zwischen den zwei Sphären und verwies die Ehefrauen und Mütter auf Heim und Herd. Dort richteten sich die Frauen nun mit der ihnen eigenen Autorität ein. Sie definierten ihre eigenen Werte und setzten diese nach und nach denen der Männer entgegen.
Angesichts der Produktion von Gütern und Wohlstand verherrlichten sie die Familie und die Reproduktion. Während fast allenthalben ein Geburtenrückgang verzeichnet wurde, bekamen sie mehr Kinder als vordem ihre Mütter. Das Gebären wurde für sie zur Chance, ihre Besonderheit zu behaupten und Bedeutung zu erlangen. Um ihren Nachwuchs kümmerten sie sich selbst. Schwestern und Kusinen, Nachbarinnen und Freundinnen lebten in einem ständigen Karussell von Schwangerschaft, Niederkunft, Stillen, erneuter Schwangerschaft und Wechseljahren. Die biologische Uhr war zugleich ihre Schwäche und ihre Stärke, begründete ihre Solidarität, ihre Identität. Sie wachten auch strikt über die Ausbildung und Moralerziehung ihrer Kinder. Der Kinderreichtum erhöhte die Last der Hausfrauenarbeit. Doch anstatt es sich einfacher zu machen, sorgten die Damen mit Vergnügen für weitere Erschwernisse: gekocht wurde immer anspruchsvoller, gegessen immer feiner, und die Wohnung wurde mit Staubfängern und Nippes vollgestellt. Die Ausgaben stiegen beträchtlich und die Männer beklagten sich, ihre Gattinnen würden den Wert des Geldes verkennen. Diese führten zwar fein säuberlich ihre Haushaltsbücher, hatten aber mit Wirtschaften nichts mehr im Sinn. Das zahlreiche Gesinde bestand zunehmend aus Frauen. Die Beziehung zum Personal war als persönliches Band nach dem Muster fast feudaler Abhängigkeit gestaltet. Dienstmädchen gehörten zur Familie, führten also kein eigenes Leben, konnten im Grunde weder heiraten noch Mutter werden, keinerlei Freizeit beanspruchen und mußten sich dem täglichen Rhythmus einer Arbeit unterwerfen, die weder Ziel noch Ende hatte.
Die Bürgerfrauen Nordfrankreichs machten die Religion zum Mittelpunkt ihrer Welt. Das Sakrale durchdrang ihren ganzen Alltag. In ihrer Frömmigkeit wollten sie von Erkenntnissen der Naturwissenschaft nichts hören und wiesen jede rationale Kausalitätswahrnehmung von sich. Krankheit, Tod, Elend wurden als Zeichen göttlichen Willens ergeben hingenommen. Die Himmelskönigin symbolisierte alle weiblichen Werte: Jungfrau und Mutter zugleich, stand sie in Widerspruch zu Natur und Wissenschaft; sie verkörperte den Traum der körperlosen Mutterschaft ohne Vereinigung im Fleische und blutige Geburt. In christlicher Wohltätigkeit gründeten diese Damen Kinderkrippen, Kindergärten, Schulvereine, Nähstuben. Sie ließen ihre Unterstützung allerdings nur verheirateten Paaren mit getauften Kindern angedeihen. Im sicheren Gefühl der allumfassenden Geltung ihrer Werte wollten sie diese auch im öffentlichen Leben durchsetzen. Sie gründeten Frauenbünde gegen die atheistische Presse, patriotische Vereine, Mütterbünde.
Anstatt einander komplementär zu ergänzen, wurden die »zwei Sphären« auf diese Weise zunehmend voneinander getrennt und bisweilen gegeneinander ausgespielt. Ähnliches geschah durch die religiösen Erweckungsbewegungen in den protestantischen Ländern. Angesichts dieser Phänomene drängt sich die Frage auf, ob die affektiven und persönlichen Bindungen zwischen Frauen und Männern noch ausreichten, um die beiden Geschlechter innnerhalb der Familie zusammenzubringen.
Frauen und Männer
Vielleicht bestand im Zeitalter der Aufklärung und noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Art Idyll zwischen Vätern und Töchtern. Die Männer ließen sich rühren von der Zartheit des kleinen Mädchens, von seiner Feingliedrigkeit, seiner Fügsamkeit, seinen spontanen und entwaffnenden Zärtlichkeiten. Auf der Gegenseite wurde das kleine Mädchen gedrängt, die Wertschätzung und Gunst des Hausherrn zu suchen. Das sei die beste Vorbereitung auf die Ehe, sprachen die Erzieherinnen. Doch offenbar ließ sich manches junge Mädchen gerne vom Verstand des Vaters anziehen und beeinflussen. Die Anhänglichkeit Germaine de Staels gegenüber Jacques Necker gründete sich auf eine solche Bewunderung. Desgleichen war der von seiner Tochter Marie vergötterte Graf de Flavigny ein Mann der Aufklärung, der Denkanstöße gab und Wissen verbreitete. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts gibt es zahlreiche Beispiele. Die Herren nahmen sich Zeit, mit ihren Töchtern zu reden, leiteten sie bei der Lektüre an, förderten ihre Begabung für schöne Künste oder Schriftstellerei. Bald aber gingen die Väter des 19. Jahrhunderts zunehmend in ihren Geschäften auf. Sie fanden immer weniger Zeit für Erziehungsaufgaben und persönlichen Gedankenaustausch. Zunehmend neigten sie dazu, das Interesse der Töchter, die fügsamer waren als Söhne, den eigenen Zielen unterzuordnen. Gehilfin eines aktiven Vaters zu werden, konnte gewisse Vorzüge haben. So übte die in den Handel mit Batist eingeführte Mademoiselle Dubois dieses einträgliche Gewerbe ihr ganzes Leben lang aus, obwohl sie mit ihrer Heirat eine hervorragende Partie gemacht hatte.[69] Doch allzu häufig ähnelte diese Zuarbeit purer Ausbeutung. Das Fräulein Tochter fungierte als unbezahlte Kopistin oder Schreibkraft, und das ohne jede Hoffnung auf Beförderung. Desgleichen mußte die Bauerstochter ihrem Vater oft bis an die Grenze ihrer Kraft »helfen«. Und in allen sozialen Schichten wurde erwartet, daß die Tochter ihrem Vater, wenn er zum hilflosen Greis geworden war, als Krankenpflegerin diente.
Sobald die Jungfrau den Wunsch nach Emanzipation äußerte, kam es zum offenen Konflikt. Bei der Gattenwahl mochten auch die (politisch) liberalsten Väter nur ungern darauf verzichten, das Engagement ihrer Töchter zu kontrollieren. Victor Hugo, Karl Marx, hochverehrte Väter und Familiendespoten, verfolgten mit den besten Absichten ihre Töchter in dieser Situation.[70] Die zarte Elisabeth Barrett mußte sich mit fast vierzig Jahren von dem sehr ehrenwerten Robert Browning entführen lassen, damit sie endlich einem despotischen Vater entkam. Weiterer Streit konnte aufkommen, wenn eine Tochter studieren wollte, statt sich der Häuslichkeit zu widmen. Louise Weiss durfte sich an der Sorbonne erst einschreiben, nachdem sie ein Jahr in Deutschland auf einer Hauswirtschaftsschule verbracht hatte.[71] Desungeachtet lernten Väter bald, sich mit den schulischen Erfolgen ihrer Töchter zu brüsten und sogar voll auf sie zu setzen, vor allem dann, wenn kein Sohn da war. Die Tochter wiederum trat häufig in des Vaters Fußstapfen, wenn sie politisches Bewußtsein entwickelte.[72] Kurz, Vater und Tochter entdeckten immer mehr kulturelle Gemeinsamkeiten, die sie über allen Streit und alle wechselseitigen Zärtlichkeiten hinweg miteinander verbanden.
War kein Vater da, kam es vor, daß das junge Mädchen Stütze und Zuneigung bei einem Bruder fand: eine Beziehung, die in der Romantik besonders ergiebig und häufig war. In allen Ländern gab es unzählige Beispiele dafür.[73] Die Eltern sahen es mit Wohlwollen. Sie rechneten damit, daß die Schwester den Bruder sittlich bildete; als ältere
Schwester wurde sie zur zweiten Mutter; als jüngere brachte sie ihm Rücksicht auf Schwächere bei; in beiden Fällen konnte sie den jungen Mann mit ihrem Liebreiz lenken. Noch andere Faktoren spielten hinein. Für die Mädchen war der Bruder einer der wenigen jungen Männer, dem sie sich nähern, mit dem sie freimütig und vertraut reden konnten; und umgekehrt galt dasselbe. Mehr noch: der Knabe wünschte sich häufig, gespiegelt zu werden, eine Doppelgängerin zu haben, oder er versuchte sich als Pygmalion. Auch das Mädchen sah den Bruder als Mittler; durch ihn sprach das öffentliche Leben zu ihr, zu dem sie keinen Zutritt hatte. Damit er ordentlich studieren und eine gute Stellung erlangen konnte, opferte sie gern ihre Mitgift, also die eigene Zukunft. Spürte sie, daß Gottlosigkeit ihn bedrohte, schloß sie ihn vermehrt in ihre Gebete, Bußen, Gelübde ein, wie es Eugenie de Guerin oder Caroline Gobineau taten.
In der Literatur kommen Inzestphantasien zur Blüte, etwa in Emily Brontes Stürmische Höhen oder in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften.[74] Manche Autoren träumten vom Inzest mit der Mutter; bekannt ist dies von Freud, aber auch von Jules Renard. Richter, Amtsärzte, zeitgenössische Beobachter stellten fest, daß der Inzest zwischen Vater und Tochter auf dem Lande und in der Stadt besonders häufig vorkam, behandelten ihn aber üblicherweise als Bagatelle. In Gesetzen und Gerichten blieb der Inzest so gut wie unbeachtet.[75] Die Familie sollte über jeden Verdacht erhaben sein, und deshalb mußten die Opfer stumm bleiben.[76]
Jeder Mann ist seiner Mutter Sohn, schrieb Michelet sinngemäß. Er war nicht der einzige, dem der ungeheure Einfluß, die unbegrenzte Macht auffiel, die die Mutter über das Kind und vor allem über das Einzelkind hatte. Doch Mutterliebe wurde damals so hoch bewertet, daß niemand diese Macht fürchtete, auch nicht für einen kleinen Jungen. Faktisch wurden die Mütter um so stärker an der Knabenerziehung beteiligt, je mehr die Väter zur Arbeit aus dem Haus mußten. [77] Zu Beginn des Jahrhunderts konnte der Sohn schon mit sieben Jahren in ein Internat geschickt werden; Ende des Jahrhunderts trat er erst mit zwölf Jahren ein. Das Internat verlor zudem an Ansehen. Mit Billigung
des Vaters übernahm es nun immer häufiger die Mutter, über Gesundheit und Lernerfolg des Sohnes zu wachen, ihm bei den Hausaufgaben zu helfen und seine Lektionen abzuhören. Sie wollte vor allem Einfluß auf seine sittliche und religiöse Erziehung nehmen. Auf diesem Feld suchte und fand sie meist eine tiefe und dauerhafte Gemeinsamkeit mit dem Sohn. Edgar Quinet nannte seine Mutter »mein Orakel« und verglich sie mit einem geistigen Vater; später wird er sich selbst vorwerfen, sie zu sehr verehrt zu haben.[78] Für die Mutter wurde es häufig zum Problem, zwischen Vater und Sohn Stellung zu beziehen. Im allgemeinen war ihr männliche Strenge zuwider, und sie erhob Einspruch gegen körperliche Züchtigungen, doch fürchtete sie auch die eigene Nachgiebigkeit, mit der sie womöglich einen »Schwächling« heranzog. Viele Mütter wollten ihren Sohn bei sich behalten, viele wollten auch seine Zukunft mitbestimmen, bei der Berufswahl, bei der Wahl der künftigen Gattin ein gewichtiges Wort mitreden. Solches Verhalten entwickelte sich vorwiegend in den Mittelschichten mit ihrem starken Streben nach sozialem Aufstieg und in der Enge, Borniertheit und Unentrinnbarkeit ihrer Familienbeziehungen. Die komplexe Beziehung zwischen Mutter und Sohn durchzieht die Literatur. Männer wie Baudelaire oder Proust konnten sich nie von ihren Müttern lösen. Jules Valles, Arthur Rimbaud, Jules Renard lernten das Aufbegehren, indem sie gegen die eigene Mutter rebellierten. Es kann kaum überraschen, daß Freud Ende des 19. Jahrhunderts den »Ödipuskomplex« entdeckte.
Unter den gegebenen historischen Bedingungen war die Gefahr groß, daß die Beziehung zwischen Mutter und Kind, besonders zwischen Mutter und Sohn, ins Pathologische abgleiten konnte. Wie oft mögen sich Frauen an ihren Sohn geklammert haben, weil sie mit dem Gatten keine harmonische Beziehung hatten?
Haushalt und Eheleben
Sobald eine junge Frau heiratete, kam sie zu einem »eigenen Hausstand«, »gründete eine Familie«. Wollte sie auch eine Paarbeziehung? War das überhaupt ihr Wunsch? Konnte sie einen solchen Wunsch verwirklichen? Haushalt und Familie waren überlieferte, festgelegte Institutionen ohne Überraschungen. Das Paar aber war eine neue Realität
und mußte erst erfunden werden. Man zwang einer Tochter den Ehemann nicht mehr auf, sondern ließ sie fast immer zwischen mehreren guten Partien wählen. Eine Wahl treffen aber hieß Vorliebe bekennen, Zuneigung, den Wunsch nach Liebe, die Hoffnung auf eine innigere und vollkommenere Lebensgemeinschaft. Unter welchen Bedingungen konnten solche Hoffnungen und Wünsche Erfüllung finden?
Wieviel Bedeutung der Mitgift beigemessen wurde, war je nach Land verschieden. Die angelsächsische Welt wollte sie nicht und ließ jungen Leuten größere Freiheit, und das war der Homogamie kaum abträglich. In den romanischen Ländern aber und besonders in Frankreich heiratete kein Mädchen ohne Mitgift, nicht einmal bei den weniger Bemittelten. Daraus ergaben sich sorgsam ausgetüftelte Ehestrategien, besonders bei wohlhabenden Bauern, Gewerbetreibenden oder Händlern. Solchen Strategien unterwarfen sich die Mädchen in vollem Bewußtsein, ohne sich als »Opfer« zu fühlen, solange die Ehebewerber rangmäßig ihrer würdig waren. Im übrigen hieß es allgemein, die Liebe werde nach der Hochzeit schon kommen. Blieb sie aus, kamen sie auch ohne zurecht. Die Ehe war für sie eher Garantie ihrer sozialen
Identität als Quelle von Liebesglück. Doch begann sich die Idee der Mitgift zu wandeln. Immer größere Wertschätzung erlangten bestimmte Eigenschaften, Wissen und Fertigkeiten, mit denen die künftige Gattin ihrem Manne nützlich sein konnte. Ein Schneider umwarb gern eine Schneiderin. Ein Kleinhändler suchte eine Frau, die ihm die Bücher führen konnte. Ende des Jahrhunderts meinten Ökonomen wie Paul Leroy-Beaulieu, im Arbeitermilieu solle hauswirtschaftliche Kompetenz als Mitgift Geltung erlangen.
Wie die Mitgift war auch der Altersunterschied der Gatten eine potentielle Belastung. In Amsterdam war die Braut zu Beginn des 19. Jahrhunderts in 29 Prozent der Fälle älter als der Bräutigam.[79] In Amerika dagegen führte der Frauenmangel bei Mädchen zur Frühehe.[80] Wie sich solche Altersunterschiede auswirkten, ist schwer zu ermitteln.
Das freie Amerika bietet mit den Mormonen, die die Einehe ablehnten, statt Wunschträume darum zu spinnen, einen eigenartigen Sonderfall.[81] Sie erkannten allein den Männern die Polygamie zu und richteten sich damit auf ihre Weise in der Doppelmoral ein. Da Männer sexuell »von Natur aus«, wie sie sagten, größere Ansprüche hätten als Frauen, sei es Gott wohlgefällig, wenn ein Mann mehrere Frauen heirate, denn so würden Ehebruch, uneheliche Geburten, Kindsmord und Prostitution vermieden und jeder Mann wäre verpflichtet, für alle seine Kinder zu sorgen. Für die keusche Frau sei es besser, einen schon verheirateten anständigen Mann zu heiraten, als allein oder mit einem Sünder zu leben. Als Schwangere oder Stillende könne sie ohne schlechtes Gewissen mit Rücksicht auf das Kind seltener verkehren; sie habe besser unter Kontrolle, wieviele Kinder sie gebären wolle. Schließlich stehe für sie Mutterschaft an erster Stelle. Bestimmt fiel es den Mormoninnen nicht immer leicht, den Gatten mit anderen Ehefrauen zu teilen. Janet Snyder sträubte sich drei Jahre lang, als ihr Mann eine zweite Frau nehmen wollte, und ließ sich schließlich durch eine Vision bekehren. Hinterher erklärte sie einer Freundin, man müsse sich verhärten und nicht ständig an den Mann denken. Das gelang ihr am Ende so gut, daß sie sich mit den Kindern zu Tische setzen konnte, ohne ihn überhaupt zu rufen. Diese relative Einsamkeit gewährte viel Autonomie. Es kam auch vor, daß die diversen Gattinnen sich blendend verstanden und frohe gemeinschaftliche Haushalte bildeten. Allerdings wurde die Polygamie 1890 verboten.
Immer mehr junge Mädchen träumten davon, die große Liebe mit der Ehe in Einklang zu bringen. Solche Hoffnungen hegten z.B. die Pflanzerstochter Bessie Lacy in South Carolina und die Arzttochter Fanny Arnaud in Aix-en-Provence als ängstliche Bräute. Bessie nahm 1851 (mit neunzehn) den Heiratsantrag Thomas W. Deweys an, des Bruders einer
Pensionatsfreundin.[82] Ein Jahr lang erschöpfte sich ihre Beziehung in einem lebhaften Briefwechsel. Die ersten Briefe sind förmlich. Aber bald strebte Bessie nach größerer Intimität. Sie wollte Gefühle äußern, über Liebe sprechen, von Thomas für Thomas geformt werden (»Mould me as you please«), und verlangte, er solle sie mit »dearest« anreden. Doch Thomas blieb auf Distanz. Er war gerade damit beschäftigt, sich beruflich zu etablieren. Da zog sich Bessie allmählich zurück. In ihren letzten Briefen vor der Ehe legte sie ihre Rechte und Pflichten dar, und die Rechte und Pflichten von Tom. Sie stellte die Abschottung wieder her, die sie hatte überwinden wollen; indem sie ihr Territorium abgrenzte, schützte sie sich vor Leidenschaft und Enttäuschungen.
Die mit einer großen Mitgift ausgestattete hübsche Fanny[83] wählte unter ihren Bewerbern den Marseiller Industriellensohn Charles Reybaud. Sie war zwanzig Jahre alt und man schrieb 1822. Sie wollte sich in absoluter Offenheit völlig hingeben, hatte aber Angst, diese Hingabe könnte nicht erwidert werden. Einer Freundin schrieb sie: »Ich will mich nicht zu sehr auf die Zukunft verlassen; sie lächelt mir nur scheinbar zu, um mich zu täuschen.« Schwer war es in der Tat, in einer Welt, in der weiterhin Trennung der Geschlechter, Allzuständigkeit des Mannes und Doppelmoral herrschten, das ideale Paar entstehen zu lassen. Welche Erfolgschancen hatten Bessie und Fanny?
Amerika hatte es offenbar auch hier besser. Mit der Festlegung der »zwei Sphären«, die allenthalben gepredigt wurde, wurden die Aufgaben der Frau immerhin real anerkannt und gewürdigt. Als Gattin, Mutter, Erzieherin gebührte der Frau ebensoviel Rücksicht und Achtung wie dem Mann als Erzeuger von Waren und Einkünften. Ihr Einflußbereich war unbegrenzt. Im Namen ihrer sittlichen Verantwortung wachte sie über die Tugend der ganzen Familie und griff ein, sobald diese gefährdet war. Der Gatte nahm sogar Kritik seines eigenen Verhaltens hin. Harriett Beecher Stowe kanzelte ihren Ehemann regelrecht ab: Für einen Prediger des Evangeliums lese er zu viele profane Bücher, er beschäftige sich zu viel mit Luther und zu wenig mit Christus, er habe sein Triebleben nicht unter Kontrolle, usw.[84] Alle Europäer, die nach Amerika reisten, konstatierten seit Tocqueville, wie wichtig dort Frauen mit ihren Meinungen und Forderungen genommen würden. Auch die Harmonie der Gefühle wurde hervorgehoben. Verheiratete Männer hätten selten Mätressen. Alle wichtigen Entscheidungen trafen die Eheleute gemeinsam. Bessie führte mit Tom einen ordentlichen Hausstand (und vielleicht auch eine gute Ehe). Tom arbeitete als Bankier, Bessie war in verschiedenen Vereinen aktiv, zusammen zogen sie mehrere Kinder groß.
Fannys Ehe dagegen scheiterte. Charles erwies sich als eifersüchtiger Lebemann. Die Erfolge seiner Frau verdrossen ihn. Er hatte sich noch immer nicht »die Hörner abgestoßen«; als Fanny schwanger wurde, hatte er häufig wechselnde Liebschaften. Enttäuscht verlangte die blutjunge Frau nach nur drei Jahren Eheleben die Trennung, obwohl ein Sohn
geboren war. Sie wurde alsbald eine der meistgelesenen Romanschriftstellerinnen ihrer Generation. Der Fall ist recht typisch: Ehebruch des Mannes wurde von Gesetz und öffentlicher Meinung toleriert; Gattinnen schickten sich darein oder flüchteten in eine (amtlich erklärte oder gerichtliche) Trennung, in der sie weder die Freiheit noch ihre Mitgift zurückbekamen. Als die Scheidung möglich wurde (in Frankreich erst nach 1884), gingen die meisten Anträge auf Scheidung von Frauen aus. Das Scheidungsbegehren wurde keineswegs in erster Linie mit ehebrecherischem Verhalten des Mannes begründet. Sehr viel häufiger führten die Klägerinnen Mißhandlungen oder fehlenden Lebensunterhalt an, was die Richter viel stärker beeindruckte. Zugleich wurde der Ehebruch der Frau allmählich zur Bagatelle, und Ehemänner verzichteten darauf, Klage zu erheben, um nicht öffentlich als Hahnrei verspottet zu werden.
Vor allem in der Unterschicht fürchteten Ehefrauen die Brutalität des Gatten und dessen Geiz. Auf dem Lande oder im Handwerk war die Arbeitsteilung in der Ehe für den Mann kein Anlaß, von seiner Macht etwas abzugeben. Viele Redewendungen zeugen davon. In manchen armen Landstrichen manifestierte sich die Macht der Männer in brutaler Unterdrückung. Bäuerinnen im Gevaudan hatten keinen Schlüssel zur Speisekammer; weil der Mann ihnen alles weggenommen hatte, mußten sie bisweilen stehlen, um nicht zu verhungern. Überall auf dem Bauernhof oder im Familienbetrieb galt die Frau als des Mannes Arbeitstier; sie erhielt ihrerseits bei ihrer eigenen Arbeit keinerlei Unterstützung vom Mann. Frauen, die über ihre Kräfte arbeiten mußten, alterten früh und starben noch jung an Jahren. Der Leitgedanke von der »guten Fee des Hauses« setzte sich in diesen Milieus nur langsam durch: Die Bäuerin konnte sich kaum als »Frau des Hauses« sehen.
Dagegen wurde die »Hausfrau« allmählich zum Gravitationszentrum der Arbeiterfamilie. Der Mann wußte ihre Leistungen zu schätzen: Kindererziehung, Essenkochen, Kleider- und Wäschepflege, Krankenpflege. Allerdings vergifteten auch hier zwei Streitursachen - Haushaltsgeld und Kirchgang - die ehelichen Beziehungen. Arbeiterfrauen blieben gern der Kirche ihrer Kindheit treu und liebten deren Feiertage, Pomp und Zeremonien. Sie hörten auf Priester und Nonnen und steckten
ihnen gern ein Scherflein zu. Auf diese Weise hofften sie, sich ein Plätzchen im Paradies zu erwerben, das ihnen niemand wegnehmen konnte, und Gottes Gnade auf ihre Familie herabzuflehen. Die Männer, meist Freidenker und manchmal Pfaffenfresser (vor allem in katholischen Ländern), trauten sich nicht, ihren Frauen den Kirchgang zu verbieten, da deren Frömmigkeit auch deren Tugendhaftigkeit garantierte; aber immer wieder beschimpften, beleidigten und schlugen Männer das »bigotte Weib«. Des Mannes Aufgabe aber war es, das Haushaltsgeld zu verdienen, von dem er sich nur ungern trennte. Um die Jahrhundertmitte notierte Le Play, viele Arbeiter in Frankreich (aber nicht in England) überließen den Lohn häufig erst nach heftigem und manchmal gewalttätigem Streit der Ehefrau. Gerichtsakten werfen Schlaglichter darauf, wie oft um das Geld gestritten wurde und wie kräftig die Frauen austeilen konnten. In Trennungsprozessen [85] warfen sie den Ehemännern Faulheit und Trunksucht vor; sie beschwerten sich, mit den Kindern ohne einen Pfennig dazusitzen, während der Mann »gottweißwohin« laufe. Sie wünschten sich eine Wohnung mit eigenem Inventar und wollten nicht länger möbliert wohnen. Wurden sie verprügelt, zahlten etliche jeden Schlag heim, bevor sie die Flucht ergriffen.
Eins ist sicher: Die Paarbeziehung in der Ehe wurde im 19.Jahrhundert zu einem der zentralen Probleme der abendländischen Gesellschaft. Es war ein Problem, das alle Schichten erfaßte und weit über die Privatsphäre hinausging und das hier keineswegs erschöpfend dargestellt worden ist. Glücklich verheiratete Frauen waren aus zeitgenössischer Sicht solche, die sich ihrem Manne unterordneten. Reisende stellten in Frankreich mit Überraschung fest, daß in den Läden Mama die Kasse führte, während Papa fleißig werkelte. Solch gemeinsames Wirtschaften stärkte das Band zwischen den Gatten. Michelet bewunderte Madame Puchet,[86] die ihrem Ehemann und Arzt als Versuchskaninchen diente und zugleich imstande war, seine wissenschaftliche Korrespondenz zu führen, ohne darüber die ehelichen Freuden zu verachten. Manche Schriftsteller- oder Künstlerfrauen wie Julia Daudet oder Alma Mahler machten sich unentbehrlich, indem sie unter Vernachlässigung der eigenen die berufliche Laufbahn ihres Mannes energisch förderten. Bei einem Politiker war die Zuarbeit schwieriger. Die spottlustige, mit einem Botschafter verheiratete Maiy Waddington fand die Parlamentariergattinnen in Frankreich etwas »abgeschmackt«, da sie nur über ihre Kinder reden könnten, während Politikerfrauen in Italien, England oder den Vereinigten Staaten in allen Themen beschlagen seien.[87]
Die Wechseljahre
Die beim Mann kaum merkliche Schwelle zum Alter wird bei der Frau durch das Klimakterium sichtbar. Ärzte lernten diese Erscheinung immer besser kennen; manche sahen darin den »Altweibersommer« eines Frauenlebens[88] die meisten aber rieten in bester Tradition zu Mäßigung und Verzicht. Die Frauen selbst hatten zu diesem »gewissen
Alter« eine höchst gespaltene Einstellung.
In dieser Lebensphase übernahmen sie als Schwiegermutter, Großmutter, Witwe neue Rollen. Die Schwiegermutter geriet immer mehr in Mißkredit: In der guten alten Zeit hatte sie die Schwiegertochter gequält, nun ging ihre Einmischung auch dem Schwiegersohn zu weit. Doch es fiel ihr schwer, sich von ihren verheirateten Kindern zu lösen, nachdem
sie ihnen alles gegeben hatte. Als Großmutter wurde sie höher geschätzt. War sie mittellos und mußte den Ihren zur Last fallen, zeigten sich diese eher zur Unterstützung bereit, wenn die alte Mutter sich noch nützlich machen konnte. Die strickende, kinderhütende Großmutter wurde zum typischen Genrebild des 19. Jahrhunderts. In jedem Haushalt wußte man es zu schätzen, daß sie Familientradition, Alltagswissen, Abzählreime, Wiegenlieder, Manneladenrezepte, Gruselgeschichten und Schauermärchen überlieferte. Nur der Hausarzt begegnete ihr mit Mißtrauen. Wenn sie aber nicht mehr von Nutzen sein konnte, lief sie Gefahr, im Stich gelassen und verstoßen zu werden. Zwar gab es einige wenige private Wohlfahrtseinrichtungen, die alte Menschen aufnahmen; doch Ende des Jahrhunderts fielen die Alten zunehmend dem Staat zur Last.[89]
In wohlhabenden Kreisen blieben Mütter und Muhmen auch im Alter mächtig. Als Witwen verfügten sie ungehindert über große Vermögen, die sie mit konservativer Umsicht verwalteten.[90] »Matriarchalisch« regierten sie über eine Nachkommenschaft mit alltäglichen Sorgen.
Schriftsteller und Dichter gingen immer noch grausam mit Frauen um, die Jugend und Schönheit verloren hatten. Als »verhutzelte Schattengestalten«, »menschliche Wracks« bezeichnete sie Baudelaire. Aber Sarkasmus vermag nichts gegen eine unumkehrbare Entwicklung. Der Gesundheitszustand der Frauen hob sich, sie lebten länger, alterten später. Andererseits beendeten sie die Phase des Kinderkriegens nun in jüngeren Jahren. Das reife Alter erhielt größere Bedeutung. Im günstigsten Fall eröffnete es Frauen eine neue Aussicht auf Freiheit.
Aus dem Französischen von Günter Seib