Idolatrie

Darstellungen in Kunst und Literatur

Nie zuvor hat man so viel über Frauen gesprochen wie im 19. Jahrhundert. Das Thema taucht überall auf: in Katechismen, Gesetzbüchern, Anstandsbüchern, in Werken der Philosophie, der Medizin, in theologischen Traktaten und natürlich in der Literatur. Kaum jemals hat es so zahlreiche Gesetze, eine solche Fülle dogmatischer Abhandlungen oder derart viele Phantasien über Frauen gegeben. Die Französische Revolution feiert die Frau als »Gottheit des häuslichen Heiligtums«, und die katholische Kirche erhebt die Unbefleckte Empfängnis Mariens zum Dogma. Am 8. Dezember 1854 erklärt Pius IX. feierlich, die Mutter Gottes sei als einzige unter allen Geschöpfen von der Erbsünde frei. Im Lauf des Jahrhunderts kommt es zwischen katholischer Kirche und laizistischem Staat, diesen als antagonistisch erachteten Institutionen, in diesem Punkt zu einer bemerkenswerten Annäherung. Sie kündigt sich bereits in republikanischen Gravuren an, die die Göttin der Vernunft nach Gemälden der italienischen Renaissance als Madonna oder als Frau mit vier Brüsten, die die vier Jahreszeiten symbolisieren, darstellt. Was aber gibt die Kraft, dergestalt die Gräben zwischen den Ideologien zu überwinden und die Frau vollständig aus dem Reich der Wirklichkeit zu entrücken? Es ist wohl kaum die Macht der Natur, wie in der damaligen Epoche mit verwegener Beharrlichkeit behauptet wird. Wirksam ist vielmehr die Macht der Bilder. Die imaginierte Frau, die Frau als Idol fasziniert das Jahrhundert.

Der Kult der Bilder

Literatur und Kunst stehen im Zentrum dieser Metamorphose der Frau. Kaum eine andere Literatur hat die Macht der Bilder, deren verführerisches Potential und Eigenleben so aufmerksam reflektiert wie die Literatur des 19. Jahrhunderts. Bilder können das Verhaken des Menschen bestimmen und selbst seine Identität bedrohen. Von den Romantikern in Deutschland über Offenbach und Villiers de L'Isle-Adam in den achtziger Jahren in Frankreich bis zu Oscar Wilde in den neunziger Jahrer in England ist das 19. Jahrhundert voll von Geschichten über die gefährliche und trügerische Macht der Bilder. Ob sinnlich erfaßbar oder imaginär, Bilder sind alles andere als bedeutungslos. Sie teilen dem Menschen seine Sehnsüchte mit, aber auch seine Unfähigkeit, das Objekt seiner Begierde zu besitzen. Wehe dem, der sich diesem Gesetz zu widersetzen sucht. Peter Schlemihl muß dafür, daß er sich von seinem Schatten getrennt hat, mit ewigem Umherirren büßen; Dorian Gray zahlt mit seiner Seele dafür, daß er sich die unwandelbare Schönheit seines eigenen, auf die Leinwand gebannten Abbilds angeeignet hat. Am häufigsten dargestellt wird die ergreifende Tragödie der weiblichen Statue oder Puppe, deren illusionärer Liebreiz den Tod herausfordert. Die Oper Hoffmanns Erzählungen bringt diese Thematik exemplarisch auf die Bühne. Der prägende Einfluß des Bildes kann nicht verwundern in einem Jahrhundert, das die Imagination, diese höchste aller Gaben, die den begnadeten Künstler auszeichnet, mit großem Aufwand verherrlicht. Für Goethe und Novalis, Coleridge und Baudelaire ist die Phantasie die Königsgabe, die alle anderen entzündet und einschließt: Sie erhebt den Künstler in den Rang eines Demiurgen, eines Mittlers zwischen Weltenharmonie und Sinnenwelt. Im Deutschen und Englischen wird zwischen Einbildungskraft und Phantasie, Imagination und fancy, unterschieden, doch auch diese Unterscheidung erlaubt nur eine unzulängliche Annäherung an das Unendliche. Freud lehrt uns in seiner Traumdeutung (1899), daß die Energie des Unbewußten, die im Halbdunkel der Seelen pulsiert, einen Urgrund von Bildern - Wunschbildern oder Urphantasien - mobilisiert, ohne die jeder Zugang zu dem Rätsel, das wir uns selbst sind, versperrt wäre.
Kann man aber die Leitbilder, die die Gesellschaft den Frauen anbietet, streng genommen noch als Bilder bezeichnen? Lebendige Beziehungen im Bild dauerhaft erstarren zu lassen, ist eine Degradierung. Die Tyrannei, die Unendlichkeit des Bildes auf die Knechtschaft für das Tatsächliche zurückzustutzen, ist so brutal, und die Absicht, die Frauen zu verherrlichen, um damit ihre Unterwerfung um so sicherer zu erkaufen, ist so zynisch, daß die ganze Energie der Bilder mit der  lächerlichen Gleichung, die Männer in ihrer Selbstgefälligkeit aufzustellen suchen, versiegt: Frau ist Madonna, Engel oder Teufel. Vor allem soll sie Madonna sein. Die Vollkommenheit der Gemälde Raffaels, die überall in Europa bewundert werden, hat die Vorstellung der Mutter, der Frau, die ihre erhabenste Erfüllung in der Selbstdarstellung ihrer Mutterschaft findet, mit dem Nimbus der sinnlichen Vollkommenheit umgeben. In der Abgeschlossenheit ihres Heims als Mütter verherrlicht, müssen die Frauen den Preis der Restauration zahlen. Die Revolution hat den König abzusetzen und den Bürger zu erfinden vermocht; die Bürgerin hat sie nicht geschaffen. Die Lehren der Kirche sind noch deutlicher. Seit der Gegenreformation ist der Marienkult militant geworden; er kennzeichnet den Willen zur Rückeroberung und die Weigerung, mit dem Zeitgeist zu paktieren. Die wohlüberlegte Entscheidung, das Marien-Dogma zu verkündigen, kommt einem »MedienCoup« gleich. Pius IX. hat bereits aufgrund der wachsenden religiösen Gleichgültigkeit in Europa an spirituellem Einfluß verloren, und nun tangieren die ersten Anzeichen einer Einigung Italiens - er ist zeitweise aus seinen Papsttümern vertrieben worden - auch seine politische Autorität. Um den Glanz seines päpstlichen Zeichens aufzupolieren, läßt er barocken Prunk wiedererstehen: Die Erhöhung der Herrlichkeit Marias solle ihrem Sohn und der heiligen Kirche zum Vorteil gereichen. Die zum Symbol gemachte Frau wird zum wertvollsten Einsatz und Instrument im Machtkampf. Die Marienfigur hat die leibhaftigen Frauen vertrieben. Diese Tyrannei beläßt nichts mehr da, wo es hingehört.
Ein pragmatisches, gelassenes Herangehen an die »Frauenfrage« ist ausgeschlossen: Nach damaliger Ansicht ist bereits die Thematisierung dieser Frage gleichbedeutend mit einer Erschütterung der Grundfesten der Zivilisation. Diese Angst gibt Aufschluß über die Brüchigkeit des gesamten Gebäudes. Als Olympe de Gouges, Mary Wollstonecraft und Flora Tristan öffentlich ihre Stimmen erheben, um daran zu erinnern, daß das Wesen des Menschen die Unterschiede zwischen den Geschlechtern transzendiert, scheitern sie an der Starrheit einer Ordnung, die Vorrechte umklammert. »Zuerst werde ich nun die Weiber als menschliche Geschöpfe betrachten, die ebensogut als die Männer auf die Erde gesetzt wurden, um ihre Kräfte und Fähigkeiten zu entwickeln«[1] - diese Forderung, die Mary Wollstonecraft 1792 in ihrer Verteidigung der Rechte der Frauen formuliert, verhallt wirkungslos, blieb jedoch das ganze Jahrhundert hindurch eine Provokation. Die Frau, vom Mann als schweigsames Idol erschaffen, soll keine eigene Freiheit erringen. Balzac spricht das unverblümt aus: »Die Frau ist eine Sklavin, die man auf einen Thron zu setzen wissen muß.«
Die Gesellschaft hat entschieden. Alle Anstrengungen werden gemacht, um jegliche emanzipatorische Bestrebungen zu ersticken. Man  stellt sich taub gegenüber den Stimmen, die während der Ereignisse von 1789, 1848 und 1870/71 laut werden, als die Frauen auf die Straßen und Barrikaden gehen. Die von ehrwürdigen Institutionen wie die der Medizin, Jurisprudenz und Religion wirksam unterstützten Manöver überdeckt der Schleier der Poesie. Alle drei Instanzen versehen das priesterliche Amt, die Schwäche des Weibes zu bewahren.
Die Literatur beeinflußt die gesellschaftliche Imagination; doch das Bewußtsein ihrer eigenen Macht trennt sie von einer Gesellschaft, die dem Leben gegenüber blind ist. So wie Baudelaire, der in seinen Tagebüchern über die verborgenen Triebkräfte seiner Kunst vermerkt: »Den Kult der Bilder preisen (meine große, meine einzige, meine ursprünglichste Leidenschaft)«,[2] hat sich ein Teil der Literatur um ihrer selbst willen dem Imaginären verschrieben. »Das Höchste in der Kunst (und das Schwierigste)«, schreibt Flaubert, der führende Kopf, auf den sich eine ganze Generation realistischer und naturalistischer Schriftsteller beruft, besteht darin, »träumen zu lassen«. Für diesen Mystiker der Literatur bedeutet Erlösung, dem Wort seine schimmernde Kraft zurückzugeben, so daß es wie ein gefiederter Pfeil ins Herz des Seins treffen kann. Das Schreiben, das die abwesende Frau zum Thema macht - diese außerordentlich aufnahmebereite und zweifellos überladene symbolische Heimstatt, in der Männer wider Willen vor ihren Widersprüchen und ihren Träumen Zuflucht suchen -, bringt Bewegung in eine erstarrte Welt. In dieser Rolle muß das Schreiben zwangsläufig maskulin sein und das innere Exil der Frau noch verschärfen. Als Produkt der Phantasie wird die geliebte Frau zur Matrix allen Zaubers, aller Metamorphosen. Sie steckt um ihres Partners willen die Grenzen des Ich zurück, ist die Kristallisation seiner Kindheitsträume und wildesten Erwachsenenphantasien; sie aktualisiert das von Madame de Stael so tief empfundene Gesetz, daß »sich die Leidenschaften mit aller Kraft nur an das Objekt klammern, das man verloren hat«. Die Literatur des 19. Jahrhunderts liefert wohl gerade deshalb, weil sie die Leidenschaften als Träume erkannt hat, den Schlüssel zu den ältesten Träumen. Die Frau entfacht im Geiste eine Feuersbrunst und reißt damit eine nie heilende Wunde auf; die Frau ist es, die das Leben zum Geheimnis seines Ursprungs zurückführt.
Zum anderen - und das ist vielleicht ein zweites Merkmal des Jahrhunderts - genügt bisweilen ein flüchtiger, ja, selbst ein kalter Blick, um Probleme, die die Gesellschaft nicht zur Sprache zu bringen wagt, aufzuwerfen und in Schicksalsfragen zu verwandeln. Nicht mehr nur die schmerzhaft allgegenwärtige männliche Sehnsucht aufzuzeigen und zu inszenieren, sondern auch die Freiheit der Frauen und die Klippen, an denen diese Freiheit scheitert; oder zu zeigen, welch eine unglaubliche Herausforderung die Freiheit der Frauen für all diejenigen war, die an deren Existenz zweifelten; dies alles (gegen den Widerstand der Institutionen, die »eilig einen Riegel« vorzuschieben versuchen) darzustellen bedeutet, einen Raum der Klarheit, der Sympathie und sogar der Zärtlichkeit zu öffnen. Die Frauen haben dieses Mal ihren Platz an der Seite der Männer, selbst wenn sie diesen Platz Schritt für Schritt verteidigen müssen und ihre Entfaltung an der aufgezwungenen Verteidigung zerbricht.
Der Spiegel, den die Literatur vorhält (der seinerseits unmittelbar auf den Künstler verweist, der den Spiegel hält und darüber entscheidet, was als wirklich angesehen wird), spricht somit eine unerwartete oder im Verborgenen gehaltene Wahrheit aus. Mehr noch vielleicht als in vorangegangenen Perioden klärt die Literatur die Gesellschaft über sich selbst auf. Dieses ist nicht nur der stark anwachsenden lesenden Öffentlichkeit geschuldet, die ihrerseits eine Folge der gestiegenen Bildungschancen und der immer breiteren Verfügbarkeit von Druckerzeugnissen ist. Die tiefgreifendere Veränderung besteht vielmehr darin, daß sich der Schriftsteller von nun an bewußt ist, allein mit der schöpferischen Kraft der Sprache eine ganze Welt regieren zu können. Seine Freiheit fordert die Gesellschaft heraus, sie stellt deren armselige Listen bloß und lockt eine unfreiwillige Grimasse hinter deren mühsam beherrschter Maske hervor. Die Mittel, mit denen sich die Gesellschaft dieser Einmischung zu erwehren sucht, erweisen sich als unzureichend und unwirksam; sie erschöpfen sich darin, den Künstler der Unmoral zu bezichtigen, ihn in Verruf zu bringen oder ihn in einer Pose, die ihn verrät, zur Statue zu machen. Das Genie jedoch läßt sich nicht zähmen: Der Kritik wird es niemals gelingen, es auf eingefahrenen Wegen traben zu lassen. Wenn die Kunst unbezähmbar ist, stellt sich der Skandal unvermeidlich ein: Flaubert und Baudelaire zeigen das für das Frankreich des Zweiten Kaiserreichs, und nach ihnen zeigt es eine ganze Generation von Schriftstellern, die seit den achtziger Jahren überall in Europa - von Stockholm bis London über Paris bis Madrid und Wien - die Scheinheiligkeit attackiert. Schon 1793 heftet Blake dem Jahrhundert ein Schandurteil auf die Pforte: »Bordelle (baut man) mit den Ziegeln der Religion.«[3] Er geißelt die unfreie und erniedrigte Liebe und die Verlogenheit in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern. Es ist sicherlich angemessen, an den berühmten Ausspruch Flauberts über seine Heldin zu erinnern: »Madame Bovary, c'est moi.« Sicher, der Satz bleibt rätselhaft und das Scheitern, mit dem der Roman schließt, ist offensichtlich. Klar ist jedoch auch, daß Madame Bovary, die Ehebrecherin, die schuldig geworden ist und ihre Träume verloren hat, über den Gemeinheiten steht, mit denen sie zur Strecke gebracht wird. Der sie erschuf, scheut sich nicht vor der Verantwortung: Weit entfernt, sie dem Zorn der Selbstgerechten auszuliefern, identifiziert er sich mit ihrem Los.
Erst seit kurzem hat die Literaturkritik damit begonnen, die haarsträubende Unaufrichtigkeit der damaligen Literatur aufzudecken, die am Ende des Jahrhunderts wahrscheinlich noch ausgeprägter ist als an dessen Anfang. Mit den Worten eines der schärfsten Beobachter jener Epoche sind die Beispiele Legion, »daß Frauen, die die Opfer sind, die Schuldigen zu sein scheinen, und nicht zu Worte kommen, um sich verständlich zu machen«.[4] Die Literatur stellt sich hinter ein System von Trug und Täuschungen und legt Fallstricke, die um so gefährlicher sind, je geschickter sie konstruiert werden. Wer vermag zu sagen, wieviel Schaden das Frauenbild - Engel oder Madonna - angerichtet hat, das das Jahrhundert beherrschte? Aber sind trotz der tiefgreifenden Veränderungen in unseren Sitten und Gebräuchen die Heldinnen des 19. Jahrhunderts nicht immer noch fähig, unsere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen? Wenn sie auf der Leinwand so häufig zu neuem Leben erweckt werden, geschieht das dann nicht gerade wegen ihres Wunsches nach Glück, wegen ihrer inneren Widersprüche und wegen ihres Schicksals, gegen das sie sich aufbäumen? Da Freiheit unteilbar ist, sind uns ihre Sehnsüchte nur allzu vertraut.
Die Zauberwelten der Oper wenden oft die trügerischen und niederträchtigen Kompromisse der bürgerlichen Moral ins Lyrische. Das wohl berühmteste Beispiel ist Verdis La Traviata, in der die Geschichte einer Wandlung von der rührenden Prostituierten zur Heiligen nach der literarischen Vorlage Alexandre Dumas [5] (Die Kameliendame) geschildert wird. Das für das Theater jener Zeit beherrschende Handlungsschema der Erlösung durch Liebe übt abermals seinen Zauber aus. Nur daß diesmal der Schuft nicht durch die Fürsprache einer reinen Frau gerettet wird, sondern durch die höchst unwahrscheinliche Unterwerfung der sündigen Dame unter die Gesetze der Familie. Die Notwendigkeit der Entsagung drängt sich Violettas Gewissen auf, nachdem sie durch die Enthüllungen des Vaters und des Geliebten aufgeklärt worden ist. Das Opfer der Kurtisane auf dem Altar von Familie und Patrimonium, die von ihrer Vergangenheit bedroht wurden, besiegelte ihre Erlösung. »Sie ist im Himmel«, erklingt es sieghaft im Schlußchor.
Es ist kaum möglich, zuverlässiger, als es hier geschieht, die Erwartungen eines Publikums zu erfüllen, das für Vergnügungen und Ordnung schwärmt, aber mythische Antworten auf eines der drängendsten sozialen Probleme des industriellen Zeitalters zurückweist, das sich gleichgültig zeigt gegenüber den Legionen von Entwurzelten, die es geschaffen hat - solange diese die gesellschaftliche Stabilität nicht bedrohen. Unschuldig Verführte (für die Margarethe in Gounods Faust das Modell sein könnte) oder männermordende Weiber (die Salome von Strauss etwa, der die von Oscar Wilde ins Theater eingeführte Gestalt getreulich übernimmt) erscheinen auf der Bühne; sie sind fügsam oder furchterregend, in jedem Falle aber die reinsten Spiegelungen von Männerphantasien. Wagner ist die beherrschende Figur des Jahrhunderts. Sein Aufstieg beruht nicht nur auf der Neuartigkeit seines Musikstils. »Wagner est une nevrose« (Wagner ist eine Neurose), notierte Nietzsche in französischer Sprache. Seine Musik bewirkt ein »Theater-Lourdes«, behauptet Thomas Mann. Wagners in schwere, mythologische Faltenwürfe gehüllte, wie aus einem Block gehauene Personen, Engel oder Hexen, unterstützen das Kunstwerk seiner vergifteten Musik. Auf eine Brünnhilde - die jungfräuliche Kriegerin, die auf die Unsterblichkeit verzichtet, zur Frau wird und Siegfried in seinen irdischen Kümmernissen beisteht, auf die Gefahr hin, ihrerseits verraten und verlassen zu werden - kommen soundso viele Sentas, Elisabeths und Kundrys, blind fixiert auf einen Mann, den es zu retten oder zu verderben gilt. Isolde, die vielleicht großartigste all dieser Liebenden in einem Drama, das das Universum auf zwei verzückte Seelen reduziert, verstrickt sich so in den Gefahren narzißtischer Liebe, daß sie ihre Beute ins Nichts entführt und, berauscht von Leitmotiven, in der Exstase untergeht.
Alle diese Beispiele sprechen allein vom männlichen Begehren. Der Selbstrausch romantischer Leidenschaft und die moralisierenden Mythen vermitteln sehr viel weniger über das Leben der Frauen in der Wirklichkeit, als jene Stimmen, die in den Werken des frühen 19. Jahrhunderts mit wachsender Beharrlichkeit und thematischer Vielfalt von der Ernüchterung sprechen. Das Glück - worunter wir die Entfaltung der Persönlichkeit sowie deren Selbstverwirklichung und nicht das Trugbild aus Selbstverleugnung und Hingabe im Dienst an anderen verstehen sollten - bleibt für Frauen unerreichbar. Aber kann man sich ein persönlicheres Abenteuer vorstellen, als die Suche nach dem Glück? Sie mobilisiert die tausend Reserven des weiblichen Geistes. Selbst die Niederlage erweist sich als ein riesiges Erkundungsfeld, gleich ob man sich gegen sie aufbäumt oder sie still hinnimmt. Wenn der Sieg der etablierten Ordnung gehört und nur durch widerliche Intrigen errungen werden kann, dann sind die Niederlagen das Zeichen eines außerordentlichen Schicksals. Der Roman hat sie immer wieder in ihren verschiedenen Ausprägungen dargestellt, selbst wenn der Fin-de-sieclePessimismus mit düsterer Stimme beide Geschlechter Rücken an Rücken einer fundamentalen Nicht-Kommunikation ausliefert.
Zwar ist die generelle Geschlossenheit jenes Zeitalters offenkundig (es geht dabei eher um den Zeitraum zwischen den zwei Erschütterungen von 1789 und 1914, als um das streng chronologisch eingeteilte  Jahrhundert), doch bleibt es gleichwohl ein gewagtes Vorhaben, für die gesamte Periode die Bilder und literarischen Vorstellungen des Abendlandes zu beschreiben, vor allem, wenn man die Literatur nicht willkürlich von ihrem natürlichen Milieu und ihren verbündeten Künsten trennen will. Ein solches Vorhaben widerspricht den Gewohnheiten der Literaturgeschichte, die zu Recht vor so umfassenden Synthesen zurückschreckt und überdies kaum daran gewöhnt ist, mit den radikalen Fragen umzugehen, die seitens der Frauen an sie herangetragen werden. Die Epoche ist voller Widersprüche, die sie uns auf Gedeih und Verderb vererbt hat, und es gibt kaum Anhaltspunkte, um sie zu verstehen. Der Fortschrittsbegriff, eine allzu bequeme Vorstellung, die cien kritischen Geist des Jahrhunderts eingeschläfert hat, hilft uns nicht weiter. Die Ängste dagegen, die die Ländergrenzen überschreiten und keine literarischen Schulen kennen, haben eine Geschichte. Sie liefern eine anpassungsfähige und dauerhafte Matrix, aus der ein Teil der Modellvorstellungen entstehen, die die gemalten Frauenbilder inspirieren. Außer den gesellschaftlichen und politischen Veränderungen erlangen auch Sittlichkeitserwägungen entscheidenden Einfluß. So erschüttert die Entdeckung sexueller Energien das Ende des Jahrhunderts, während die im Gegensatz dazu christlich genannte Geringschätzung des Körpers (obwohl sie sich dummerweise aus stoischen und gnostischen Traditionen speiste, die den Kern der sogenannten Inkarnationsreligion gefährdeten) in früheren Jahren jegliche Äußerung strikt reglementiert hat.
Wie läßt sich vermeiden, daß bei diesem Porträt die zuweilen so kontrastreichen Züge ausgelöscht werden, die das Gesicht einer jeden Generation zeichnen; und wie kann man außerdem - auch das ist nicht ohne Bedeutung - die Besonderheiten von Sprache (und Mundarten) berücksichtigen, die literarischen Gestalten erst ihre unverkennbare Präsenz verleihen; die die Heldinnen von Fontane in Brandenburg und die von Thomas Hardy im ländlichen Süden Englands verankern, und die die Nuancen aufzeigen, die Amerika von Europa auch dem englischsprachigen - unterscheiden und bei Henry James zur Quelle der Beunruhigung für seine Personen werden? Die einzige Chance wird sein, sich so eng wie möglich am Leben zu orientieren, das gegen den systematischen Geist rebelliert, Kraftlinien ausfindig zu machen und deren Zusammenwirken zu begreifen versuchen, und sich vielleicht gar in den Bann von einer jener imaginären Frauen ziehen zu lassen.

Die Vorrangstellung der imaginären Frau

  • »Die Frauen sind silberne Schalen, in die wir goldene Äpfel legen. Meine Idee von den
    Frauen ist nicht von den Erscheinungen der Wirklichkeit abstrahiert, sondern sie ist mir
    angeboren, oder in mir entstanden ...
    Goethe an Eckermann, 22. Oktober 1828
  • »Und so ist es das Weib, das den stärksten Schatten und das stärkste Licht in unsere Träume wirft ...
    Es lebt in den Einbildungen, in denen es befruchtend umgeht.«
    Baudelaire, Die künstlichen Paradiese (1861)[5]

Wenn Rousseau, im Jahrhundert der Aufklärung, als erster die Frauen den unzähligen Zufälligkeiten und Situationen des Lebens entreißt, um sie im Empyreum der Einbildungskraft anzusiedeln, so ist er auch der erste, der am eigenen Leib die Gefahr verspürt, die daraus erwächst, sich in den eigenen Träumen zu verlieren. Tatsächlich dem Charme der romantischen Heldin erliegend, die er in der Neuen Heloise (1761) geschaffen hat, ist der Zauberer von dieser Julie hingerissen, die er nach Herzenslust mit allen Vorzügen ausgestattet hat, und träumt einen Augenblick lang, daß sie ihn in Gestalt der Madame d'Houdetot begegnet sei. Eine süße Verwirrung, die ihm noch teuer zu stehen kommen wird. In gewisser Weise wiederholt sich dieses Abenteuer bei Emile. Jean-Jacques verliert die Gelassenheit des Pädagogen. Überwältigt von den Reizen Sophies, dem weiblichen Gegenstück zu Emile in dieser umfangreichen Abhandlung über die Erziehung, verliert Jean-Jacques seine pädagogische Fassung. Er tut mehr, als nur die Fäden des Plots so miteinander zu verbinden, daß Sophie zur Ehe bestimmt wird; er mischt sich außerdem zu ihren Gunsten ein und preist ihre Vollkommenheit. Der Philosoph offenbart damit, welche Macht die Bilder und Vorstellungen auf ihn ausüben. Aus dieser Bedrängnis kann er sich nicht befreien. Für ihn ist die Frau im wesentlichen ein Bild: Sie magnetisiert und elektrisiert die männlichen Energien. Sie ist zugleich Ursache der Degeneration in der Gesellschaft und Mittel zu deren Gesundung.
Reich an all den Paradoxen, die die Vorstellung vom Glück heraufbeschwört, läßt der lyrische Gedankenflug von Saint-Preux den Zauber der Frau kurz aufleuchten:

»Frauen, Frauen! Teure und verhängnisvolle Objekte, die die Natur zu unserer Pein geschmückt hat, die ihr straft, wenn man euch die Stirn bietet, die ihr verfolgt, wenn man euch fürchtet, deren Haß und deren Liebe gleich schädlich sind, und die man nicht ungestraft sucht noch flieht! Schönheit, Charme, Anziehung, Sympathie! Unbegreifliches Wesen oder Chimäre, Abgrund der Schmerzen und der Wonnen! Schönheit, die schrecklicher ist für die Sterblichen, als das Element, aus dem du geboren bist, unglücklich derjenige, der sich deiner trügerischen Ruhe ausliefert! Du bist es, die die Stürme hervorruft, die das Menschengeschlecht peinigen!«

Gelingt es der Beredsamkeit der Leidenschaften, über den außergewöhnlichen Charakter des Vorhabens hinwegzutäuschen, das der Roman beschreibt und das der Tod glücklicherweise vor dem Scheitern bewahrt? Julie stirbt, bevor sie sich ehrlich eingesteht, daß es eine trügerische Hoffnung war, aus der Liebe ein rein geistiges Prinzip zu machen, das der Obhut der Tugend anvertraut ist. Wenn die Neue Heloise somit im Hinblick auf das Glück und das Leben die Frage eines geistigen Priesteramtes absolut offen läßt, das Rousseau entgegen seinem Jahrhundert der Frau zuteil werden läßt, so setzt sie doch Phantasien in Umlauf, von denen die Leser noch bis hin zu den Surrealisten fasziniert sind. Diese wirken um so heimtückischer, als Rousseaus Denken aufgrund seines Umfangs, seines gestalterischen und musikalischen Vermögens neue Welten eröffnet. Die Krankheit der Menschheit, behauptet Rousseau, sitzt tief: Sie erfaßt das Leben selbst. Die Verantwortung dafür muß der Gesellschaft angelastet werden, da sie sich vom Naturzustand entfernt hat. Das Heilmittel liegt daher im Bauprinzip der Gesellschaft selbst. Das Vorhaben der Genesung setzt, da man nicht zum Naturzustand zurückkehren kann, als Grundlage die Existenz gesicherter Werte voraus. Und was gibt es Wirksameres als das Heilmittel der Weiblichkeit? Mehr als nur ein Gegengift ist nach Jean Starobinski die Frau; sie - das rettende Anderssein - ist das Heilsversprechen. »Sie verkörpert die höchste Chance für den Mann; sie sollte, wie im Denken Goethes, als der Schlußstein im Gewölbe eines Gebäudes angesehen werden«, schreibt Andre Breton noch Mitte des 20. Jahrhunderts.
Selbst als die Romantik langsam verblaßt, lebt die Epoche noch weiterhin von der romantischen Illusion. Denn zweifellos ist das Anderssein der Frau eine reine Erfindung, eine Konstruktion des Mannes. Rousseau, der im Emile eine Theorie über die Unterwerfung der Frau unter die Natur und unter die konservativen Instinkte der Gesellschaft entwickelt und damit ein Arsenal gefährlicher Waffen hinterläßt, das seine Nachfolger durchaus zu nutzen bereit sind, bestätigt das. Das Wesen der Frau zu offenbaren ist die Tat des Mannes. »Wer bist du, Eva? Kennst du denn deine Natur?« fragt Vigny seine Gefährtin in La maison du berger (1844). Aber der Frau zu offenbaren, wer sie selbst ist, heißt immer nur sie zu erträumen, sie zu formen (vorzugsweise gefügig und kindlich), ja sie gegen die finsteren Mächte zu schützen, die ihr innewohnen (Schwachheit, Unreinheit, Hysterie). Baudelaire weiß das besser als jeder andere, -wenn er betont: »Das Weib ist natürlich, das heißt abscheulich.«[6] Man könne sie kaum vom Affen unterscheiden! Aber wenn sich erst Schmuck, Parfüms, Kosmetika ihrer bemächtigen, sei die Verwandlung vollkommen. Selbst ihre Torheit leiste der Idolatrie Vorschub. Die um ihr Selbst betrogene Frau nimmt die unerträgliche Last der Existenz hinweg und gibt dem Dichter das Paradies seiner Träume zurück. Baudelaires Kurzerzählung mit dem Titel La Fanfario (1847) stellt dies anschaulich dar: Noch in dem Augenblick, wo er die Geliebte in Besitz nimmt, verlangt ihr Liebhaber von ihr, daß sie aus dem Theater das Kostüm hole, in dem sie wenige Stunden zuvor als begnadete Tänzerin aufgetreten war, und mahnt sie, auch das Rouge nicht zu vergessen, das sie dafür aufgelegt hatte. Für den Dandy war das Liebesobjekt ein Bild, eine Idee.
Wohlgemerkt: Die Dichtung bedient sich solcher Mittel, um die Tiefen des menschlichen Wesens auszuloten. In diesem exzentrischen, zuweilen auch qualvollen Streben löst sich die Frau von ihrem minderwertigen Status als selbstverständliche Gefährtin des Mannes sowie von der zweckmäßigen und falschen messianischen Figur, für die sich der Sozialismus eine Zeitlang erwärmt. Gegebenenfalls auch grausam, sucht sie sich jeder Vereinnahmung als ein Ewiges, Transzendentes zu entziehen, sei es der Abgrund des Bösen oder die Unberechenbarkeit des Lebens, per Definition fähig, sich zu geben, aber nicht zurückzuhalten. Das männliche Begehren, das unablässig den Traum von der Frau als dessen Spiegelung zu neuem Leben erweckt, als Chimäre oder Automat, verbrennt an der unerreichbaren Flamme, die es plagt. Die bedeutendsten Künstler begnügen sich nicht damit, die Selbstgefälligkeit des Jahrhunderts zu geißeln. Man möchte fast behaupten, daß sich die Literatur auf dem höchsten Punkt ihrer Bewußtheit über die Künstlichkeit, um die sie sich so verzweifelt bemüht (was wäre Baudelaire zum Beispiel ohne das Dogma von der Erbsünde, das ihn unter den Fluch eines schlechten Gewissens stellt?), in den Rang einer blasphemischen Huldigung an die unreduzierbare Freiheit erhebt.
Das allerdings ist ein Spiel, in dem Frauen bestenfalls als Vorwand dienen und immer Opfer bleiben. Wie sollten lebende Frauen unter solchen Umständen unbeschadet davonkommen? Es ist bekannt, mit welchen Worten Baudelaire von Madame Sabatier, der er lange Zeit mit mystischen Sonetten den Hof gemacht hatte, am Morgen nach einer Liebesnacht Abschied nimmt: »Vor einigen Tagen warst du eine Göttin . . . Jetzt bist du eine Frau.« Der Fall kommt plötzlich, unwiderruflich, kaum gemildert durch die Warnung, die er noch zu Zeiten seiner Ergebenheit ihr gegenüber ausgesprochen hat: »Ich bin ein Egoist - ich benutze Sie.«
Um den Preis solch extremer Erfahrungen jedoch erzielt die Epoche einen revolutionären Durchbruch auf den unterschiedlichsten Gebieten des Kunstschaffens und des Denkens. Denn wenn unter Hölderlins Feder die Dichtung zum kritischen Bewußtsein ihrer Zeit wird, oder nach den Worten seines Freundes Hegel zur »Lehrerin der Menschheit«, wenn sie mit Baudelaire und Nerval ehemals unantastbare Grenzen überschreiten, deren Intensität blendet, dann tut sie dies durch den Kult der höchsten Weiblichkeit, ohne Zweifel nur eine reine Vorstellung, die in ihrem Ursprung mit der Dichtung selbst verschmilzt. Noch zu einer Zeit, in der die alte Gesellschaft zerfällt, um einer neuen Platz zu machen, deren Selbstbewußtsein noch ungewiß ist nach dem Verlust der althergebrachten Werte, betrieb die Poesie einen verzweifelten Kult um sich selbst.
Der Roman, dessen große Meister - Balzac, Dickens, Zola, um aufs Geratewohl ein paar Namen zu nennen - das Ziel verfolgen, die gesellschaftliche Wirklichkeit abzubilden und dabei manchmal mit der kühlen Exaktheit der Wissenschaft konkurrieren möchten, gerät selbst in die Klauen der Dämonen des Jahrhunderts. Dickens stellt einen Extremfall dar. Er ist ein Beweis dafür, in welchem Maße die scharfe Beobachtung des sozialen Elends und die Darstellung der Frau getrennte Bereiche sind. Der Erfolg auf dem ersten Gebiet wird erkauft durch unglaubliche Stereotype auf dem zweiten. Wie viele andere Männer so erzittert auch Balzac vor der Ungeheuerlichkeit einer schreibenden Frau: Eine Autorin sei ein Hohn auf die Naturgesetze, sie werde durch »irgendwas Jungfräuliches, Unbezähmbares« alles in Furcht und Schrecken versetzen. Und indem er sich lebhaft von dem biblischen Vorbild distanziert, fügt er hinzu: »Eine starke Frau darf es nur als Symbol geben, in der Wirklichkeit macht sie angst.« Die Alpträume, die die Theologen und ihre weltlichen Schüler (beispielsweise Proudhon) ob der Vorstellung einer Frau quälen, die dem Mann nicht vollkommen unterworfen ist, suchen auch die Brüder Goncourt heim, obgleich diese doch in ihrer Darstellung von Frauen Neuland erobern. Tatsächlich heben sie eines der letzten literarischen Tabus auf. Sie öffnen den Roman den »Gefallenen« - den ledigen Müttern wie Germaine Lacerteux (in dem gleichnamigen Roman von 1865), die in »Dienstmädchenhysterie« verfällt und an der Schwindsucht stirbt; und den Prostituierten, die dem Verbrechen anheimgefallen sind, wie die Heldin in Die Dirne Elisa (1877), deren Wille durch das unmenschliche Redeverbot in den Frauengefängnissen gebrochen wird, so daß sie dem Wahnsinn verfällt und schließlich stirbt. Die Darstellungen der beiden Brüder beruhen auf eigenen Untersuchungen und Auswertungen von Dokumenten und sind noch unter dem Eindruck des erschütternden Erlebnisses einer Besichtigung des Zuchthauses von Clermont-deL'Oise entstanden. Als Initiatoren der großen Reise in die Welt der Arbeiterinnen, der Kriminalität und der Halbwelt, ebnen die GoncourtBrüder den Weg für den selbstzerstörerischen Epos der Gervaise in Die Schnapsbude von Zola (1877); und sie waren ebenfalls Vorreiter für die zahlreichen Schilderungen schwer arbeitender Frauen, die die naturalistischen Theaterstücke und Romane in ganz Europa bevölkern. Gleichzeitig aber sind sie Zeugen für die allgemeine Mißachtung, mit der Frauen belegt werden, und für deren grausame Herabsetzung zum Sexualobjekt oder zur Ware. Ihr Journal ist voll mit Aufzeichnungen damals gängiger antifeministischer Schmähungen. Es wimmelt von bösartigen Bemerkungen über die angebliche Unmenschlichkeit der Frau, die die Natur »zur Gebärmutter herabgestuft« habe. Die Zeiten, in denen die Frau für Baudelaire noch den Zauber der Unendlichkeit in sich birgt, sind längst vorbei.
Zola, dessen Einfluß in den 1880er Jahren so entscheidend wird, liefert das Bindeglied. Nana, das schamlose, verzehrende Biest, gehört mehr dem Mythos als der Sozialgeschichte an. Von ihren Anfängen als ausgehaltene Frau, die die Begierden einer vergnügungssüchtigen Gesellschaft befriedigt, steigt sie in den Rang eines Symbols auf. Sie veranschaulicht die Destruktivität einer von der Fortpflanzungsfunktion abgelösten Sexualität und ist eine Verkörperung des gesellschaftlichen Verfalls, der das Zweite Kaiserreich untergräbt. Selbst der eher gelassene Maupassant bringt seinen Horror vor allem Mütterlichen zum Ausdruck, während er sich gänzlich der Vorstellung einer unerreichbaren Traumfrau - dem Symbol seiner eigenen Obsessionen - hingibt. Und wie steht es mit dem Asthetizismus des Joris-Karl Huysmans? Der Romancier hat gut lästern über den »Idealismus alter Trottel«, die »Hohlheit der zölibatsbesessenen alten Jungfer«, in denen die Literatur bis zum Naturalismus geschwelgt habe. Danach kann er selbst nicht verhindern, daß in seinen eigenen Schriften Gestalten wie die Salome {Gegen den Strich, 1884) auftauchen, die eine geradezu kosmische Angst verraten.
Die anderen europäischen Länder standen Frankreich in dieser Hinsicht in nichts nach. Das Bild der Frau als Sphinx oder Chimäre verfolgt bereits Heine, bevor es gegen Ende des Jahrhunderts die Phantasie von Malern wie Gustave Moreau und Felicien Rops beeinflußt. Die unversöhnliche Jungfrau sät im Theater Hauptmanns und Hofmannsthals Furcht und Schrecken, ebenso wie die Kurtisane bei Wedekind, dem Schöpfer der furchterregenden Lulu, die Berg 1935 in die Opernwelt einführt. Die Präraffaeiiten in England, Klimt in Wien, der Norweger Edvard Munch sowie Alfred Kubin in Österreich-Ungarn beschwören in ihren Bildern nicht weniger beunruhigende Visionen. Aber Frankreich bekundet vielleicht am deutlichsten und früher als andere Länder, in welchem Ausmaß sich ein gesamter Teil des künstlerischen und intellektuellen Schaffens von einer geschlechtsbestimmten Darstellung nährt, die dem Mann die Bändigung der fremden weiblichen Natur zum Ziel setzt. Michelets kraftvoller und intuitiver Geist überträgt grobe und ungehobelte Vorstellungen auf seine äußerst lyrisch angelegte Prosa. Mit seinem maskulinen Denken befruchtet er das Territorium der Geschichtsschreibung und beherrscht es auf ähnlich liebevoll-tyrannische Weise wie im Privatleben seine zweite Frau. Einem Visionär gleich entschlüsselt er die Geschicke Frankreichs und des französischen Volkes, feiert die heilsamen Energien der Hexe und Mutter, stellt jedoch den Einfluß der Frauen als einen entscheidenden Faktor dar, der die Revolution in die falsche Richtung gelenkt hat (Die Frauen der Revolution, 1854). Paradoxerweise ist es die Wissenschaft, ob sie sich nun Soziologie nennt wie bei Comte oder Religionsgeschichte wie bei Renan, welche die Logik des Jahrhunderts zu ihrem Abschluß führt. Sie träumt vom Kommen einer höheren Form der Menschheit, bei der die Parthenogenese endlich der skandalösen Notwendigkeit ein Ende setzen wird, das Überleben der Gattung einem so unzulänglichen Geschlecht wie dem weiblichen anvertrauen zu müssen.    Der schwarze Kontinent der Frau flößt Furcht ein, und jeder Wahnsinn ist ihrer skandalösen und nackten Präsenz vorzuziehen. Der deutsche Idealismus hat sich ebenso wie später Wagner an diesem Thema abgearbeitet. Glücklicherweise werden Wagners dürftige dogmatische Erklärungen, mit denen er vergebens versucht, »das ewige Weib« auf eine dem Manne ergebene, dienende Natur festzulegen, von der Musik überwältigt. Wagners verstiegenes Bestreben, Goethe zu überbieten, unterstreicht nur die Originalität des Vorbilds. So maskulin Goethes Denkweise auch gewesen sein mochte, für ihn erschöpft sich das Wesen der Frau nicht allein im Lieben. Wie seine Zeitgenossin Rahel Varnhagen, eine der aufgeklärten Frauen der Romantik, die in Berlin einen Salon führte, bemerkt, ist es kein Zufall, daß unter den zahlreichen Frauengestalten, die er in Wilhelm Meisters Lehrjahre geschaffen hat, diejenigen, deren Leben allein der Liebe gewidmet ist, zu Tode kommen. Das Ewig-Weibliche, dieser höchste Wert, mit dem Faust II schließt, stellt gewiß eine Krönung dar. Der Dichter überantwortet seine Weisheit dem Geleit der Musik und des Symbolismus. »Das EwigWeibliche / zieht uns hinan«, verkündet der Chor. Die Knappheit dieses Schlußsatzes faßt das Schicksalhafte bündig zusammen und registriert die Kontinuität von Zeit und Ewigkeit. Faust hat mehrere Frauen getroffen: Gretchen, die Kleinbürgerin, die er ins Verderben stürzt, und Helena, die Gestalt aus der Antike, die für einen Augenblick in ihrer unwandelbaren Perfektion wieder zum Leben erweckt wird. Zusammen mit Maria, der Gottesmutter (die Gretchen in jener Schlußszene anfleht, die den Aufstieg des unsterblichen Teils Fausts vor dem Hintergrund eines Hochgebirges zeigt, das von Engeln und mystischen Gestalten bevölkert ist), bilden die Frauen doch nur einen Teil des Symbols, dessen Wunder der Dichter in kühner Sprache beschreibt. Das Symbol existiert in der Tat nur, wenn es durchdrangen ist von den beweglichen Energien des Traums, der Schönheit und der Natur. Diese Energien, die Faust auf seinem Weg geleitet haben, vereinigen sich nun in höchster Erfüllung. Gleichgültig gegenüber jeglichen Besitztümern, zurückgegeben an die Freiheit eines ungebundenen Daseins und geöffnet für die Wohltat der Meditation gehört Faust völlig zu Recht dem Seienden an. Goethe feiert eine Sehnsucht, die sich in das Gesetz des Lebens fügt.
Wie kann man sich in solchen Höhen bewegen, wenn das Jahrhundert blanke Scheinheiligkeit predigt? Die offizielle Wahrheit der siegreichen Menschheit, die auf dem Gipfel ihrer Errungenschaften die Früchte der Zivilisation genießt, wird untergraben durch die Auflösung des Bewußtseins und des Individuums, Dies zeigt sich an Ibsens Stück Das Puppenheim (1879), das sofort auf allen Bühnen Europas großen Erfolg hat. Es endet mit der Szene eines endgültigen Abschieds: Nora wirft die Tür hinter ihrem Eheleben zu, um endlich allein zu leben. Sie hat sich ihrem Mann aufgeopfert, ihn vor dem Tod bewahrt und ihm zwei Kinder geschenkt. Er aber ist zu unbeständig und unfähig, in ihr etwas anderes zu sehen als die Puppen-Frau, derer er bedarf. Deshalb gibt es für Nora nur eine Rettung, die Flucht: Das Leben beginnt jenseits von Heim und Familie. Welche Gewißheit wird bleiben, fragt Schnitzler zu Beginn des 20. Jahrhunderts? Seine Theaterstücke und seine Erzählungen erkunden die verborgenen Winkel der Seele und befassen sich immer wieder mit deren Ängsten und ewiger Unschlüssigkeit. Er zieht die Realität der gelebten Wirklichkeit in Zweifel; Wirklichkeitserfahrung sei letztlich bedeutungslos, da Menschen von der Phantasie beherrscht und in törichte gesellschaftliche Mechanismen verstrickt seien. Schnitzler veranschaulicht in seiner unnachahmlichen Art sowohl den mächtigen Einfluß als auch das Versagen des Imaginären. Mann und Frau lösen sich in der Vorstellung auf und werden auf den Wogen des Unbewußten fortgetragen. Ein anderer Wiener ist ihm nah, Sigmund Freud, der sich in Schnitzlers düsterer Klarheit wiedererkannte.

Verhängnisse

  • »Es ist unabdingbar, daß die Existenz von sich ausgeht (. . .) und daß man, ohne je der Mittelpunkt zu sein, doch immer die treibende Kraft beim eigenen Geschick ist.«
    Madame de Stael, Über den Einfluß der Leidenschaften (1796)
  • »Als sie merkte, wie das starre System sie einzuschließen begann (. . .), ergriff sie ein Gefühl von Finsternis und von Erstickenmüssen.«
    Henry James, Bildnis einer Dame (1881)

Wie kann man für die Freiheit geboren sein in einer Gesellschaft, die sie nicht toleriert? Wie kann man das Glück erlangen in einer Welt, in der der Raum für weibliches Handeln immer enger wird? Die Beschränkung der Frau auf Heim und Herd, so wollen es die viktorianischen Abhandlungen, soll die Grundlage ihrer moralischen Autorität sein. »You have deep responsibility: you have urgent Claims; a nation's moral worth is in your keeping« (Ihr tragt große Verantwortung; ihr habt dringende Ansprüche; der sittliche Wert einer Nation liegt in eurer Obhut), erklärt Sarah Ellis ihren Leserinnen in The Women of England (1839), einem der unzähligen Traktate, mit denen das siegreiche Industriebürgertum sein Gesetz vorschreibt. Eine jede Nation verteidigt so mit der immer gleichen Fadheit ihr je eigenes Modell. Es versteht sich, daß die den Frauen zugestandene Macht abhängig ist von der Einhaltung eines Vertrags, demzufolge Frauen jeglichen persönlichen, politischen und gesellschaftlichen Anspruch aufgeben. Sobald Frauen diesen Vertrag zerreißen, verzichten die Männer auf frühere Ritterlichkeit, nun nur noch eine Don Quichotterie, ein vorgegaukeltes Blendwerk. C'est la guerre.
Die Literatur wird zum unmittelbaren Kampfplatz. Noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts konnte das Schreiben als Bestandteil weiblicher Freiheit gelten. Das Briefeschreiben - eine Tätigkeit, die sich für den unterbrochenen Tagesrhythmus derjenigen besonders eignet, die sich dem Haushalt und der Familie widmen - ist als literarische Form anerkannt worden und hat auch den Roman beeinflußt. Mit den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts wird die Lage zunehmend angespannter. Die Aufrechterhaltung des Status quo bereitet Probleme. Paradoxerweise ist England vielleicht dasjenige Land, das Schriftstellerinnen am ehesten toleriert. Aber ist dieses vergleichsweise tolerante Klima nicht allein darin begründet, daß Jane Austen, die Bronte-Schwestern oder auch George Eliot nicht ausdrücklich gegen die etablierte Ordnung anschreiben? Die Ehe bleibt für sie das entscheidende Geschehen. Jane Austen hat ihren Optimismus nicht verloren, und Charlotte Bronte kann den Triumph Jane Eyres zeigen: Mittellos und verwaist, gelingt es Jane schließlich, ihren Verführer zur Heirat zu verpflichten. Somit erreicht sie wenigstens einen Teil dessen, was sie sich erhofft hat (auch wenn das Leben selbst ihr grausam die Flügel gestutzt hat).
Andernorts tobt ein erbitterter Kampf. Im Jahre 1800 äußert Madame de Stael die schmerzliche Erkenntnis, daß eine Literatin ein ebenso erbärmliches Leben führe wie die Parias in Indien. Zurückgewiesen und verflucht, muß sie dafür bezahlen, daß sie das Tabu gebrochen hat: Sie hat sich in die Männer-Domäne gewagt und Anspruch auf ihr eigenes Leben erhoben. George Sand, die wie so viele ihrer Generation von der Schreibwut, dem ersten Weg zur Emanzipation, gepackt ist, kann sich nur mit Mühe durchsetzen. Wegen der Fülle ihres literarischen Schaffens und ihres schöpferischen Genies kam das Jahrhundert nicht umhin, sie zu dulden; jedoch erspart es ihr auch nicht die Schmerzen der Verfolgung: War es offensichtlich zu spät, in ihrem Fall noch Einhalt zu gebieten, kommt nun alles darauf an zu verhindern, daß dieser Fall sich zum zweiten Mal wiederholt. Die deutschsprachigen Länder bieten kein erfreulicheres Bild: Die Metternichsche Restauration erstickt alle früheren Initiativen bereits im Keim. Rahel Varnhagen, die die Freiheit gekostet hat, zieht sich zurück. Ihre Korrespondenz bleibt nun privat. Sie zu veröffentlichen hätte vorausgesetzt, daß sie sich maskiert, sich in die Rollen fügt, die ihr von Männern aufgezwungen werden. Nichts verdeutlicht besser die herrschende Ungleichheit, als die Geschichte zweier blutsverwandter Schriftsteller, Clemens und Bettina Brentano. Er ist ein gefeierter Dichter. Als sie dagegen um 1835 zu veröffentlichen beginnt, ist sie schon fünfzig Jahre alt und außerdem Witwe sowie Mutter von sieben Kindern und eine bedeutende Berliner Persönlichkeit; dennoch muß sie sich die Vorwürfe ihres Bruders gefallen lassen, sie habe die gebotene Schamhaftigkeit verletzt, indem sie so dreist an die Öffentlichkeit getreten sei. Gewiß hat Bettina ihre Lage noch dadurch verschlimmert, daß sie sich ausgerechnet mit dem sozialen Elend in den Berliner Armenvierteln befaßt hat. Der anschließende gesellschaftliche Skandal verstärkt den literarischen Skandal, und das Buch wird verboten. »Warum war ich kein Mann!« fragte sich bereits die unglückliche Karoline von Günderode, jene leidenschaftliche Frau, die von der Verantwortungslosigkeit ihrer Partner in den Selbstmord getrieben wurde.
Die von Frauen geschriebenen Romane schildern daher selbstverständlich die Desillusionierung und das zerbrochene Glück. Sehen wir uns das Werk Madame de Staels an. Corinne, eine hochbegabte Dichterin, kann sich keine größere Erfüllung vorstellen, als den errungenen Ruhm ihrem Geliebten Oswald zu Füßen zu legen. Aber dieser entzieht sich, Opfer eines falschen Pflichtgefühls. Corinne bleibt nichts anderes als der Tod. »Das Los einer Frau ist besiegelt«, so das Fazit ihres früheren Romans Delphine, »wenn sie nicht den geheiratet hat, den sie liebt; die Gesellschaft hat für das Schicksal der Frauen nur eine Hoffnung gelassen; wenn die Würfel gefallen sind und man verloren hat. ist alles entschieden.« Diese Aussage spiegelt eine schreckliche Wahrheit dieser Epoche. Es gibt für die Frau keine Möglichkeit der Entfaltung in einer misogynen Welt. Sie kann sich allenfalls mit anderen Außenseitern zusammentun und sich dem Volk, dem der Sieg versprochen ist, anschließen auf der Suche nach Erlösung - ein Ausweg, den George Sand in Consuelo ihren Leserinnen anbietet. Zu dieser Zeit (1844) hellt sich der Himmel für einen kurzen Augenblick auf. Die Solidarität mit den Unterdrückten beginnt, konkrete Formen anzunehmen, zum Beispiel im sozialen Engagement Flora Tristans, die auf ihrer Tour durch Frankreich die Arbeiterschaft organisiert. Aber die zarten Hoffnungen werden mit der blutigen Unterdrückung der Aufstände von 1848 zerschlagen.
Nehmen wir den denkbar abgelegensten Ort der Welt, das Refugium des Aristokraten Clochegourde in einem Tal der Touraine, am Ufer des Indre, und nehmen wir eine Frau, die in ihrer Berufung als Mutter vollkommen aufgeht, beflügelt vielleicht durch eine innere Religiosität, wie sie nur den reinen Seelen eigen ist - und schon haben wir einen neuen Stoff für einen Roman über das Drama des Privatlebens. Es gibt keinen Ort auf dieser Erde ohne geheime Wunden. Ist Die Lilie im Tal von Balzac (1836) wirklich der Roman einer Aufopferung? Madame de Mortsauf bebt vor Leidenschaft, die Felix, der Geliebte, in ihr entfacht, obwohl sie sich, im Irrtum befangen, zwingt, ihn wie einen Sohn zu betrachten. Die schreckliche Eifersucht, von der sie gepackt wird, als ihre Rivalin Erfolg hat, verrät eine tiefe Erkenntnis: Felix' Untreue läßt sie mit ihrem unerfüllten Verlangen allein. Zugegeben, Balzac hat sich einer Selbstzensur unterworfen. Das Aufbegehren dieser Frau, das sie auf dem Sterbebett angesichts ihres nicht gelebten Lebens verspürt, war im Manuskript prägnanter herausgearbeitet. Der Romancier opferte das Herz seiner Erzählung, um seine Geliebte zufriedenzustellen, die sich zweifellos darüber beunruhigte, was die Erkundung seelischer Abgründe zutage förderte. Dennoch, selbst so wie der Text nun vorliegt, spricht er eine deutliche Sprache und wird überdies erhellt durch das Ineinandergreifen der Erzählteile, die den Roman bilden. Wenn Die Lilie eine Lektion in Moral darstellt, dann ist diese Lektion sicherlich nicht an die Frauen gerichtet. In Wirklichkeit erteilt eine Frau dem Erzähler, der sich herausnimmt, sein eigenes Abenteuer in eine Liebeserklärung umzuwandeln, die eigentliche Lektion: Nathalie de Mannerville weist den unrühmlichen Bewerber, der gegenüber dem Verlangen der Madame de Mortsauf blind war, ab. Eine Frau zerstört zu haben, so teilt sie ihm mit, ist eine erbärmliche Empfehlung für die Verführung einer anderen.
Wo Balzac sich noch zügelte, fallen seit den sechziger Jahren des Jahrhunderts viele Hindernisse. Am Ende des Jahrhunderts wird das Schauspiel des unerbittlichen Schicksals, das die Frauen verfolgt, breit entfaltet. Der Realismus in der Malerei dient als eines der Vehikel. Aufschlußreich ist der Skandal, den Manets Bilder Frühstück im Freien und Olympia (1863 und 1865) hervorriefen. Der Maler hat gewagt, eine zeitgenössische Prostituierte, die höchst repräsentativ war für die Moral des Zweiten Kaiserreiches, als Akt darzustellen. Zunächst war es Zola in Frankreich, dann nach und nach Autoren in ganz Europa, die die Literatur für die Darstellung aller sozialen Schichten öffneten. Auch die letzten Tabus wurden nun angegriffen. So bezichtigen die Spanier Perez Galdos und Clarin und etwas zurückhaltender auch Thomas Hardy in England die Kirche der Machtgier und des Unverständnisses gegenüber den Problemen von Frauen. Die kirchliche Obrigkeit kümmere sich weniger um die Moral als darum, Ehepaare in religiöser Zeremonie zu vereinen, ein ebenso kurzes wie erfolgloses Verfahren. Eine Vielzahl neuer Sehnsüchte und Wünsche gerät ins Blickfeld. Die Frauen können weder von den anderen Belangen einer in Bewegung geratenen Gesellschaft abgetrennt, noch mit einem Archetypus gleichgesetzt werden. Die beiden Heldinnen Fortunata und Jacinta gehören im gleichnamigen Roman von Galdos (1887) nicht derselben Welt an. Sie mögen beide aus Madrid kommen und Opfer desselben Mannes sein. Jedoch gehört die eine der Unterschicht an, deren robuste Gesundheit, Leidenschaftlichkeit und eifersüchtigen Stolz sie verkörpert, und letzterer veranlaßt sie, sich als Ehefrau des Mannes zu betrachten, dem sie ein Kind geboren hat. Die andere dagegen genießt die tristen Vorteile der Bourgeoisie - Geld, Ehrbarkeit -, die ihr nichts nützen, als ihr Mann sie verläßt und sie kinderlos zurückbleibt. Es wäre müßig, hier die Vielfalt der Romansituationen zu beschreiben. Vom Rußland Tolstois bis zum Portugal des Eca de Queirös (dessen Luisa im Vetter Basilio von 1878 im Gedächtnis haftet: sie ist eine ehrbare Bürgerin, die sich allmählich zur Ehebrecherin entwickelt), der Roman bleibt durchzogen von Sehnsüchten, in denen endlich das weibliche Geschlecht und die Gegenwart sprechen: Sehnsucht nach Glück, nach sinnlicher und intellektueller Erfüllung, nach Selbstbestimmung, anstatt sich einem abwesenden oder gleichgültigen Ehemann anzuvertrauen. Auch schwingt in der Literatur das Verlangen des Fleisches mit, dem Frauen auch gegen den sie umgebenden Idealismus eine Sprache geben. Das ist zum Beispiel in Juan Valeras Pepita Jimenez (1874) der Fall. Der Roman erzählt, wie eine junge Witwe die Liebe eines Seminaristen kurz vor seiner Ordination gewinnt und ihn veranlaßt, sie zu heiraten und das Priesteramt aufzugeben. Dieser Roman führt zu einem glücklichen Ende; viele andere jedoch enden in der Katastrophe, herbeigeführt durch die unerbittliche Trägheit der Gesellschaft. Maupassant, der sich des Urteils enthält, unterstreicht mit der Kälte seines Schreibens die gesellschaftliche Grausamkeit. Der Schwede Strindberg führt mit Fräulein Julie (1888) und anderen Theaterstücken in die endgültige Ausweglosigkeit. Liebe ist eine Illusion, der Kampf der "Geschlechter wie der Klassen hoffnungslos. Es wäre besser, nie geboren zu sein, heißt es in Ein Traumspiel (1901).
Der Roman ist im 19- Jahrhundert das wohl unbestritten lebendigste literarische Genre und zudem dasjenige, das am angemessensten die  Sehnsucht der Frauen nach Glück und die Hindernisse, gegen die sie ankämpfen, beschreibt. Zwei Romanciers, der Engländer Thomas Hardy und der Amerikaner Henry James, seien kurz vorgestellt. Mit ihnen nimmt unsere Welt ihren Anfang. Welches sind die Hindernisse, an denen die stolze, rechtschaffene Tess in Tess von d'Urbervilles (1891) und die noble, unabhängige Sue Bridehead in Juda der Unberübmte (1895) zerbrechen? Beide Romangestalten glauben einem vorbestimmten Schicksal oder auch der Ordnung der Dinge erlegen zu sein, wenn sie ihr Elend mit den Worten Hiobs beschreiben. In Wirklichkeit sind sie zu empfindsam, ihrer Zeit zu weit voraus in ihrem Bestreben, nach dem inneren Gesetz zu leben und sich dem Starrsinn und den Konventionen entgegenzustellen. Sie geraten in die Fallen einer Freiheit, gegen die sich alles verschworen hat. Lediglich Batseba, die Heldin aus Fem der rasenden Menge (1874), überwindet den Dämon im Dämmerlicht der Freiheit und entwindet sich dem Zugriff des Schicksals. Dies gelingt ihr nur, weil sie sich der unerschütterlichen Treue Gabriel Oaks, eines Mannes, der aus demselben Holz wie sie geschnitzt ist, sicher weiß. Das Scheitern von Tess und die Entsagungen Sues, die von der Gesellschaft gezwungen werden, in die Falschheit, der sie entkommen wollten, zurückzukehren, hinterläßt einen bitteren Geschmack: Wie viele Verheißungen wurden einer brüchigen bunten Ordnung geopfert!
Henry James ist ein ebenso scharfsinniger Beobachter der oberen Gesellschaftsschichten wie Hardy es für das bäuerliche Milieu ist. Er läßt den Hang zur Unabhängigkeit, die Gabe der Intelligenz und die Schönheit für Frauen immer dann zur Bedrohung werden, wenn ihr extremes Selbstbewußtsein es nicht zuläßt, Unterstützung anzunehmen. Die Damen aus Boston (1888) ist eine unbarmherzige Satire auf den Feminismus in Amerikas intellektueller Metropole. Sicher ist es unvermeidlich, daß das Leben sich an den Höhen eines so abstrakten und weltfremden Kultes der Humanität rächt, wenn ihm Frauen, die sich in ihrer Haut nicht wohl fühlen, als militante Streiterinnen dienen. Aber das moralische Gefängnis, das im Bildnis einer Dame (1882) Isabel Archer umschließt und dessen Realität sie physisch erfährt, und ebenso der Tod, den die allzu unbekümmerte Daisy Miller im gleichnamigen Roman erleidet, signalisieren auf subtile Weise eine Gefahr: Angesichts der neuen und berauschenden Herausforderungen der Freiheit und des Glücks kann die geringste Fehleinschätzung fatal sein. Wie aber können Irrtümer vermieden werden, wenn es in der »Neuen Welt« für die Jagd nach dem Glück Regeln gibt, die mit den Gepflogenheiten der »Alten Welt« in Konflikt geraten?

Das Leben annehmen: Lou Andreas-Salome

  • »Die Welt, sie wird dich schlecht begaben, glaube mir's: Sofern du willst ein Leben
    haben: raube dir's!«
    Lou Andreas-Salome. Lebensrückblick [7]
  • Nun liegt es mir eigentlich ferner, von Tugenden und Leistungen zu reden, als von
    dem, worin ich mich kompetenter fühle: vom Glück.«
    Lou Andreas-Salome, »Zum Typus Weib« (1914)[8]

Es steht außer Frage, daß Henry James sich seinen Gestalten mit einer zutiefst weiblichen Sympathie annähert. Gleichwohl ist es an der Zeit, daß wir uns wieder den Frauen selbst zuwenden. Die Aufmerksamkeit soll nun dem Leben einer einzelnen Frau gelten, einem Leben, welches Schritt für Schritt seiner selbst bewußt -wird und, befreit von aller den Elan fesselnden Last des Protestes, sich seiner Autonomie vergewissert. Ungestüm in ihrer Bereitschaft, alle Risiken des Ungebundenseins auf sich zu nehmen; rätselhaft selbst für ihre Freunde, die sie selten dort antreffen, wo sie sie vermuten; verliebt in ein Glück, dessen Geheimnis sich mischt mit dem sprühenden Leben, dem sie mit Leib und Seele verbunden ist, hat Lou Andreas-Salome (1861-1937) wie keine andere die Debatten des 19. Jahrhunderts hinter sich gelassen.
Wenn sie es ist, die einen Weg weist, dann weniger durch den Glanz ihrer vor Unabhängigkeit, Kultur und Schönheit sprühenden Persönlichkeit, als durch ihre innere Richtschnur, die es ihr ermöglicht, souverän und unvoreingenommen dem nur als Geschenk erfahrenen Leben gegenüberzutreten.

»Ich kann weder Vorbildern nachleben, noch werde ich jemals ein Vorbild darstellen können, für wen es auch sei; hingegen mein eigenes Leben nach mir selber bilden, das werde ich ganz gewiß, mag es nun damit geh’n wie es mag. Damit habe ich ja kein Prinzip zu vertreten, sondern etwas viel Wundervolleres - etwas, das in Einem selber steckt und ganz heiß vor lauter Leben ist und jauchzt und heraus will . . . Glücklicher als ich jetzt bin, kann man bestimmt nicht werden…«[9]

Die junge Frau, die diesen Brief schreibt, ist gerade 21 Jahre alt. Sie lebt in Rom, wohin sie sich aufgrund ihrer gefährdeten Gesundheit zurückgezogen hat. Sie träumt von einer Art Lebens- und Arbeitsgemeinschaft mit zwei brillanten, jedoch wesentlich älteren Intellektuellen, deren Bekanntschaft sie soeben geschlossen hat: Friedrich Nietzsche und Paul Ree. Mit unerschütterlicher Gelassenheit reagiert sie auf die entrüsteten Einwände, von Seiten ihrer Mutter, aber auch von Feministinnen, die ihr aus ihrem heimatlichen Rußland übermittelt werden durch den Mann, der ihr erster Lehrer gewesen ist und der sie geliebt hat mit einer Liebe, die zu erwidern Lou außerstande war: Pastor Gillot. Lou aber weicht nicht von ihrem Weg ab, weder zu diesem noch zu einem anderen Zeitpunkt ihres Lebens. Die Kraft, die sie vorantreibt und sie unempfindlich macht für das Gerede der Leute, ist nicht die Kraft der Rebellion, denn auch die Revolte hat ihre Konformismen. Jedes Freiheitsbegehren, so wird sie später über Ibsens Heldinnen sagen, ist zum Scheitern verurteilt, wenn es über das Stadium der Negation nicht hinausgeht, wenn es ihm nicht gelingt, seine eigenen Verhaltensregeln zu entwerfen. Eine innere, gleichsam stendhalische Überzeugung gibt der jungen Frau die Sicherheit, daß ihre Entscheidungen richtig sind. Lou wird mehr als einen Partner durch dieses Verhalten zerstören, angefangen bei Nietzsche und Ree, den abgewiesenen Liebhabern, die sich verzehren nach dieser Frau, die sich ihnen verweigert und ihnen nur eine intellektuelle Partnerin und Lebensgefährtin zu sein gedachte - eine Rolle, die sie später in ihrer platonischen Verbindung mit ihrem Ehemann Andreas ausleben kann. Aber aus diesem Leben, das sie mit solcher Intensität zu erfassen versucht, dessen Fülle der Sinnenlust sie 1897 in der Liebe zum jungen Rilke entdeckt, schöpft sie auch die Kraft, dem späteren Dichter der Duineser Elegien beizustehen, ihn zur Reife seines Genies zu führen, selbst auf die Gefahr hin, mit einer zu exklusiven Beziehung ihre Kraft zu überdehnen.
Diese unverbrüchliche Treue veranlaßt Lou Andreas-Salome auch, sich mit ihren gründlichen philosophischen und medizinischen Kenntnissen und ihrem Vertrautsein mit den großen Strömungen des europäischen literarischen Lebens nun dem verheißungsvollen neuen Feld der Psychoanalyse zu öffnen. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg ist Lou für Freud eine bevorzugte Partnerin. Sie bereichert die Psychoanalyse mit ihrer kreativen, warmen und poetischen Intelligenz, die es ermöglicht, Blockierungen zu überwinden und eine höhere Synthese zu erreichen, wo Freud zu sehr der Mann der Wissenschaft blieb, der analysiert und zergliedert. Spätestens seit der Jahrhundertwende beschäftigt sich Lou Andreas-Salome mit den Verbindungen, die sich beim Liebeserlebnis zwischen Geist und Körper einstellen, und sie sucht in den jüngsten biologischen Erkenntnissen nach einem neuen Zugang zu diesen Bereichen. Wie könnte die Psyche unberührt bleiben von den Energien, die aus den Tiefen des Körpers aufsteigen? Wie könnte sie weiterhin dem überirdischen Romantizismus anhängen, der an die Verschmelzung zweier Seelen glaubt, wenn die Trunkenheit der fleischlichen Lust möglicherweise an die Wurzeln des menschlichen Seins rührt? Zum Verdruß der Feministinnen sucht Lou Andreas-Salome in der Biologie, aber auch in den Symbolen, die das Leben der Frauen reglementieren - vor allem in der Gestalt der Madonna, die, wie wir gesehen haben, die Vorstellungswelt beherrscht -, einen Zugang zu einem freien Verständnis der Frau. Die zynische Verschiebung von Werten, die die Gesellschaft vorgenommen hat, als sie die Fülle des Weiblichen auf hysterische Unterwerfung reduzierte und die Frau zum Weibchen machte, darf nach Lou Andreas-Salome nicht als Vorwand dienen, um die in der Sprache aufgehobenen Werte insgesamt zu verwerfen. Angemessen interpretiert, könnten sie die Frauen und die Gesellschaft allgemein vor dem Chaos und der Orientierungslosigkeit bewahren, die mit dem Zusammenbruch der Werte drohen.
Diese Überlegungen könnten ehrgeiziger und dringlicher kaum sein. Sie zielen darauf, sich selbst zu versöhnen und ein noch unbekanntes Verhältnis zum Körper, zur Sprache und zur Poesie auszuloten. Lou, die über die Bilder von der Frau nachgedacht hat (bei Ibsen, Strindberg, aber auch bei ihren feministischen Schwestern), leistet zweifellos einen entscheidenden Beitrag, als sie im Anschluß an Freud auf den Narzißmusbegriff zurückkommt. Narzißmus ist in ihren Augen nicht nur ein strukturierendes Prinzip in dem Sinn, daß er über die Liebe des Individuums zu seinem Selbstbild auch die Selbstliebe bezeichnet. Er verankert vielmehr im Erwachsenenalter etwas von den frühkindlichen Wünschen aus der Zeit, in der das Kleinkind sich noch nicht von seiner Umgebung unterscheidet. Es ist diese kraftspendende Energie, die insbesondere Künstler besser als alle anderen einzufangen wissen, Künstler, deren Schöpfungen das gesamte Sein durchqueren und die aus Quellen schöpfen, die den meisten von uns kaum zugänglich sind. Mit dieser Deutung weist Lou Andreas-Salome einen Weg, der besser kaum gedacht werden kann, um der Ausgrenzung eines Geschlechts, das allein auf die Inkonsistenz von Bildern verwiesen war, ein Ende zu setzen. Sie gibt den Bildern ihre Prägekraft, die sie für die Menschheit insgesamt haben, zurück.
Lou Andreas-Salome ist sicherlich nicht die größte Schriftstellerin des 19. Jahrhunderts. Wie ausgeprägt ihre Empfindsamkeit auch ist, wie entscheidend auch ihr Anteil am Werk Rilkes (das undenkbar ist ohne ihre briefliche Unterstützung) gewesen sein mag. am deutlichsten ist ihre Spur auf dem Gebiet der Philosophie und der Psychoanalyse. Eine allzu trennende Beurteilung würde jedoch weder ihrer außerordentlichen Großzügigkeit gerecht noch ihrer stilistischen und dichterischen Begabung, die sie so klar im Lebensrückblick unter Beweis stellt, den sie am Ende ihres Lebens in den Jahren 1933-34 abfaßt. Diese Frau, die ihr Leben mehr als jede andere selbst bestimmt hat, legt jegliche Eitelkeit, die sie besessen haben mag, ab, um von den ungewöhnlichen Begegnungen zu erzählen, die sie geprägt haben, und darüber, wie sich ihr Leben in Dichtung verwandelt hat, nicht etwa, weil sie es von eigener Hand gemeistert hat, sondern durch das Wirken einer Energie, die über uns hinausreicht und uns durchdringt.
Künstlerinnen haben keine leichte Aufgabe. Oft müssen sie zusehen, wie ihre Arbeit geopfert wird: Etwa Alice James, deren Journal lediglich auf Gleichgültigkeit, wenn nicht Feindseligkeit bei ihrem Bruder Henry stößt, der zum großen Teil für dessen verspätete Veröffentlichung im Jahre 1934 verantwortlich ist - vierzig Jahre nach dem Tod der Autorin; ebenso Camille Claudel, Bildhauerin, deren Karriere durch die Feigheit ihres Liebhabers Rodin und ihres Bruders, des Schriftstellers Paul Claudel zerstört wird. Unter diesen Bedingungen gelingt es Frauen kaum, Einfluß zu nehmen auf das Bild, welches Kunst und Literatur von ihnen entwerfen. In unserer Abhandlung kamen notwendigerweise abwechselnd männliche und weibliche Stimmen zu Wort, Stimmen, die sich klar und unverwechselbar unterscheiden. Aller Widrigkeit zum Trotz aber gibt es einige wenige Neuerungen. Neu ist zum Beispiel die literarische Figur des kleinen Mädchens, die unterschieden wird vom universellen männlichen Modell des Kindes. Diese Gestalt taucht in den 1860er Jahren auf. Sie trägt zweifellos Züge eines Opfers, wie zum Beispiel Cosette oder die Waise, die in Victor Hugos Die Elenden im Haus der Thenardiers ausgebeutet wird. Aber vor allem erringt sie mit Sophie, der kleinen Schelmin, die die Gräfin de Segur in Les malheurs de Sophie (1864) entwirft, und noch mehr mit der charmanten und ungewöhnlich unabhängigen, gewitzten Alice in Lewis Carrolls Alice im Wunderland (1865) ein besonders eigenständiges Profil: als logisch denkender und wißbegieriger Widerspruchsgeist.1" Hat Lou Andreas-Salome, zur selben Zeit geboren wie Alice, von der Bresche profitiert, die Carrolls Figur geschlagen hat? Als Frau von Fleisch und Blut, von Geist und Feder gibt sie dem bisherigen Bild einen Hauch von Frische.

Aus dem Französischen von Anne Hamilton und Karin Hausen