Überall im frühmodernen Westeuropa standen die Zeichen der Zeit auf Reformation. Die frühen Reformatoren besannen sich auf die Ursprünge des Christentums, auf die Botschaft Christi und die seiner ersten Jünger. Sie glaubten, die christliche Botschaft entschlüsseln zu können, sie so verstehen zu können, wie sie gemeint war. Dabei begaben sie sich auf die Spuren der Kirchenväter, die ihnen auf dem mühsamen Pfad der Orthodoxie vorangegangen waren. Offensichtlich war ihr Streben auf andere Ziele gerichtet als das unsrige. Geradezu kühn erscheint unsere Suche nach den Spuren der Frauen im Lichte des jahrhundertelangen Glaubens an väterliche Autoritäten von Paulus bis Ranke, von Augustinus bis Braudel.
Liebe, die Mutter und die Jungfrau
Alles fing mit Jesus von Nazareth an. Als Mann machte er begreiflicherweise nur Männer zu seinen engsten Mitarbeitern. Wenn er sich zu den zwischenmenschlichen Beziehungen äußerte, ging er nicht eigens auf die Frauen ein, sondern predigte allgemeine Nächstenliebe unabhängig von Stand, Rasse, Verwandtschaft oder Geschlecht. Dieses revolutionäre Ideal sollte auf das ewige, göttliche Heil, auf das wahre Leben nach dem Tode vorbereiten. Vielleicht sollte es zu einer größeren Wertschätzung der Frauen aufrufen, wir finden dafür allerdings keine verläßlichen Belege. So könnte die Art, in der Jesus sich von seiner Mutter Maria distanzierte, auch auf das Gegenteil hindeuten. Ihre Stellung als jüdische Mutter, die ihre Stammeszugehörigkeit an den Sohn weitergibt - der einzige Umstand, aus dem Maria gesellschaftliches Prestige bezog -, wurde von diesem nicht anerkannt.
Nächstenliebe und Frömmigkeit
In den Augen der Römer war es nicht Nächstenliebe, sondern Menschenhaß, der die ersten Christen kennzeichnete. Diesem Urteil des Tacitus (Annalen 15, 44) folgen zahllose kirchengeschichtliche Aufzeichnungen in ihrer Schilderung der ersten Christenverfolgung nach dem Brand, der im Jahre 64 zehn der vierzehn Stadtviertel Roms in Schutt und Asche legte. Kaiser Nero, dem Pyromanen, gelang es, in der Folge den Volkszorn von sich auf jene angeblich misanthropische Sekte abzulenken, auch wenn ihnen keine Schuld an dem Brand nachgewiesen werden konnte. Daß die junge Christengemeinde einen so schlechten Ruf genoß, ist angesichts ihrer zu jener Zeit noch relativ marginalen Bedeutung um so bemerkenswerter, zumal das geistige Klima in Rom noch recht tolerant war. Dennoch flößten diese Christen offenbar Furcht ein, besonders die Frauen unter ihnen.
Im letzten Viertel des ersten Jahrhunderts berichtete Papst Clemens Romanus, vermutlich der dritte Nachfolger des Petrus, daß Christinnen auf der Bühne als Danaiden oder in der Rolle der Dirce auftreten mußten und anschließend tatsächlich getötet wurden (1 Clem 6). Die keuschen Danaiden waren die Archetypen männermordender Frauen. In die Ehe hineingezwungen, ermordeten sie in der Hochzeitsnacht ihre jungen Gatten. Dirce galt als Inbegriff der Rabenmutter.
Was machte diese Handvoll Christen und vor allem die Frauen unter ihnen so furchteinflößend? Der Bericht von Papst Clemens lehrt uns darüber vielleicht mehr als die Beschreibungen aller anderen Kirchenväter. Christliche Nächstenliebe war in einer hierarchischen Gesellschaftsordnung wie der römischen nicht nur staatsgefährdend, sondern auch unvereinbar mit der fundamentalen Pflicht eines jeden Römers. Diese Pflicht leitete sich aus der zentralen Bedeutung des Begriffes pietas her und beinhaltete die bedingungslose Loyalität gegenüber den eigenen Verwandten einschließlich der Vor- und Nachfahren. Für Frauen bedeutete dies ein Leben als liebende und unterwürfige Ehefrauen und Mütter, die sich voll und ganz dem Fortbestehen der Familie zu widmen hatten. Wer ohne Rücksicht auf Verwandtschaft und Sippe liebte, stellte sich auf widernatürliche Weise gegen das unausweichliche Schicksal.
Fortpflanzung und eheliche Liebe
Fünfzehn Jahrhunderte später, am Vorabend der Reformation, stellte jene Nächstenliebe noch immer eine beunruhigende Botschaft dar. Idealisten und Weltverbesserer, Unterdrückte und Arme schlug sie in ihren Bann, während sie auf alle anderen nur mäßige Anziehungskraft ausübte. Somit wurde dieses hehre Ideal immer wieder ausgehöhlt und stand immer wieder obenan auf der reformatorischen Tagesordnung. Die Nächstenliebe erfüllte die Herzen der Auserwählten, die eine neue Welt entwarfen - Männer und Frauen, Einzelne oder Gruppen von Gleichgesinnten, deren Mittelpunkt nicht selten, dem berühmten Vorbild des Kirchenvaters Hieronymus und seiner Gefährtin Paula folgend, ein in geistiger Freundschaft verbundenes Paar bildete. Auf den Plätzen und in den Kirchen der frühneuzeitlichen Städte wurde die Botschaft der Nächstenliebe von Predigern verkündet. Die Notleidenden strömten zu ihnen, und die Wohlhabenden schlossen sich, durch die gemeinsame Sorge um die Wahrung der öffentlichen Ordnung und des Wohlstands verbunden, ihrerseits zusammen. Die christliche Nächstenliebe war ein bevorzugtes Thema der christlichen Ikonographie. Davon zeugen Bilder in Kirchen und anderen öffentlichen Gebäuden. Der Allgemeinheit spendeten sie Trost, den Auftraggebern und ihren Nachkommen verschafften sie Genugtuung.
Die Fortpflanzung behielt die zentrale Bedeutung, die sie im Rom Neros besessen hatte. Allerdings betrachtete man im frühneuzeitlichen Westeuropa die Auswirkungen der Lehre des Jesus von Nazareth wohl mit größerer Gelassenheit. Das Verhältnis von christlichem Glauben und Welt hatte sich immerhin insofern gewandelt, als die christliche Familie einer der wichtigsten Gradmesser für gesellschaftlichen Wohlstand geworden war. Vorangegangen war ein jahrhundertelanger Machtkampf zwischen Adel und Geistlichkeit um die Kontrolle über die Gesellschaft und somit auch über die Ehe. Eines der Ergebnisse dieses Kampfes bestand in der klaren Aufgabenteilung bezüglich der Sexualität zwischen den verschiedenen Ständen. Für den Klerus (auch außerhalb der Klöster) galt der Zölibat. Er war nunmehr zu einem der Merkmale geworden, die den Statusunterschied zwischen Geistlichen und Laien markierten. Darüber hinaus sorgte er dafür, daß Macht und Besitz der Kirche stetig zunahmen. Die tote Hand füllte sich zusehends.
Um die Fortpflanzung mußten sich daher mit um so größerem Einsatz die Laien kümmern, und zwar innerhalb einer legitimierten Verbindung, die auf einem vertraglich festgelegten Versprechen monogamer Treue basierte. Dieses Gelöbnis bedurfte, so bestimmte es das Konzil von Trient (1563), der göttlichen Bekräftigung. Infolgedessen gelangte die Ehe in die Sphäre des Sakralen und fiel unter die Aufsicht des Klerus. Das vertrug sich keineswegs mit den Prinzipien und Interessen des Adels. Erst geraume Zeit nach dem Konzil von Trient akzeptierte die Mehrzahl der nominell Christianisierten das Sakrament der Ehe als Vorbedingung für die Fortpflanzung. Diese Mehrzahl lebte auf dem Lande: Adel, Bauern und lebenslange Vagabunden, Verbannte, Räuber, geläuterte und degenerierte Prediger und Eremiten; sie alle zusammen machten während des Ancien Regime mindestens achtzig Prozent der gesamten Bevölkerung aus.
Der Minderheit in den Städten jedoch, die emsig darum bemüht war, den eigenen gesellschaftlichen Status gegenüber dem feudalen Landadel und dem exemten Klerus zu steigern, kam die christliche Ehe sehr entgegen. Sie eignete sich als Lebensform erheblich besser als das Ideal der höfischen Liebe, das in sublimierter Form die ausschweifende Empfindsamkeit des Adels besang. Die neue, postfeudale Ehebeziehung wurde der Maßstab sowohl für die Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern, als auch für das Selbstbild sowie die materiellen und spirituellen Ambitionen der Bürgerinnen und Bürger.[1]
Die spätmittelalterliche bürgerliche Gesinnung stimmte auffallend mit der städtischen Moral der Spätantike überein. Auch damals war der aggressive und freizügige Lebensstil einer herrschenden Klasse, die aus gewalttätigen Rivalitäten zwischen Familienklans erwachsen war, von der kollektiven Moral der Enthaltsamkeit einer neuen Elite überflügelt worden: den Beamten eines sich stetig erweiternden Staatsapparates. Die Folge waren schärfere Grenzziehungen und Regelungen, auch bezüglich der zuvor üblichen bisexuellen Beziehungen, die nun auf rein heterosexuelle reduziert wurden. Eheliche Zuneigung und Treue, vorher eine eher rare, individuelle Angelegenheit, wurden zur allgemeinen Liebespflicht von Verheirateten im Dienste der Fortpflanzung erhoben.[2]
Man geht davon aus, daß die frühen Christengemeinschaften das gängige spätantike Ethos übernahmen. Und in der Tat bestimmten Selbstbeherrschung und Philogamie den Lebensstil spätantiker christlicher Familien, von denen die junge Kirche sich in ihrem materiellen Fortbestehen abhängig wußte. Den Idealen der größten Eiferer unter den ersten Christen entsprach jedoch viel eher eine ausgesprochene Abneigung gegen die Ehe, eine radikale »Misogamie«, die gleichfalls heidnischen Ursprungs war. Selbst der Apostel Paulus konnte diesem Dilemma nicht entkommen. Die Lösung, die erst im Laufe des zweiten und dritten Jahrhunderts gefunden wurde, bestand in der Herausbildung eines Klerikerstandes, der sich vor allem durch sexuelle Enthaltsamkeit deutlich vom Laienstand unterschied.[3]
Enthaltsamkeit und Freiheit
Es mag weit hergeholt erscheinen, dieses Mißverständnis bezüglich der Entwicklung der christlichen Ehemoral im Rahmen eines Beitrages über den spirituellen Handlungsspielraum frühneuzeitlicher Christinnen zur Sprache zu bringen. Wenn man jedoch das spirituelle Leben jener Frauen besser verstehen will, sollte man sich zunächst von der weitverbreiteten Vorstellung der keuschen Philogamie als traditionell christlichem Ideal schlechthin verabschieden. Sie ist vor allem ein Erbe aus dem 19. Jahrhundert und versperrt die Sicht auf den ambivalenten und problematischen Charakter der ursprünglichen, radikalen christlichen Anthropologie. Zudem erschwert sie die Wahrnehmung der zunehmenden Divergenz zwischen dem mediterranen, überwiegend katholischen Modell und dem angelsächsischen, überwiegend protestantischen Modell.
Erst nach tausend Jahren Christentum hatte sich eine mehr oder minder konsistente Ehemoral entwickelt, die sich durch ihre Heiligung von der heidnischen Ethik unterschied. Ihr Verhältnis zum protochristlichen Ideal der sexuellen Enthaltsamkeit blieb gespannt. Zwar war die Identität der ersten Christen maßgeblich vom neuen Gedanken der Nächstenliebe geprägt, aber die weiterbestehende Vorstellung von sexueller Enthaltsamkeit spielte in diesem Prozeß der Identitätsfindung ebenfalls eine entscheidende Rolle.
In einer konventionellen, bürokratischen und hierarchisierten Gesellschaft eröffnete Enthaltsamkeit die Möglichkeit, den Traum vom transzendierenden Kosmopolitismus in Erfüllung gehen zu lassen: Sie machte affektive Bindungen mit den wahren Nächsten möglich, so sehr dies auch »andere« waren: Fremde, Untergebene, Unbekannte und Angehörige des anderen Geschlechts.[4] Für die Radikalsten unter den ersten Christen war die Rolle der Frau in der Fortpflanzung - sich der Verpflichtung zum Geschlechtsakt zu unterwerfen und unter Schmerzen zu gebären - Symbol der menschlichen Versklavung, während die Jungfräulichkeit ein Symbol der Freiheit darstellte. Damit wurde an uralte Vorstellungen von der Jungfrau als grenzüberschreitendem Medium zwischen Natur und Übernatürlichem, zwischen Innen und Außen, zwischen Eigenem und Fremden, zwischen Mann und Frau angeknüpft.[5] Der Heldenmut der Märtyrer konnte nur von dem der jungfräulichen Märtyrerinnen übertroffen werden. Die Jungfrau, Symbol der Freiheit um jeden Preis, und sei es der Einsatz des eigenen Lebens, verkörpert den ureigensten Menschheitstraum: Alle Menschen, Männer und Frauen, werden Gefährten, gleich im gemeinsamen Kampf um Freiheit.
Lebendig und beunruhigend
In dem Maße, wie die bürgerliche Ehemoral an Boden gewann, galt es für kirchliche und weltliche Obrigkeiten, den jungfräulichen Stand und sein transzendentes Potential zu beschränken und zu reglementieren, um zu verhindern, daß er die neue soziale Ordnung gefährdete.
Der Protestantismus entwarf für dieses Problem, das eng mit dem der Anhäufung kirchlicher Reichtümer zusammenhing, eine radikale Lösung: Abschaffung des zölibatären Priesterstandes und des Klosterwesens sowie Ausrottung des »teuflischen Aberglaubens« an übermenschliche Kräfte, die angeblich durch langfristige sexuelle Enthaltsamkeit erworben wurden. Im Gegensatz dazu bestätigte die katholische Kirche den Priesterzölibat aufs Neue und intensivierte die Reglementierung der klösterlichen Lebensweise, indem sie unter anderem die Einhaltung des Keuschheitsgelübdes verschärft kontrollierte. Durch Festhalten an der Pflicht des Klerus zu sexueller Enthaltsamkeit suchte die katholische Kirche den Unterschied zur Gemeinde zu unterstreichen. Der jahrhundertealte Widerstand gegen eine bewußte Entscheidung von Laien für Jungfräulichkeit bzw. permanente sexuelle Enthaltsamkeit wurde dadurch noch massiver.
Semireligiose
Dieser Widerstand hatte sich im Mittelalter während der Blüte der »religiösen Frauenbewegung« deutlich manifestiert. Jene etwas irreführende Bezeichnung verweist auf die wachsende Partizipation breiterer Schichten der Bevölkerung an der spirituellen Kultur der Mönche und geistlichen Fürsten. Einer der erstaunlichsten Aspekte dieser »Demokratisierung« der religiösen Lebensweise bestand darin, daß die Zahl der Frauen, die ihr Leben Gott weihen wollten, beträchtlich zunahm. Die Versuche, jene explosive Entwicklung im Zaum zu halten, konzentrierten sich vor allem auf die Eliminierung einer Form des religiösen Lebens, die überwiegend von Frauen praktiziert wurde. Dabei handelte es sich insbesondere um die semireligiose Lebensweise der Reklusen, Beginen, pinzocchere, Schwestern vom Gemeinsamen Leben, beatas, Tertiarierinnen und anderer gottgeweihter Frauen, die nicht dem geistlichen Stand angehörten, da sie keine Gelübde abgelegt hatten. In den Augen ihrer Befürworter waren sie die wahren Frommen, weil sie, wie die Jungfrauen des Urchristentums, nicht nur Lippenbekenntnisse ablegten, sondern ihren Glauben wirklich lebten.[6]
Bei kirchlichen und weltlichen Machthabern sowie beim Durchschnittsbürger stieß diese Lebensweise allerdings auf Ablehnung. Indem sie die Unterschiede zwischen Klerikerstand und Laienstand verwischte, verursachte sie Verwirrung auch im Hinblick auf ihre rechtliche Stellung und das Erbrecht. Semireligiose waren dann auch häufig Gegenstand unverhüllter Spötteleien und Aggressionen. Vor allem ihre Entscheidung für sexuelle Enthaltsamkeit wurde häufig aufs Korn genommen. Der Umgang mit ihnen kann Historikern daher als Prüfstein für das Toleranzmaß einer Gesellschaft dienen. Er indiziert darüber hinaus, inwieweit der erwähnte Popularisierungsprozeß mit einer
Feminisierung der geistlichen Kultur einherging. Diese Frage wurde in der Forschung wiederholt gestellt, aber bisher nicht beantwortet. Für die frühneuzeitliche Geschlechtergeschichte scheint sie von grundlegender Bedeutung zu sein. Sie zwingt dazu, den problematischen Status frommer Frauen eingehender als bisher zu untersuchen.
Frauen konnten ebensowenig die Priesterweihe empfangen, wie sie Weltgeistliche werden konnten. Innerhalb des geistlichen Standes gab es für Männer zwei unterschiedliche Lebensweisen: die des Mönchs (Regularkleriker) und die des Priesters (Säkularkleriker). Frauen konnten lediglich als Nonnen einen Platz in der Kirche erlangen, und zwar nicht wie die Mönche in den höchsten, ersten, sondern in den minderen, zweiten geistlichen Orden. Frauen, die ein gottgeweihtes Leben in der Welt führen wollten, wurden automatisch zu Semireligiosen, die zwar durch das Ablegen bestimmter Gelübde dem sogenannten dritten Orden (Tertiarier) beitreten konnten, aber damit noch nicht dem geistlichen Stand angehörten. Letzteres war nur dann möglich, wenn eine Gruppe von Tertiarierinnen durch die Annahme einer Klosterregel zu einem »regulären dritten Orden« erhoben wurde und damit faktisch in den zweiten Orden überging.
Bis zum Beginn der Neuzeit waren fast alle Gemeinschaften gottgeweihter Frauen an eine Klosterregel gebunden. Dies konnte jedoch nicht verhindern, daß immer wieder, einzeln oder gruppenweise, neue Semireligiose in Erscheinung traten. Viele Frauen entschieden sich, wenn auch häufig nur vorübergehend, weiterhin für diesen Mittelweg. Da sie weder innerhalb der Kirche noch innerhalb der Gesellschaft eine Existenzberechtigung besaßen, wurden sie entweder von den Geschichtsschreibern gänzlich ignoriert oder mit den regulären Orden in einen Topf geworfen. Es gibt allerdings Grund zu der Annahme, daß sie außerordentlich zahlreich waren. Zusammen mit den Nonnen und Tertiarierinnen bildeten sie eine riesige Gruppe gottgeweihter Frauen, die die männliche Geistlichkeit zahlenmäßig weit übertraf. In den nördlichen Niederlanden etwa gab es anderthalbmal so viele gottgeweihte Frauen wie männliche Geistliche - Regulär- und Säkularkleriker zusammengenommen.[8]
Am Vorabend der Reformation blieb es ein schwieriges Unterfangen, diese massenhafte Teilnahme von Frauen am geistlichen Leben einzudämmen und jene beeindruckenden Beispiele weiblicher Frömmigkeit zu integrieren, die sich im kollektiven Gedächtnis festgesetzt und das religiöse Empfinden tief beeinflußt hatten. Welche Rolle all jene Frauen, die ihr Leben auf Gott ausgerichtet hatten, im weiteren Verlauf der Ereignisse spielten, ist noch weitgehend ungeklärt.
Lebende Heilige
Für Italien haben bemerkenswerte Studien zur »religiösen Frauenbewegung« - einschließlich der häretischen Tendenzen, Reformbewegungen und Gegenbewegungen - den Einfluß gottgeweihter Frauen am Vorabend von Reformation und Gegenreformation erwiesen. Die jüngsten Resultate deuten auf einen fundamentalen Wandel kurz vor dem endgültigen Durchbruch der Reformation hin. Das Ansehen gottgeweihter Frauen, das sich seit der Jahrhundertwende spürbar verbessert hatte, verfiel um 1530 schlagartig. Am deutlichsten ist dies am Autoritätsverlust der Prominentesten unter ihnen, der charismatischen Frauen, abzulesen, die als »lebende Heilige« (sante vive) und sogar als »göttliche Mütter« (divini madri) verehrt wurden. Jedermann, ob arm oder reich, zog sie bei den unterschiedlichsten Problemen zu Rate, so daß sie nicht nur die religiösen, sondern auch die politischen und sozialen Ereignisse ihrer Zeit beeinflußten, und zwar nicht nur auf lokaler Ebene.[9]
Ihre Prestigegewinne werden mit einem Aufschwung der Frömmigkeit in Zusammenhang gebracht. Dieser war eine Reaktion auf die Katastrophen, die Italien am Beginn der Neuzeit heimgesucht hatten. Vor allem die berüchtigten Feldzüge französischer und deutscher »Barbaren« hatten die Ernten vernichtet, die Bevölkerung dezimiert und Geschlechtskrankheiten verbreitet. Auffallend viele Frauen, größtenteils Semireligiose, waren an diesem Neuanfang, dieser wahrhaft »religiösen Bewegung«, beteiligt. Sie folgten der Botschaft des großen Bußpredigers Girolamo Savonarola, aber sie orientierten sich am Vorbild einer der berühmtesten weiblichen Heiligen, Katharina von Siena (gest. 1380), die rund ein Jahrhundert zuvor einem irregeleiteten Papsttum den rechten Weg gewiesen hatte. Dies beabsichtigten auch die nuove Caterine, ebenso wie viele andere »Spirituelle«, gottgeweihte Männer und Frauen, die eine Religion des reinen Geistes predigten und auf eine radikale Reform zusteuerten. Inmitten des Säbelrasselns wurde tatsächlich mit Hilfe Frankreichs ein Versuch unternommen, das Haupt der Christenheit zu reformieren und damit die Einheit der Kirche wiederherzustellen. Dieser Versuch war begleitet von der weitverbreiteten Hoffnung auf ein göttliches Eingreifen, auf die Erscheinung eines »PapaAngelicus«, eines rettenden Engels, der den besudelten Stuhl des heiligen Petrus einnehmen würde.[10]
Doch die Hoffnung trog, denn die Reformversuche mißglückten. In einer Atmosphäre tiefer Enttäuschung eröffnete sich die Möglichkeit, die Reformstrategie grundlegend zu ändern. Vom erschütterten Glauben an die Botschaft der Visionäre und Propheten profitierten die kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten, Geschäftsleute und Gelehrten. Fortan zog man immer häufiger sie zu Rate und immer seltener göttliche Vermittler. Nach dem Ende der kriegerischen Konflikte in Italien zogen sich die Seher und Seherinnen schleunigst zurück. Sie mußten in einem dramatischen Konflikt, der das irreparable Auseinanderbrechen der abendländischen Christenheit zur Folge hatte, als Sündenböcke herhalten. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts waren so gut wie alle anerkannten Visionäre verschwunden. Eine der letzten war die berühmte divina madre Antonia Negri (gest. 1555), die an der Gründung des Ordens der Barnabiten beteiligt gewesen war. Ungeachtet ihrer göttlichen Sendung wurde sie auf Befehl der kirchlichen Autoritäten eingesperrt.[11]
Die Auswirkungen dieser Entwicklung waren für Männer und Frauen nicht dieselben. Der alten Überzeugung folgend, daß Frauen eine besondere Fähigkeit hätten, mit dem Unsichtbaren in Kontakt zu treten, hatte man bis dahin den Seherinnen, die mit dem Göttlichen kommunizierten, zwar ebenso argwöhnisch, aber auch ebenso aufmerksam zugehört wie den Sehern. Diese Gleichbehandlung galt jedoch nicht für die praktische Umsetzung des Willens Gottes oder die tatsächliche Reform von Kirche und Christenheit: Sie war Männern vorbehalten. Nach der Reformation wurde die Erneuerung der Kirche mehr als je zuvor zur Männersache, insbesondere das Erahnen des göttlichen Heilsplanes. Seherinnen traten zwar weiterhin in Aktion, wurden jedoch von nun an mit wachsendem Erfolg aus der öffentlichen Sphäre vertrieben. Ihre Mittlertätigkeit bezog sich infolgedessen immer weniger auf den aktuellen Lauf der Ereignisse, das Schicksal dieser oder jener Gemeinschaft, und dafür verstärkt auf das Überirdische Himmel, Hölle, Fegefeuer - sowie eine Reihe anderer Glaubensfragen.
In diesem Rahmen erscheint Antonia Negri als eine der letzten Repräsentantinnen der »religiösen Frauenbewegung«, eines Popularisierungsprozesses, der unter anderem einer Minderheit charismatisch begabter Frauen Freiräume für eine gesellschaftlich relevante geistige Führerschaft in Wort und Schrift eröffnet hatte. Viel wichtiger ist jedoch, daß diese explosive Popularisierung des geistlichen Lebens das verblüffende spirituelle Potential von Frauen offenbart hatte. Diese Kräfte im Zaum zu halten, wurde in einer gespaltenen Christenheit zur Grundvoraussetzung für das Gelingen einer neuen Reformoffensive.
Gemeinsame Sache zwischen gebildeten Frauen und Analphabetinnen
Lassen sich Zusammenhänge oder Ähnlichkeiten dieser Prozesse mit Entwicklungen in oder außerhalb Italiens nachweisen? Das läßt sich nur schwer beantworten, denn die Forschung über Frauen und Geschlechterverhältnisse hat auf diesem Feld wohl viele Einzelstudien hervorgebracht, jedoch übergreifende Fragen vermieden.[12] Die vorliegenden Untersuchungen nehmen überdies fast immer eine verengte Perspektive ein: entweder die Sicht der Reformation oder die der Gegenreformation. Das Streben nach reformatio war jedoch bis weit ins 16. Jahrhundert hinein zumeist nicht an eine Entscheidung für die alte oder die neue Kirche gekoppelt. Dies hatte soziale und politische Gründe, rührte aber auch daher, daß für viele die »neue Kirche« die »alte« war, weil Reformation nichts anderes bedeutete als die Wiederherstellung der einen Mutter Kirche in ihrer ursprünglichen Gestalt.
Das galt auch für Frauen wie Vittoria Colonna, Giulia und Eleonora Gonzaga, Renata di Francia, Caterina Cybo und Veronica Gambara, die in der evangelikalen Bewegung innerhalb und außerhalb Italiens eine bedeutende Rolle spielten. Bereits am Ende des 19. Jahrhunderts wurden deren Bemühungen als »religiöse Frauenbewegung« bezeichnet, wobei man von der Vorstellung ausging, es habe sich um eine emanzipatorische Bewegung gehandelt.[13] Inzwischen ist der frauenfreundliche Charakter protestantischer Bewegungen jedoch in Zweifel gezogen worden. Es ist allerdings auch deutlich geworden, daß der zutiefst verinnerlichte Glaube »lebender Heiliger« und ihr Streben nach Reformierung vor allem des Papsttums und nach der Rückbesinnung auf die Authentizität des Urchristentums die Möglichkeit in Betracht zog, der gesamtkirchlichen Hierarchie den Rücken zu kehren.[14]
Die »Volkskultur« dieser zum größten Teil ungebildeten charismatischen Frauen weist darüber hinaus Anzeichen einer Gemeinsamkeit mit der »Elitekultur« des Adels auf. Auch der Adel bediente sich des politischen Gewichtes »lebender Heiliger« und »göttlicher Mütter«, die ihrerseits, zutiefst überzeugt von ihrer göttlichen Sendung, von ihren Anhängern blindes Vertrauen forderten. Diese Vermittlung zwischen dem Heiligen und dem Profanen bot Seherinnen die Chance, ihren Einfluß über ihren Wohnort und dessen unmittelbare Umgebung hinaus zu erweitern. Jedoch verfügten nur Charismatikerinnen aus den Oberschichten über ein darüber hinausgehendes soziales Netzwerk. Humanistischen Auffassungen über die perfekte »Matrone« zufolge bestand eine der wichtigsten Aufgaben gebildeter Frauen aus dem Adel und der bürgerlichen Elite darin, diese Kontakte zu pflegen, damit die eigene Familie und vor allem die Karriere ihrer Ehemänner davon profitieren konnten. Die Netzwerke des Hochadels überzogen aufgrund der zahlreichen politisch motivierten Eheschließungen häufig große Teile Europas und verbanden vor allem Italien und Frankreich miteinander. Reformer machten sich diese Strukturen gern zunutze. Dies gilt ebenso für Ignatius von Loyola wie für Calvin. Sie ähnelten einander übrigens auch in ihrer Geringschätzung der intellektuellen Fähigkeiten von Frauen, gleich welchen Bildungsstandes, sowie in der Furcht vor weiblicher Einmischung in kirchliche Angelegenheiten.
Beispielhafte Tote
Wie könnte man den Unterschied zwischen katholischer und protestantischer Spiritualität besser veranschaulichen als am Beispiel der Kontakte von Lebenden mit den Helden und Heldinnen im Jenseits? In beiden Lagern war der Umgang mit diesem Phänomen problematisch. Auf katholischer Seite wurde er unter neuen Voraussetzungen fortgesetzt, auf protestantischer wurde er gänzlich abgebrochen. Aus den protestantischen Kirchen verschwanden die Bilder und mit ihnen die sinnlich wahrnehmbare Anwesenheit der Heiligen, ihre Körper, ihre Kleidung, ihr Blut, ihre Tränen. Der Kontakt mit Gott wurde zu einer rein persönlichen Angelegenheit jedes Gläubigen, ohne daß es des Umwegs über einen bzw. mehrere Mittler bedurft hätte. Das allgemeine Priestertum aller Gläubigen machte das Amt eines geweihten Mittlers unter den Lebenden überflüssig. Ein umfangreiches Vermittlungssystem zwischen dem Schöpfer und seiner Schöpfung, das im Laufe von fünfzehn Jahrhunderten aufgebaut worden war, wurde ohne viele Umstände verworfen. Während die katholischen Kirchen mit ihrem Bilderschmuck von auffahrenden Heiligen und niederfahrenden Engeln weiterhin den Blick auf die himmlische Bühne freigaben, kehrten die protestantischen Kirchen zu den Anfängen zurück und wurden zu nüchternen Versammlungsräumen.
Die Auferstehung der Jungfrauen
Bei den Zusammenkünften der ersten Christen hatten Frauen eine unvergeßlich heroische Rolle gespielt, indem sie sich in vollkommener Keuschheit ganz und gar Gott geweiht hatten und bereit gewesen waren, für ihren Glauben sogar ihr Leben hinzugeben. Die frühchristlichen virgines lebten anfangs wie ihre männlichen Entsprechungen, die continentes, nicht in einer Gemeinschaft von Gottgeweihten, sondern wie jeder andere Gläubige zu Hause im Kreise ihrer Familie. Ihr wichtigstes Kennzeichen war dasselbe wie das der späteren Semireligiosen: sexuelle Enthaltsamkeit. Bemerkenswert ist, daß es zahlreiche historische Zeugnisse über die virgines gibt, während wir über die continentes sehr spärlich informiert sind, obwohl es verläßliche Hinweise dafür gibt, daß beide Gruppen zahlenmäßig etwa gleich stark waren.[15]
Tatsächlich hat sich keine Gruppe von Frauen jemals so hoher Wertschätzung erfreut wie die der frühchristlichen Jungfrauen. Sie galten als Inbegriff der perfekten Christin. Keuschheit wurde zur Bedingung weiblicher Heiligkeit, so wie das Glaubenszeugnis in Wort und Tat zum Kennzeichen männlicher Heiliger wurde. Es gibt unter den Heiligen keine weiblichen »Bekenner«, aber auch keine männlichen »Jungfrauen«. Unter den Heiligen, die ihren Glaubenseifer mit dem Leben bezahlt hatten, unterschied man lediglich bei Frauen zwischen denjenigen, die als Jungfrauen in den Tod gegangen waren, und den »Nichtjungfrauen«. Märtyrer und Märtyrerinnen waren Gott wohlgefällig, am meisten jedoch galt dies für jungfräuliche Märtyrerinnen. Nicht durch das Bekenntnis, sondern durch vorbehaltlose Selbstaufopferung konnten Frauen am besten zur Verbreitung des wahren Glaubens beitragen und darüber hinaus zu persönlicher Heiligkeit gelangen.
Es kann hier weder um das Leben der Frauen in der frühen Kirche noch um den Einfluß der Frauen auf ihr Bild gehen. Vielmehr interessieren die Bemühungen katholischer Reformer, diesem Bild neuen Glanz zu verleihen, die einhergingen mit der gewissenhaften Suche nach den Grundfesten des Glaubens, nach den Unterschieden zwischen Orthodoxie und Häresie, zwischen wahrem und falschem Christentum. Dabei wurde die Urkirche erneut zur Inspirationsquelle. In diesem Zusammenhang erschienen die ersten historischen Quellen
über frühchristliche Jungfrauen und Märtyrerinnen. Dort, wo man ihre Gräber vermutete, in häufig bereits baufälligen Kirchen, fanden Ausgrabungen statt. Wenn die Mühe mit dem Fund der heiligen Gebeine belohnt wurde, verwandelte sich die Ruine bald in ein barockes Kunstwerk. Bernini erhielt seinen ersten Auftrag in Rom nach dem Fund der Gebeine der Märtyrerin Bibiana; und einer seiner größten Rivalen, Pietro da Cortona, konnte dank der Ausgrabung der Gebeine der Jungfrau und Märtyrerin Martina das vollkommenste Beispiel seiner architektonischen Theologie realisieren.[16]
In beiden Fällen ging es um in Vergessenheit geratene, legendäre Heilige. Aber ihre noch greifbare Präsenz bestätigte vorhandene Traditionen. Unter der Ägide von Machthabern, die zur Durchsetzung einer zentralistischen Kirchenpolitik entschlossen waren und sich der nachhaltigen Wirkung religiöser Symbole bewußt waren, führte dies zu einer Wiederbelebung kultischer Handlungen. Päpste erkannten sehr schnell, daß nichts die Vorstellungskraft so animierte wie jungfräuliche Märtyrerinnen. Urban VIII. komponierte Carmina zu Ehren der auferstandenen jungfräulichen Heiligen Martina. Der Triumph der einen wahren Kirche mit Sitz in Rom wurde dank der immer zahlreicheren Märtyrer, die um das Grab Petri gruppiert wurden, augenfällig. Im Gegensatz zur Verehrung lokaler Heiliger in späteren Zeiten verkörperte die kultische Verehrung der frühchristlichen Märtyrer die universale Gemeinschaft der Gläubigen schlechthin.
Heiligkeitsmodelle
Innerhalb der reformierten katholischen Kirche entwickelten sich aus dem Zusammenspiel zwischen der spontanen Dynamik kollektiver Glaubenserfahrung und dem Kräftespiel bestehender Machtverhältnisse neue Heiligkeitsmodelle. Es kam zu Machtkämpfen zwischen kirchlichen und weltlichen Autoritäten, aber auch geistlicher Mächte untereinander, und vor allem zwischen den verschiedenen religiösen Orden. Frauen spielten in diesen Auseinandersetzungen kaum eine nennenswerte Rolle. Um so wichtiger war dagegen ihr Beitrag zur kollektiven Glaubenserfahrung. Dies machte den Entwurf neuer Konzepte von Heiligkeit zu einem Drahtseilakt, denn die Existenz einer weitverbreiteten Anhängerschaft war von alters her ein grundlegendes Kriterium für die Herausstellung von Heiligen. In dem Maße, wie der »Volksglaube« und besonders der »Frauenglaube« mittels einer Vielzahl reformerischer Maßnahmen von heterodoxen Tendenzen gesäubert wurden, ließ Heiligkeit sich homogener definieren. Die Kluft zwischen spontanem Glauben und strenger Orthodoxie wurde allmählich überbrückt. Heiligkeit wurde immer mehr zu einer kirchenpolitischen Angelegenheit und immer weniger zu einer Form des Protests.
Die neuen Modelle der Heiligkeit spiegelten die Reaktionen der kirchlichen Obrigkeit auf einen Prozeß wider, der lange vor der Reformation in Gang gekommen war. Die bereits angesprochene Demokratisierung des abendländischen Glaubens kam unter anderem in einem neuen Gottesbild zum Ausdruck.
Der Akzent hatte sich vom fernen, in unerreichbarer Höhe thronenden Herrscher und Richter beim Jüngsten Gericht auf den menschgewordenen Erlöser verlagert. Auch die Heiligen hatten im Laufe jener mittelalterlichen Popularisierungsbestrebungen verstärkt menschliche Züge angenommen. Aus Wundertätern, denen man sich ehemals vor Ehrfurcht bebend näherte, waren Vertrauen und Zuneigung erweckende Beschützer geworden. Vor allem lokale Patroninnen und Patrone wurden zunehmend von einer Klientel aus allen Ständen und Lebensbereichen konsultiert. Daraus entstand der Brauch, vor wichtigen Entscheidungen den bevorzugten Heiligen anzurufen.
Das alles barg Gefahren, insbesondere wenn ein neuer Kult aufkam oder wenn Visionäre und »lebende Heilige« sich zu Wort meldeten.
Kirchenvertreter versuchten seit dem zehnten Jahrhundert, die Risiken zu mindern, wie sich an der Entwicklung der Kanonisierungsverfahren ersehen läßt. Sie maßen Wundern immer weniger Bedeurtung bei und betonten stattdessen zunehmend andere Kriterien. Wollte man wahre von falscher Heiligkeit unterscheiden, dann waren Tugendhaftigkeit und Rechtgläubigkeit zuverlässigere Beurteilungskriterien als die Authentizität der immer zahlreicheren und plastischeren Manifestationen göttlichen Handelns, die überdies beunruhigend oft von Frauen empfangen wurden.
Während der Periode der Gegenreformation erreichte die kirchliche Reaktion ihren Höhepunkt, nicht zuletzt aufgrund der Vorwürfe gegen die »papistische Idolatrie«. Außergewöhnliche Tugendhaftigkeit und Rechtgläubigkeit als Zeichen der Überwindung des Bösen (und folglich auch der »teuflischen Ketzerei« des Protestantismus) wurden besonders hervorgehoben und machten aus dem Heiligen einen heldenhaften Vorkämpfer der ecclesia militans. Daher stammt der Begriff »heroische Heiligkeit« als gegenreformatorisches Konzept, das bis in unser Jahrhundert hinein seine Gültigkeit behalten hat. Durch die Abwertung von Wundern und wunderwirkenden Charismen sowie durch die Akzentverlagerung auf heroische Tugendhaftigkeit und Orthodoxie wurde die Feststellung wahrer Heiligkeit mehr und mehr zu einer Angelegenheit von Theologen und Kanonisten im Dienste eines absolutistischen Papsttums. Diese Entwicklung kulminierte in einer minuziösen Kodifizierung des Kanonisierungsverfahrens, das 1638 verbindlich festgeschrieben wurde.[17]
Die Folgen waren immens. In den Kanonisationsprozessen verlor die Aussage von Augenzeugen, der einzigen Akteure, zu denen auch Frauen gehörten, an Bedeutung. Die neuen Kategorien der Heiligkeit wurden somit noch stärker als zuvor von Männern bestimmt. Unters Volk gebracht wurden diese Kategorien durch Predigten und religiöses Schrifttum, größtenteils aus der Feder von Priestern bzw. Mönchen, aber auch mittels bildlicher Darstellungen, die zuvor allerdings von der kirchlichen Obrigkeit auf ihre Tauglichkeit überprüft wurden. Das alles führte zu einem deutlichen Statusgefälle zwischen der Elite päpstlich legitimierter Heiliger und zahllosen nicht kanonisierten Heiligen. Schon in der zweiten Kategorie stellten Frauen eine auffallende Minderheit dar, und in der ersten waren sie noch weniger vertreten.
Das Ende der »lebenden Heiligen«
Seit dem 16. Jahrhunden wurde Heiligkeit mehr als je zuvor zu einer Qualität von Klerikern, vor allem von Ordensgeistlichen und insbesondere von Ordensgründern. Das bedeutete eine weitere Verringerung des weiblichen Anteils, denn Frauen waren ja gerade unter den »Laienheiligen«, wo sie im Mittelalter noch beinahe ein Viertel der Gesamtzahl ausgemacht hatten, relativ zahlreich gewesen. »Laien« wird hier im Sinne von Nicht-Klerikern verwendet. Häufig handelte es sich um semireligiose, gottgeweihte Frauen, die weder dem Klerus angehörten, noch der »Welt«, und auf die die institutionelle Zweiteilung Klerus-Laienstand, die in der Geschichtsschreibung meist nach wie vor Verwendung findet, nicht zutrifft.
Dies gilt gleichermaßen für verheiratete weibliche Heilige, die, meist nach dem Tod ihres Ehemannes, ein semireligioses Leben aufnahmen.
Es ist kein Zufall, daß man von vielen kanonisierten weiblichen »Laien« nicht weiß, ob sie verheiratet waren: Erst nachdem man die irdischen Bande abgestreift hatte, konnte man den Weg der Heiligkeit beschreiten.[18] Zunächst bedeutete das, sein Leben für den Glauben zu opfern und das eigene Schicksal und die jeweilige Lebenssituation anzunehmen. Für Frauen, die auch einem gottlosen und grausamen Ehemann gegenüber zum Gehorsam verpflichtet waren, konnte dieses Opfer solch dramatische Formen annehmen, wie wir sie aus den Lebensgeschichten mittelalterlicher Heiliger kennen.
In der Frühen Neuzeit jedoch geriet die traditionelle christliche Misogamie durch die Dominanz der ehefreundlichen Bürgermoral immer mehr in den Hintergrund. In einem weltlichen Kontext konnte die paradoxe Beziehung zwischen Ehemoral und Frömmigkeit, zwischen Fruchtbarkeit und Heiligkeit nicht entschlüsselt werden. Anstelle der »lebenden Heiligen« aus vorreformatorischer Zeit traten nun Heilige in Erscheinung, die in erster Linie auf das Jenseits verwiesen und auf diese Weise, in Übereinstimmung mit der zunehmenden Entfernung zwischen dem Sakralen und dem Profanen, den »Tod Gottes« einläuteten.
Vervollkommnung und »Matronenschaft«
Im Streben nach Vervollkommnung bestand die wichtigste Aufgabe eines jeden Gläubigen, doch war sie besonders den Frauen aufgegeben. In der Mädchenerziehung spielte sie eine weitaus bedeutendere Rolle als in der der Jungen. Darüber hinaus wurde die Tugendhaftigkeit der Frauen wesentlich argwöhnischer überprüft als die der Männer, denn in jeder Frau lauerte Eva, die Wurzel allen Übels. Dennoch gab es einen Anhaltspunkt dafür, daß die Frauen es im Glauben, der obersten Tugend, weiter gebracht hatten als die Männer: ihre größere Treue zur Kirche. Als ihre aufgeklärten Ehemänner im Laufe des 18. Jahrhunderts der Religion den Rücken zu kehren begannen, folgten sie ihnen nicht. Woher rührt diese Standhaftigkeit?[19]
Die Religiosität der Frauen
Die bisher von Historikern gelieferten Erklärungen laufen darauf hinaus, daß die Kirche den Frauen mehr als der Staat zu bieten hatte. Sie stellte eine Gemeinschaft dar, in der alles auf den Schöpfer hingeordnet war, so daß das Leben aus im wesentlichen von allen geteilten Erfahrungen bestand: aus dem Zyklus der Jahreszeiten, Ernten und Mißernten. Geburt, Krankheit, Erziehung, der Ehe und dem Tod. Diese Gemeinschaft wurde nach der Reformation weiterhin in Gestalt der protestantischen und der erneuerten katholischen Gemeinden, in deren Gotteshäusern für jeden Gläubigen Platz war, gefestigt.
In den Kirchen maß man dem Streben nach persönlicher Vervollkommnung in der Tugend eine hohe Bedeutung zu. Dieses moralische Ideal war, im Gegensatz zu den intellektuellen und professionellen Errungenschaften, die in der Welt zählten, auch für Frauen erreichbar. Und nicht nur das: Für die meisten Frauen war Frömmigkeit der einzige nicht geschlechtsspezifische Aspekt, in dem sie es den Männern gleichtun bzw. diese sogar überflügeln konnten. Durch die zunehmende Professionalisielung der nicht haushaltsbezogenen Fertigkeiten entfernten sich die moralischen Ambitionen der Frauen auf die Dauer immer weiter von den beruflichen Ambitionen der Männer. Tugendhaftigkeit und Religiosität wurden in zunehmendem Maße mit der abgeschlossenen Lebenswelt von Priestern, Ordensleuten und Frauen assoziiert.
Die Kirchen stellten die persönliche Tugend immer wieder unter die Perspektive des Jenseits. Für viele Männer und Frauen war die Hoffnung auf das ewige Heil der einzige Lichtblick im täglichen Kampf ums Dasein. Frauen waren aufgrund ihres abhängigen Status besonders von Unrecht und Armut betroffen. Ihre primäre Funktion, die Fortpflanzung, brachte einerseits das Risiko eines frühen Todes mit sich, eröffnete jedoch andererseits die Möglichkeit, das Spannungsfeld zwischen Leben und Tod besonders intensiv zu erleben. Frauen gebaren tote und nicht lebensfähige Kinder oder Kinder, die jung starben, und standen so in direktem körperlichen Kontakt mit dem Reich der Toten.[20]
Schließlich bot das Leben nach dem Tod außerdem die Aussicht auf die Gleichheit der Geschlechter, die im Diesseits, hier waren sich Männer und Frauen einig, weder anzustreben noch zu realisieren war. Der Protestantismus hatte, vor allem in seinen radikaleren Ausprägungen, eine Reihe von Ansätzen für mehr Gleichheit bereits im irdischen Dasein entwickelt. Das Wenige, was davon in die Praxis umgesetzt worden war, wurde jedoch bald wieder zurückgenommen und den herrschenden Normen angepaßt.[21]
Was immer in den Frauen vorgegangen sein mag, ihre unerschütterliche Kirchentreue hatte jedenfalls zur Folge, daß ihr Leben mehr als das der Männer von der täglichen Glaubenspraxis geprägt war. Diese blieb im Katholizismus erheblich vielfältiger und variationsreicher als im Protestantismus, der stärkere Betonung auf die individuelle Frömmigkeit und das persönliche Gewissen legte. Bisher ist kaum erforscht, wie Frauen von den verschiedenen Optionen Gebrauch machten. Das persönliche Gebet, die Bibellektüre, die Teilnahme am Abendmahl oder an der Messe, der Empfang der Sakramente, Wallfahrten, das Berühren von Reliquien, das Fasten, all dies wurde unterschiedlich erlebt, nicht nur abhängig von der jeweiligen Persönlichkeit, sondern auch vom gesellschaftlichen Status: von der Masse der Armen anders als von den wenigen Reichen, von Landbewohnerinnen anders als von Städterinnen, von Analphabetinnen anders als von den wenigen Gebildeten.
Es ist noch unklar, inwieweit solche Formen religiöser Praxis neben sozioökonomischen Faktoren ausschlaggebend für die Wahl der Konfession waren. Lange Zeit hat man angenommen, daß gebildete Frauen mehr zum Protestantismus tendierten. Inzwischen wissen wir, daß das nicht der Fall war. So fühlte sich Marguerite dAngouleme de Navarre, um das berühmteste Beispiel zu nennen, zwar vom Protestantismus angezogen, hielt jedoch letztlich an der katholischen Kirche fest. Ihr Verhalten war unter gebildeten Frauen eher die Regel als die Ausnahme. Wir tun außerdem gut daran, bei unserer Forschung die altbekannte Frage nach dem Ausmaß von Misogynie und Unterdrückung in dieser oder jener Konfession zu vernachlässigen, da sie uns bei der Suche nach den Empfindungen von Frauen in der Frühen Neuzeit nicht weiterhilft. Somit sollte die Frage im Vordergrund stehen, was Frauen in ihrer Glaubenspraxis erlebten, suchten und fanden.[22]
Mitarbeiterinnen des Klerus
Einen sinnvollen Ansatz bietet die Forschung zum frühneuzeitlichen »Matronat« in Italien. Gemeint sind damit Wohltätigkeit und Schenkungen verheirateter Frauen aus den Führungsschichten, also Matronen, die als »Patroninnen« auftraten.[23] Ausgangspunkt dieser Forschungen ist eine Fragestellung, die anthropologische und sozio-religiöse Ansätze verbindet und auf diese Weise gängige sozio-kulturelle und ökonomische Herangehensweisen ergänzt. Das Ergebnis ist eine neue Sicht auf die Erfahrungswelt von Frauen und auf ihren ambivalenten gesellschaftlichen Status.
Wohltätigkeit und »Patronat« stellten für Frauen der Oberschicht die einzig möglichen außerhäuslichen Aktivitäten dar. Die Motive dieser Frauen waren in beiden Fällen dieselben: eine Mischung von persönlichen, sozialen und religiösen Interessen. Die menschlichen Beziehungen, die dabei geknüpft wurden, waren weitaus komplexer als die zwischen Vorgesetzten und Untergebenen. Der Aspekt der wechselseitigen Abhängigkeit und Zuneigung, die solche Beziehungen prägten, wurde bis vor kurzem übersehen, da man sich lediglich für die sozialökonomischen Phänomene interessierte. Barmherzigkeit schuf eine Verbindung zwischen Armen und Reichen, Schwachen und Starken, Kranken und Gesunden, die sich aus dem radikalen Ideal der Nächstenliebe speiste. Dank der Symbiose von ritterlichen Tugenden und Imitatio Christi, von Minnedienst und Bettelstab, die von den neuen Aposteln vorgelebt worden war, glaubten die meisten Christen, daß Jesus von Nazareth vor allem unter den Notleidenden zu finden war.
Den Hilfsbedürftigen Mitleid und Beistand zu gewähren, hieß Christus lieben und ihm dienen. Pietas, nicht nur gegenüber den eigenen Blutsverwandten, sondern vor allem gegenüber Jesus selbst, der jedem Gläubigen im notleidenden Nächsten begegnete, wurde zu tätiger Nächstenliebe: pieta.
Wo man auf diese Weise Gott zugleich liebte und ihm diente, offenbarte Christi Leiden seine erlösende Kraft. Freigiebigkeit wurde mit dem Gebet des Notleidenden für das Seelenheil des Gebers vergolten: War es für die Reichen und Mächtigen doch schwieriger, ins Himmelreich zu gelangen, als für ein Kamel, durch ein Nadelöhr zu gehen (Mt 19, 24). Das gegenseitige Geben und Nehmen festigte nicht nur die irdische Hierarchie, sondern auch deren Übergangscharakter im Lichte des ewigen Heils. Dadurch wurde die Interaktion von Gebern und Beschenkten zu einer Transaktion im doppelten Sinne. Einerseits erzielte man direkte und sichtbare Wirkung im irdischen Leben und andererseits eine Wirkung innerhalb der Heilsordnung, die zwar unsichtbar, aber letztlich ungleich erstrebenswerter war. Diese Beziehung brachte beiden Parteien Vorteile in sozialer, wirtschaftlicher und teilweise auch heilsökonomischer Hinsicht.
Frauen spielten auf beiden Seiten eine bemerkenswerte Rolle. Als Objekte der Fürsorge genossen sie in der frühneuzeitlichen Gesellschaft eine gewisse Vorzugsbehandlung, vor allem was den Schutz ihrer Keuschheit und ihrer Rolle in der Fortpflanzung betraf. Dies führte insbesondere in Italien, aber auch anderswo in Europa zur Einrichtung von Aussteuerfonds, die die Verheiratung unbemittelter Mädchen und dadurch das Wohlergehen der gesamten Gesellschaft förderten.[24] Sowohl für diese Mädchen als auch für ihre Wohltäterinnen gab es nur zwei Möglichkeiten: entweder sie heirateten oder wurden Nonne. Diejenigen, denen weder ein irdischer noch ein himmlischer Bräutigam zuteil wurde, verfehlten ihre Bestimmung und vergaben damit jegliche Chance auf den Erwerb von gesellschaftlichem Prestige. Lediglich einer Minderheit jener Frauen - Kurtisanen und Semireligiosen - gelang es, ein Leben als Unverheiratete zu führen und sich dem geltenden Wertesystem zu entziehen: Sie wurden dafür entweder außerordentlich verehrt oder zutiefst verachtet. Im Wohltätigkeitsbereich waren daher vor allem verheiratete Frauen und Witwen aktiv.
Gerade in den Oberschichten trugen Ehefrauen häufig schwer an ihrer Einbindung in Familieninteressen und an ihrer Pflicht zur Mutterschaft. Durch Wohlfahrtsarbeit kamen sie mit einer Welt in Berührung, die ihnen respektable Motive verschaffte, sich von solchen familiären Verpflichtungen zu distanzieren. Im Zuge der katholischen Reform gelangte die Wohltätigkeit immer mehr unter die Kontrolle des Klerus. Grundlagen der Reformpolitik waren die Vereinheitlichung und Verbesserung sowohl der Seelsorge wie der Fürsorge, die enger miteinander verknüpft wurden. Vor dem Hintergrund ihrer untergeordneten Stellung innerhalb der Familie war für Frauen aus der Oberschicht die Zusammenarbeit mit der Kirche besonders entlastend. Die wachsende Autorität des Klerus schwächte die Macht des Familienoberhaupts und stärkte auf indirekte Weise die Autonomie der Ehefrauen.
Frauen nahmen folglich eine wichtige Funktion in der Reformpolitik des Klerus ein, der eine Unterminierung des allmächtigen Verwandtschaftssystems durchaus zugute kam. Denn das größte Hindernis für die katholische Reformpolitik waren nicht individuelle Abtrünnigkeit oder Widerstand von protestantischer Seite, sondern die internen Vernetzungen einer Gesellschaft, in der Verwandtschaft eine der größten Verbindlichkeiten darstellte.[25] Frauen spielten im Verwandtschaftssystem eine sekundäre Rolle. Sie handelten zuallererst im Namen der Familie ihrer Ehemänner, weniger im Interesse ihrer eigenen Blutsverwandten - daher der ambivalente Charakter ihres Familiensinnes. Ihre Wohltaten konnten nicht wie die der Männer eindeutig zur Ehre eines bestimmten Familiengeschlechts gereichen und blieben deshalb auch viel häufiger anonym. Frauen neigten stärker als Männer dazu, den Druck ihrer familiären Pflichten mit Frömmigkeit und Weltverachtung zu kompensieren. Das ist nicht erstaunlich, denn ihr contemptus mundi eröffnete ihnen auch im Diesseits gewöhnlich mehr Freiräume als ihre pietas.[26]
Ganz anders sah dies für die Frauen aus. die von der zweifachen Transaktion zwischen Reich und Arm nur am Rande betroffen waren: die Frauen aus den Mittelschichten, die »in der Welt« und vor allem in der Hoffnung auf irdische Früchte ihrer Arbeit lebten. In den Klöstern waren sie entsprechend vergleichsweise schwächer vertreten.
Vervollkommnung und Gelübde
Klöster waren seit jeher das Rückgrat des universalen Christentums gewesen. Während die katholische Kirche deren Expansion förderte,
wurden sie von der protestantischen Kirche aufgelöst. Es ist weder erwiesen, daß der explosionsartige Anstieg der Zahl von Frauen, die am Ende des Mittelalters Orden beitraten, ein gesamteuropäisches Phänomen war, noch daß die Verödung der Klöster, wie sie sich bereits vor dem Durchbruch der Reformation an verschiedenen Orten in England, den nördlichen Niederlanden und Norditalien abzeichnete, verallgemeinert werden kann.[27] Die Voraussetzung für generelle Schlußfolgerungen wäre eine Bestandsaufnahme aller damaligen Frauenklöster - eine Arbeit, die gegenwärtig für das Mittelalter läuft. Es ist zu hoffen, daß sie auch auf spätere Perioden ausgedehnt wird.[28]
Frauenklöster
Der Zusammenhang von Heiratspolitik und der Zahl der in ein Kloster eintretenden Frauen ist vielfach erörtert worden. Während der Frühen Neuzeit, die von Anfang an von kriegerischer Gewalt auf lokalem wie europäischem Niveau gezeichnet war, entwickelte sich der Rückgang der Nachfrage nach Frauen auf dem Heiratsmarkt parallel zum Kaufkraftverlust der Männer. Ökonomische Krisen ließen die Ehe für die besitzenden Klassen zu einem größeren Risiko werden. Es gab keine Garantie dafür, daß sich erhebliche Investitionen in die Mitgift später auch auszahlen würden. Viele Frauen blieben unverheiratet. Durch das hohe Heiratsalter der Männer stieg die Anzahl der Witwen, von denen sich nur die Wohlhabendsten wieder verheiraten konnten. Dieser Zuwachs an alleinstehenden Frauen konnte selbst durch die ehefreundliche Politik der protestantischen Obrigkeiten nur zu einem geringen Teil aufgefangen werden.
In den katholischen Ländern behielten die Frauenklöster ihre Rolle als Institutionen der sozialen Absicherung bei, von der jedoch vor allem die städtischen Eliten profitierten. Für eine Ehe mit Christus war eine weitaus geringere Mitgift erforderlich. Darüber hinaus erhielt der Vater einer Nonne ein gewisses Mitspracherecht in der Einrichtung, der seine Tochter angehörte, ja er hatte sogar Anspruch auf gewisse Einkünfte, wenn er ihr eine der Leitungsfunktionen im Kloster verschaffte. Die meisten Frauenklöster befanden sich entweder innerhalb der sicheren Stadtmauern oder in deren unmittelbarer Nähe. Ihren Wohlstand mittels Gewährung von Steuerfreiheit und anderer Vorrechte zu fördern, war durchaus im Interesse der örtlichen Obrigkeiten, konnten die Nonnen doch im Gegenzug täglich zu ihrem geistlichen Bräutigam für das Wohlergehen ihrer Verwandten und ihrer Vaterstadt beten.
Wenn die kirchliche Obrigkeit, ein Bischof beispielsweise, ihre Autorität nicht deutlich spüren ließ, mischten sich einflußreiche Familien bald in religiöse Angelegenheiten ein, eben weil diese selten strikt von den materiellen zu trennen waren. Die lokale Elite zog ja nicht nur wirtschaftlichen, sondern auch spirituellen Nutzen daraus: Wer seine Energie auf irdische Angelegenheiten verwenden mußte, wußte sich durch das tägliche Gebet für sein Seelenheil unterstützt. Die Folge waren lebhafte Kontakte zwischen Ordensschwestern und Bürgern sowie große Standesunterschiede auch innerhalb der Klostergemeinschaft. Vor allem wohlhabendere Nonnen blieben mit ihrer Familie verbunden. Sie verfügten über komfortabel eingerichtete Zellen, die nach ihrem Tod an ein Familienmitglied übergingen. Dort wohnten sie vollkommen standesgemäß, häufig zusammen mit einer jüngeren Schwester oder Kusine als Schützling; Witwen nahmen manchmal eine Tochter mit. Sie aßen getrennt von den anderen, hatten eigene Hühner und Gemüsegärten und erregten mit ihrem luxuriösen Lebensstil den Neid ihrer ärmeren Hausgenossinnen.
Es gab allerdings auch zahlreiche Klöster, vor allem auf dem Lande, in denen bittere Armut herrschte. Die größte Gefahr, die Nonnen drohte, war nicht etwa der Verlust ihrer Keuschheit, sondern die Verarmung. Darüber hinaus fielen Schwesterngemeinschaften nur allzuoft einem endlosen Kompetenzgerangel zwischen lokalen und zentralen Gewalten oder zwischen Weltgeistlichen und Ordenspriestern zum Opfer, was katastrophale Folgen für ihr materielles und spirituelles Wohlergehen hatte.[29]
Die Tridentinischen Reformen
Das Tridentinische Konzil (1545-1563) brachte tiefgreifende Veränderungen mit sich. Die Klöster wurden immer eindeutiger zum Vorteil der zentralistischen Kirchenpolitik betrieben, also nicht mehr primär im Interesse der Städte oder einzelner Familien. In spiritueller Hinsicht bedeuteten die Tridentinischen Reformen sowohl eine Institutionalisierung als auch eine Professionalisierung der persönlichen Vervollkommnung in der Tugend. Die Klöster wurden zu wahren Instituten der Vervollkommnung (istituti di perfezione), unterschieden sich nun deutlicher von weltlichen Einrichtungen und beanspruchten das Monopol auf kanonisierte Heiligkeit.
Die den Frauenklöstern auferlegten Verhaltensregeln zielten zunächst auf eine Wiederherstellung der gemeinschaftlichen Lebensform ab.
Hierzu mußten die Familiengruppen innerhalb der Gemeinschaften aufgebrochen und die familiäre Einmischung weitestgehend verhindert werden. Darüber hinaus war es nötig, ausschweifende oder häretische Neigungen der Nonnen aufzuspüren und ihrem schädlichen Einfluß auf die Außenwelt entgegenzutreten. Die Zeitgenossen empörten sich in Wort und Schrift gern über die Verweltlichung der Konvente, deshalb werden in der gängigen Geschichtsschreibung auch »Unzucht« und »Verwässerung der Klosterdisziplin« so ausgiebig behandelt. In Wirklichkeit fürchtete man sich jedoch vor dem genauen Gegenteil, vor einer allzu inbrünstigen Frömmigkeit. Angesichts der Tatsache, daß Gläubige aus allen Bevölkerungsschichten gern die Häuser gottgeweihter Frauen aufsuchten, um Genesung, Trost und Rat zu erlangen, galt es, gegen diese Brutstätten lokaler Kulte vorzugehen. Zudem lebten viele Nonnen, besonders auf dem Land, von Almosen. Als bettelnd Umherziehende waren sie sowohl den weltlichen als auch den kirchlichen Obrigkeiten ein Dorn im Auge, die unter dem Deckmantel beschützender Maßnahmen versuchten, jene unerwünschten Elemente systematisch zu isolieren. So zeigten etliche kirchliche Bestimmungen, insbesondere die über die Klausur in Schwesterngemeinschaften, dieselbe Tendenz wie die Reformprogramme weltlicher Obrigkeiten.[30]
Die Klausur stieß auf großen Widerstand, bei den Nonnen wie bei ihren Familienangehörigen, den städtischen Gemeinden und Geistlichen, die betonten, daß Nonnen schließlich selten aus rein religiösen Motiven, sondern vielmehr auf den Wunsch ihrer Familie in ein Kloster eintraten. Sogar im Bistum Mailand, wo unter der Leitung von Karl Borromäus ein rigoroses Reformprogramm durchgesetzt wurde, hielten die bestehenden Nonnenklöster an einer Reihe von althergebrachten Gebräuchen fest. Am geeignetsten für das Tridentinische Modell erwiesen sich die neugegründeten Klöster, die bei ihrer Errichtung die neuen Vorschriften konsequent einführen konnten, auch was die Lage und Einrichtung ihres Hauses anbetraf. Bei der Wahl des Ortes war nicht mehr dessen etwaiger magisch-sakraler Charakter ausschlaggebend, sondern die Entfernung vom Getriebe der Städte und von Männerklöstern. Man brauchte ein Areal, das den Nonnen auch den Aufenthalt in der frischen Luft erlaubte. Hohe Mauern, schwere Türen, zahlreiche Schlösser und Gitter nach vorgeschriebenen Maßen und Stärken ließen keinen Zweifel daran aufkommen, daß die Bräute Christi für immer von der Welt Abschied genommen hatten.
Das bedeutete für die Nonnen, und vor allem für diejenigen unter ihnen, die aus der Elite stammten, eine radikale Beschneidung ihrer sozialen Kontakte. Die Netzwerke persönlicher Beziehungen, in die sie eingebunden gewesen waren, wurden durch eine neue Hierarchie innerhalb der Klostergemeinschaft ersetzt, die eine strikte Unterscheidung zwischen Chorschwestern und Laienschwestern oder conversae vorsah. Letztere verrichteten die Hausarbeit und durften nicht am Chorgebet oder an administrativen Entscheidungen teilnehmen. Sie stammten meist vom Lande, besaßen weder Bildung noch Vermögen, brachten jedoch eine, wenn auch geringe Mitgift ein. Während Klöster ehemals eine angenehme, nahezu häusliche Atmosphäre ausgestrahlt hatten, vor allem was die Zellen wohlhabender Insassinnen anging, schliefen die Nonnen in den reformierten Einrichtungen nun allein oder in Schlafsälen und nicht mehr zu zweit. Damit verschwand die Möglichkeit, intime und liebevolle Bindungen zu kultivieren. Dies wurde selbstverständlich als großer Verlust erfahren und veranlaßte beispielsweise eine Bologneser Nonne zu dem Stoßseufzer: »Ich für meinen Teil wünschte, daß wir es wieder so hielten wie früher, nämlich daß jede von uns eine Kusine oder eine andere Person, die ihr lieb und teuer ist, bei sich haben könnte.«[31]
Für jede Nonne waren fortan die persönlichsten Beziehungen die zu dem ihr zugeordneten Beichtvater und vor allem die zu ihrem selbstgewählten geistlichen Berater. Stärker als je zuvor war man sich der Risiken bewußt, die diese Situation in sich barg. Anders als Mönche konnten Nonnen nicht ohne die Intervention von Geistlichen des anderen Geschlechts auskommen, die meist dem männlichen Zweig des jeweiligen Ordens angehörten. Diese Intervention war disziplinarischer und organisatorischer Natur, sie beinhaltete jedoch vor allem die kontinuierliche priesterliche Betreuung: das Zelebrieren der Heiligen Messe, das Spenden der Sakramente, die individuelle und kollektive Seelsorge.
Das Interesse am individuellen Seelenleben ging einher mit der verinnerlichten Spiritualität, die sich im Spätmittelalter zu einer wichtigen Komponente des christlichen Humanismus und der weiblichen Mystik entwickelt hatte. Am überzeugendsten wurde sie von den Anhängern der Devotio Moderna verbreitet, einer Reformbewegung, die in den nördlichen Niederlanden entstanden war und das spirituelle Klima in Westeuropa entscheidend beeinflußte. Dies belegt unter anderem der unübertroffene Erfolg der Imitatio Christi (1427) des Thomas Hemerken von Kempen, die in den Bibliotheken frühneuzeitlicher Nonnenklöster selten fehlte.[32] Mit dieser Verinnerlichung begann das Streben nach persönlicher Gotteserfahrung, die als höchste Form menschlicher Vervollkommnung betrachtet •wurde. Sie sollte einem Zusammenklang von Verstand, Gefühl und Vorstellungskraft entspringen und durch systematische spirituelle Übung erreicht werden. Einfachheit war das grundlegende Ziel; die Praxis entartete jedoch leicht ins Gegenteil. Daher bedurfte es einer kundigen geistlichen Führung, die die Züge des frühmodernen Professionalisierungsprozesses trug. Als Ergänzung bereits existierender Handbücher entwickelte sich eine spezialisierte Fachliteratur, in der keine Eventualität unerwähnt blieb.
Beichte und intensive geistliche Anleitung von Frauen verlangten besonders ausgeklügelte Vorkehrungen. So wurde beispielsweise der Beichtstuhl in der Frühen Neuzeit modifiziert. Man führte eine Trennwand ein, die den visuellen Kontakt zwischen der Beichtenden und ihrem Beichtvater verhinderte und damit die der Beichtsituation innewohnenden Gefahren minimieren sollte.[33] Vor allem bei der Seelsorge gottgeweihter Frauen galt es, auf der Hut zu sein. Diese wurden als besonders von Wahnideen und übertriebenen Skrupeln geplagt hingestellt sowie als äußerst empfänglich für fingierte Gotteserfahrung, Zauberei, falsche Mystik, Teufelskünste, extravagante Askese und Besessenheit.[34]
Dennoch wurden die Bräute Christi glücklich gepriesen, denn sie hatten den besseren Teil gewählt. Dabei war man sich durchaus bewußt, daß in Wirklichkeit von Wahl zumeist keine Rede sein konnte. Eigens deshalb schrieben die Konzilsdekrete vor, daß der Klostereintritt auf freier Willensentscheidung beruhen mußte. Das Mindestalter für das Ablegen der Profeß wurde auf sechzehn Jahre erhöht. Dennoch sah rund ein halbes Jahrhundert nach Abschluß des Konzils von Trient ein Mann wie Galileo Galilei keine andere Möglichkeit der Existenzsicherung für seine Töchter als den vorzeitigen Eintritt in einen notleidenden Konvent.[35] Einige Konzilsvorschriften zielten auf die Bekämpfung der Armut in den Klöstern ab, durch die Klausur wurde diese jedoch eher noch drückender. Die Nonnen wehrten sich denn auch vor allem deshalb gegen die Tridentinische Klosterreform, weil sie den Verlust lebensnotwendiger Einkünfte aus Almosen befürchteten.
Die Spuren dieses Widerstandes wurden später größtenteils sorgfältig getilgt, daher werden die Forschungen zu seinem tatsächlichen Umfang noch mit einigen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Wir wissen, daß an mehreren Orten Nonnen einfach die Flucht ergriffen. Es gab auch einige, die den Beauftragten, der die Befolgung der Dekrete überprüfen und fördern sollte, kurzerhand mit Stühlen bewarfen und dabei soviel Aufsehen erregten, daß die Polizei eingreifen mußte. Von einigen Nonnen in Rom weiß man. daß sie keinen anderen Ausweg als den Selbstmord sahen. Andere entschieden sich für die Illegalität eines semireligiosen Standes und lebten zu Hause oder in kleinen Gruppen als Tertiarierinnen, also in Anbindung an einen Orden, meist den der Franziskaner.[36]
Im Norden suchten die Semireligiosen vielfach die Verbindung zu den Jesuiten, so daß im 17. Jahrhundert der Ausdruck Jesuitinnen zu einem Synonym für Semireligiose wurde. Der Name hatte zuweilen einen pejorativen Beiklang, weil die eigentlichen Jesuitinnen meist wohlhabende Frauen waren, die den Jesuiten großzügige finanzielle Unterstützung gewährten und somit bevorzugt behandelt wurden. So hatten die Ursulinen in Köln es anfangs besonders schwer, weil die Patres alle Mädchen aus vornehmen Familien zu den Jesuitinnen in die Schule schickten.[37]
Nonnen und Ehefrauen
Waren die frühneuzeitlichen Klöster tatsächlich die Hölle, als die sie schon von den Zeitgenossen betrachtet wurden? Eine eindeutige Antwort darauf ist nahezu unmöglich, denn jenes negative Bild entwickelte unter dem Einfluß eines ehefreundlichen Fortschrittsklimas ein Eigenleben. Aber nachdem die talentierte venetianische Benediktinerin Angela Tarabotti (gest. 1652) schon in zwei Dante-Parodien mit den Titeln Paradiso monacale (1643) und Inferno monacale jene >paradiesische Hölle< verewigt hatte, setzte sie diesen mit einer dritten, dem Purgatorio delle mal maritate die Krone auf. Den Stoff für dieses Fegefeuer hatten ihr Opfer ehelicher Gewalt geliefert, für die das Klostersprechzimmer der einzige Ort war, an dem sie ihr Herz ausschütten konnten. Es ist vielleicht kein Zufall, daß von diesen drei Werken nur das über das eheliche Fegefeuer noch nicht wiedergefunden werden konnte.[38] Wie dem auch sei, in einem Vorschlag zur Errichtung einer semireligiosen Gemeinschaft für Frauen, den am Ende des 17. Jahrhunderts eine englische Protestantin veröffentlichte, wurde das Schicksal von Ehefrauen als beinahe unerträglich geschildert. Diese Gemeinschaft ohne jegliche Form von Gelübden, die dennoch als »Kloster« und als »Religious Retirement« bezeichnet wurde, war als respektable Versorgung für unverheiratete Frauen gedacht, aber auch als Ort, an den verheiratete Frauen sich zurückziehen konnten.[39]
Die Kommunikation zwischen der Welt der Verheirateten und der der Nonnen scheint von vielen Frauen als lebensnotwendig erfahren worden zu sein. Am Vorabend des Konzils von Trient erhielt dieses Zusammenspiel von Gottgeweihten und Ehefrauen durch die santa Viva Angela Merici (gest. 1540) neue Impulse. Sie rief zur grenzenlosen Nächstenliebe auf und widersetzte sich damit dem vorherrschenden Trend. Ihre Anhängerinnen standen mit beiden Beinen im Leben. Sie lebten in Familien, deren Kinder sie unterrichten halfen. Angela selbst unternahm zahlreiche Pilgerfahrten, einmal gar bis ins Heilige Land. Sie war Analphabetin, besaß jedoch grenzenloses Selbstvertrauen, denn sie war ganz von der Überzeugung durchdrungen, daß sie vor allem Gott zu gehorchen hatte. Ihr Status war der einer franziskanischen Tertiarierin. Erst in ihren letzten Lebensjahren arbeitete sie am Aufbau einer Compagnia di Sant'Orsola, einer Gemeinschaft ohne Gelübde, ohne Regeln und ohne vorgeschriebene Tracht. Erst 1807, mehr als zweieinhalb Jahrhunderte nach ihrem Tod, wurde sie heiliggesprochen. Die Erinnerung an ihre gelebte Heiligkeit war inzwischen ersetzt worden durch das Bild der braven Ordensstifterin, die sie nie gewesen ist.[40]
Die Frauenkongregationen des 19. Jahrhunderts werden im allgemeinen als Nachfahrinnen frühneuzeitlicher Initiativen zur Etablierung offener Gemeinschaften gottgeweihter Frauen betrachtet. Diese Sicht ist irreführend. Die frühmodernen Klosterstifterinnen, unter denen sich bemerkenswert viele Witwen befanden, häufig Mütter mehrerer Kinder - zum Beispiel Ludovica Torelli, Jeanne de Lestonnac, Jeanne de Chantal, Louise de Marillac - verkörperten eine Form weiblicher Spiritualität, die zwar auf eine reiche Vergangenheit zurückblicken konnte, aber kaum Zukunftsperspektiven besaß.[41]
Mitleid und Ehrgeiz
Caterina Fieschi, eine Frau aus dem Hochadel, hatte nach zehn Ehejahren ihre erste Vision: Sie sah den gekreuzigten Christus, dessen Blut ihren gesamten Palast überflutete. Ihr Aufsteigen in der Liebe begann zu Füßen des Herrn, der sie bald an seine brennende Brust zog und später noch höher hob, bis an seinen Mund, »und da bekam sie einen Kuß (...) und da verlor sie sich selbst ganz und gar (. . .)«.[42] Sie pflegte fortan Kranke und härtete sich durch das Aussaugen eitriger Wunden und das Essen von Schorf und Läusen ab.
Die Macht der Mystikerinnen
Diese Mystikerin, besser bekannt als Katharina von Genua (gest. 1510), war eine der wichtigsten Inspirationsquellen der französischen Mystik des Grand Siecle. Ihr Verhalten scheint gänzlich unvereinbar mit dem urbanen Zivilisationsprozeß, der die bürgerliche Kultur erfaßt hatte und auf Mäßigkeit, Selbstdisziplin und Triebsublimierung zielte, also auf soziale Kontrolle und die Vereinheitlichung des Lebensstils. Moralisten und Mediziner verkündigten mehr oder weniger dieselbe Botschaft: Maßlosigkeit schädige die Gesundheit von Leib und Seele. So war nicht nur ein zügelloser Geschlechtstrieb schädlich, sondern ebenso die radikale sexuelle Enthaltsamkeit. So dachte man nach der Reformation auch in der katholischen Welt, mit der Einschränkung, daß für die höher bewertete geistliche
Lebensform des Klerus die Verpflichtung zum Zölibat fortbestand. Katholiken teilten jedoch die allgemeine Furcht, radikale Enthaltsamkeit könne bei Frauen - von denen man noch annahm, daß sie beim Koitus ebenfalls Samen verloren - zu Eigensinn, Ungehorsam und Arroganz führen.[43] Diese Angst besaß eine lange Tradition in der atavistischen Auffassung von Jungfräulichkeit als Quelle übermenschlicher Kräfte und Freiheit.
Frauen wie Katharina von Genua waren der lebende Beweis dafür, daß diese Befürchtungen durchaus gerechtfertigt waren. In einer Atmosphäre der Enttäuschung über das unabwendbare Debakel der Reformation bildeten sie den Ausgangspunkt für den oben beschriebenen Umschwung - das systematische Eintreten gegen jegliches öffentliche Zeugnis, in Wort oder Schrift, der »göttlichen Weisheit» charismatisch veranlagter Frauen. Als die Maßnahmen zu greifen begannen, war Katharina von Genua schon rund zwanzig Jahre tot. Aber ihre geistige Hinterlassenschaft, die ihre Anhängerinnen aufgezeichnet hatten, überwand alle Widerstände und sollte zwei Jahrhunderte lang die Entwicklung der westlichen spirituellen Kultur maßgeblich beeinflussen. Offenbar befriedigten diese Lehren einer Frau trotz allem unbändige geistliche Ambitionen, sogar die mächtiger Männer. Ihre Anziehungskraft muß erheblich größer gewesen sein als der Widerstand, den sie hervorriefen. Das gilt für die gesamte Frauenmystik des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Auf keinem anderen Gebiet der westlichen spirituellen Kultur haben Frauen während des Ancien Regime eine so unbestreitbare Rolle gespielt wie auf dem der Mystik, in keinem Wissenschaftszweig profilierten sie sich so wie in dem der scienza divina.
Die Frage nach geschlechtsspezifischen Merkmalen mystischer Schriften soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Ich beschränke mich auf die Feststellung, daß mystische Texte von Frauen zuweilen Männern zugeschrieben wurden. Wie vieles, was von Frauen geschaffen wurde, blieben sie häufig anonym; zum einen, weil man das für passend hielt, aber auch um der Voreingenommenheit der Leser vorzubauen. Das war auch bei der Margarita evangelica (Köln 1545) der Fall, der lateinischen Ausgabe der Evangelische Peerle (Utrecht 1535), die von der Arnheimer Ordensschwester Reinalda van Eymeren (|1540) verfaßt worden war. Diese mystische Schrift wurde, ebenso wie das Gedankengut der Katharina von Genua, zu einer der wichtigsten Inspirationsquellen der französischen Mystik.[44]
Die französische Ausgabe, Perle evangelique (Paris 1602), wurde von einer Schlüsselfigur wie Pierre de Berulle, dem späteren Gründer der französischen Kongregation der Priester des Oratoriums, rezipiert. Sie zirkulierte im Salon der Mystikerin Barbe Avrillot alias Madame Acarie (gest. 1618), Mutter von sechs Kindern und eine der geistlichen Ahnen des Franz von Sales. Barbe Avrillot selbst fühlte sich am engsten der wichtigsten Vertreterin der frühneuzeitlichen Mystik, Theresia von Avila (gest. 1582), verbunden. Das erste französische Kloster von Theresias Unbeschuhten Karmelitinnen wurde von ihr gestiftet. Jahre später, nach dem Tod ihres Mannes, trat sie selbst ein. Davor fungierte ihr Pariser Salon einige Zeit als spirituelles Zentrum Europas, nicht zuletzt dank der inspirierenden Wirkung dreier Frauen: Katharina von Genua, Reinalda van Eymeren aus Arnheim und Theresia von Avila. Ihr Denken war so eindrucksvoll, daß man es für so wertvoll erachtet hatte, daß es nicht nur aufgezeichnet, sondern auch gedruckt und übersetzt worden war.[45]
Mit Leib und Seele
Männer und Frauen mit mystischen Neigungen unterscheiden sich von gewöhnlich Sterblichen durch ihr unbändiges Verlangen nach einer innigen Beziehung, und zwar nicht etwa zu anderen Menschen, mit denen sie zusammenleben, sondern zum Göttlichen. In der christlichen Mystik beinhaltet dies eine direkte Liebeserfahrung mit einem persönlichen Gott: mit Gott, der als der andere, aber auch als Gefährte und Gleicher und letztlich als das ureigenste Ich erfahren wird. Abgesehen von individuellen Unterschieden weist die spätmittelalterliche und frühneuzeitliche christliche Mystik zwei Tendenzen auf, die häufig in einer Person vereinigt sind: eine platonische Wesensmystik und
eine christusbezogene Brautmystik. Diese Zweiteilung deckt sich mehr oder weniger mit der Unterscheidung in eine Elitenmystik und eine Volksmystik. Beide sind allerdings wegen ihrer mannigfachen Wechselbeziehungen nicht scharf voneinander zu trennen. Im Augenblick der Ekstase, wenn das Vordringen zum wahren Selbst und das Aufgehen im Einen Geliebten ineinanderfließen, erleben Mystiker Ganzheit und Fülle in höchster Vollkommenheit. In der Metaphorik der Brautmystik feiern sie in diesem Moment ihre mystische Hochzeit mit dem himmlischen Bräutigam. Diese ekstatische Vereinigung transzendiert die enge Welt gesellschaftlicher und kirchlicher Konventionen.[46]
Wie erlebten Frauen in der Frühen Neuzeit diese abstrakte Form der Liebesbeziehung? Die Popularisierung des religiösen Lebens, an der sie einen so beträchtlichen Anteil hatten, und die Hegemonie des ehelichen Modells müssen dazu beigetragen haben, daß Frauen ihren göttlichen Geliebten immer selbstverständlicher als ihren Bräutigam erlebten - mit größerer Selbstverständlichkeit sogar, als das traditionell von ihnen erwartet wurde. Der Prototyp der gottgeweihten Frau, die frühchristliche Jungfrau, war ja bereits zugleich Magd (ancilla) und Braut (sponsa) des Herrn gewesen. Sponsa Christi war die Kirche insgesamt, aber eben auch jede einzelne gottgeweihte Jungfrau. Seit den Anfängen des Christentums betrachtete man sie als die Braut des Menschensohnes, und ihr Eintritt in den jungfräulichen Stand wurde schon in der alten Kirche wie eine Hochzeit gefeiert. In der Frühen Neuzeit paßte der Prototyp der gottgeweihten Frau besser als je zuvor in die kulturellen Muster.
Für Frauen war es aufgrund ihrer untergeordneten gesellschaftlichen Stellung noch schwieriger als für Männer, sich aus dem Korsett solcher Rollenmuster zu befreien. Dies gelang ihnen dagegen in der inneren Erlebniswelt dank ihres Mangels an umfassender Bildung sehr viel besser. Im Kern dieser Innenwelt erfuhren Mystikerinnen eine unerhörte Freiheit. Sie ließen dort nicht nur die beengende Welt gesellschaftlicher und kirchlicher Vorschriften hinter sich, sondern alle Konventionen, die ihrer Flucht im Wege standen.
In Gott war alles möglich, auch der Gipfel der Torheit: In ihrer Vorstellung erlangten sie Einheit mit Gott, wurden Gott, und der Erlöser wurde Mutter. »So ist Jesus Christus (...) unsere wahre Mutter. Wir verdanken ihm unsere Existenz, dort, wo die Mutterschaft ihren Ursprung hat. mit aller süßen Liebe, die endlos daraus hervorgeht.
So wahrhaft wie Gott unser Vater ist. so wahrhaft ist Gott auch unsere Mutter.«[47] Dies sind die Worte einer mittelalterlichen Einsiedlerin, die in uralten, tief im kollektiven Gedächtnis verankerten Bildern dem Verlangen wohl vieler Frauen Ausdruck verliehen. So bereitete es den Tridentinischen Reformern denn auch große Mühe, das inzwischen amtlich verworfene Konzept göttlicher Ambisexualität aus den Köpfen der Leute zu verbannen: Der menschgewordene Gott war keineswegs in Gestalt einer Frau, sondern ausschließlich in der eines Mannes auf Erden erschienen.[48]
Mystiker maßen der Phantasie und der sinnlichen Wahrnehmung große Bedeutung zu. Auch das lief der Entwicklungslinie des Zivilisationsprozesses entgegen, selbst wenn gewisse Affinitäten zur libertinistischen Psychologie gelehrter Renaissancemagier und Neuplatoniker bestehen.[49] Auf der Suche nach der mystischen Liebesbeziehung spielten körperliche Regungen, sexuelle Lust und erotische Phantasien eine große Rolle. Sie führten auf dem beschwerlichen Weg der Selbstkasteiung, der trotz unvermeidlicher Rückschläge konsequent beschritten werden mußte, zum tiefsten Inneren der Seele. Es scheint, als hätten Frauen diesen asketischen Leidensweg und auch die so erkämpfte Beziehung zu ihrem göttlichen Geliebten im Vergleich zu ihren männlichen Mitstreitern meist direkter, persönlicher und ohne Scham erlebt. Auch in dieser Hinsicht waren sie weniger durch kulturelle Erwartungsmuster gehemmt und legten daher häufig eine Radikalität an den Tag, um die männliche Mystiker sie beneideten, die sie gleichzeitig aber auch verurteilten.
Offenbar war die mystische Erfahrung von Frauen als gleichermaßen körperliches wie geistiges Phänomen oft ganzheitlicher und weniger gespalten als die der Männer. Frauen konnten das körperliche Einssein mit dem menschgewordenen Gott vielfältiger und unmittelbarer erleben, weil sie enger mit allem Körperlichen verbunden geblieben waren: mit Geburt und Tod, mit dem Nähren, Versorgen und Mitleiden, mit Milch, Blut und Tränen. Ihr christuszentriertes Mitleid bezog sich entsprechend stark auf den Körper des Erlösers. Unter Frauen war die Verehrung der Pieta entstanden, der Mater dolorosa, die den Leichnam Christi auf ihrem Schoß hielt, der - noch nicht auferstanden zärtlich dargeboten wurde wie ein Neugeborenes, als Symbol für die Wiedergeburt der Menschheit. Und auch die rituelle Handlung der Eucharistie, des immer wieder geopferten Körpers, hatte unter Frauen einen besonderen Stellenwert. Die Wandlung, durch die Brot und Wein zu Leib und Blut Christi wurden, erlebten sie häufig so intensiv, daß der Empfang der Hostie zuweilen eine vollkommene imitatio Christi auslöste. Indem sie den göttlichen Körper verzehrten, wurden sie Christus. Sein Körper wurde zu ihrem Körper, seine Passion zu der
ihrigen.[50]
Opposition
Diese totale, von Leib und Seele erfahrene Religiosität wandelte sich mit der zunehmenden Rationalisierung der Welt sowie der Klerikalisierung des Sakralen. Auf diese Weise wurde die Kluft zwischen Sakralem und Profanem immer unüberbrückbarer. Öffentliche Manifestationen von Mystikern stießen auf verschärfte Kritik. Besonders den Mystikerinnen wurde es zunehmend schwerer gemacht, ihre Vorstellung einer leidenschaftlichen Vereinigung mit dem göttlichen Geliebten umzusetzen in den aufopferungsvollen Dienst am Nächsten. Sie wurden nun nicht nur vom Gemeindeleben ferngehalten, sondern auch von ihren Beichtvätern und Seelsorgern wesentlich strenger beobachtet. Und wenn der Seelsorger, wie so häufig, allmählich zum Partner, Freund oder sogar Schüler wurde, erwuchsen daraus beträchtliche Probleme.[51]
Dies war beispielsweise bei Isabella Berinzaga (gest. 1624) der Fall, einer italienischen Mystikerin, die wie Katharina von Genua die französische Mystik maßgeblich beeinflußte. Sie war Analphabetin, weigerte sich zu heiraten, aber auch in ein Kloster einzutreten, und nahm daher in ihrer Geburtsstadt Mailand ein semireligioses Leben in engem Kontakt zu den Jesuiten auf. Im Verlaufe ihrer aufopferungsvollen frommen Tätigkeit entwickelte sie zahlreiche Konzepte zu einer Kirchenreform. Zusammen mit dem Jesuiten Achille Gagliardi, der für ihr geistliches und seelisches Wohlergehen zuständig war, sich jedoch zusehends von ihren Ideen beeindruckt zeigte, entwarf sie ein Reformprogramm für den Jesuitenorden, das große Zustimmung fand. Ergebnis ihres Dialogs war außerdem ein Handbuch für das geistliche Leben, das Breve compendio di perfezione cristiana, ein durch seine Einfachheit, Klarheit und Knappheit bestechendes Werk.[52]
Das Paar wurde allerdings sehr bald von der Kirche zum Schweigen verurteilt. Gagliardi schwor ihren beiden Ideen ab, Berinzaga zog sich daraufhin für immer zurück. Allerdings war ihr kleines Handbuch inzwischen bereits in einer Übersetzung von Pierre de Berulle in Paris erschienen (1597). Dadurch erlangte diese Frucht ihrer spirituellen Verbindung allen Widerständen zum Trotz große Popularität.[53] Hierbei spielte wiederum der Kreis um Madame Acarie eine bedeutende Rolle. Obwohl jene Kreise männlicher Anhänger, die sich um eine charismatische Frau scharten, im klerikalen Milieu zur Seltenheit geworden waren, fanden sie immer mehr Anklang in ihrer weltlichen Ausprägung - den Salons.
Geist, Vernunft und Heilige Jungfrau
Die Lehren von Isabella Berinzaga und Achille Gagliardi über den Weg zur Vollkommenheit waren nicht ganz ungefährlich. Sie riefen zur Weltverachtung auf, die Platz machen sollte für eine Bereitschaft zum passiven Leiden, für das pure patire der Märtyrer (come i martiri (...) come a punto un agnellino).[54]
Schlüssel dazu sollte die quiete passiva sein, die jegliches Handeln ausschloß, ganz in der Tradition einer der am meisten gefürchteten mystischen Schriften, des Spiegels der einfache?! Seelen (ca. 1300). Verfaßt von Marguerite Porete, war er zur »Bibel« der Bewegung des Freien Geistes geworden, bevor er im Jahre 1310 zusammen mit seiner Autorin in Paris verbrannt wurde.[55] Das Breve compendio beschrieb im Gegensatz zum Spiegel den Weg zur Vollkommenheit und zur totalen Gotteserfahrung in allgemeinverständlichen Worten. Und realistische Geister wußten nur allzu gut, daß dieser Weg leicht zu Anarchie und Libertinismus führen konnte, zur Ablehnung der priesterlichen Mittlertätigkeit und sogar zur Verweigerung jeglicher Tugendübung, den Gehorsam eingeschlossen.
Auf dem Weg zu rationaler Frömmigkeit
Nach Jahrhunderten der Demokratisierung der religiösen Erfahrung war diese Gefahr gut bekannt. Dadurch drohte auch der contemptus mundi, der im Mittelalter zur religiösen Praxis von Mönchen und Nonnen gehört hatte und deshalb nur von einer relativ kleinen Gruppe gelebt worden war, zu einem weitverbreiteten Phänomen auszuarten. Dieses Risiko suchten kirchliche wie weltliche Obrigkeiten beständig zu begrenzen. Starrköpfe und unbelehrbare gottgeweihte Frauen hatten seit langem die Reaktion von Klerikern und Obrigkeit herausgefordert und die gesellschaftliche Ordnung bedroht. Eine Demokratisierung des contemptus mundi mußte zumindest durch eine Demokratisierung der pietas aufgefangen werden sowie durch eine Propagierung von Familiensinn, Tugendhaftigkeit und Frömmigkeit als allgemeine Christenpflichten.[56]
Diese zweigleisige Demokratisierung in Form einer annehmbaren Kombination von Strenge und Pragmatismus, die Bürger und Bauern sich auf dem Weg zu sozialem Aufstieg und Emanzipation zu eigen machten, bestimmte in hohem Maße das geistige Klima im frühneuzeitlichen Europa. Dies galt vor allem für den protestantischen Norden, insbesondere für die Niederlande, weil dort die Devotio Moderna unter Protestanten und Katholiken einen gleichermaßen dauerhaften Einfluß entfaltet hatte. Frömmigkeit begann somit gleichgesetzt zu werden mit der strikten Ablehnung jeglicher Extravaganz, religiöse Verinnerlichung wurde mit konkretem Realismus verbunden. Ein typisches Beispiel dafür war der in einer der ersten von der Devotio Moderna geprägten Gemeinschaften - der Schwestern des Gemeinsamen Lebens - übliche Brauch, die spirituelle Hochzeit erst in der Sterbestunde zu feiern, also zum Zeitpunkt des Eintritts ins ewige Leben.[57]
In einer solchen Atmosphäre stießen Manifestationen außergewöhnlicher Frömmigkeit daher überwiegend auf Skepsis. Das könnte erklären, warum die vor allem in den südlichen Niederlanden so zahlreichen weiblichen Heiligen und Mystikerinnen niemals einen ähnlichen gesellschaftlichen Einfluß erlangten wie ihre Schwestern im Mittelmeerraum, geschweige denn die Möglichkeit hatten, als Prophetinnen anerkannt zu werden. Das lag nicht etwa daran, daß sie weniger fromm oder tugendhaft waren, sondern daß ihre Heiligkeit anders wahrgenommen wurde.
Für den Unterschied zu den italienischen Mystikerinnen und »lebenden Heiligen« waren nicht so sehr die Frauen selbst verantwortlich, sondern ihr unmittelbares soziales Umfeld, das ihnen in der Öffentlichkeit vergleichsweise engere Freiräume zugestand.[58]
Geistliche Jungfrauen
Nach der Reformation begegneten sowohl Protestanten als auch Katholiken jeglichem übertriebenen Spiritualismus mit äußerster Vorsicht, und jede Einmischung von Frauen in Glaubensangelegenheiten wurde mit größtem Argwohn betrachtet. In den nördlichen Niederlanden entstand durch Priestermangel eine Notsituation, die nicht ordensgebundenen Semireligiosen die Chance bot, sich seelsorgerisch zu betätigen. In offiziellen zeitgenössischen Dokumenten wurden sie meist als geestelijke maagden (geistliche Jungfrauen) oder kurz maagden bezeichnet. In der Umgangssprache nannte man sie allerdings abschätzig kloppen, was in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes so viel wie »Kastrierte« bzw. sterile Mannweiber heißt. Katholiken zogen überwiegend die Verkleinerungsform klopjes vor. Im Gegensatz zu den Beginen, deren Zahl nach dem Übergang des Landes zum Protestantismus dramatisch zurückging, nahm die Zahl der geistlichen Jungfrauen stetig zu, so daß sie bald zahlreicher wurden als die verfügbaren Priester. Ebenso wie andere nicht ordensgebundene Schwestern im übrigen Europa lebten sie allein oder in Gruppen, aber zuweilen auch in häuslicher Gemeinschaft mit Familienmitgliedern. Sie waren häufig an Bettelorden angegliedert, besonders an die Franziskaner, mancherorts ließen sie sich von Jesuiten oder Weltgeistlichen seelsorgerisch betreuen, was oftmals zu beträchtlichen Spannungen führte.
Ihre Aktivitäten wurden stark von äußeren Umständen bestimmt. So kümmerten sie sich beispielsweise um die schuilkerken, katholische Gottesdiensträume, die nur im Verborgenen existieren durften; sie beherbergten und unterstützten im Untergrund operierende Priester, versorgten Arme und Kranke und erteilten Religionsunterricht. Bald hieß es jedoch, sie hätten zuviel Einfluß; sie versündigten sich, indem sie predigten und missionierten, kurzum, sie mischten sich allzu offenkundig in pastorale Angelegenheiten ein. Dies taten sie offenbar mit soviel Erfolg, daß in der Mitte des 17. Jahrhunderts die calvinistischen Obrigkeiten gegen sie auf die Barrikaden gingen. Anschuldigungen
wurden laut, die sich wenig von dem in katholischen Kreisen kursierenden Klatsch unterschieden: Kloppen waren angeblich herrschsüchtig und dickköpfig; sie erregten Anstoß, indem sie selbständig in der Öffentlichkeit auftraten und ohne Begleitung reisten; sie unterhielten unzüchtige Beziehungen zu Priestern, die ihnen nicht nur ihre Ehrbarkeit, sondern auch ihr Vermögen raubten.
Insgesamt erscheinen die Reaktionen auf den Einsatz dieser Frauen widersprüchlich. Manchmal wurde die Bedeutung ihrer Arbeit geleugnet oder zumindest heruntergespielt. Die Aufmerksamkeit, die man den geistlichen Jungfrauen widmete, bezog sich nämlich keineswegs auf ihre konkrete Tätigkeit, geschweige denn auf ihre eigenen Erfahrungen und Meinungen. Es handelte sich vielmehr um die Reaktion aus Rom auf alarmierende Berichte über Mißstände an der Peripherie des katholischen Einflußgebiets. Kurienprälaten erteilten lediglich Instruktionen über den Umgang zwischen Priestern und »Haushälterinnen« sowie Maßregeln zur Vermeidung jeglichen Anstoßes bei Protestanten.
Von vielen auf lokaler Ebene tätigen Priestern jedoch wurden die geistlichen Jungfrauen stolz mit den frühchristlichen Diakoninnen verglichen, den Stützpfeilern des verfolgten Christentums. Die Rivalität zwischen Ordensgeistlichen und Weltgeistlichen, die dazu führte, daß sie einander im Umgang mit den kloppen Geldgier und Unzucht vorwarfen, zeugt davon, wie außerordentlich die Unterstützung durch jene Frauen geschätzt wurde.
Bei Protestanten dagegen weckte die ungewohnte Zielstrebigkeit dieser Frauen Furcht, und einige zeitgenössische Berichte vermitteln den Eindruck, als hätte es in den holländischen Städten veritable Scharen von kloppen gegeben, die jeden, der ihnen in die Hände fiel, unverzüglich zum »papistischen Aberglauben« zu bekehren suchten. Ihr Lerneifer provozierte eher Gelächter als Furcht und gab Anlaß zu Vergleichen mit den Precieuses und Savantes. Von katholischer Seite wurde dieser Vorwurf des Blaustrumpf-Gehabes noch mit einer ernstzunehmenden Anschuldigung verbunden: Klopjes neigten zu übertriebener Frömmigkeit, zu häretischen Auffassungen und zu falscher Mystik. Daher sollten sie ihre Leselust bezähmen und sich ausschließlich auf die erbauliche Lektüre beschränken, die ihnen von ihren geistlichen Ratgebern anempfohlen wurde.
In einem Punkt allerdings stimmten sowohl protestantische als auch katholische Kritiker überein: daß die Billigung der Zusammenarbeit frommer Männer und Frauen in Glaubensangelegenheiten und in der Seelsorge ein Spiel mit dem Feuer war: Beflügelt vom Abenteurertum des Hieronymus und seiner Gefährtin Paula, verstiegen sich Frauen nur allzuoft zu heillosen Unternehmungen. Beispielsweise investierten sie ihr gesamtes spirituelles und materielles Vermögen in falsche Propheten, nur um schließlich betrogen zu werden.[59]
Frömmigkeit und Fruchtbarkeit
Wie stark die Führer der etablierten Kirchen gegen eine derartige Zusammenarbeit eingenommen waren, sieht man am Beispiel der offiziellen Reaktionen auf umherziehende Predigerpaare. Es handelte sich bei ihnen um außergewöhnlich fromme Männer und Frauen, wie sie vor allem unter den katholischen Quietisten und den protestantischen Pietisten anzutreffen waren. Großes Aufsehen erregte in der protestantischen Welt der Entschluß der berühmten Gelehrten Anna Maria van Schurman (gest. 1678), in die Sekte bzw. »Familie« des Franzosen Jean de Labadie einzutreten - eines ehemaligen Jesuiten, Ex-Calvinisten und ruhelosen Wanderers auf der Suche nach der einen Wahrheit. Auf dieser Suche taten sich die beiden zusammen, und bald wurden sie mit Hieronymus und Paula verglichen. Der Schurman wurde - wie Paula - vorgeworfen, daß sie die angestammte Ordnung verlassen hatte. Diese Frau hatte mit einem Traktat, in dem sie das Recht der Frauen auf wissenschaftliches Studium einklagte, internationale Bekanntheit erlangt.
Später, in ihrer Eukleria (1673). stellte sie allerdings Nächstenliebe, Weltverachtung und den Dienst an Gott über die Ausübung der Wissenschaft und das Leben in einer Liebesgemeinschaft nach urchristlichem Modell über weltlichen Ruhm. Anna Maria van Schurman gab ihre Studien niemals auf. Dennoch betrachtete man ihre Entscheidung, Labadie nach Friesland zu folgen, als irrationale Leidenschaft und Verrat an der Wissenschaft.
Was man Labadie und seinen Anhängern vorwarf, deckt sich weitgehend mit der Kritik an den kloppen. Man verübelte es ihnen, daß sie Eltern und Familie im Stich ließen, obwohl es sich dabei häufig um ältere Alleinstehende, vielfach um Witwen handelte. Der Vorwurf richtete sich in Wahrheit gegen die eigenmächtige Wahl einer Lebensform, die den Bruch mit der Familientradition beinhaltete und deshalb gegen jene Loyalität verstieß, die man lebenden und verstorbenen Verwandten schuldete. Dieser Mangel an Familiensinn brachte Frauen mit ihrer ohnehin unvernünftigen Neigung zur Freigiebigkeit sogar dazu, ihr gesamtes Vermögen in die gemeinsame Kasse der Labadisten einzubringen. Absichtlich versuchte man mit dieser Kritik den falschen Eindruck zu erwecken, daß Labadies Anhängerschaft vor allem aus Frauen bestand. Auf diese Weise wollte man andere Frauen vor ihm zurückhalten und zugleich die Person Labadies und seine Gemeinde von Auserwählten in ein ungünstiges Licht rücken. Ein Prophet, der vor allem Frauen anzog, konnte nur ein Wolf im Schafspelz und darauf aus sein, seine Geldgier und fleischlichen Gelüste zu befriedigen.
Auch auf katholischer Seite zeichnete sich im Laufe des 17. Jahrhunderts ein immer heftigerer Konflikt zwischen spiritualistischen und rationalistischen Tendenzen ab. Zu Beginn der achtziger Jahre eröffnete die Inquisition eine wahre Jagd auf Quietisten. Das Studium der Prozeßakten legt die Vermutung nahe, daß die bizarren Anklagen wegen falscher Mystik und sexueller Verirrungen mehr über die überhitzte Phantasie der Ankläger aussagen als über das tatsächliche Verhalten der Beschuldigten. So erhob man in Rom gegen einen der berüchtigtsten Quietisten, Miguel de Molinos, einem früheren Protege von Innozenz XI, der eine zahlreiche weibliche Anhängerschaft um sich geschart hatte, den Vorwurf, er habe in Nonnenklöstern Schwarze Messen zelebriert. Was man sich darunter vorstellte, mutet wie eine Kreuzung zwischen Meßopfer und Fruchtbarkeitsritus an: Der bei der Konsekration verwendete Kelch enthielt nicht Wein und Wasser, sondern das Sperma des Zelebranten und Scheidenflüssigkeit der anwesenden Frauen. Man wußte sogar zu berichten, daß Molinos zu diesem Zweck zunächst alle Nonnen nacheinander nackt auf dem Altar mit seiner gesalbten Hand zum Orgasmus brachte, um so den weiblichen »Samen« aufzufangen.[61]
Solche Spuren atavistischer Rituale in der Vorstellungswelt zölibatärer Kirchenoberer waren Symptome geistiger Verwirrung und müssen vermutlich vor dem Hintergrund der nicht eben einfachen Vorgabe gewertet werden, die Anbetung der Vernunft mit der Verehrung der jungfräulichen Mutter zu kombinieren. Letztere war ein essentieller Bestandteil der offiziellen gegenreformatorischen Doktrin. Die paradoxe Rolle der Jungfrau und Mutter Maria im Mysterium der göttlichen Geburt war ja von grundlegender Bedeutung für das katholische Kirchenverständnis und vor allem für die Mittlerfunktion des Klerus, von der der Protestantismus sich losgesagt hatte. Die Marienverehrung, für die alle katholischen Reformer sich einsetzten, ging einher mit der Intensivierung der paradoxen Verbindung zwischen Frömmigkeit und Fruchtbarkeit, Priesterschaft und Inkarnation, zwischen dem vermittelnden Priester und der Mittlerin aller Gnaden. Die Fortpflanzungsfähigkeit der Mütter und die göttliche Freiheit bzw. transzendentale Potenz der Jungfrauen wurde in einem widernatürlichen Bündnis zwischen der jungfräulichen Madonna und den zugleich jungfräulichen und fruchtbaren Priestern zur übermächtigen Waffe im Einsatz gegen alte und neue Feinde. Diese richtete sich zunächst gegen die magische Repräsentation einer Welt, deren unauslöschlicher Urquell heidnische Muttergöttinnen, matres oder matronae, Sibyllen und »göttliche Mütter« waren - Bindeglieder zwischen Licht und Finsternis, zwischen Leben und Tod: gegen den Morgenstern. Gleichzeitig zielte diese Waffe auf die spaltenden Kräfte innerhalb einer Zivilisationsoffensive, die sich auf ein neues wissenschaftliches Weltbild zubewegte, in dem für das Mysterium als Zeichen der wesenhaften Einheit von Natur und Übernatur kein Platz mehr war.[62]
Die am meisten verehrte unter den Frauen - Sitz der Weisheit, mystische Rose, Königin aller Heiligen - verkörperte wie keine andere die Kluft zwischen der protestantischen und der katholischen Kultur. Beide Konfessionen, die in der modernen westlichen Zivilisation eine dominierende Rolle gespielt haben, entwickelten sich weitgehend parallel. Aber die jungfräuliche Mutter bleibt unerschütterliches Symbol für den Unterschied, fest verankert auf jenem Felsen, auf dem nur eine Kirche Platz hat.
Epilog: Nord und Süd
Es dürfte inzwischen deutlich geworden sein, daß diese kurze Erkundung der Geschichte zweier Jahrhunderte von einer Forscherin unternommen wurde, die vor allem mit der katholischen Landschaft vertraut ist, und hier in erster Linie mit der Italiens und der nördlichen Niederlande. Es handelt sich um erste Sondierungen auf der Grundlage von Schlußfolgerungen, die das vorläufige Ergebnis eines gigantischen Projektes sind: der Eintragung von Pfaden, Grotten und Quellen, die auf vorhandenen Generalkarten nicht verzeichnet sind. Dieses Projekt ging hervor aus einer neuen Sicht auf die Landschaft, einer neuen Wahrnehmung des Raumes und einem neuen Weltbild, das sich auf ein verändertes Menschenbild gründet. Eine wachsende Anzahl von Wissenschaftlern beteiligt sich an diesem Vorhaben. Dabei sind eine Vielzahl neuer Spuren entdeckt worden, darunter auch solche von religiösen Erfahrungen. Sie sind so divergent, daß nur einige wenige von ihnen in mein Blickfeld gerieten und hier als Orientierungspunkte berücksichtigt werden konnten.
Es muß noch viel geschehen, bis eine neue Synthese der Forschungsergebnisse in greifbare Nähe rückt. Die spirituelle Praxis in der Frühen Neuzeit ist aus frauenspezifischer Perspektive bei weitem noch nicht so intensiv erforscht, als daß ein internationaler Dialog darüber in Gang gebracht werden könnte, wie er für das Mittelalter bereits seit einigen Jahren geführt wird. Nach dem lauten Startschuß von Natalie Zemon Davis' Aufsatz City Women and Religious Change 1915 sind die Forschungen nur langsam vorangekommen, vor allem auf dem Gebiet der sozialen und religiösen Entwicklungen in der katholischen Kultur.[63] Dieser Rückstand ist unter anderem darauf zurückzuführen, daß der Gegenreformation lange Zeit der Ruch einer Fortschrittsbremse anhaftete.
Inzwischen ist die Fortschrittsidee selbst mehr als je zuvor in Zweifel gezogen worden. Dennoch scheint es offenbar immer noch zu früh für einen offenen Nord-Süd-Austausch über die Entwicklung der protestantischen und katholischen Kultur im einzelnen sowie ihre Auswirkungen auf das frühneuzeitliche Menschenbild, die Wahrnehmung der Geschlechtsunterschiede und die Rollenverteilung und Interaktion zwischen Frauen und Männern. Ein solcher Nord-Süd-Dialog wäre ein notwendiger Schritt auf dem Weg zu einer neuen Geschichte der westlichen Zivilisation unter Einschluß der Frauen sowie einer Kulturgeschichte der westlichen Welt. Vor uns liegt ein weiter Weg.
Aus dem Niederländischen von Maria-Theresia Lenker