Wie der weibliche Teil der Bevölkerung in Deutschland, Frankreich oder in anderen Ländern alphabetisiert worden ist, war lange Zeit schwer zu ermitteln, und noch heute läßt sich der Prozeß aus unterschiedlichsten Gründen nur unscharf charakterisieren. Schon wenn man in Volkszählungstabellen oder Gesetzestexten vom Ende des 18. Jahrhunderts nachschlägt, enthalten diese zwar Angaben über Bevölkerungszahlen im Kindes- und Jugendalter, über bestimmte Alterskohorten oder Vermögensklassen, jedoch keine über geschlechtsspezifische Unterschiede. Manche avantgardistischen Schriften gehen zwar darauf ein, aber nur mit der Klage, wie kraß die Ungleichheit sei.
Auch über »schreibende Frauen« etwas herauszufinden ist nicht einfach. Hier ist es weniger das Thema an sich, das sich gegen die Forschung sperrt, als der besondere Diskurs des 19. Jahrhunderts, der das Phänomen verschleiert und der Analyse entzieht, indem er es als beschämende und unschickliche Sache vorstellt. Hat eine Frau - sozusagen in schreibender Notwehr - ihre dichterische Begabung entdeckt, versucht sie sich für die Sünde des Schreibens zu entschuldigen, als wäre es ein Seitensprung: »Mein Mann ahnt nicht, daß ich Verse schmiede, und ich habe ihm nie etwas von meinen poetischen Versuchen erzählt«, gesteht Louise Ackermann 1885.[1]
Dennoch legen die Frauen binnen eines Jahrhunderts, etwa zwischen 1780 und 1880, als die wichtigsten Länder Europas die Mädchenerziehung an Volks- und Oberschulen bereits eingeführt haben oder im Begriff sind, sie einzuführen[2] einen ungeheuren Weg zurück. Das läßt sich anhand ihrer autobiographischen und sozialpolitischen Schriften ermessen. Lesen und Schreiben zu lernen ist der rasch getane erste Schritt; doch dann folgen die Schwierigkeiten mit der Qual der Wahl der Lektüre und dem Nachdenken über das Gelesene. Eine schriftstellerische Betätigung riskieren nur wenige Frauen. Aber Lesen und Schreiben eröffnen den Frauen Mittel und Wege, sich in die moderne Welt zu integrieren. Schon das Lesen erfordert eine soziale Organisation, und das eigene Schreiben verlangt nach einem privilegierten Zugang zur Öffentlichkeit. Beides zusammen bringt einen neuen Bezug zur Gesellschaft hervor, der die Frauen verstärkt über sich selbst, ihre eigenen Ausdrucksmittel, über selbständige Formen der Darstellung und eine unabhängige Wahrnehmung von Zeit und Raum nachdenken läßt.
Hier soll von der Zeit zwischen 1789 und 1848 die Rede sein, der Epoche zwischen zwei Revolutionen, die auch die Frauen mitrissen. Beide Ereignisse strahlen auf ganz Europa aus. Die Zeitspanne umfaßt das Leben mehrerer Frauengenerationen, und die Epoche ist ereignisreich genug, um für die Frauen den gewaltigen, manchmal gewaltsamen Wandel von Verhalten und Mentalitäten nachzeichnen zu können. Diese hochbedeutsame Etappe in der Geschichte der Frauen soll am Beispiel von Deutschland vorgestellt werden. Zweifellos vollzieht sich eine ähnliche Entwicklung auch anderswo und unter bisweilen ganz anderen Vorzeichen. Doch im besonderen Fall Deutschland entfalten soziale, politische und vor allem religiöse Strömungen eine ganz einzigartige Wirkung. Im übrigen wirft die Debatte um Kriterien der Alphabetisierung im Vergleich zu gewissen französischen Forschungen nicht nur wegen der unterschiedlichen Quellenlage für Deutschland von vornherein eine Reihe von Fragen auf, die weit über einen simplen Methodenstreit hinausgehen.[3]
Deutschland ist gerade wegen seiner Besonderheiten von großem Interesse. Mit seinen geographischen Unterschieden, grundverschiedenen politischen Systemen und Konfessionskonflikten bildet es das Europa der damaligen Zeit gleichsam im Kleinen ab. Hier finden sich in konzentrierter Form die Faktoren, die mit wechselndem Erfolg die Entwicklung der Frauen in puncto Schulbesuch, Lesen und Schreiben in ganz Europa bestimmt haben. Außerdem gibt es in etlichen deutschen Staaten schon recht früh eine gesetzliche allgemeine Schulpflicht. Das macht es möglich zu untersuchen, welche Rolle staatlicher Gestaltungswille bei der Alphabetisierung gespielt hat.
Will man den Weg untersuchen, den die Frauen im 19. Jahrhundert von den Grundkenntnissen des Lesens bis zur literarischen Selbstdarstellung und selbständigen Themengestaltung zurückgelegt haben, dann erheben sich zwei Fragen:
- Wie konnten Frauen über diese Faktoren der Akkulturation, über die Lesekultur und die Sprache der Literatur, Zugang zur sogenannten Moderne finden?
- Welche Hindernisse mußten sie auf diesem Weg überwinden und welche Strategien entwickelten sie, um sie zu umgehen oder sich gar zunehmend frontal mit ihnen auseinanderzusetzen?
Lernsituationen.
Von der Mädchenerziehung zur Frau als Erzieherin
Alphabetisierung ist in erster Linie der Erwerb von Grundwissen: fießend lesen, schreiben und in geringerem Maß rechnen lernen. Diese Definition, bescheiden und unpräzise zugleich, fordert Kritik heraus. Was soll das Kriterium der Alphabetisierung sein: Ob eine Person ihren Namen schreiben oder ob sie einen Text ohne Stocken vorlesen kann? Beide Male mag es willkürlich scheinen, hieraus auf den Umfang der Alphabetisierung einer Gruppe der Gesellschaft zu schließen, ob es sich nun um Rekruten, Dienstboten oder Frauen handelt; in den Kirchenregistern haben nämlich die Frauen nicht immer mitunterschrieben, und fließendes Lesen kann auch dadurch Zustandekommen, daß ein Text, meist aus der Bibel, unzählige Male laut vorgetragen und Wort für Wort auswendig gelernt worden ist.
Dennoch werden Frauen Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend in die Alphabetisierung einbezogen. In Frankreich steigt ihre Alphabetisierungsquote von 14 auf 17 Prozent, was die Formulierung berechtigt scheinen läßt, daß »die Teilhabe von Mann und Frau an der Schriftkultur zum Gleichtakt findet«.[4] In Deutschland, wo Statistiken erst später erhoben werden und zur Suche nach anderen Kriterien zwingen, vermelden bestimmte norddeutsche Landstriche bereits 1750 bei Mädchen einen Schulbesuch von 87,5 Prozent.
Es liegt also ein echtes Gesellschaftsphänomen vor, eine Kulturrevolution aus einer Vielzahl von Gründen und mit anhaltenden und zugleich gesamteuropäischen Folgen.
In Deutschland und besonders Norddeutschland geht diese Revolution des Lernens auf Faktoren zurück, die völlig verschieden sein mögen, aber durch eine Art Grundkonsens aus der Aufklärung miteinander verbunden sind.[5] Als erstes ist da der Faktor Staat, der erklärte Wille bestimmter Landesregierungen und besonders derjenige Preußens, die allgemeine Schulpflicht für alle Kinder zwischen sechs und vierzehn Jahren gesetzlich vorzuschreiben. In Preußen wird sie schon 1717 dekretiert, in Bayern allerdings erst 1802 eingeführt. Das verweist bereits auf das zweite wichtige Moment bei der Durchsetzung einer allgemeinen Schulbildung für die Gesamtbevölkerung: die Konfession. Unter den deutschen Staaten, in denen der Landesherr zugleich Kirchenoberhaupt ist und so direkt in das geistlich dominierte Bildungswesen eingreifen kann, erlangen die protestantischen Länder einen klaren Vorsprung vor dem katholischen Süddeutschland, wo Bildung eher Knaben vorbehalten bleibt und Mädchen bei den Nonnen über Jahre hinweg meist nur Beten und sogenannte »Weiberarbeiten« lernen.
Die allgemeine Schulpflicht ist nicht immer nur hohle Phrase. Durch Pastoren überwacht die Staatsmacht, ob das Gesetz eingehalten wird. Im Herzogtum Oldenburg etwa, damals zur dänischen Krone gehörig, wurden Aufzeichnungen von Dorfpfarrern über »Hausvisitationen« gefunden, die sie auf Geheiß der Behörde mindestens zweimal jährlich durchführen mußten. Dort sind neben Bücherlisten für die jeweiligen Haushalte auch die schulischen Fleißnoten der Kinder beiderlei Geschlechts erhalten geblieben. 1750 sind nur noch 1,5 Prozent der Frauen Analphabetinnen, 98,5 Prozent können Lesen, 43,8 Prozent Lesen und Schreiben und 6,6 Prozent verblüffenderweise obendrein Rechnen. Das trifft nicht nur auf Mädchen aus besseren Familien zu, auf die Töchter kleinstädtischer Beamter oder reicher Bauern, sondern auch von den Dienstmädchen können 64 Prozent Lesen und immerhin 2 Prozent Rechnen. Diese fortgeschrittene Alphabetisierung der Mädchen seit Mitte des 18. Jahrhunderts ist um so bemerkenswerter, als der Schulbesuch auf dem Land bei Mädchen häufig kürzer ausfällt als bei Knaben: generell werden sie ein Jahr später eingeschult, ungefähr mit sieben Jahren (weil sie daheim mithelfen müssen); sie verlassen mit etwa elf Jahren die Schule, um als Magd in Stellung zu gehen. Während das Lesen bereits im ersten Schuljahr gelernt wird, machen die Kinder erst als Achtjährige Bekanntschaft mit dem Schreiben. Das Rechnen indes kommt nicht nur äußerst spät an die Reihe, im zwölften oder dreizehnten Lebensjahr, sondern kostet obendrein Schulgeld. Daß es jedenfalls als sinnvoll erachtet wurde, 7 Prozent der Mädchen dieses Landstrichs die Grundkenntnisse des Rechnens beizubringen, ist der Hervorhebung wert. Denn auch wenn sich dieser Befund nicht verallgemeinern läßt, macht er doch deutlich, daß Frauen später imstande sein werden, das Haushaltsgeld in eigener Regie zu verwalten.
Die obige Untersuchung Wilhelm Nordens bezieht sich auf ländliche Regionen, die von Kriegsnöten des 18. Jahrhunderts weitgehend verschont geblieben sind. Wieviele Mädchen in den Städten die Schule besuchten, ist ab Ende des 18. und vor allem nach Beginn des 19. Jahrhunderts nur noch sehr schwer festzustellen.
Soziale Mobilität, Verdrängung der Armen an den Stadtrand, kaum dokumentierte Arbeiterghettos, Aufgehen der einzelnen in einer immer gedrängteren städtischen Masse, das alles macht es schwierig, das Ausmaß von Alphabetisierung und Schulbesuch im Laufe des 19. Jahrhunderts statistisch zu ermitteln.
Die Alphabetisierung, zunächst unter dem gemeinsamen Einfluß eines gefestigten Protestantismus und der pädagogisch aufgeschlossenen Aufklärung eine der großen Errungenschaften des 18. Jahrhunderts, verliert im Laufe der ersten Hälfte des 19. an Schwung. Von Rückläufigkeit zu sprechen wäre gewiß verfehlt, doch eine gewisse Stagnation ist unverkennbar. Für 1818 etwa weisen die preußischen Statistiken für Berlin aus, daß 30 Prozent der Kinder nicht zur Schule gingen, obwohl die allgemeine Schulpflicht bereits bestand. In Bremen, im 18. Jahrhundert noch eine Hochburg von pädagogischer Aufklärung und pietistischem Einfluß auf die Mädchenerziehung,[6] gingen 1838 von 107 Mädchen im schulpflichtigen Alter 35 nicht zur Schule, weil sie bereits in der Fabrik arbeiten mußten. Erst im März 1839 verbot ein Erlaß Fabrikarbeit vor dem neunten Lebensjahr und schrieb außerdem ein schriftliches Zeugnis über einen dreijährigen Schulbesuch vor. Es dauerte allerdings Jahre, bevor der Erlaß zu greifen begann. Lernen, im 18. Jahrhundert noch als echte persönliche Chance verstanden, bietet jetzt mitunter nur noch für die Kinder Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Ein Leitmotiv, das auch Bettina von Arnim in ihrem Bericht von 1843 über das Vogtland mit dem Titel Dies Buch gehört dem König gebührend hervorhebt:
»Die Mutter hielt das kleinste Kind auf der Schürze und trieb das Spulrad. Dabei erzählte sie vergnügt, daß zwei Kinder die Schule besuchen und recht viel lernen. Es zeigt sich auch hier, daß die Armen ihre größte Freude an den Kindern haben und fest darauf rechnen, daß diese durch den Schulunterricht aus dem Elende gerissen werden.[7]
Der Bildungsstand - vor allem der Mädchen - ist jedoch nicht allein am Schulbesuch abzulesen, der im übrigen nur dem Elementarunterricht an Volks- und Mittelschulen gilt. Mädchenoberschulen, also Lyzeen für höhere Bildung, entstanden als Institution auch in Preußen erst 1872, und zwar in Berlin. Bei der Einweihung des nach der Kronprinzessin benannten Viktoria-Lyzeums empörte sich Fanny Lewald, von deren Zugehörigkeit zur Minorität der »Schriftstellerinnen« noch die Rede sein wird:
»Das Victoria-Lyceum ist, ich wiederhole das ausdrücklich, ein sehr gutes Institut, aber es ist in gewissem Sinne ein Luxusinstitut. Was uns fehlt, ist jedoch nicht die Turmspitze, sondern ein ordentliches Fundament. Wir brauchen Schulen, Realschulen für die Frauen wie für die Männer.«[8]
Das Abitur und damit die Zulassungsvoraussetzung zur Universität konnten deutsche Frauen erst nach 1900 erlangen. Die gleichfalls seit Ende des 18. Jahrhunderts geforderte Zulassung zum Lehrerberuf dagegen erreichten die Frauen nur für die Grundschule, und dies auch nur unter der Bedingung, daß sie unverheiratet waren und erklärten, dies auch bleiben zu wollen. Erst 1890 - nach einem kurzen Zwischenspiel um 1849 - wurde von Helene Lange der Allgemeine Deutsche Lehrerinnenverein gegründet, der dann um die Jahrhundertwende mehr als 15 000 Mitglieder umfaßte.
Ein krasser Widerspruch: Einerseits erfaßte die Alphabetisierung durch die allgemeine Schulpflicht im Prinzip alle Mädchen: Lesen, Schreiben oder in geringerem Umfang auch Rechnen lernten sowohl die in der Stadt wie die auf dem Land lebenden, die aus wohlhabenden wie die aus ärmeren Schichten stammenden Mädchen. Doch die spezielle Heuchelei des 19. Jahrhunderts verwehrte der überwältigenden Mehrheit der weiblichen Bevölkerung den Zugang zu höherer Bildung. Angesichts der Rolle der Metternichschen Restauration und der Rückorientierung auf Haus und Herd läßt sich sogar sagen, daß die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts auf diesem Gebiet besonders vom Rückschritt gekennzeichnet war. Jeder Reform, die sich an gleichen Bildungschancen für alle orientiert, erwachsen Gegner, die ihre feindselige Abwehr mitnichten verhehlen. So sah sich der preußische Bildungsreformer von Süvern 1818 wegen seiner Vorschläge beschuldigt, »die Grundlage der natürlichen Verschiedenheit und damit zugleich die unveräußerliche, naturgegebene Ungleichheit« in Frage stellen zu wollen. Für die Gleichheit von Bildungschancen zu plädieren heißt also soviel wie das Fundament der Gesellschaft zu untergraben.
Angesichts dieser Abwehr hatten die Frauen schon lange begriffen, daß wahres Lernen nur auf Nebengleisen möglich war. Den größten Bildungswillen hatten die Autodidaktinnen, wie sich manche Frauen freimütig selbst nannten, wenn sie allein ihren Weg gemacht hatten und in Einzelfällen Schriftstellerinnen geworden waren. Anna Luise Karsch, eine der großen Autorinnen des 18. Jahrhunderts, hatte es vorgemacht. Bitter arm, hatte sie sich beim Viehhüten auf der Weide selbst das Lesen beigebracht. Zu Beginn des 19- Jahrhunderts gibt es verschiedentlich solche selbstgebildeten Romanschriftstellerinnen, die stolz verkünden, wie sie aus alten Bibeln oder Todtengesprächen vom Speicher des Pfarrers von ganz allein Lesen und Schreiben gelernt hatten.[9] Konnte man ihnen da einen Vorwurf daraus machen, daß dieses improvisierte Lernen auf ihren Stil abgefärbt hat?
Außerhalb der staatlichen und privaten Schulen, vor allem der Klosterschulen, die Mädchen zur Ausbildung aufnahmen, fand die eigentliche Erziehung, in der die Persönlichkeit geformt und das Fragen gelernt wird, in der Geborgenheit des Hauses statt, was die Mädchen nach überkommener Ansicht mancher Pädagogen und Männer vor einem Übermaß an Wissen verschonen sollte. Mit einer Widersprüchlichkeit, die schon damals von Feministinnen - Mary Wollstonecraft, Betty Gleim - und vielen ihrer Geschlechtsgenossinnen angeprangert wurde, bleibt die Frau ausgeschlossen von der Kultur, soll aber zugleich als heilige Pflicht die Erziehung der Kinder im zarten Alter übernehmen und die der Mädchen noch viel länger. Zur »geborenen Erzieherin« auf einem Gebiet erhoben, von dem sie im Grunde keine Ahnung hat, widmet sie sich ihrer Aufgabe mit großem Ernst. Wilhelm von Kügelgen notiert in seinen Jugenderinnerungen zu den Jahren 1806 und 1807 über seine Mutter:
•Mit ihren Kindern beschäftigte sie sich treu und unablässig und war gewissenhaft bemüht, nichts zu versäumen, was zu unserer Menschenbildung dienlich schien. Aus diesem Grunde studirte sie auch fleißig die gepriesensten pädagogischen Werke ihrer Zeit, aus denen sie freilich wenig Nutzen ziehen mochte: denn eine halbwegs gescheute Mutter weiß schon allein, wie sie ihre Kinder zieht - wo nicht, so lernt sie schwerlich, weder von Campe, noch von Pestalozzi.[10]
Man denke nur an die »Großmuttertöchter« George Sand oder Bettina von Arnim. Erzogen wurden sie weniger in den Klosterschulen, in die sie als kleine Mädchen kamen, als später von ihren Großmüttern. Diese chaotische, bisweilen anachronistische Erziehung schlägt übrigens den Bogen zur Geschichte der Frauen und zeichnet sozusagen eine »weibliche Linie« vor. Christa Wolf ordnet sich als moderne Autorin in diese Tradition ein, wenn sie mit Wärme und Bewunderung von ihren Vorfahrinnen schreibt, den Pionierinnen, den »Frauen von 1800«.[11] Es war bestimmt ein böses Erwachen, wenn die Großmutter die Enkelin pädagogisch unter ihre Fittiche nahm. Das junge Mädchen, frisch aus der Klosterschule entlassen, kann lesen, schreiben und vor allem Gebete leiern, die Großmutter aber lebt und atmet die Philosophie der Aufklärung und hat Leibniz' Universalgeschichte, Plutarch im Original oder die Briefe Madame de Sevignes als Bildungsideal im Kopf. Für George Sand wie auch für Bettina von Arnim - und man könnte hinzufügen, Madame de Stael, obgleich eine Generation früher geboren und von ihrer Mutter erzogen - kommt dabei eine kuriose Mischung von Klassik und Moderne heraus, von Lateinübungen und lautem Vorlesen aus den Reden Mirabeaus, alten Geschichtsschwarten und Tagesgazetten. Letztendlich läßt sich behaupten, Mädchen seien in diesen so seltenen, später berühmt gewordenen Fällen viel liberaler erzogen worden als gemeinhin die Knaben, die in ein Lehrplankorsett eingezwängt waren, Lateinisch sprechen mußten und mit dem Rohrstock traktiert wurden. Hier haben wir einen begrenzten Freiraum, aus dem feminines Empfinden und später eine eigene weibliche Weltsicht erwächst.
Die größte Angst haben männliche wie weibliche Volksaufklärer vor dem Schreckgespenst der Büchergelehrtheit. Schon die Moralischen Wochenschriften, Zeitschriften für die Damen mit pädagogischem Auftrag, warnen ihre Leserinnen vor allem Bücherwissen, das gegen den gesunden Menschenverstand verstoße. Sophie von La Roche, Großmutter und Erzieherin Bettina von Arnims, wettert in ihren Zeitschriften »für die deutschen Mädchen« ständig gegen die höchst gefährliche »Besserwisserei«, von der man nur Neurosen bekomme und zwangsläufig zur alten Jungfer werde. Die gebildete Frau verbreite Angst, sie sei eine »Ausnahme«, eigentlich schon keine richtige Frau mehr, beziehungsweise in Männeraugen eine Witzfigur, ein Schreckgespenst, das so manchem »kalte Schauer« über den Rücken jage.
Noch ein weiterer Faktor spielt in der Entwicklung dieser privaten Formen der Mädchenerziehung eine erhebliche Rolle: der Pietismus. Indem er Männer und Frauen zum gemeinsamen Gottesdienst und zur Gewissenserforschung vereint, entwickelt sich der pietistische »Konventikel« schließlich zu einem Ort gemeinsamen Interesses und kultureller Geselligkeit, wo die Selbstfindung allmählich das Religiöse verdrängt. Klassisches Beispiel für den Einfluß dieses Pietismus auf die Frauen ist die »schöne Seele«, deren Bekenntnisse Goethe in Wilhelm Meisters Lehrjahre (1796) aufgreift. Das Fräulein von Klettenberg, eine alte Frankfurter Bekannte des Dichters, nach der er die Figur gestaltete, ist zwar inbrünstig gläubig, doch bekennt sie auch den Wunsch, aus einem festgelegten Frauenschicksal auszubrechen, und dies in erstaunlich moderner Sprache: »Ich erkannte auf einmal, daß es nur eine Glasglocke sei, die mich in den luftleeren Raum sperrte; nur noch soviel Kraft, sie entzweizuschlagen, und du bist gerettet!«[12]
Diese Einstellung haben nicht nur Protestanten. Es gibt auch eine katholische Spielart des Pietismus, und auch in ihr betätigten sich die Frauen als Neuerinnen. Das zeigt sich unter anderem am Münsteraner Zirkel um die Fürstin Galitzin oder am Spätwerk der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff.
Der Pietismus blieb als Verhaltenssteuerung keineswegs nur wohlhabenden Kreisen vorbehalten; in vielen Texten ist vom »mächtigsten und heilsamen Einfluß (des Predigers) auf die intellektuelle und religiöse Bildung« der Frauen und besonders der Mütter die Rede.[13] Wenn man bedenkt, daß Frauen ihre Kinder beiderlei Geschlechts von klein auf erziehen, läßt sich der Einfluß des Pietismus auf das Bildungsverhalten der deutschen Nation ermessen. Dieser Einfluß resultierte auch aus dem besonderen Verhältnis des Pietismus zum Buch: Das Vorgelesene, anfangs noch biblisch und sakral, wird immer profaner und löst Nachdenken und Diskussionen aus, in denen die Frauen frei ihre Meinung sagen können. Das Gefühl der Geborgenheit in einer geistigen Gemeinschaft wird zu einem neuen Verstandeserlebnis und setzt einen Prozeß der Akkulturation in Gang, der seltsamerweise über den Weg der Selbstbetrachtung verläuft. Der Pietismus bringt über Tagebuch, Briefwechsel und Wechselgespräch eine Literatur der Innerlichkeit hervor, die bei Frauen Lebendigkeit und Eigenart gewinnt:
•Ich beschloß, ein Tagebuch zu führen, worin ich nun wie vor einem Gewissen von meinem innersten Leben Rechnung ablegte und meine Gedanken und Urteile, so wie sie in mir aufstiegen, der Reihe nach zu meiner eigenen Belehrung und Prüfung aufstellte.«[14]
Das geht weit über den Unterricht in Schule, Kloster oder durch einen Hauslehrer hinaus. Es überschreitet selbst die Grenzen einer zum Nutzen von Frauen entwickelten Volkspädagogik, die anfangs traditionell und passiv bleibt, dann aber in Anpassung an die Bedürfnisse der nachwachsenden Generationen revidiert und verlebendigt wird.
Die Formen und Verfahren des Lesens und Schreibens werden auf breiter Front durch Lernen erworben. Klein bleibt demgegenüber die Gruppe derjenigen jungen Frauen, die aus Bildungshunger lesen, und noch seltener sind Frauen, die über den Inhalt ihres Lesestoffs eigenständig nachdenken.
Lesestoffe
Vom Fluchtmittel zum Denkanstoss
Ihr Wissen erwerben Mädchen, wie wir gesehen haben, hauptsächlich aus der Bibel, und zwar auf allen Ebenen. Das Lesen wird durch Blättern in der Bibel, das Leben durch Moralisieren nach Bibelversen gelernt. Zwar nimmt der Anteil religiöser Erbauungsschriften in den Katalogen vor allem der Leipziger Buchmesse Ende des 18. Jahrhunderts stetig ab, doch ist er immer noch beträchtlich. 1770 machen religiöse Werke 25 Prozent der Neuerscheinungen aus, im Jahr 1800 noch 13,5 Prozent. Umgekehrt zeigt sich bei den Werken der sogenannten »schöngeistigen Literatur« eine steigende Tendenz: von 16,5 Prozent 1770 klettert ihr Anteil bis 1800 auf 21,5 Prozent. An beiden Kurven ist klar abzulesen, was ein zeitgenössischer Buchhändler und weltgewandter Geschäftsmann »die große Revolution der Bibliotheken« genannt hat.[15]
In dieser »Revolution« spielen häufig Frauen mehr oder minder bewußt die Rolle der Kulturträgerinnen. Lesen wird in gewissen Frauenkreisen fast zu einer Sucht; die Gouvernante einer prominenten Pietistenfamilie nennt in ihren Briefen mehr als acht Arten täglicher Lektüre und fügt hinzu: »Gelesen wird, wie man Mastgänse nudelt.«
Nachdem sie gelernt haben, Glaubenstexte tagsüber und manchmal auch nachts zu lesen und darüber zu sinnieren, beginnen die Frauen um die Wende zum 19. Jahrhundert allmählich, einen ganz persönlichen Gebrauch von der Lesefreiheit zu machen, die ihnen von den Philosophen und Pädagogen der Aufklärung möglicherweise unbedacht zugestanden und nach dem erklärten Willen mancher Souveräne sogar auferlegt worden ist. So kann man sehen, wie sich die »Lesewut« der Frauen austobt, und zugleich, mit welch heftiger Mißbilligung männliche Zeitgenossen darauf reagieren."' Ein junges Mädchen, das sich der Romanlektüre hingebe - Lyrik könne freilich genauso gefährlich werden -, verleugne seine Unschuld und schaffe sich eine Phantasiewelt. Doch sei überhaupt kein Vergleich zwischen diesem Vorgriff auf das Leben im Roman und dem Schaden, ja den widernatürlichen Verhältnissen, die angerichtet würden, wenn sich eine (unglücklich) verheiratete Frau der Sucht nach Romanlektüre hingebe. Madame Bovary ist allgegenwärtig und überall. Das Buch als einfaches Fluchtmittel werde so zum Ersatz, dem Alltag zu entfliehen, und bedeute das Ende des Hausfriedens. Die Gesellschaft sei in Gefahr, denn die Romanleserin komme weder ihrer wahren Berufung als Hausfrau und Mutter noch ihrer heiligen Pflicht nach, als Weib über Zucht und Ordnung in der Familie zu wachen. Kurz: Lesen gilt als träumen, also flüchten, sich den Forderungen, Normen und Konventionen zu entziehen, also genau das Gegenteil dessen, was einer Frau in der (besseren) Gesellschaft des 19. Jahrhunderts erlaubt ist.
Die Frauen als Hauptbetroffene sehen das anders. In der Einsamkeit ihrer vier Wände wird die Lektüre häufig zur Rettung aus einer von den Eltern gestifteten und inzwischen gescheiterten Frühehe. Caroline Schlegel-Schelling, eine der großen Frauengestalten der deutschen Frühromantik, ist zunächst nur die junge Frau eines biederen Provinzarztes ; ihre einzige Verbindung zur Außenwelt sind die Bücher, die ihr aus ihrer Heimatstadt Göttingen zugesandt werden. Bleibt eine Sendung aus, bettelt sie erregt: »Ich vertrockne seit einiger Zeit, weil alle meine Bücherquellen sich verstopfen-, und schickt Bücherlisten zur dringenden Erledigung: »Nun bitte ich Meyern, erstlich um etwas Amüsantes, gut zu lesen, wenn man auf dem Sofa liegt (. . .) zweitens möchte ich etwas zu lesen, wenn man auf dem Sofa sitzt und einen Tisch vor sich hat.«[17] Es handelt sich schon lange nicht mehr um die Bibel oder um Erbauungsschriften, sondern um eine bunte Mischung aus Romanen und Erzählungen, Zeitschriften und historischen Schmökern. Die Einstellung der Frauen zum Lesen wandelt sich ständig, während sich zugleich der Inhalt ihrer Lektüre verändert. Die Auswahl wird vielseitiger und bisweilen zum Lesefutter, und es wird nicht länger ein einziger Text, der einen unumstößlichen moralischen und religiösen Rahmen setzt, laut vorgelesen. Noch ist Caroline nicht zu politischen Texten vorgedrungen, doch entdeckt sie die Literatur des Auslands: Shakespeare, dessen Werke sie später übersetzt, Mirabeaus Lettres ecrites du donjon de Vincennes, und dann einige Essays von Condorcet. 1796 schreibt sie an ihren Schwager Friedrich Schlegel: »Fritz, es gibt zwei Bücher, die Sie lesen müssen, und das Eine (. . .), das ist Condorcet (. . .). Daß Sie mir nicht versäumen, dies und die Werke eines gewissen Fulda zu lesen, der ein Magister mit recht originellem Menschengefühl gewesen sein muß.«[18]
Solange sie sich mit Schöngeistigem und mit dem Sammeln geflügelter Worte für ihren Zitatenschatz begnügt, kann ein Verlobter oder Gatte stolz seine »gebildete« Frau herumzeigen. Sobald sie aber versucht, ihre Erkenntnisse zu erweitern, und die Inhalte ihrer Lektüre analysiert, vergleicht sie sie mit der Wirklichkeit um sich herum, und wieder erhebt die Büchergelehrte ihr Gorgonenhaupt. Diesmal in einer neuen, noch stärker verunsichernden und in einer vom Ruch der Revolution umwaberten Gestalt. So jedenfalls sieht es Barbey d'Aurevilly, wenn er klarstellt, der Blaustrumpf sei »die literarische Revolution, denn der Blaustrumpf ist für die Frau, was für den Mann die rote Jakobinermütze«.[19] Das trifft den Nagel auf den Kopf, denn die Frauen des 19- Jahrhunderts sind es allmählich leid, sentimentale Romane zu lesen, die manche ihrer Geschlechtsgenossinnen geschickt nach englischem Vorbild gestrickt haben. Die deutschen Imitationen von Richardsons Romanen Pamela oder Clarissa sind passe, und sogar ein »Bestseller« wie die Geschichte des Fräuleins von Sternheim, der Triumph Sophie von La Roches in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts, hat inzwischen Patina angesetzt.
Zwei Faktoren beeinflussen den Wandel der Frauenlektüre. Erstens entwickelt das weibliche Lesepublikum einen Hunger nach Meldungen über Tagesereignisse, Wissenschaft, Neuerungen und Erfindungen. Interessanterweise wird in den Schriften von Frauen dieser Zeit leitmotivartig immer wieder auf das Konversationslexikon verwiesen. Als kostbarer, allem voran zu rettender Hausschatz bietet das Lexikon Rat in allen Lebenslagen: man kann nachschlagen, wie man im Wilden Westen eine Blockhütte errichtet und sich mit den dort herumtobenden Indianern verständigt; wie man unter primitivsten Umständen ein Kind auf die Welt bringt oder wie man als Frau seine eigenen Kinder alleine durchfüttern und erziehen kann.
Ein zweiter Faktor verstärkt diesen Lesehunger. Die Französische Revolution konfrontiert die Frauen ohne Zweifel erstmals direkt und fortdauernd mit Gegenwartsgeschichte. Ein Vierteljahrhundert lang, von 1790 bis 1815, sind sie meist ganz allein für die Ernährung und Erziehung der Familie zuständig und durch nichts darauf vorbereitet. Interesse am Tagesgeschehen und an politischen Ereignissen verschmelzen und treiben eine regelrechte »Kulturrevolution« der Frauen hervor, speziell in Deutschland. Bemerkenswert ist allerdings, daß es nicht zu politischen Forderungen wie in Mary Wollstonecrafts Verteidigung der Rechte der Frauen (1792) oder Olympe de Gouges' Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin (1790) kommt. Doch Lektüre und Literatur gehen fortan ineinander über: Das Zeitunglesen und das Entstehen dessen, was man »Gegenwartsromane« mit unmittelbarem Bezug auf das politische Geschehen nennen könnte, sind zwei Seiten derselben Medaille. Der Roman spiegelt wider, was Frauen damals in Frankreich oder Deutschland durchmachen. Er ist nicht länger ein Synonym für Flucht, sondern im Gegenteil ein Medium für die Bewußtwerdung, daß es in Europa eine Welt von Frauen gibt, die alle mit denselben Problemen zu tun haben. Aus der Lektüre entsteht eine weibliche Solidarität, die Frauen aller sozialen Schichten und Generationen vereint. Als fünfundsiebzigjährige Dame genießt es Goethes Mutter, Frauenromane zu lesen, in denen Tagesfragen behandelt werden: »Sie können kein Beßeres und verdinstlicheres Werck an Ihrer Sie liebenden Mutter thun, als daß Sie die Güte haben, wenn Ihnen solche liebliche Sachen zukommen, mich in meiner Geistesarmuth theil daran nehmen zu laßen..,»[20]
Das Buch, zunächst Lektüre im stillen Kämmerlein, Seelentröster und Fluchtmittel, ist zum Denkanstoß geworden, zum Ausgangspunkt eines Nachdenkens über sich und die anderen.
Im ersten Stadium wird das Buch durch die notwendig gewordenen Lesegesellschaften zum wirksamen Mittel einer Sozialisation, wie sie eine bestimmte Leserinnenschaft will. Denn diese Öffentlichkeit gibt es, und das florierende Buchgewerbe ist bemüht, ihre immer anspruchsvollere Nachfrage zu decken. Auf Aktualität spezialisierte Konversationslexika lassen sich für die Damen immer neue Rubriken einfallen. Da gibt es je nach Inhalt »Klostergeschichten, Robinsonaden, Emigranten- und andere Revolutionsromane, Räuber- und ähnliche Romane«, oder nach Genre »philosophische, besonders moralische, pädagogische u. a. Romane«.[21] Manchen Männern geht das gegen den Strich, und sie sehnen sich nach den noch nicht lange vergangenen Zeiten zurück, als die Frauen nur »erbauliche Werke, ein paar Märchen und Kochbücher« gelesen hatten.
Dieses Lesefutter verändert die Lesestruktur. Die intensive Beschäftigung mit einem einzigen, unendlich oft wiedergelesenen Buch wird durch eine Form des Lesens ersetzt, die als »extensiv« bezeichnet worden ist.[22] Die Leserin beschafft sich eine Vielzahl von Texten und liest diese nur noch einmal: Also muß das Lesen organisiert erfolgen, damit sie ständig an die unaufhörlich wachsende Titelproduktion herankommt.
Das Lesen wird zu einer festen gesellschaftlichen Einrichtung. Genau hierin besteht der zweite Faktor der Sozialisation durch Lesen. In Deutschland wird Lesen wie nirgendwo sonst im zeitgenössischen Europa zur Selbstverständlichkeit. Das Land überzieht sich förmlich mit Lesegesellschaften, Leihbüchereien, Lesestuben und anderen mehr oder minder privaten Formen der Leseorganisation. Abgesehen von einigen reinen Herrengesellschaften sind die meisten auch für Frauen offen. Die Mitgliederstruktur ist keineswegs rein städtisch und bürgerlich; es finden sich durchaus auch dörfliche, ja bäuerliche Lesegesellschaften.[23] Diese schließen auch niemanden aus; manche dieser Gesellschaften verfügen zwar wie die »Harmonie« in Hamburg über prunkvolle Lesesäle, aber in anderen verleihen Ärzte, Amtsrichter oder Lebensphilosophen schlicht ihre eigenen Bücher an Nachbarn.[24]
Das Buch kursiert auf allen Ebenen. Friedrich Schlegel mokiert sich darüber, wie das Dienstmädchen wohl unter dem Gewicht der Bücher stöhnen mag, die seine Frau aus der Jenenser Bibliothek ausleiht, weiß aber nur zu gut, daß dieser Bücherumlauf Motor einer neuen Form von Geselligkeit ist, bei der die Frau im Mittelpunkt steht. Sogar in den Briefen, der eigentlich femininen Literatur, spiegelt sich dieser Wandel. Die Häuslichkeit wird verlassen und das literarische Urteil riskiert. Wovon leben die romantischen Zirkel von Jena oder die jüdischen Salons der Berlinerinnen Rahel Varnhagen oder Henriette Herz, wenn nicht davon, daß die Neuerscheinungen durchgehechelt werden. Sogar Madame de Stael, immerhin Expertin für literarische Salons, zeigt sich erstaunt über das lebendige Kulturleben dieses ansonsten sehr provinziellen Berlins »mitten im brandenburgischen Sand«. Der Übergang vom Lesen zur Geselligkeit verläuft über mehrere Stufen, wie Henriette Herz in ihren Erinnerungen beschreibt:
»Etwas später bildete sich ein sogenanntes Teekränzchen (...). In den letzten Jahren des vorigen Jahrhunderts endlich wurde eine Lesegesellschaft gegründet (. . .). Ihr Gründer war Fessler (. . .). Auch an ihr nahmen gleich anfangs Männer der verschiedensten Fächer teil, Gelehrte, Künstler, Staatsmänner. Aber Frauen waren auch hier nicht ausgeschlossen, ja sie waren tätige und gern gesehene Mitwirkende.«[25]
Das Revolutionäre an der Lesegesellschaft ist, daß sie neben dem Theater und manchen Bürgersalons praktisch die einzige Öffentlichkeit darstellt, in der beide Geschlechter aus gemeinschaftlichem Interesse zusammenfinden. In diesen profanen »Kränzchen« wird die Leserin zur selbständigen Einzelperson, deren Urteil gefragt und maßgebend ist.
Beflügelt von der historischen Umbruchsituation, gehen die Frauen rasch zur Lektüre politischer Schriften über und fangen an, über Politik nachzudenken. Über das Buch wagen sich die Frauen auf ein Gebiet vor, das bisher strikt den Männern vorbehalten war. Der Vorstoß ist kurz, aber folgenreich.
Im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts ist in Frauenbriefwechseln viel von Mirabeau, Condorcet oder Sieyes die Rede. Das Zeitunglesen erlangt erstaunliche Verbreitung. Zeitschriften für Damen werden immer zahlreicher und verteilen sich über ganz Europa, wie das Journal des Luxus und der Moden von 1786 oder die Revue London und Paris von 1816 mit Helmina von Chezy als Pariser Sonderkorrespondentin. Doch das Frauenpublikum will auch die maßgebenden Zeitungen der Epoche zu lesen bekommen, den Hamburger Korrespondent oder den Pariser Moniteur, wobei die Sprache nebensächlich ist:
»Lafayette! Mirabeau! Petion! Bailly! und so viele noch, deren damals auf allen Zungen schwebende Namen jetzt verklungen sind! Wie erglühe ich in freudiger Begeisterung, wenn ich in stillen Abendstunden meinem Manne und etwa noch zweien oder dreien seiner vertrautesten Freunde ihre Reden vorlas, welche der Moniteur uns getreulich mitteilte!«
notiert Johanna Schopenhauer, die Mutter des Philosophen, in ihren Erinnerungen von 1839.[26]
Die Zeit zwischen 1790 und 1815, die den deutschen Frauen allerlei Gebiete zugänglich macht, die bis dahin weithin den Männern vorbehalten waren, ist ein einzigartiger Abschnitt in der Geschichte der Frauen. Jetzt trägt die allgemeine Schulpflicht, so lückenhaft sie auch gewesen sein mag, die ersten Früchte, und eine erste Frauengeneration verlegt sich aufs Lesen, um auch die höheren Stufen zu erklimmen, die ihnen in ihrer Schule vorenthalten wurden. Leserinnen, die über das Buch und seinen immer besser organisierten Umlauf ins soziale Gefüge eingedrungen sind, nutzen das Lesen nun regelrecht als Werkzeug ihrer gesellschaftlichen Integration. Manche Frauen sind schon froh über die faktische Gleichstellung im Geiste, die ihnen in den Lesegesellschaften eingeräumt wird. Andere jedoch wollen mehr und setzen, immer noch unter Berufung auf die vom Buch gestiftete Gemeinsamkeit, mit ihren Zirkeln und Salons der Romantik spezifische Formen der Geselligkeit durch.
Dünn gesät aber sind noch immer die Frauen, die ihren Drang zu Tagesnachrichten und ihre Auswahl an Bücherlektüre zu einem Akt politischer Emanzipation gestalten, die ihnen weder die Gesetze noch die Männer zu gewähren bereit sind. So wird verständlich, warum sich manche männliche Beobachter getrieben fühlen, wahre Schreckensbilder von den Leseweibern zu entwerfen:
•Ich tadle nicht, daß ein Frauenzimmer ihre Schreib-Art und ihre mündliche Unterredung durch einiges Studium und durch keuschgewählte Lektur zu verfeinern suche, daß sie sich bemühe, nicht ganz ohne wissenschaftliche Kenntnisse zu seyn; aber sie soll kein Handwerk aus der Literatur machen; sie soll nicht umherschweifen in allen Theilen der Gelehrsamkeit.-[27]
Trotz des gravitätischen Tons ist die Argumentation verzweifelt rückständig und läßt sich in der Aussage -zusammenfassen, daß ein bißchen Wissen nichts schaden kann, aber ein Zuviel nicht gut ist.
Diese Argumentation wird nach 1815 sehr viel vehementer aufgegriffen. In einer Zeit, in der die Entwicklung der Mädchenerziehung infolge tiefgreifender sozialer Umwälzungen - Massenaufbruch in die Städte, Fabrikarbeit im Kindesalter - gebremst wird, stellen sich der »Lesewut« der Frauen immer konkretere Hindernisse entgegen. Die Metternichsche Staatenordnung und die Restauration überlassen es nicht länger der freien Entscheidung des einzelnen, was gelesen werden darf. Reglementiert, gesteuert, der Zensur unterworfen, gerät das Lesen unter staatliche Vormundschaft, und auch im stillen Kämmerlein können sich die Frauen den herrschenden Verhältnissen nicht mehr entziehen. Sie verfallen in großes Schweigen, und gegen diese Zustände empören sich erst um die Jahrhundertwende einige wenige Frauen, die marginalisiert werden.
Erst gegen Ende des Jahrhunderts erhebt sich »die Stimme der Frauen« erneut. Sie wird unterstützt von manchen männlichen Autoren, so von August Bebel mit seinem Werk Die Frau und der Sozialismus (1879). Doch die deutsche Frauenbewegung, gespalten in eine bürgerliche und eine proletarische Strömung, agiert nur noch auf der schmalen Bühne der Politik und findet bei ihrer »Öffentlichkeit« nicht mehr das gleiche Echo. Selbst der Begriff »Öffentlichkeit« erscheint zunehmend unpassend, denn bei Frauen wird alles, womit sie zu tun haben und was mit ihnen zu tun hat, zum »Privaten« gerechnet. Selbst wenn man davon ausgeht, daß ein weibliches Lesepublikum weiterhin in nennenswerter Zahl vorhanden ist, hat sich doch sein Anspruch sehr gewandelt. Obsiegt hat das wohlfeile Fluchtmittel, von amtlichen und selbsternannten Zensoren pflichtschuldigst unter Kuratel gehalten, mit einer Schwemme von historischen Schmökern ohne jeden Gegenwartsbezug, mit Fortsetzungskolportagen in Riesenauflagen im Feuilleton von Frauenzeitschriften wie der berühmt-berüchtigten Gartenlaube. Autorinnen wie Eugenia Marlitt oder Hedwig Courths-Mahler feiern rauschende Erfolge, ein Fortsetzungsroman der Marlitt aus der Gartenlaube von 1866 erlebt in zwanzig Jahren dreiundzwanzig Auflagen!
Doch zugleich beginnen andere Frauen ihre Meinung zu äußern über Fragen, die sich ihnen aufdrängen. Seit der Jahrhundertmitte, und obwohl bürgerliche Tugenden und Konventionen durch Restauration und Zensur geschützt werden, spaltet sich die von Frauen gelesene und geschriebene Literatur in die Gruppen der Fluchtmittel und der Denkanstöße, und diese Spaltung wird immer ausgeprägter. In einer jener Ungleichzeitigkeiten, deren Geheimnis in der Geistesgeschichte verborgen liegt, verschaffen sich zur selben Zeit, als das Buch »jedes religiösen oder sonstigen Meinungsstreits ostentativ entsagt«[28] und die weibliche »Öffentlichkeit« mit ebenso gefälligen wie süßlichen Machwerken abgefüttert wird, allmählich ein paar Frauen Gehör, die sich weder von Zensur noch von Verleumdung oder Gleichgültigkeit den Mund stopfen lassen, nicht einmal vom augenfälligen Scheitern der 48er-Revolution. Von der Jahrhundertmitte an erheben diese Frauen in der allgemeinen »Friedhofsruhe« ihre Stimme, die sie selbst als »die Stimme der Frauen« bezeichnen.
Ausdrucksformen.
Vom Schreiben für sich zum Schreiben für andere
Der Übergang zum Schreiben erfolgt bei den deutschen Frauen ziemlich genau um 1800, am Rande der von Christa Wolf so bezeichneten »Zwischenzeit«, einer Schwebe zwischen zwei Jahrhunderten, aber auch zwischen zwei grundverschiedenen Politik-, Sozial- und Kulturwelten. Zwar gab es damals durchaus schon eine Frauenliteratur, im wesentlichen eine moralisierende, pädagogische oder sentimentale, doch nun entsteht eine ganz andere Art Frauenliteratur, weil behandelt werden muß, welchen Bruch die Französische Revolution bedeutet. Sie wird sehr schnell zur literarischen Manifestation einer Selbstdarstellung, die sich durch das ganze Jahrhundert zieht, bis sie unter dem Druck der sozialen Frage schließlich die konkrete Wirklichkeit formuliert, mit der alle Frauen konfrontiert sind.
Das Phänomen ist insofern aufschlußreich, als genau zu der Zeit, da die politische Meinungsäußerung am schmerzlichsten entbehrt wird, ja verboten ist, aus dem politischen Geschehen das Bedürfnis erwächst, sich auf dem Umweg über Literatur öffentlich zu äußern. In Deutschland gibt es zwar keinen Text einer Frau, der wie Theodor von Hippel »die bürgerliche Verbesserung der Weiber« einfordert. Indes entstehen unter den politischen Verhältnissen zwischen 1790 und 1815 eine Anzahl Frauenromane, die typischerweise auf die Gegenwart bezogen sind, auf die Französische Revolution und ihre unmittelbaren Folgen. Das Recht der Frauen auf Teilhabe an der Öffentlichkeit, welches das ganze 19. Jahrhundert hindurch gesellschaftlich nicht anerkannt wird, muß vorerst durch indirekte Einmischung in die Männerbereiche der Politik und Geschichte über die vorgeblich wertneutrale Literatur erschlichen werden.
Allerdings sind diejenigen Frauen, die die Hürde nehmen und sich auf im Umbruch befindliche Gattungen wie Roman oder Drama einlassen, nicht gerade Legion. Sie laufen Gefahr, von ihren männlichen Kollegen mit Hohn und Spott überschüttet zu werden:
•Unter den vierzig bis fünfzig Damen, die man jetzt in Teutschland als Schriftstellerinnen zählt - die Legionen derer ungerechnet, die keinen Unsinn haben drucken lassen -, sind vielleicht kaum ein halbes Dutzend, die als privilegirte Genies höherer Art, wahren Beruf haben, sich in das Fach der Wissenschaften zu werfen, (. . .) welche weder die Natur, noch die bürgerliche Verfassung ihnen angewiesen hat.«[29]
Diese an der Wende zum 19. Jahrhundert formulierte Bemerkung bringt treffend die allgemeine Einstellung zu »Schriftstellerinnen« zum Ausdruck, die das ganze 19. Jahrhundert hindurch herrscht: Kritisch, ja mißbilligend ist der Blick auf alle, die skaipellos ihre Weiblichkeit unter Mißachtung des Doppeltabus zum Schutze von Kultur und Gesellschaft zur Schau stellen. Das positivistische und pseudowissenschaftliche 19. Jahrhundert formuliert später noch ein drittes Tabu und bezieht sich dabei auf eine naturgesetzliche biologische Minderwertigkeit von Wesen und Hirn der Frau: »Die Schriftstellerin gibt es nicht; sie ist ein Widerspruch in sich. Die Rolle der Frau in der Literatur ist die gleiche wie in der Manufaktur; sie werkelt dort, wro das Genie nicht mehr dienstbar ist . . .«[30]
Der Frauenhaß kennt, wie man sieht, keine Grenzen, und er erkennt außerdem bei Schriftstellerinnen auch kein Genie oder Talent an. Als dem alternden Dichter Clemens Brentano zu Ohren kommt, auch seine Schwester habe sich auf das Abenteuer Schreiben eingelassen, schimpft er: »Es ist ein Elend mit diesem Geschöpf ... Bettina hätte ihre Engelsrolle sehr gut gespielt, wenn sie nicht ihr Bestes, ihr Intimstes in der Öffentlichkeit ausgebreitet hätte.«[31] Bevorzugte Zielscheibe spitzer Bemerkungen ist und bleibt George Sand: »In der Zigarette und den Romanen von Madame Dudevant finden wir nur die allertiefste und allerverächtlichste Vulgarität.«[32] In einem so unfreundlichen Klima - das im Laufe des Jahrhunderts noch frostiger wird - sind es häufig so konkrete Anlässe wie die materielle Herausforderung, »die Familie zu ernähren«, oder die Wechselfälle der Emigration - in der manche Frauen die Lesefrüchte einer auf diese neue Aufgabe schwerlich ausgerichteten Erziehung nutzen müssen, um ihren Lebensunterhalt zu fristen -, die die Frauen zu schriftstellerischer Arbeit bringen. Parallel jedoch gibt es den starken Drang zu schreiben: Viele Frauen veröffentlichen ihre Texte unter Pseudonym oder dem Namen des Ehegatten, was zu allerhand Ehestreitigkeiten führt, weil es nicht immer als Ehre betrachtet wird. Manche lüften später ihr Pseudonym und argumentieren dazu so merkwürdig wie Therese Huber 1820 im Vorwort zu dem erstmals unter ihrem richtigen Namen erschienenen Roman Emilie:
»Daß die Schriftstellerin eine ruhige Hausmutter sein könnte, wird dem Publikum zu glauben sehr schwer - deswegen verschwieg ich meine literarische Beschäftigung (. . .). Die greisende Matrone hat nun keinen Hausstand mehr, sie kann jetzt noch Mutterpflichten erfüllen, indem sie schreibt, nicht sie vernachlässigen.-[33]
Eine der wirksamsten und raffiniertesten Strategien, zum eigenen Schreiben zu kommen, ist und bleibt das Übersetzen. Dieses wird nämlich aus naheliegenden Gründen als Frauenarbeit par excellence betrachtet. Übersetzt wird zu Hause, im stillen: Man setzt sich also nicht dem unschicklichen literarischen Jahrmarkt aus. Das Übersetzen, obwohl damals bisweilen recht gut bezahlt, bleibt anonym: Man prostituiert weder den Namen des Gatten noch bringt man Schande über die Familie. Schließlich ist es als Tätigkeit auch mit den sogenannten häuslichen Pflichten vereinbar: Eine Frau kann die Arbeit an einer Übersetzung nach Belieben unterbrechen und wieder aufnehmen, ihre »Arbeit« dem Rhythmus des Haushalts unterwerfen statt umgekehrt. Doch da ist noch etwas anderes, was nicht allen klar ist, die das Übersetzen für einen den Frauen angenehmen Zeitvertreib halten: Übersetzen heißt, erworbenes Wissen konkret anwenden, und manchen Frauen, die sich dessen bewußt sind, bietet es in der Auswahl der Texte einen Freiraum und sogar die Möglichkeit, in die Übersetzung wie zufällig eigene Reflexionen und Akzente einfließen zu lassen, die ansonsten nirgends unterzubringen sind. Warum wählen Frauen, die erst Übersetzerin, dann Schriftstellerin werden, systematisch zur Übersetzung Briefwechsel von Frauen wie Ninon de Lenclos oder Theaterstücke und Romane über die Revolutionswirklichkeit?[34] Therese Huber selbst offenbart das Geheimnis dieses Übergangs vom Übersetzen zum eigenen Schreiben, indem sie einer ihrer Übersetzungen des Modeschriftstellers Louvet de Couvray hinzufügt:
»Ich komponirte ein Ende zu Divorce necessaire . . . ich schrieb au courant de la plume, was meine damals reiche Einbildungskraft eingab: in den Nachtstunden (...) an Hubers Krankenbett - mehr wie einmal mit dem säugenden Kind an der Brust -, so ward ich Verfasserin der Erzählungen.
Zwar gehört Übersetzen zu den von Proudhon so bezeichneten »dienenden Tätigkeiten«, doch verschafft es den Übersetzerinnen den nötigen Antrieb zum eigenen Schreiben. Französische wie deutsche Schriftstellerinnen wagen sich kaum ans Theater, das ihnen im übrigen auch geringe Erfolgsaussichten eröffnet. Typisch dafür ist Marie von Ebner Eschenbach: Als bekannte Romanschriftstellerin am Ende des Jahrhunderts riskiert sie ein eigenes Drama über Madame Roland, schafft es aber nicht, es auf die Bretter zu bringen.[35] Im Roman und in der Novelle bietet sich den Frauen Gelegenheit, in der Literatur Fuß zu fassen, mit der vorhersehbaren Folge, daß diese Genres von Männern zur Handwerkelei herabgewürdigt werden: »Es sind Frauen, die die meisten Romane verschlingen, und sie sind es auch, die die meisten fabrizieren (. . .). Ich meine daher, man solle sie ihr Roman- und ihr Stopfund Flickwerk machen lassen.[36] Bedenken wir, daß ein Teil der Romanproduktion von Frauen solche Klischees bestätigt: Als schwülstige Epigoninnen Walter Scotts und unermüdliche Verfasserinnen von Ritter- oder Schauerromanen richten sich manche Schriftstellerinnen im Genre nach dem, was gerade gefragt ist, und produzieren für ihr Publikum eine immer läppischere Literatur, die in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts im Fortsetzungsfeuilleton der Gartenlaube Triumphe feiert. Doch obwohl es diese Literaturgattung gibt und sie mit wohlwollender Duldung der Behörden im 19. Jahrhundert synonym für Frauenliteratur wird, kann sie doch nicht eine ganz andere weibliche Literatur verdecken, die im Gegensatz dazu mit Zensur, Spott und Verachtung überzogen wird.
Briefwechsel als erste Äußerungsform schaffen eine Art Parallelöffentlichkeit, in der sich die Frauen von Begabung und Geist hervortun. Als Herzensergüsse getarnt gehen Briefe herum und werden zugleich zum Mitteilungsorgan, zum Ort der Nachdenklichkeit und zur Spielwiese für alle möglichen Genres. Die Korrespondenz Rahel Varnhagens ist dafür das subtilste Beispiel, doch Bettina von Arnim zeigt in der Art, wie sie ihre früheren Briefwechsel dichterisch umsetzt und daraus eine eigene Gattung macht, ebenfalls schöpferisches Genie.[37] Das Phänomen ist einzigartig und unterstreicht die Bedeutung und Kontinuität dieser Literatur der Innerlichkeit, die auch Tagebücher, Lebensbeschreibungen, Autobiographien und andere Erinnerungen umfaßt. Sie wird in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts gedruckt und setzt einer Jugendzeit ein Denkmal, die in den ersten Jahren des Jahrhunderts in jener so kurzen wie intensiven Zwischenzeit erlebt wurde und sich tief ins Gedächtnis der Frauen eingegraben hat.[38] Doch weitergehende Perspektiven zeichnen sich bereits ab; couragierte Frauen mischen sich trotz alledem in politische Auseinandersetzungen ein, so Bettina von Arnim, deren schriftstellerisches Schaffen erst begonnen hat und die 1837 Partei für die »Göttinger Sieben« ergreift, nachdem diese Universitätsprofessoren entlassen wurden, weil sie den Herzog von Hannover an sein Verfassungsversprechen zu erinnern gewagt hatten. Doch erst der wachsende Druck der sozialen Frage bringt die latente Spaltung in der Frauenliteratur voll zum Vorschein.
Soziales Engagement verleiht dem Werk mancher Autorinnen der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts Ursprünglichkeit und Kraft. Man sieht, wie sie das Feld der schöngeistigen Literatur hinter sich lassen, auf dem sie sich allmählich einen Namen gemacht haben, und sich auf das Gebiet der Sozialkritik vorwagen.
Das Erscheinen von Flora Tristans Promenades dans Londres 1839 und von Bettina von Arnims Dies Buch gehört dem König 1843 belegt zugleich die europäische Tragweite einer Frauenliteratur, die von den unmittelbar gegebenen sozialen Verhältnissen ausgeht und sich mit den tiefen sozialen Umwälzungen befaßt. Unter dem Gewicht der sozialen Frage, die sie zu behandeln trachtet, entledigt sich diese Literatur zunehmend hergebrachter Attribute - Erfundenes, Schwülstiges, Phantasiefiguren - zugunsten von Statistiken, Armenlisten oder Dokumentarischem. Daraus entstehen überzeugende, von den Zeitgenossen kaum wahrgenommene Werke, ein fast dokumentarischer Stil und ein politischer und gesellschaftlicher Diskurs, den nach Meinung mancher männlicher Schriftsteller, denen die Zensur einen Maulkorb umgehängt hat, nur noch die Frauen weiterzuführen imstande sind. Zu belegen scheint das auch die Unterredung der Schriftstellerin Louise Aston mit dem Berliner Polizeipräsidenten vom März 1846:
»Ich: Aber meiner schriftstellerischen Karriere wegen ist mir der Aufenthalt in Berlin wünschenswert, wo ich stets neue geistige Anregungen finde. - Minister. In unserem Interesse ist es keineswegs, daß Sie Ihre künftigen Schriften, die gewiß so frei wie Ihre Ansichten sind, hier verbreiten. - Ich: Nun, Exzellenz, wenn sich erst der Preußische Staat vor einer Frau fürchtet, dann ist es weit genug mit ihm gekommen!«[39]
Das Scheitern der 48er Revolution in Deutschland wird zum entscheidenden Wendepunkt. Die für den Vormärz [40] typische sozialkritische Literatur verschwindet von der Bildfläche. Bezeichnend ist, daß manche Schriftstellerinnen nun ihr früheres Engagement rundweg verleugnen und sich in sichere Werte flüchten: Luise Mühlbach, die mit ihrem Roman Aphra Behn - die Biographie der ersten hauptberuflichen englischen Schriftstellerin - noch 1849 eine Kampfschrift für wahre Frauenemanzipation veröffentlichte, schreibt nur noch Histörchen aus Sanssouci zur Zeit Friedrichs II. und andere pseudohistorische Schmonzetten. Sogar die Emanzipiertesten haben insgeheim Angst, sich auf das Schreiben als Herstellung von Öffentlichkeit einzulassen. Fanny Lewald, emanzipierte Jüdin und stille Ratgeberin des literarischen Berlin, gesteht in ihrer Lebensgeschichte (1861/1862):
»(. . .) an Abhängigkeit und Unterordnung mehr gewöhnt, als ich es selber wußte, [betrieb ich] meine literarische Beschäftigung immer noch wie ein mir Zugestandenes, gleichsam auf Widerruf Erlaubtes (. . .), daß ich mich für verpflichtet hielt, eine Menge von Handarbeiten zu verrichten, weil es früher meine Aufgabe war, sie zu machen (. . .).«[41]
Eine bestimmte neue Art von Frauenliteratur kommt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf. Deren Ansätze liegen nun außerhalb der aristokratischen Kreise oder wohlhabenden Schichten. Gewiß veröffentlichen Bürgerliche und Aristokratinnen weiter, etwa Louise OttoPeters, 1849 Gründerin der ersten Frauen-Zeitung, Lily Braun, geb. Kretschman und Verfasserin der bemerkenswerten Memoiren einer Sozialistin, oder auch Hedwig Dohm, die für das Frauenstimmrecht kämpft.[42] Doch eine genauso starke und viel neuere Bewegung zeichnet sich bei den Proletarierfrauen ab. Der Bruch zwischen den beiden Strömungen in der sogenannten »Frauenfrage« erfolgt 1894. Das Ergebnis ist eine Reihe von Autobiographien von Arbeiterinnen, deren berühmteste Adelheid Popps Jugend einer Arbeiterin bleibt. Hier handelt es sich um eine jener »Biographien von unten«, wie sie Goethe nannte, und die Verfasserin unterstreicht von vornherein den exemplarischen Charakter: »Ich schrieb die Jugendgeschichte (...), weil ich in meinem Schicksal das von Hunderttausenden Frauen und Mädchen des Proletariats erkannte.«[43] Dreizehn Kinder in der Familie, drei Jahre Schulbesuch mit Unterbrechungen, mit zehn Jahren Fabrikarbeiterin, Spitalaufenthalt mit dreizehn und Entdeckung der Klassiker, dieser Lebensweg wird nicht als individuell bedeutsam nachgezeichnet, sondern weil er Vorbild für andere ist. Das Schreiben über sich selbst wird zum Schreiben im Dienste der anderen, und die Frauenliteratur findet zum Ende des Jahrhunderts zurück zu einer Rolle, die derjenigen ähnlich ist, die sie ein Jahrhundert früher in Erbauungsschriften, in den Moralische)! Wochenschriften und Liebesromanen spielte. Nur ist nun aus der moralischen Mahnung der Literatur an die Leserinnenschaft eine soziale geworden.
So stellt die kurze und unvollständige Geschichte von Lebensbahnen, die Frauen vom Elementarunterricht über das Schreiben zum öffentlichen Engagement führen, eine Art Gleichnis für die Sozialgeschichte im großen dar: »Wenn Stil Ausdruck des einzelnen ist, ist Literatur Ausdruck der Gesellschaft«, hatte Bonald bereits 1812 geschrieben. Unabweisbar drängten die Frauen über eine fortwährende Alphabetisierung in die öffentliche Kultur, die sich durch keine gesetzlichen Schranken mehr wirklich hemmen läßt.
Anderes gilt für die Stellung von Schriftstellerinnen im Hauptberuf. Während Verfasserinnen von Flucht- und Illusionsliteratur wohlwollend von einem Frauenpublikum aufgenommen werden, das sich lammfromm wieder in die Gesellschaftsordnung der Restauration fügt, stoßen Frauen, die die Literatur in eine wahre »Stimme der Frauen« zu den Problemen und Fragen der Zeit verwandeln wollen, mehr denn je auf Verbote, Hohn und Sarkasmus. Aber sie lassen sich den Schneid nicht abkaufen, sondern bahnen mit ihren Schriften neue Wege,[44] wobei sie sich den Verlauf der Kulturgeschichte der Menschheit, die sie auch für sich in Anspruch nehmen, etwas unkonventionell erklären:
•Es ist den Frauen unaufhörlich eingeschärft worden: für Euch denken die Männer, - daß sie schließlich aufgehört haben zu denken. Lange Reihen von Frauengenerationen sind unter dem Drucke der Verachtung ihrer Intelligenz aufgewachsen, und natürlich haben sie Manches gethan um diese Verachtung zu rechtfertigen. (...) Der gelehrte Herr spricht der Frau die Fähigkeit ab, auf dem Gebiete der Kunst, Wissenschaft und Politik etwas Bedeutsames und Epochemachendes zu leisten . . . Dasjenige Buch, das in unserem Jahrhundert den weitgreifendsten Einfluß auf die soziale Welt geübt hat, ist das Buch einer Frau gewesen: Onkel Toms Hütte . . . Der Größte Prosaiker unseres Jahrhunderts vielleicht ist eine Frau: George Sand. Der größte Romanschriftsteller der Gegenwart ist, wenigstens meiner Meinung nach, George Eliot, eine Frau. (. . .) Das Zeitalter der Ruinen und Alterthümer-Sentimentalität ist vorüber; die urältesten Pyramiden werden erbrochen, und die morschen, vergilbten Gedanken, die fossilen Vorstellungen müssen heraus ans Licht der sonnigen Wahrheit.«[45]
Aus dem Französischen von Günter Seib