Die Produktion imaginärer und wirklicher Frauen

Produktion im Sinne von »produzieren« wird hier in doppeltem Sinne aufgefaßt, einerseits passiv - welche Art von Frauen produziert werden - und andererseits aktiv - was sie selber produzieren. Frauen sind nämlich nicht einfache Trägerinnen der Reproduktion, sondern Subjekte ebenso wie Objekte der Produktion. Sie sind nicht nur Geschöpfe, sondern auch Schöpferinnen, und sie verändern ständig auch den Prozeß, der sie formt.
Geformt wurden die Frauen das ganze 19. Jahrhundert hindurch von den religiösen Geboten und Ritualen, von einer Erziehung, die etwas anderes sein wollte als Ausbildung, und von einem Unterricht, der nie über die engen Grenzen des unmittelbar Nützlichen, des Schicklichen, des Hauswirtschaftlichen und des Benimms hinausgehen sollte. Die Erziehung veränderte sich kaum; sie blieb an die Aufgaben und Pflichten von Gattin, Mutter, Hausfrau gebunden, und ihre Inhalte und Ziele wurden vom Chor der Pfarrer, Philosophen, Moralisten und Staatsmänner fast einstimmig und ohne Unterlaß immer erneut bekräftigt; der Unterricht war dagegen eher entwicklungsfähig, weil er sich auf ein Allgemeinniveau und auf veränderte politische Vorgaben beziehen mußte.
Im Jahrhundert der Pädagogik wuchs das Bewußtsein dafür, wie einflußreich die Erziehung und wie wichtig die Rolle der Familie und vor allem der Mutter für das Kleinkind waren; dementsprechend richteten sich nun die pädagogischen Diskurse und Handlungen verstärkt auch auf Mädchen aus. Allenthalben wurden Mädchenschulen, Pensionate, Abendschulen eingerichtet; sie standen manchmal in Konkurrenz zueinander, aber alle richteten sich exklusiv an Mädchen, so entschieden war der Wille, die Geschlechtsunterschiede herauszuarbeiten. Die Alphabetisierung der Frauen geriet nach der Französischen Revolution nicht nur in Frankreich ins Stocken; später kam sie wieder voran und holte ihren Rückstand auf. Zunächst privat und weithin konfessionell betrieben, wurde die Mädchenerziehung später zur Sache des Staates, zumindest in denjenigen Ländern (Frankreich, Belgien), in denen das Modell einer überkonfessionellen Schule entstand, das eine relative Förderung von Frauen intendierte. Der interessanteste Aspekt ist dabei der Entwurf einer neuen Moral, die um so höhere Ansprüche stellte, als sie ihre Rechtfertigung in sich selbst finden mußte. Tugendhaftigkeit ersetzte Gott.
In der Mädchenerziehung ging es um kontroverse konfessionelle, politische und, in einem Europa der Nationalitäten, auch um ethnische Ziele.
Überall, in Athen ebenso wie in Budapest, in Österreich-Ungarn ebenso wie im russischen Zarenreich - das als erstes seine Universitäten für junge Frauen öffnete -, wurden in heftig umstrittenen Reformen Inhalte umgestaltet, Anforderugen erhöht; aber immer wieder wurden solche Reformen gehemmt und gebremst von der Furcht, Frauen könnten zuviel Bildung erwerben, den Haushalt vernachlässigen und den Männern Konkurrenz machen. Institutionell und theoretisch wurden schließlich auch für Frauen die Grenzen des Wissens immer mehr verschoben, allerdings nie aufgehoben.
Da das 19. Jahrhundert wußte, wie stark Bilder wirken können, wie sehr sie zur Nachahmung und zum Normbruch reizen, fürchtete es, den Frauen, denen von Wahnsinn überschattete Köpfe und schwache Nerven zu eigen sein sollten, einen freien Zugang zur Schrift zu erlauben. Schon seit der Renaissance tobte der Kampf um das Buch in verschiedenen Ausformungen, auf die zu achten sich lohnt: Protestanten, und vor allem Protestanten in den Erweckungsbewegungen, trauten auch den Frauen Urteilskraft zu. Das erklärt den Kulturvorsprung der Frauen in Ländern reformierten Glaubens, und auch die wichtige Rolle der französischen Protestanten bei der Schaffung der überkonfessionellen Mädchenschule ist bekannt. Pastoren und Laien überboten einander mit Leseangeboten, legten erlaubte Literaturgattungen fest, sparten nicht mit Vorschlägen, trugen Sammlungen »wertvoller Bücher« und besonderer Journale zusammen, die alles in allem Horizonte weiteten.
Das führte auch zu einer differenzierteren Behandlung der verschiedenen Altersstufen: Neben ihren schon lange ernstgenommenen männlichen Konkurrenten traten nun auch kleine Mädchen, Heranwachsende, junge Mädchen, junge Frauen in den Kreis der Gesprächspartner ein. Sie sollten nun nicht nur erzogen, sondern auch gebildet werden, mit allem, was das an Positivem und an Öffnung zur Welt mit sich brachte. Da die Tätigkeit des Übersetzens als Aufgabe von Frauen galt, lernten Frauen Fremdsprachen. Sie machten sich mit anderen Kulturen vertraut und wurden zu deren Mittlerinnen. Da den Frauen Reisebeschreibungen als Lektüre eher zugestanden wurden als Romane, entwickelten sie Reiselust. Als Sekretärinnen »großer Männer« stießen sie in schöpferische Kreise vor.
Frauen wußten sich zu eigen zu machen, was ihrem Interesse oder ihrer Leselust geboten oder zugestanden wurde; und sie wurden ihrerseits zu Wissensproduzentinnen. Diese Formen von Aneignung und Rückerstattung, die kleinen Improvisationen, mit denen sich Unterdrückte der Worte und Dinge bemächtigten, verdienen genaue Betrachtung, denn sie geben Auskunft über die Geschlechtergeschichte der Kultur als Praxis. Es gilt herauszufinden, wie und womit Frauen zu Lesenden wurden und dem Bild von der Frau mit dem Buch, das aus Erbauungsbüchern, Träumen vom häuslichen Glück und erotischen Phantasien gewoben war, Substanz gaben; wie und womit Frauen zu Schreibenden wurden und sich in einem Jahrhundert, das die Korrespondenz zur bevorzugten Kommunikationsform erhoben hatte, vor allem im stillen Kämmerlein als eifrige Verfasserinnen von Briefen betätigten, und wie manche von ihnen schließlich zu Schriftstellerinnen wurden; wie und womit Frauen zu Künstlerinnen wurden. Zwar blieb die Musik als Sprache der Götter ihrer Erfindungsgabe weithin verschlossen, doch etliche Frauen führten Stift und Pinsel als professionelle Illustratorinnen, Modezeichnerinnen, als begabte Malerinnen, die ihre Werke in Ausstellungen zeigten - auch wenn es keine Meisterwerke waren; denn die Behinderungen ihres Schaffens waren groß. Sollte der Skandal einmal eintreten, daß eine Frau eine »große« Künstlerin oder Schriftstellerin war, wurde sie abwertend klassifiziert (wie Berthe Morisot als kindgemäß, George Sand als rustikal), verleumdet oder eingesperrt (wie Camille Claudel). Genialität, dieses göttliche oder biologische Mysterium, konnte und durfte nur männlich sein.
Der schöpferische Ehrgeiz konnte nicht nur Männer, sondern sehr viel krasser auch Frauen ins Unglück stürzen. Denn gründete die Genialität der Frauen nicht doch in der Harmonie und Einheitlichkeit ihres Lebens? Viele, und darunter die größten der Künstlerinnen, dachten so. Als Behinderung ihrer schöpferischen Möglichkeiten wirkte sich ganz ohne Zweifel auch aus, daß sie selbst die Unterschiedlichkeit der Geschlechterrollen und die Bilder und Vorstellungen, die diese Rollen begründeten, vollauf akzeptierten. Sie bewegten sich in der Ordnung des Symbolischen, die die Teilungen regiert, in der Ordnung der Sprache, die die Teilungen immer schon ausdrückt.
G.F.-M.P.