Einleitung

Ordnungen und Freiheiten

Mit dem 19. Jahrhundert verbindet sich gewöhnlich die Vorstellung, es sei für Frauen eine düstere, freudlose und beengende Zeit gewesen. In der Tat ist gerade in diesem Jahrhundert das Leben von Frauen neu überdacht worden mit dem Ziel, deren je persönliche Lebensgeschichte einer gesellschaftlich geschaffenen, präzisen kollektiven Ordnung einzupassen. Dennoch wäre die Annahme falsch, diese Epoche hätte ausschließlich im Zeichen der Herrschaft, der vollständigen Unterdrückung der Frauen gestanden. Denn in diesem Jahrhundert entstand auch der Feminismus. Mit dem Begriff Feminismus sind hier sowohl bedeutende strukturelle Veränderungen (Lohnarbeit, Autonomie des bürgerlichen Individuums, Recht auf Bildung) als auch das kollektive Auftreten von Frauen auf der politischen Bühne gemeint. Insofern ist es richtiger zu betonen, daß sich in diesem Jahrhundert das Leben von Frauen, oder genauer gesagt, die Lebensperspektive von Frauen tiefgreifend veränderte. Die Moderne eröffnete überhaupt erst die Möglichkeit, daß Frauen einen Platz als Subjekt, als eigenständiges Individuum, als politische Akteurin und Staatsbürgerin beanspruchen konnten. Trotz der extremen normativen Kodifizierung ihres Alltagslebens erweiterte sich für Frauen in dieser Zeit der Bereich des Möglichen, und neue kühne Aussichten rückten in greifbare Nähe. Das von Historikern ausgemessene lange 19. Jahrhundert begann und endete mit zwei herausragenden Ereignissen: mit der Revolution von 1789 und mit dem Krieg von 1914; das soll allerdings nicht besagen, diese beiden Ereignisse könnten die gesamte historische Bedeutung der Epoche erschließen. Doch sei im Hinblick auf Frauen zumindest angemerkt, daß Frauen üblicherweise sowohl in einer Revolution als auch im Krieg in die Pflicht genommen und anschließend, sobald sie ihre Schuldigkeit getan haben, schnellstens wieder entlassen werden. Wir werden später auf diese von Männern in Gang gehaltene subtile Dynamik von Aufforderung und Abweisung, von Ausschluß und Teilhabe der Frauen, wo immer es um die Belange von Staat und Nation geht, noch einmal zurückkommen.
Die Moderne erwies sich für Frauen als eine Chance; denn die für das 19. Jahrhundert charakteristischen wirtschaftlichen und politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen waren in ihren Auswirkungen für Frauen letztlich von Vorteil. Dafür gaben verschiedene Faktoren den Ausschlag.
Zunächst einmal schloß die Idee der Menschheitsgeschichte die Annahme ein, daß auch Frauen eine Geschichte haben, daß deren Stellung als Gefährtin des Mannes und Erzeugerin der nachwachsenden Generation weniger unveränderlich war, als es den Anschein hatte, und daß das sogenannte Ewig-Weibliche offenbar vielfältigen Wandlungen unterliegen und selbst das Versprechen eines neuen Lebens in sich bergen konnte. So stellten die sozialistischen Utopien, auch wenn ihr Ort gerade nicht die Geschichte war, dennoch eine von der Gegenwart verschiedene Zukunft in Aussicht; denn in ihnen wurde das Funktionieren der Familie, die Liebesbeziehung, die Mutterschaft und das weibliche Handeln in der Gesellschaft neu überdacht. Ähnliches gilt auch für die Evolutionstheorien, die sich mit den Ursprüngen der menschlichen  Gesellschaft und insbesondere mit den Ursprüngen von Familie und Patriarchat (bzw. Matriarchat) beschäftigten. Die Vorstellung, daß die Menschheit eine Geschichte hat (einen Ursprung, eine Vergangenheit, eine Zukunft), enthielt für Frauen in jedem Fall eine Verheißung.
Zum zweiten eröffneten die industrielle Revolution und die allmähliche Ausweitung des politisch-demokratischen Bereiches neben aller Gewalt, welche den Frauen angetan wurde, auch neue soziale Räume, in denen das selbständige Individuum privilegiert war. Insofern konnte das weibliche Individuum dem männlichen, dem Arbeiter und Bürger immer ähnlicher werden und die Fesseln wirtschaftlicher und symbolischer Abhängigkeit, die es an Vater und Ehemann gebunden hatten, sprengen. Gewiß, der Weg dahin war weit. So kann eine Frau z. B. erst im 20. Jahrhundert frei über ihr Einkommen verfügen. Aber gerade diese Ambivalenz, daß Arbeitsplätze für Frauen sowohl Orte höchster Ausbeutung als auch der Emanzipation waren, daß die Staatsbürgergesellschaft sowohl ein Raum des Ausschlusses als auch der Anerkennung war, gilt es zu begreifen. Das führt zum dritten Punkt. Das Ausrufen der demokratischen Ära gereichte den Frauen nicht automatisch zum Vorteil.[1] Zunächst einmal wurde als Grundprinzip bekräftigt, daß Frauen generell von allen öffentlichen Angelegenheiten ausgeschlossen und auf den häuslichen Bereich beschränkt bleiben sollten. Der Grund dafür läßt sich unschwer erkennen. Während es im Feudalsystem undenkbar war, daß Rechte oder besser gesagt Privilegien, die einzelnen Frauen zustanden, allen Frauen zukommen müßten, beruhte die demokratische Ordnung auf dem Grundsatz, daß das, was für den einen gilt, für alle zu gelten hat. Die damit eröffnete Perspektive, nun möglicherweise allen Frauen Rechte einräumen zu müssen und damit eine als unsinnig erachtete Rivalität zwischen Mann und Frau zu riskieren, galt als Gefahr. Um diese abzuwenden, erschien es nun als höchst erstrebenswert, prinzipiell keiner einzigen Frau Rechte zu gewähren. Dementsprechend zielten Debatten um die Frau im allgemeinen jetzt nicht länger nur auf einzelne, sondern auf alle Frauen.
Allerdings hat die Demokratie den Ausschluß von Frauen niemals zum System erhoben; ja, ein prinzipieller Ausschluß stand sogar im Widerspruch zum demokratischen System selbst, das die Gleichberechtigung befürwortete und eine republikanische Form der Politik einführte. Eben deshalb konnte in der gesamten westlichen Welt der Feminismus entstehen, dessen erklärtes Ziel die Gleichberechtigung der Geschlechter und dessen Praxis die kollektive, soziale und politische Bewegung war. Feministische Aktivitäten und Schriften gab es auch schon vor dem 19. Jahrhundert; doch der Feminismus, der sich in den revolutionären Praktiken von 1789 bereits angekündigt hatte, kam erst nach 1830 wirkungsvoll zum Zuge.
Das 19. Jahrhundert erscheint demnach als Wendepunkt in der langen Geschichte der Frauen. Die traditionellen Karten wurden neu verteilt. Diese Karten waren schon immer ausgespielt worden zwischen der Arbeit in Werkstatt oder Haushalt und der Familie, die ebenso als Ideal des häuslichen Lebens wie als nützliche Einrichtung für soziale Dienste hochgeschätzt wurde; zwischen der Welt der Äußerlichkeiten, des Putzes, der Vergnügungen und der Welt der Subsistenzsicherung, des Erlernens und Ausübens eines Berufes; zwischen dem Ort der religiösen Praxis, der spirituellen Übungen, der sozialen Regeln und dem neuen Ort der Erziehung und der weltlichen Schulen. Die Karten wurden nun nicht nur anders verteilt, es kamen auch neue Einsätze ins Spiel. Das Leben der Frauen veränderte sich ganz offensichtlich. Aber wie können wir erfahren, was sie selbst davon hielten? Dies herauszufinden ist ebenso schwierig, wie die vielfältigen Arten von Widerstand, Verweigerung und Zuwiderhandlung aufzudecken. Selbst wenn die moderne Frau in bezug auf Stand und Besitz, Familiengeschäfte und Wohnform Macht einbüßte, selbst wenn das Leben einer viktorianischen Hausfrau vielleicht ungleich eingeschränkter gewesen sein mag als das einer Aristokratin zur Zeit der Aufklärung, nach deren Freiheit sich Madame de Stael zurücksehnte - sie erwarb im Gegenzug auch neue Macht, und zwar insbesondere in Verbindung mit der Mutterschaft. Man sollte in der über die Maßen hohen Bewertung der Mutterschaft nicht einfach nur die Zuschreibung der Fortpflanzungsfunktion sehen. Es ging auch um das »Erschaffen neuer Menschen«, wie Joseph de Maistre schrieb, »um die großartige Geburt eines
neuen Menschengeschlechts, das sich von dem Fluch des alten befreit hat«. Ob in gehorsamer Unterwerfung oder im Streben nach Emanzipation, die Frauen wußten sich der ihnen überantworteten Aufgabe der Mutterschaft sehr wohl auch im eigenen Interesse zu bedienen. Sie konnten Mütterlichkeit als Zuflucht wählen oder als ein Mittel einsetzen, um ihren Einfluß in der Gesellschaft zu vergrößern. Das Bild der Lehrerin, die der Gesellschaft ihre mütterlichen Qualitäten andient, bringt diesen Übergang von der »Mutter als Lehrerin« zur »Lehrerin als Mutter« beredt zum Ausdruck.
In der Tat ist es undenkbar, daß nur ein einziges Frauenbild Geltung erlangte und keinerlei Ausbruchsversuche den Rahmen des häuslichen Daseins, die Grenzen des bürgerlichen Frauenlebens, das Verbot, die Welt der Politik zu betreten, sprengten. Teils naiv, teils bewußt wehrten sich Frauen gegen die behauptete Normalität einer Existenz, die ihnen in der Form eines Ideals vorgestellt wurde; selbst wenn sie an dieses Ideal glaubten und sich ihm zu nähern versuchten, mußten sie es dennoch verändern. Manche Frauen kultivierten ihren Verstand und taten dieses nicht nur mit der Absicht, in Gesellschaft geistreich zu erscheinen: andere traten in missionarischer Absicht oder aus Abenteuerlust Reisen an, wieder andere zogen in die Stadt, um eine Anstellung zu suchen und verloren damit die Unterstützung der Familie. Einige gingen schließlich auch auf die Straße und in politische Versammlungen, um das Unrecht, das ihrem Geschlecht, ihrer Klasse oder auch den Sklaven angetan wurde, öffentlich anzuprangern. Zweifel ist außerdem angebracht, ob das 19. Jahrhundert wirklich so prüde war, wie behauptet wird, und ob das Sexualleben tatsächlich so überschaubar war, wie man es gerne gehabt hätte. Denn selbst wenn Un-Ordnung, und zumal organisierte Un-Ordnung, meistens von Männern ausging, die vom schwangeren Arbeitermädchen bis zur tuberkulösen Prostituierten die Frauen ausnutzten, selbst wenn sich freie Liebe für Frauen nur allzu oft als Falle erwies und ausgegrenztes Sexualverhalten wie das der Homosexuellen nur unter größten Risiken gelebt werden konnte: Frauen waren dennoch keineswegs nur Opfer.
Das Spannungsverhältnis zwischen Abhängigkeit und Freiheit herauszuarbeiten reicht allerdings bei weitem nicht aus, um einen zutreffenden Eindruck vom Leben der Frauen im 19. Jahrhundert zu vermitteln. Auch die Vielfalt der sozialen und beruflichen Gruppen gilt es zu berücksichtigen. Wie groß war die Zahl der Bäuerinnen, deren Alltag sich innerhalb jener hundert Jahre kaum veränderte? Zu ihnen gehörten mehr als drei Viertel der weiblichen Bevölkerung, das sollte nicht übersehen werden.
Aber die hier erzählte Geschichte der Frauen will nicht in erster Linie die Geschichte der äußerst langsam veränderten Arbeits- und Lebensverhältnisse von Frauen in das Zentrum rücken, wie es häufig in der Frauengeschichte geschieht. Das Interesse richtet sich vielmehr auf Veränderungen, also auf das, was die Geschichte der Frauen relevant macht, was die Frauen nicht nur als Statistinnen, sondern als historische Akteurinnen der Geschichte zeigt. Eine weitere Auslassung, die in den Beiträgen bisweilen auffällt, ist weniger leicht zu erläutern. Sie läßt sich umschreiben als Problem mit der konkreten Wirklichkeit, mit den materiellen und sozialen Fakten im Leben der Frauen. Die wirtschaftlichen Strukturen, die Arbeitsweise beispielsweise von religiösen Institutionen und die Interaktion zwischen verschiedenen Klassen bleiben in den Analysen meistens unberücksichtigt. Sie tauchen in den Texten, wenn überhaupt, dann gemeinsam mit anderen Faktoren auf, die der symbolischen, der bildlichen oder der Ebene des Diskurses angehören. Das ist weder Zufall noch allein Ausdruck des derzeit ausgeprägten Forschungsinteresses an den Mechanismen der Wahrnehmung, die die Sicht von Männern auf Frauen und von Frauen auf sich selbst leiteten. Es hat den Anschein, als gehöre die Ebene der Bilder und Vorstellungen unabdingbar zur Geschichte der Frauen dazu, existiert doch eine Frau niemals unabhängig von dem ihr zugeschriebenen Bild der Frau. Frauen gibt es als Symbole: die Marianne der französischen Republik, die Musen der schönen Künste; Frauen sind Illustrationen, Romangestalten, Modestiche, Reflex und Spiegel des Anderen, wie die Philosophen sagen. Frauen setzten an diesen Bildern an, um sich selbst zu verändern, denn sie wußten, daß diese Bilder eine Falle waren. Gleichzeitig aber gibt es keinen Feminismus ohne die Karikatur des Feminismus, ohne daß der Feminismus wegen seiner Exzesse in Ausdruck und Verhalten, wegen Vermännlichung, Grobheit, Zorn denunziert worden wäre. Wir haben deshalb dem Buch einen Bildteil beigegeben und diesen mit einem argumentierenden Kommentar ausgestattet, um so eine möglichst große Distanz zur gewohnten Vorstellungswelt herzustellen.
Unsere Geschichte der Frauen will ernst machen mit einer überfälligen Geschichte der Bilder und Vorstellungen. Eben deshalb weist sie immer wieder darauf hin, daß es in der Geschichte der Frauen auch um die Geschichte der Männer und die Geschichte der Verhältnisse und Unterschiede zwischen den Geschlechtern gehen muß. Diese Zusammenhänge werden in den einzelnen Beiträgen je nach Thema und Interesse der Autorin unterschiedlich ausgeleuchtet. Körper und Seele einer Frau wurden stets im Vergleich zu denen des Mannes beschrieben; Recht und Philosophie befaßten sich zwangsläufig auch mit dem Geschlechterverhältnis. Religiöse Setzungen, literarische und ikonographische Darstellungen wurden ebenfalls aus dem Blickwinkel der Geschlechterdifferenz betrachtet. Gleiches gilt für die Diskurse über politische Ökonomie, für welche die Konfusion zwischen der natürlichen und der sozialen Ordnung, zwischen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und dem Arbeitsmarkt für männliche und weibliche Arbeitskräfte besonders symptomatisch ist. Bei genauerer Analyse zeigt sich, daß typische Frauenberufe, die scheinbar auf »natürlicher« Qualifikation beruhen, reine Produkte von Spracharbeit sind.
Das Bestreben, die Geschichte der Frauen als eine Geschichte der westlichen Welt zu schreiben, ist für das 19- Jahrhundert mehr als gerechtfertigt, zugleich aber angesichts der ausgeprägten nationalen Besonderheiten und der Vielzahl neuerer Forschungen auch vermessen. In den letzten zwei Jahrzehnten ist eine kaum mehr überschaubare Zahl von Untersuchungen veröffentlicht worden, und diese Zahl steigt von Tag zu Tag weiter. Auch wenn es eine Binsenwahrheit ist, sei noch einmal daran erinnert, daß zum Westen nicht nur die verschiedenen Länder und Nationen Europas zählen - vom Atlantik bis zum Ural, von der Ostsee bis zum Mittelmeer -, sondern auch Nordamerika. Immer wieder gibt es historische und kulturelle Ungleichzeitigkeiten und Unterschiede zwischen England und Frankreich, Italien und Deutschland, zwischen den USA und Belgien oder der Schweiz. Experimente mit politischen Transformationen kamen zuerst in Frankreich mit seinen Revolutionen und seiner laizistischen Republik zum Zuge. Gleiches gilt für die großen Entwicklungen in der Religion, bei denen es vornehmlich um eine Neudefinition der katholischen Frau ging. Demgegenüber scheinen die großen kulturellen Neuerungen eher angelsächsischen und deutschen Ursprungs zu sein. So waren der deutsche und der britische Feminismus zwar nicht sonderlich politisch, dafür aber in ihren Praktiken weitaus innovativer als andernorts. Die Beispiele für nationale Unterschiede sind zahlreich. Während der französische Code civil ein Modell für moderne Gesetzgebung war, gaben in der Philosophie die Deutschen während des ganzen Jahrhunderts den Ton an. Auch verlagerte sich das Zentrum der Neuerungen bereits von Europa nach Nordamerika. Die seit dem Unabhängigkeitskrieg schöpferischen Amerikaner entwickelten sehr bald neue, aus der protestantischen Erweckungsbewegung stammende Modelle und Praktiken der Demokratie. Ergänzt wurden diese Impulse durch Erfahrungen aus der Expansion nach Westen und aus dem Zustrom der Einwanderer. Der nordamerikanische Kontinent war eine neue Welt auch im Hinblick auf das Verhältnis zwischen den Geschlechtern. Die »neue Frau« entstand aus den Erfahrungen der Boston-Frauen und der New Yorker Jüdinnen. Die »neue Frau« kam dann im Triumph zurück nach Europa und hielt dort ihren Einzug in die Debatten um die Identität der
Geschlechter.
In dem dergestalt erweiterten Westen, der sowohl homogener als auch verschiedenartiger war als der Westen früherer Jahrhunderte, gab es Unterschiede im Verhalten und Nuancen im Ausdruck, die auch in der Mannigfaltigkeit der Feminismen zutage traten. Um so überraschender ist die internationale Dimension und wechselseitige Kommunikation im Feminismus. Damit setzte ein Wandel in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern ein, der als kontinuierlicher und vielleicht endloser Prozeß andauert und uns noch heute so beschäftigt wie damals die Männer und Frauen der Belle Epoque, ebenfalls einer Zeit der Krisen und der großen sexuellen Ängste.

Aus dem Französischen von Harald Riemann