Körper, äussere Erscheinung und Sexualität

Zwei widersprüchliche Haltungen gegenüber dem Körper charakterisieren die Frühe Neuzeit. Die Renaissance erbte einerseits ein grundsätzliches Mißtrauen gegenüber dem Körper, seiner kurzlebigen Natur, seinen gefährlichen Begierden und seinen vielen Schwächen. Weder die protestantische Reformation noch die katholische Gegenreformation konnten dieses mittelalterliche Erbe abschütteln, so daß sich im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts die Prüderie gegenüber dem Körper, seiner Erscheinung und Sexualität verstärkte. Andererseits brachte die Renaissance die Wiederentdeckung der Nacktheit und die Bewunderung körperlicher Schönheit. Italienische Künstler und Gelehrte verbreiteten in ganz Europa die klassischen Ideale körperlicher und geistiger Vollkommenheit und die neuplatonische Rehabilitierung irdischer Liebe und Schönheit, die zur Grundlage der ästhetischen Maßstäbe in der Frühen Neuzeit wurden. Jedoch verbreiteten sich, ebenfalls ausgehend von Italien, die beiden Geißeln Pest und Syphilis über Europa. Sie waren Anlaß für die Schließung der meisten öffentlichen Bäder und Bordelle, für die Ablehnung der Anwendung von Wasser zur Körperpflege und für die Förderung ehelicher Sexualität auf Kosten aller übrigen sexuellen Praktiken.
Frauen wurden lange Zeit mit ihrem Körper gleichgesetzt. Gleich ob man sie als »unvollkommene Männer« oder »wandelnde Gebärmütter«, als irdische Spiegelbilder göttlicher Schönheit oder laszive Verlockungen des Satans ansah, ihr soziales Dasein wurde sowohl durch die generelle Einstellung zum Körper als auch durch spezifische Definitionen der Geschlechter beherrscht.[1] Für das Verständnis der gesellschaftlichen und imaginären Dimensionen des Lebens der Frauen zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert ist es notwendig zu untersuchen, wie der menschliche Körper wahrgenommen und gepflegt wurde. Was wurde als unabdingbar für seinen Schutz, seine Pflege und Erhaltung erachtet? Vor allem, nach welchen Kriterien richteten die Frauen ihre Erscheinung aus, und welchen Zwecken diente sie? Vom Ende des Mittelalters bis zum Ende der Frühen Neuzeit veränderten sich die Vorstellungen von weiblicher Schönheit und die Normen der Körperpflege in vieler Hinsicht. Diese Entwicklungen spiegelten jedoch mehr als nur Veränderungen in der Vorstellung des Körpers und der äußeren Erscheinung der Frauen wider. Sie waren auch Indikatoren einer dauerhaften sozialen Instabilität und tiefgreifender politischer und religiöser Konflikte. Denn sie brachten die immerwährende und alles bestimmende Sorge nach Ordnung, Stabilität und klar definierten sozialen Grenzen zum Ausdruck, in denen das Konzept der Geschlechterverhältnisse eine stets gegenwärtige und prägende Rolle spielte.

KÖRPERPFLEGE

Die Vorstellungen von Sauberkeit und Körperpflege veränderten sich zwischen dem Ende des Mittelalters und dem 18. Jahrhundert grundlegend. Einst angewiesen auf regelmäßige Bäder und den Luxus des Dampfraumes, entwickelte sich die Körperhygiene im 16. und 17. Jahrhundert zu einer wasserfreien Angelegenheit, bei der die saubere Leibwäsche an die Stelle der sauberen Haut trat. Die Angst vor Wasser verhalf einer Reihe von Ersatzstoffen wie Puder und Parfüm zum Durchbruch. Diese bildeten eine neue Grundlage sozialer Unterschiede. Mehr denn je wurde Sauberkeit zum Vorrecht der Reichen.

Die Gefahren des Wassers

Die Sitte, entweder in öffentlichen Einrichtungen oder im eigenen Haus ein Bad zu nehmen, verschwand im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts nahezu gänzlich. Sowohl die Angst vor Seuchen (Pest und Syphilis) als auch eine strengere Einstellung zur Prostitution (ein Nebenerwerb vieler Bäder) führten zur Schließung der Mehrzahl öffentlicher Badeeinrichtungen. In den Bürgerhäusern bewirkten das wachsende Mißtrauen gegenüber dem Wasser und die Entwicklung neuer »trockener« Methoden der Körperpflege für die Oberschichten das Verschwinden des Badezubers.
Die gezielte Schließung öffentlicher Bäder konstituierte einen Akt sozialer und moralischer Hygiene. Weit davon entfernt, nur dem Ritual persönlicher Reinigung vorbehalten zu sein, boten diese Einrichtungen eine Reihe von Dienstleistungen an, die in den Augen der Obrigkeit die öffentliche Moral in den Städten bedrohte. Den Badenden wurden sowohl im Wasser als auch außerhalb Wein oder Speisen serviert. Denjenigen, die nach ihrem Bad ausruhen, ihren Liebhaber treffen oder von einer Prostituierten unterhalten werden wollten, standen Betten zur Verfügung. Obwohl die meisten Einrichtungen Männern und Frauen verschiedene Räume bzw. getrennte Wasserbecken zuteilten (einige verfügten über getrennte Männer- oder Frauenbadetage oder standen nur einem Geschlecht zur Verfügung), waren die meisten öffentlichen Bäder Orte des Vergnügens. In den Köpfen der Zeitgenossen wurden sie oft mit Bordellen und Tavernen gleichgesetzt. Prediger des 16. und 17. Jahrhunderts wetterten ständig gegen die schimpflichen Gepflogenheiten junger Männer, die ihre Zeit und ihr Erbe damit verschwendeten, daß sie »Bordelle, Bäder und Tavernen« besuchten. So enthalten auch Dürers sorgfältig geführte Bücher über seine Reiseausgaben Angaben über die Besuche in Bädern (häufig gemeinsam mit Freunden) neben anderem Zeitvertreib wie Glücksspiel und Trinken.[2]
Moralische Verderbtheit war jedoch nicht das einzige Übel, dessen sich jene nackten oder spärlich bekleideten Körper verdächtig machten, die sich in der Intimität der Dampfräume zusammenfanden und an den häufig ausgelassenen Vergnügungen des Gemeinschaftszubers teilnahmen. Wie Tavernen und Bordelle gehörten Bäder zu den ersten Einrichtungen, die in Zeiten der Pest geschlossen wurden. Man glaubte, daß jede Menschenansammlung die Verbreitung der gefürchteten Krankheit begünstigen würde. Bereits im 15. Jahrhundert rieten Ärzte und Obrigkeiten während Seuchenzeiten vom Baden ab, aus Angst, daß die nackte Haut mit ihren durch die heißen Dämpfe erweiterten Poren noch anfälliger für die verpesteten »Miasmen« sei, die als Krankheitserreger galten. Im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts trug der Glaube an die Durchlässigkeit der Haut und an die Bedrohung, die das Baden für die Gesundheit allgemein darstellte, dazu bei, daß medizinische Texte eine Reihe von Argumenten gegen die Übel öffentlicher Bäder und die Gefahren des Wassers lieferten. Im 16. Jahrhundert gesellte sich zu den Standardargumenten gegen gemeinsames Baden von Männern und Frauen noch die Angst vor Syphilis und anderen ansteckenden Krankheiten. Darüber hinaus grassierten ausgefallenere wenngleich nicht minder ernstgenommene - Ängste wie die Vorstellung von einer »Badeschwangerschaft«. Man glaubte, daß die Frauen durch Abenteuer suchende, im warmen Wasser herumwandernde Samen befruchtet würden. Seit dem 17. Jahrhundert war die schwächende Wirkung heißen Wassers allgemein anerkannt. Man war überzeugt, daß die Körpersäfte durch die erweiterten Poren entweichen würden, was den Verlust vitaler Kräfte sowie Schwäche oder gar ernstere Krankheiten wie Wassersucht. Schwachsinn und Mißgeburten zur Folge haben würde. Aus Vorsicht wurde nach dem Bad oft eine Ruhepause im Bett als erforderlich angesehen, die in manchen Fällen sogar mehrere Tage dauern konnte. Im Jahre 1610 befand es König Heinrich IV. für völlig normal, daß sein Minister Sully - obwohl herbeizitiert - nicht anwesend sein konnte, weil er sich notwendigerweise nach dem Bad ausruhen mußte. Der französische Souverän drängte ihn nicht nur, an diesem Tag zu Hause zu bleiben, sondern er zog den königlichen Arzt zu Rate, der der Auffassung war, daß jede Anstrengung die Gesundheit des Ministers gefährde. Sully wurde deshalb angewiesen, den König nicht vor dem nächsten Morgen zu besuchen und auch dann nur in Nachtrock, Nachthaube und Pantoffeln.[3]
Allmählich entwickelte sich das Baden eher zu einer medizinischen Kur als zu einer angenehmen Form der Körperpflege. Es wurde oft durch das Ansetzen von Schröpfköpfen begleitet, um so dem Körper schädliche Säfte zu entziehen und war zwangsläufig mit einer Reihe von Vorsichtsmaßnahmen verbunden. Naß galt der Körper als »offen« und verletzlich, trocken als ''geschlossen« und geschützt. Aus dieser Auffassung heraus entwickelten sich die neuen wasserfreien Techniken, die die Feinheiten persönlicher Körperpflege und das öffentliche Auftreten ermöglichten.

Trockene Toilette: Abreiben, Pudern, Parfümieren

Man war lange der Auffassung, daß das Verschwinden des Wassers aus dem täglichen Reinigungsritual der Frühen Neuzeit einen Rückfall in einen allgemeinen Zustand von Dreck und Schmutz bedeutete. Obgleich der Schmutz der unteren sozialen Schichten ebenso charakteristisch für ihren niedrigen Stand blieb wie die schmuddeligen, groben Kleidungsstücke, die sie auf dem Körper trugen, stimmt es, daß diejenigen, die es sich leisten konnten, der Pflege ihres Körpers und ihres Äußeren oder wenigstens jener Teile, die dem Urteil der öffentlichen Meinung ausgesetzt waren, wachsende Aufmerksamkeit schenkten.
Überall dort, wo das Wasser verschwand, traten Abreiben, Abnibbeln, Pudern und Parfümieren in den Vordergrund. Erziehungsbücher wie Erasmus' einflußreiches Buch De civitate morum puerilium (1530) beschreiben nicht nur die von der Oberschicht anerkannten, verfeinerten Sitten beim Putzen der Nase oder beim Zu-Tische-Sitzen. Sie bestehen auf der Reinigung des Körpers und seiner Öffnungen, wodurch sie die neuen gesellschaftlichen Erfordernisse hervorheben und zu einer Trennung der Elite von der »Masse« führen. Verfeinerte Gebärden, kultiviertes Benehmen und gepflegtes Äußeres entwickelten sich auf diese Weise zu »Kennzeichen« des sozialen Standes, die sich die neuen Eliten zu eigen machten. Dadurch wurde eine Hierarchie der Umgangsformen geschaffen, die die traditionelle mittelalterliche Hierarchie der Geburtsstände ablöste.[4] In dieser Herrschaft der guten Umgangsformen und der gepflegten Erscheinung übernahmen die adligen und gebildeten Frauen die Rolle der »arbiter elegantiorum« (Kennerinnen des guten Geschmacks und Schiedsrichterinnen über das männliche Verhalten), sei es in Form der schweigsamen Musen italienischer »Unterhaltungen« zu Hofe, der viel verspotteten, doch letztlich einflußreichen Precieuses oder der Gastgeberinnen literarischer und philosophischer Salons, deren Maßstäben auf dem Gebiet des Benehmens und des gesellschaftlichen Anstandes von einem zumeist männlichen Publikum gehuldigt wurde.[5]
Wie wirkten sich die neuen Regeln der Höflichkeit auf die Körperpflege und die äußere Erscheinung aus? Vor allem den unbedeckten Teilen des Körpers wie Gesicht und Händen wurde größere Aufmerksamkeit geschenkt. Wurden im 16. Jahrhundert diese beiden Körperteile bei der morgendlichen Toilette noch mit Wasser gereinigt, so galt es im 17. Jahrhundert als angemessen, Mund und Hände lediglich ausbzw. abzuspülen und dies nur unter der Voraussetzung, daß die möglicherweise schädliche Wirkung des Wassers durch den Zusatz von Essig oder Wein abgeschwächt wurde. Erziehungsbücher rieten insbesondere davon ab, das Gesicht mit Wasser zu waschen, weil es angeblich dem Augenlicht schade, Zahnschmerz und Katarrh verursache sowie die Haut im Winter übermäßig blaß und im Sommer extrem braun mache.[6] Der Kopf mußte mit einem parfümierten Handtuch oder Schwamm kräftig abgerieben, das Haar gekämmt, die Ohren mußten ausgeputzt und der Mund ausgespült werden. Anfangs tauchte Puder als eine Art »Trockenshampoo« auf. Man ließ ihn über Nacht einwirken und kämmte ihn morgens mit Fett und anderem Schmutz aus. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts hatte sich diese Praxis jedoch zu mehr als nur einem Gebot der Reinlichkeit entwickelt. Duftende und gefärbte Puder wurden zum wesentlichen Bestandteil der täglichen Toilette begüterter Männer und Frauen. Dieses sichtbare und wohlriechende Beiwerk gab nicht nur Auskunft über das Privileg der Reinlichkeit, sondern auch über die jeweilige gesellschaftliche Stellung, da Mode ein Vorrecht der Reichen war. Im 17. Jahrhundert hatte der Puder die Oberschicht so weit erobert, daß Adlige, die etwas auf sich hielten, sich niemals ohne Puder in der Öffentlichkeit zeigten, und im 18. Jahr66   Alltag und Arbeit hundert lief Jung und Alt mit weißen Haaren herum, entweder in Form von Perücken oder der eigenen Silberlocken. Der Verzicht auf Puder ließ daher nicht nur eine doppelte Unschicklichkeit - in hygienischer und sozialer Hinsicht -, sondern auch eine gesellschaftlich niedrigere Stellung erkennen. Die Bourgeoisie und deren Untergebene hatten »dunkles, fettiges Haar«.[7] Parfüm stand in dem Ruf, über eine Reihe von Vorteilen zu verfügen. Die wichtigsten waren das Ausschalten oder Überdecken unangenehmer Körpergerüche sowie seine Funktion als Desinfektions- und Reinigungsmittel.
Das Gesicht, den Körper und insbesondere die Achselhöhlen rieb man sich mit duftenden Tüchern ab, weil man annahm, daß der angenehme Parfum-Duft den säuerlichen Körpergeruch überdecke. Exotische Düfte, die die Reichen lange zur Desinfektion von Häusern, Möbeln und Textilien in Zeiten der Pest benutzt hatten, wurden auch dazu verwendet, die Inhalte von Kommoden und Kleidertruhen sauberzuhalten. Einige dieser Düfte waren so durchdringend, daß das Öffnen einer Truhe einen Raum entvölkern konnte. Dies geschah beispielsweise, als Lakaien 1629 in Saint-Germain die Truhen der Königin öffneten und sowohl die Diener als auch die Besucher aus dem Raum fliehen mußten, bis er gelüftet war. Ebenso wie Puder entwickelten sich Parfüms zu einem bestimmenden Merkmal der gesellschaftlichen Stellung, und die Distanz zwischen »guten und schlechten« Gerüchen wuchs derartig, daß Lemery im Jahre 1709 drei Kategorien von Düften unterschied: »königliches Parfüm«, ein »Parfüm der Bourgeoisie« und ein »Parfüm der Armen«, das aus Öl und Talg hergestellt wurde und dessen einziger Zweck darin bestand, die Luft zu desinfizieren. Daraus resultierte ein anderes Standesprivileg: Schützte Parfüm den Körper, dann erhielt es auch die Gesundheit. Es schaltete nicht nur üble Gerüche aus, sondern auch ansteckende Ausdünstungen und Miasmen. Ein italienischer Besucher, der von der Charité in Paris stark beeindruckt war, bemerkte, daß neben jedem Krankenbett ein Blumenstrauß stand und eine Duftlampe brannte, um die Luft zu reinigen und die Station zu desinfizieren.[8]

Weißer bedeutet sauberer

Die Regeln des Anstandes, die vorschrieben, daß alle sichtbaren Körperteile angenehm für Auge und Nase sein mußten, richteten ihre Aufmerksamkeit in stärkerem Maße auf die äußere Erscheinung als auf die Hygiene. Ein »sauberes« Äußeres galt als Garant für moralische Integrität und gesellschaftliches Ansehen. Daraus leitete sich auch die Bedeutung weißer Wäsche ab. Die weiße Oberfläche wurde mit der Körper, äussere Erscheinung und Sexualität   67 Reinheit der Haut darunter gleichgesetzt. Die Leibwäsche - diese äußere Hülle oder »zweite Haut» - diente darüber hinaus zum Schutz der »inneren« Hülle oder Epidermis. Vor diesem Hintergrund ersetzte sie allmählich die reinigende Wirkung des Wassers. Weißes Tuch wurde insbesondere deshalb geschätzt, weil es nicht nur den Schweiß absorbierte, sondern weil ihm auch nachgesagt wurde, Verunreinigungen anzuziehen und so die Gesundheit zu schützen. Vom 17. Jahrhundert an gehörte das Wechseln von Hemd und Unterkleid für das gehobene Bürgertum wie für die Aristokratie zur täglichen Hygiene, so daß Savot in seiner Abhandlung über die Konstruktion von Schlössern und Stadthäusern (1626) darauf hinwies, daß Badeeinrichtungen in »modernen« Zeiten nicht länger notwendig seien, weil »wir nun Wäsche benutzen, die uns hilft, unsere Körper reinzuhalten, besser als die Wannen und Dampfbäder der Menschen des Altertums, denen der Gebrauch und die Annehmlichkeit der Unterwäsche nicht vergönnt waren.«[9] Leibwäsche galt daher als »modern«, als der letzte Schrei im Bereich der Körperpflege.
Seit dem 15. Jahrhundert wagten sich Hemden und Unterkleider immer mutiger unter den Gewändern der Männer und Frauen hervor, zeigten an Nacken und Handgelenk einen kleinen Hauch von Spitze oder Rüschen. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts entwickelten sie sich zu reich verzierten Kragen und Halskrausen, dann im 17. Jahrhundert zu elegant bestickten Flächen, die über Schulter, Brust und Unterarm reichten und sich im 18. Jahrhundert zu Spitzenbesatz und durchsichtigem Stoff wandelten. Während der Renaissance wuchs der Gebrauch von Leibwäsche proportional zum Rückgang von Wasser und Bädern. Als Jeanne d'Albret 1514 starb, wurden in der Inventarliste nur einige Unterkleider erwähnt. Am Ende des Jahrhunderts jedoch vermerkte der Notar, der für die Erstellung der Inventarliste von Gabrielle d' Estree zuständig war, daß ihre Mieder so zahlreich waren, »daß sie nicht gezählt werden können«. Männer waren gleichermaßen vom Nutzen der Leibwäsche überzeugt. 1556 besaß der Pariser Arzt Jean Lemoignon zum Zeitpunkt seines Todes 32 Hemden, während sein Kollege. Geoffrey Granger, im Jahre 1567 34 hinterließ. Die Inventarlisten bezeugen insofern den Triumphzug der Unterwäsche in den Schränken der oberen und mittleren Stände der Gesellschaft, als sie ab Mitte des 16. Jahrhunderts die Leibwäsche gesondert aufführten.[10]
Nicht jeder wechselte jedoch täglich sein Unterhemd. Heinrich III. von Frankreich wurde 1560 als »weibisch« erachtet, weil er seine Unterwäsche zu oft wechselte, während Madame de Montpensier sich in ihrem Standesbewußtsein gekränkt fühlte, weil es ihr an Unterwäsche mangelte. Die Mehrheit der städtischen Bevölkerung fand den Wechsel des Unterhemdes im drei- bis siebentägigen Turnus als ihren Ansprüchen vollkommen angemessen. Die Vorschriften der meisten Klöster und Schulen bestanden auf einem regelmäßigen - wenn auch nicht täglichen - Wechsel der Leibwäsche, und sogar Strümpfe und abnehmbare Kragen fielen unter die Hygienevorschriften jener Hinrichtungen. Abgesehen davon, wie oft die Vertreter unterschiedlicher gesellschaftlicher Stände das Wechseln ihrer Unterwäsche für notwendig erachteten, war Leinen kein Material, das für jedermann erschwinglich war, und nicht jeder konnte sich das Wechseln leisten. Obwohl Studenten, Arbeiter und Handwerker Hemden aus Hanf trugen, die ungefähr nur ein Viertel dessen kosteten, was Unterhemden aus Leinen kosteten (ganz abgesehen von Spitzen und anderen Verzierungen), waren die Preise gemeinhin sehr hoch. In Paris betrug der Preis für ein Wams zwei Livres, was dem Drei- oder Viertagelohn eines Handarbeiters entsprach. Außerdem hatte Hanf zwei wesentliche Nachteile: Es war weniger hautfreundlich und nicht so weiß wie Leinen. Lediglich Leinen und Seide besaßen die schneeweiße Reinheit, die den Ansprüchen der Elite an die äußere Erscheinung genügen konnte; dies bedeutete, daß »wahre- Sauberkeit wiederum ein Privileg war, das nur den Reichen und den Adligen vorbehalten blieb.[11]
Leib- und Unterwäsche fanden zwar keine weite Verbreitung, aber bis ins 18. Jahrhundert setzten sich die Maßstäbe, die die Oberschicht festgelegt hatte, nicht nur unter Dienern, Tagelöhnern und Handwerkern durch, sondern inspirierten auch eine reiche Vielfalt der Unterwäsche, die sich vor allem in der weiblichen Mode entwickelte. Besaßen im Jahre 1700 nur 78% der weiblichen Angestellten und 75% der Dienstmädchen ein Unterhemd, so stieg die Zahl bis 1789 auf 93% beziehungsweise auf 100%. Die Bandbreite der Leibwäsche, die sowohl Männer als auch Frauen der niederen Stände trugen, erreichte eine Eleganz, die bis dahin nur den Begüterten vorbehalten war. Gegen Ende des Jahrhunderts besaßen 75% des mittleren und gehobenen Bürgertums zwischen 10 bis 30 Unterkleider, 11 Paar Strümpfe und 34 Paar Ärmel. Darüber hinaus besaßen fast alle Frauen Unterröcke und Hauben, dagegen nur 60% auch Schnürmieder und Nachthemden.***449.2.12**
Nur wenige hatten jedoch Schlüpfer oder Unterhosen. Diese waren noch bis ins 19. Jahrhundert auf die oberen Schichten (und auf Dienerinnen, die die gebrauchten Sachen ihrer Herrinnen trugen) beschränkt.
Schlüpfer standen in dem Ruf, eine italienische Erfindung gewesen zu sein, die Katharina von Medici in Frankreich einführte, um ein Pferd ä l'amazone (im Damensitz) zu reiten, ohne die Regeln des Anstandes zu verletzen. Viele Zeitgenossen billigten diese Übernahme männlicher Unterhosen, weil sie im Falle eines Sturzes jene Körperteile vor neugierigen Männerblicken und vor »zügellosen jungen Männern, die ihre Hände unter die Röcke der Frauen steckten«, schützten. Dieses ungewöhnliche Kleidungsstück diente jedoch nicht allein der Wahrung des Anstandes. Adlige Frauen trugen calegon oder calzoni (Unterhosen) aus prächtigem Material und fügten auf diese Weise ihrem geheimen Arsenal der Verführungskunst noch eine Waffe hinzu.[13] Daß Schlüpfer als ziemlich gewagte Ergänzung des Spektrums der Damenwäsche galten, beweist weiterhin die Tatsache, daß Kurtisanen wiederholt geschmäht wurden, weil sie derartige »männliche« Kleidungsstücke trugen. Obgleich beliebt unter den Verehrern jener Damen, verstieß das Tragen von »Pantaletten« nicht nur gegen kirchliche Vorschriften, die den Kleidertausch verboten, sondern wurde auch als Zugeständnis an die männliche Homosexualität interpretiert, weil Frauen in ihnen wie Knaben aussahen.[14] Bis ins 18. Jahrhundert hinein trugen lediglich Schauspielerinnen, Fensterputzerinnen, Prostituierte und Adlige Unterhosen, deren wesentliche Funktionen darin bestand, entweder den Anstand der Frau zu wahren oder die erotische Vorstellungskraft zu inspirieren. Es bedurfte der Hygiene-Revolution des 19.Jahrhunderts, um die Unterhosen als festen Bestandteil der weiblichen Garderobe zu etablieren.

Die Rückkehr zum Wasser

Obwohl Wasser in der Frühen Neuzeit ein Element blieb, dem viele schädliche Kräfte zugeschrieben wurden, und immer ein Gegenstand des Argwohns war, erlebte das 18. Jahrhundert das Comeback des Bades sowohl als luxuriöse Freizeitbeschäftigung als auch als therapeutische Übung. In den 40er Jahren des 18. Jahrhunderts begannen die Adligen wieder zu baden. Sie bauten luxuriöse Bäder in ihren Palästen und Stadthäusern, manchmal sogar mit Springbrunnen und exotischen Pflanzen. Ungeachtet der Tatsache, daß Vorsichtsmaßnahmen zumeist noch das Eintauchen begleiteten (ein Abführmittel vorweg, Bettruhe und eine Mahlzeit anschließend), verbreitete sich dieser Brauch. 1751 beschrieb die Encyclopedie den Badezuber als einen Gegenstand, der seiner Form nach ungefähr unseren heutigen Badewannen glich. Hergestellt aus Kupfer oder hölzernen Dauben, war er nicht länger rund, sondern oval: 4,5 Fuß lang und 2 Fuß breit.
Sowohl Ort als auch Wassertemperatur entschieden über den Zweck des Bades und über dessen Wirkung auf den Körper. In Privathäusern waren heiße Bäder ein Luxus, ein sinnliches Ereignis, das phlegmatische Frauen (oder Männer) häufig als Vorbereitung auf ein Liebestreffen zelebrierten. Anderswo konnten heiße Bäder aber auch einer medizinischen Kur dienen. 1761 wurde am Ufer der Seine ein Badehaus für die Reichen errichtet (der Preis für ein Bad entsprach dem Wochen70   Alltag und Arbeit lohn eines Handwerkers), so daß sie nahe ihrem Zuhause durch die Heilkräfte des Flußwassers kuriert werden konnten.[15] Kalte Bäder fanden erst nach 1750 im Gefolge einer Flut medizinischer Studien über die Vorteile des Badens und seines Nutzens zur Erhaltung der Gesundheit weitere Verbreitung: Es hieß, daß ein richtig genommenes Bad die Zirkulation der Körpersäfte unterstütze, die Muskeln stärke und die Funktion der Organe anrege. Eine neue Generation von Ärzten geriet in Begeisterung über die tonische Wirkung kalten Wassers, das den Körper zusammenziehe und seine Kraft stärke. Kalte Bäder galten als nützlich, nicht etwa weil sie den Körper reinigten, sondern weil sie ihn vielmehr kräftigten. Im großen und ganzen badete man aus Gründen asketischer Gesinnung wie mit Rücksicht auf die Gesundheit kalt. Bevorzugt vom aufsteigenden Bürgertum, das aufgrund seiner Energie die aristokratische Trägheit verachtete, entwickelte sich das kalte Bad zum Symbol einer neuen »kraftvollen« Klasse im Gegensatz zur »verweichlichten« Aristokratie, deren Zerbrechlichkeit Beweis ihrer Dekadenz war.[16]

ÄUSSERE ERSCHEINUNG: SCHÖNHEIT UND KOSMETIKA

Schönheit war genau wie Sauberkeit stets ein relativer Begriff. Zwischen dem Ende des Mittelalters und dem Beginn der Frühen Neuzeit haben die Richtlinien für weibliche Schönheit und für die ideale weibliche Gestalt eine Reihe radikaler Veränderungen erfahren. Von grazil zu niedlich, von rosig zu geschminkt - so reagierten die weibliche Figur und der weibliche Teint auf Änderungen der Nahrung, der gesellschaftlichen und finanziellen Stellung und schufen damit neue Normen für die Erscheinung und den Geschmack sowie neue Ideale von Schönheit und Erotik.

Dick ist schön

Das mittelalterliche Ideal der anmutigen, schmalhüftigen und kleinbrüstigen aristokratischen Dame wurde im Laufe des späten 15. und 16. Jahrhunderts zugunsten eines üppigeren, breithüftigen und vollbusigen Modells weiblicher Schönheit abgelöst - ein Ideal, das bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Gültigkeit bewahren sollte. Ist es Zufall, daß dieser Wandel in der Ästhetik des Körpers mit einer bedeutenden Veränderung der Eßgewohnheiten der herrschenden Schicht jener Zeit einhergeht? Die Kochbücher des 14. und 15. Jahrhunderts zeigen eine starke Vorliebe für herbe und säurehaltige Saucen, die weder Körper, äussere Erscheinung und Sexualität   71 Zucker noch Fett enthielten, wohingegen die des 16. und 17. Jahrhunderts reich an Butter, Sahne und Zucker waren. Waren die Frauen der herrschenden Klasse dicker als ihre Vorfahrinnen im Mittelalter? Paßte sich die Mode somit den sich ändernden physischen Gegebenheiten an? Oder entwickelten die Frauen der Renaissance absichtlich eine rundliche Figur in Anlehnung an das verbreitete Schönheitsideal.[17] Auf jeden Fall blieb eine »gesunde« Rundlichkeit ebenso wie Sauberkeit den Reichen vorbehalten, während Magerkeit als häßlich, ungesund und Zeichen der Armut galt. Die Mehrheit der Frauen - Bäuerinnen, Mägde und Handwerksfrauen - aßen jedenfalls im Vergleich zu ihren Männern schlechter. Die besten und reichhaltigsten Speisen wurden den männlichen Mitgliedern der Familie zugedacht, dann folgten die Kinder und schließlich die Frauen. Europäische Frauen magerten auch zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert ab, was die Folge einer langen wirtschaftlichen und landwirtschaftlichen Krise war, die erst im Laufe des letzten Jahrhunderts abflaute. Eine weitere Auswirkung weiblicher Unterernährung war die sichtliche Veränderung des Pubertätsalters, das vom Verhältnis zwischen Alter und Körpergewicht abhängt. Im Mittelalter reiften die Mädchen zwischen 12 und 15 Jahren heran. Im 17. und 18. Jahrhundert stieg das Durchschnittsalter der Pubertät auf 16 Jahre. Bei der Stadtbevölkerung lag es etwas niedriger, bei der Landbevölkerung etwas höher.[18]
Rachitis, Skorbut und eine Vielzahl unansehnlicher Krankheiten folgten der chronischen Unterernährung auf den Fuß. Kein Wunder also, daß die Frauen der oberen Schichten darum bemüht waren, sich von ihren weniger glücklichen Schwestern dadurch zu unterscheiden, daß sie große Flächen milchigen Fleisches kultivierten im Gegensatz zu den ausgezehrten, braunen und mageren Staturen jener, deren hartes Leben sie in den Augen ihrer Zeitgenossen nicht nur häßlich machte, sondern auch vorzeitig altern ließ. Wohlhabende Frauen, die einen erhöhten Stoffwechsel hatten, wandten sogar spezielle Mittel an, um einen Gewichtsverlust zu vermeiden. Glissenti erwähnt in seinen Discorsi morali (1609) zwei Arten von Marzipan, die Venetianerinnen und Neapolitanerinnen aßen, um ihr Idealgewicht zu halten. Henri Estienne sprach sich jedoch gegen diese Sitte aus und wies darauf hin, daß französische Frauen eine weniger korpulente Statur vorzogen.[19]

Die Konstruktion von Weiblichkeit

Die Renaissance war nicht nur eine Epoche, in der sich die Frauen der Oberschichten von den sozial Benachteiligten durch ihren wohlgenährten Körper und das makellose Weiß ihrer Leibwäsche unterschieden, sondern auch ein Zeitalter, in dem es immer wichtiger wurde, daß sich Frauen von Männern in allem, was Kleider, Erscheinung und Verhalten betraf, absetzten. Die Kleider-Revolution des 14. Lind 15. Jahrhunderts bestand in der Differenzierung männlicher und weiblicher Kleidung. Die Roben der Männer wurden kürzer, man zeigte mehr Bein und der Hosenbeutel wurde eingeführt. Dagegen kleideten sich Frauen zurückhaltender. Ihre langen, wallenden Gewänder betonten die Taille, die durch ein Schnürmieder noch schlanker erschien. Soweit es der gelockerte Sittenkodex zuließ, wurden sogar die weißen Brüste enthüllt, selbstverständlich angemessen geschminkt und gepudert. Darüber hinaus mußte jede Bewegung, jede Geste einer Dame die Zartheit und Anmut widerspiegeln, die nun von den Frauen im Gegensatz zur Virilität der Männer erwartet wurden. So bemerkte Castiglione in seinem Buch vom Hofmann (1528): »Vor allem aber scheint es mir, daß die Frau in Sitten, Gewohnheiten, Worten, Gebärden und im Betragen vom Mann sehr verschieden sein muß. Denn wie es sich für diesen schickt, eine gewisse gesetzte und feste Männlichkeit zu zeigen, so steht es der Frau gut an, eine weiche und feine Zärtlichkeit zu haben mit einer Art von weiblicher Lieblichkeit in jeder Bewegung.«[20]
Seit dem 15. Jahrhundert beharren alle Abhandlungen über die Familie. Traktate höfischer Sitten und sogar die medizinische Literatur auf der Zerbrechlichkeit des weiblichen Geschlechts und auf der Pflicht der Männer, die Frauen vor ihrer eigenen angeborenen Schwäche zu schützen, indem sie sie mit sanfter, aber fester Hand regieren.[21] Dahin waren die höfischen Vorbilder für die Geschlechterbeziehungen, bei denen der Ritter seiner Herrin gehorchte Lind diente. Die Renaissance brachte den Wunsch nach klar festgelegten sozialen Grenzen und unveränderlichen Hierarchien (einschließlich der Geschlechterhierarchie) mit sich - ein Wunsch, der um so stärker wurde, als das wirtschaftliche und politische Leben die sozialen Unterschiede durcheinanderbrachte und neue Eliten schuf, die die alten in Frage stellten.[22] Luxusgesetze spiegelten ebenfalls die dauernde Sorge um sozialen Rang, Geschlechtsidentität und Kleidung wider. Das Tragen von Kleidern des anderen Geschlechts wurde allgemein verurteilt, was aber Frauen nicht davon abhielt, gelegentlich ihrer Schwäche für männliche Kleidungsstücke zu frönen, sehr zum Entsetzen ihrer Zeitgenossen.[23] Die »wahnwitzigen Ausgaben« eitler Frauen standen wiederholt im Brennpunkt der Luxusgesetze, in denen dieses Verhalten immer wieder für eine Vielzahl von Mißständen verantwortlich gemacht wurde, angefangen vom Ruin der Wirtschaft, über die demographische Krise bis hin zur Homosexualität ihrer Ehemänner. Gewannen die Standes-und Geschlechterunterschiede in bezug auf Kleidung und Verhalten im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts an Bedeutung, so sollte das 18. Jahrhundert Zeuge der Umwälzung traditioneller Vorstellungen von Standes- und Geschlechtszugehörigkeit werden.

Leitbilder und Kriterien weiblicher Schönheit

Während die klerikale Kultur des Mittelalters dazu neigte, weibliche Schönheit und die Macht, die sie den Frauen über die Männer verlieh, zu fürchten,[24] maß der Neo-Platonismus der Renaissance der Schönheit einen neuen Wert bei, indem er sie zum äußeren Zeichen einer inneren unsichtbaren "Güte- erklärte. Schönheit galt nicht länger als gefährlicher Besitz, sondern vielmehr als notwendiges Attribut der moralischen Verfassung und der jeweiligen gesellschaftlichen Stellung. Schön zu sein, wurde zur Pflicht, da Häßlichkeit nicht nur mit sozial niedrigerem Rang in Verbindung gebracht wurde, sondern auch mit dem Laster. Machten die Wunden der Syphilis die Prostituierte nicht unansehnlich; ließen Hautkrankheiten und Krätze die verwahrlosten Armen nicht abscheulich aussehen? Die äußeren Hüllen des Körpers entwickelten sich zu einem Spiegel, in dem das Innere für die Außenwelt sichtbar wurde.
Weibliche Schönheit wurde nicht nur zum Garanten moralischer Integrität und zur Inspiration für alle jene, die das Privileg besaßen, auf eine schöne Erscheinung zu blicken, sondern wurde auch durch die riesige Produktion an Liebesgedichten, Benimmbüchern und Rezeptsammlungen für die Schönheitspflege kodifiziert. Schönheit folgte einer Formel und Frauen nahmen große Opfer und Kosten auf sich, um ihre Erscheinung den Maßstäben anzupassen, die praktisch die Frühe Neuzeit hindurch unverändert blieben. In Italien, Frankreich, Spanien, Deutschland und England stimmten die Normen der Ästhetik im wesentlichen überein: helle Haut, blondes Haar, rote Lippen und Wangen, schwarze Augenbrauen. Die Hände und der Hals mußten lang und schlank sein, die Füße klein und die Taille geschmeidig. Die Brüste mußten fest, rund und weiß sein und rosige Brustwarzen haben. Die Augenfarbe durfte variieren (die Franzosen mochten grün, die Italiener bevorzugten schwarz oder braun) und gelegentlich konnten auch Zugeständnisse an dunkles Haar gemacht werden, aber der Kanon für die weibliche Erscheinung blieb im wesentlichen über 300 Jahre lang der gleiche.
Eine mündliche und literarische Tradition schrieb den Frauen eine Liste von Schönheitsmerkmalen zu, deren Zahl sich im Laufe des 16. Jahrhunderts von drei auf dreißig erhöhte. Nach Aussagen Morpurgos in El costume de la donne (1536) ist die Liste sogar länger. Seine ideale Frau besaß nicht weniger als 33 Merkmale, die zur Vollkommenheit ausgebildet sein mußten:

  • Haar, Hände und Beine mußten lang sein
  • Zähne. Ohren und Brüste - klein
  • Stirn, Brustkorb und Hüften - breit
  • Taille. Knie und jene Partien, »wo die Natur alles plaziert, was zart ist« - schmal
  • Körpergröße. Arme und Oberschenkel - groß (»aber gut proportioniert«)
  • Augenbrauen, Finger, Lippen - schmal - Hals, Arme und ... - rund - Mund, Kinn und Füße - klein - Zähne, Hals und Hände - weiß - Wangen, Lippen und Brustwarzen - rot - Augenbrauen, Augen und »was Sie selbst wissen sollten« - schwarz[25]

Im Laufe des 16. Jahrhunderts entwickelte sich auch eine literarische Form, die unter dem Begriff »Blason« bekannt war. Hierbei handelte es sich um ein Gedicht zum Ruhme der Reize einer Dame, die entweder gemeinsam oder einzeln beschrieben wurden. In einer solchen Gedichtsammlung, die 1543 veröffentlicht wurde, folgten Clement Marots berühmtem Gedicht Blason du beau tetin Gedichte über Stirn, Augenbrauen, Hals, Wangen. Nase, Zähne, Gesäß, Stimme, Füße, Haar, Knie, Hand, Vagina, Mund, Oberschenkel, Arm, Herz, Ohr etc. Es erübrigt sich zu erwähnen, daß einige dieser Gedichte relativ freizügig und anstößig waren. Grobe Holzschnitte, die die verschiedenen gepriesenen Körperpartien darstellten, illustrierten viele Ausgaben der Blasons. Diese Illustrationen neigten paradoxerweise zu einer so derb realistischen Darstellung, daß sie die erotische Vorstellungskraft kaum anregen konnten.[26]
Die Welle der Schilderung weiblicher Schönheit hielt sich bis zu den 50er Jahren des 16. Jahrhunderts. Gedichte zu Ehren einzelner Frauen beschrieben diese gern gemäß den damaligen ästhetischen Maßstäben. Die Frauen selbst wandten sich Kosmetika, Schnürmiedern und hochhackigen Schuhen zu, um dem gängigen Ideal zu entsprechen. Mängel wurden sorgsam korrigiert oder wenn möglich versteckt. »True-Wit« in Jonsons Epicoene (1609) kommentiert dies wie folgt:

»Eine intelligente Frau, falls sie selbst die Unzulänglichkeit erkennt, wird sehr bedacht sein, sie zu verstecken, und es ziemt sich für sie. Ist sie klein, lassen Sie sie viel sitzen. Für den Fall, daß sie steht, sollte man sie sich sitzend denken. Fiat sie häßliche Füße, lassen Sie sie ein längeres Kleid und dünnere Schuhe tragen. Hat sie dicke Hände und entstellte Nägel, lassen Sie sie weniger tranchieren und mehr in Handschuhen arbeiten. Hat sie einen säuerlichen Atem, lassen Sie sie niemals schnell sprechen und sprechen Sie immer aus der Distanz mit ihr. Hat sie schwarze und schiefe Zähne, geben Sie ihr weniger Anlaß zum Lachen, insbesondere dann, wenn sie den Mund zum Lachen weit öffnet«.[27]

Die kosmetischen Künste

Wie erreichten die Frauen die Vollkommenheit, die man ihnen abverlangte? Mit der Erfahrung des Buchdrucks Mitte des 15. Jahrhunderts begannen Bücher mit »Geheimnissen« und Rezepten für Parfüms und Kosmetik (einige davon zirkulierten bereits in Form von Manuskripten im Mittelalter) in ganz Europa zu erscheinen und intensivierten und bereicherten damit eine mündliche Tradition, die Mütter an ihre Töchter weitergaben und Apotheker an ihre Söhne. Diese zumeist von Männern verfaßten Sammlungen, die den Leserinnen implizit männliche Schönheitskriterien aufzwangen, waren nur selten auf die Geheimnisse des Schönseins beschränkt. Ihr Inhalt war eklektisch: medizinische Informationen, Kochrezepte, Naturmagie, astrologische Tabellen und verschiedene andere Künste (wie z.B. die Physiognomik)[28] - all dies konnte sich zwischen den Deckeln eines einzigen Buches verbergen. Von wem wurden diese Bücher gelesen? Natürlich von Frauen und Männern bestimmter gesellschaftlicher Schichten, die aufgrund ihrer Bildung des Lesens mächtig waren. Nicht alle gehörten jedoch unbedingt der herrschenden Schicht an. Liebaults Abhandlung Destillation des eaux (1578) richtet sich beispielsweise an die bonne menagere (gute Hausfrau), »die nicht übermäßig mit Schminken beschäftigt sein«, sondern sich eher der Sorge um den Haushalt widmen sollte. »Trotzdem«, schreibt Liebault, »soll sie darin bewandert sein, wie man Wässerchen für Kosmetika destilliert, nicht etwa, um diese selbst zu benutzen, sondern um mit ihnen Geld zu verdienen, indem sie sie an hohe Herrschaften verkauft und an jene Leute, die sich gerne schminken.«[29] Trotz wiederholter Beschimpfungen, die geschminkte Frauen während der Frühen Neuzeit von den Kanzeln und in Flugschriften erfuhren, schienen jedoch mehr Hausfrauen Schminke zu benutzen, als es Liebault gebilligt hätte. Außerhalb bestimmter elitärer Zirkel, in denen Kosmetika so wichtige Accessoires waren wie Puder, Parfüm und Leibwäsche, galten Farben und Cremes als Zeichen von Eitelkeit und als Anreiz der Begierde.[30] Die Frauen aller gesellschaftlicher Schichten gaben es jedoch nicht auf, ihre äußere Erscheinung mittels kosmetischer Mixturen zu »verschönern«. Einige dieser Mittel richteten allerdings mehr Schaden als Nutzen an. In Albertis Über das Hauswesen (1437) versuchte der frischvermählte Gianozzo, seine Frau dadurch davon abzuhalten, sich zu schminken, daß er ihr die schlimmen Folgen von Schminke bei einer Nachbarin beschrieb:»[Eine Frau], die nur wenige Zähne mehr im Mund hatte - und die sahen aus wie aus wurmstichigem Buchsholz -, die beständig tief bläuliche Höhlen um die Augen hatte, den Rest des Gesichtes welk und aschgrau, die Haut überall totenbleich und schmutzig - die silberhellen Haare waren das einzige an ihr, was man ohne Mißfallen betrachten konnte.«[31] Er fuhr fort, daß diese ausgezehrte Frau tatsächlich jünger als 32 Jahre war. Die Schrift mit dem Titel Trade Containing the Artes ojGurions Paintinge, Carvinge & Building aus dem 16. Jahrhundert widmet einen ganzen Abschnitt den Eigenschaften bestimmter Kosmetika, die zu jener Zeit im täglichen Gebrauch waren, da sich Frauen angeblich der Bestandteile und der schrecklichen Auswirkungen dieser Mittel auf ihre Benutzer nicht bewußt waren. Der Abschnitt beginnt mit einer schauerlichen Beschreibung der schädlichen Wirkungen von Quecksilbersublimat, das teilweise für das schnelle Schwinden der Jugend und Schönheit verantwortlich war, das die Damen am Hofe von Königin Elisabeth beklagten:

»Das Sublimat trägt wegen seiner bösartigen and ätzenden Natur den Namen totes Feuer. Dieses Mittel setzt sich aus Saiz, Quecksilber und Vitriol zusammen. Alle Substanzen werden in einem gläsernen Gefäß zusammengemischt. Das Ergebnis nennen die Ärzte ein Korrosiv. Gießt man es auf menschliche Haut, brennt es sich in kurzer Zeit in die Stelle ein und tötet die Haut ab, was mit großen Schmerzen für den Patienten verbunden ist. Deshalb haben Frauen, die es auf ihrem Gesicht anwenden, stets schwarze Zähne, die weit aus ihrem Zahnfleisch herausstehen, so wie bei einem spanischen Maultier; sie haben einen abstoßenden Atem, ein hall) versengtes Gesicht und unreinen Teint ... So daß einfältige Frauen, die glauben, schöner zu werden, entstellt werden, frühzeitig altern und ihren Ehemännern Grund bieten, sich fremde anstelle ihrer eigenen Ehefrauen zu suchen, und verschiedene andere Unannehmlichkeiten.«[32]

Warnungen vor langfristigen Nebenwirkungen von Kosmetika waren nicht das einzige, was gegen ihren Gebrauch sprach. Frauen, die sich schminkten, wurden ebenfalls beschuldigt, »das Gesicht Gottes« zu verändern (war die Menschheit nicht nach dem Bilde Gottes geschaffen?). In einer Abhandlung Against the Painting und Tincturing of Men and Women (I6l6) fragte sich Thomas Tuke, wie Damen zu Gott beten können »mit einem Gesicht, das nicht sein eigen ist? Wie können sie um Vergebung bitten, wenn die Sünden ihrem Gesicht anhaften?«[33] Der gesamten Kritik an der Schminke lag auch die männliche Furcht vor Täuschung zugrunde. War die junge Schönheit, die sie begehrten, nicht vielleicht eine Hexe oder ein von Krankheit gezeichneter Körper, der nur raffiniert getarnt war? Darüber hinaus standen jene, die Kosmetika herstellten, häufig im Verdacht, sich mit Magie zu beschäftigen, da viele Rezepte Zauberformeln enthielten, die während der Zubereitung gesprochen werden mußten, und solche Zutaten wie Regenwürmer, Nesseln und Blut.[34]
Trotz wiederholter Warnungen. Vorwürfen des Ehebruchs und der Täuschung seitens der Männer sowie täglicher Beispiele beklagenswerter Folgen von Kosmetika, versuchten Frauen unbeirrt ihr Äußeres mit Hilfe von Pudern, Pasten und Farben zu »verbessern-. Im Italien des 16. Jahrhunderts hieß es, daß alle Frauen Schminke benutzten, »sogar die Tellerwäscherinnen«. Daß Kosmetika gesellschaftlich weit verbreitet waren, beweisen Sammlungen kosmetischer Rezepte, in denen die Kosten für bestimmte Zubereitungen aufgeführt sind. In Caterina Sforzas Buch Esperimenti (1490-1509) wechseln sich Rezepte für Cremes, um das Gesicht zu weißen, mit Rezepten für Farben, um die Wangen zu röten ab, wobei Zutaten wie Perlen, Silber und Edelsteine jenen vorbehalten waren, die sie sich leisten konnten und den weniger Wohlhabenden preiswertere Ingredienzen vorgeschlagen wurden.[35]
Die Mehrzahl der Bücher über Kosmetika und weibliche Schönheit richteten ihre Aufmerksamkeit auf ganz bestimmte Körperpartien - wie Haare, Gesicht, Hals, Brüste und Hände -, jene nämlich, die nicht bedeckt waren. Die unterschiedlichen Rezepte erfüllten im allgemeinen eine von zwei Funktionen: Entweder korrigierten sie vorhandene Mängel oder sie übertrafen die Natur. Das Haar galt beispielsweise dann als schöner, wenn es blond, üppig, gewellt und lang war. Deshalb verbrachten die italienischen Frauen Stunden damit, ihr Haar in der Sonne zu bleichen (ihren schneeweißen Teint schützten sie mit einem sogenannten Solana, einem breitkrempigen Sonnenhut ohne Kopfteil), es mit Zitronen, Rhabarbersaft oder anderen komplizierten Mixturen aus Schwefel oder Safran zu waschen. Bekannt als die arte biondeggiante (Kunst des Bleichens), war diese Mode so verbreitet, daß Zeitgenossen oft ausriefen: »Auf der gesamten Halbinsel findet sich keine Brünette.[36] Und sogar in nördlichen Breiten, in denen blondes Haar von Natur aus häufiger vorkam, konnten rabenschwarze Locken als peinliches gesellschaftliches Handicap gelten: Goclelive de Bruges wurde nachgesagt, daß ihr schwarzes Haar sie so beschämte, daß die Resignation und Buße, mit der sie diesen Mangel ertrug, ihr erster Schritt auf dem Weg zur Heiligkeit war.[37] Nach dem Bleichen wurde der Haaransatz ausgezupft oder mit einer Enthaarungscreme behandelt, um die hohe gewölbte Stirn zu schaffen, die bis ins 16. Jahrhundert als modisch galt. Die Augenbrauen wurden ebenfalls ausgezupft, zuweilen vollkommen und teilweise nur so weit, daß zwei dünne weiträumige Bögen übrigblieben, die dann schwarz gefärbt wurden, um mit den Haaren zu kontrastieren und einen Rahmen für die Augen zu bilden. Augenwimpern galten als unästhetisch und blieben, falls sie nicht ganz ausgezupft wurden, ungeschminkt, wie auf zahlreichen Frauenbildnissen der Renaissance von den Niederlanden bis nach Italien zu sehen ist (Maskara kam erst im 18. Jahrhundert in Gebrauch).
Gesicht, Hals, Brüste und Hände sollten milchig weiß sein, belebt durch rosige Farben an strategisch wichtigen Stellen. Weiß wurde mit Reinheit, Keuschheit und Weiblichkeit assoziiert. Es ist die Farbe des weiblichen Himmelskörpers, des Mondes ila luna), im Vergleich zu den grelleren Farben der männlichen Sonne (sole). Der weiße Teint gehörte im Gegensatz zu der sonnengebräunten Haut der Bauern ebenfalls zu den Privilegien der feinen Stadtbewohner. Darüber hinaus wurden die Männer auf den Bildern der Renaissance mit einem dunkleren, kraftvolleren Teint dargestellt. Im Gegensatz zu den Frauen, die im Haus eingeschlossen waren, führte das Leben die Männer häufiger nach draußen. Weiß war zarter, femininer, schöner. Dunkel galt als robuster, maskuliner, düsterer. Deshalb erschöpften sich Bücher mit Kosmetikrezepten nicht nur in »Geheimnissen«, wie das Haar der Frauen blond zu färben sei, sondern sie enthielten auch Informationen für Männer, wie sie ihren Bart schwarz färben konnten. Der von den Frauen so geschätzte Elfenbeinteint war allerdings nicht einheitlich weiß. Ein Hauch von Rouge auf Wangen, Ohren, Brustwarzen (wenn entblößt) und Fingerspitzen vermittelte den Eindruck von Gesundheit und zog die Blicke an. Manchmal wurden die so künstlerisch aufgetragenen Farbschichten jedoch zu einer echten Maske, die die Frauen vom Lächeln oder Sprechen abhielt. Castiglione. Aretino und Piccolomini kritisierten gleichermaßen die Starrheit, die Kosmetika den Frauen auferlegten, die »Holzstatuen« zu sein schienen und ihren Kopf nicht wenden konnten, ohne dabei den ganzen Körper zu drehen.[38]

Das Ende der Künstlichkeit

Zusätzlich zur Rolle, die Kosmetika bei der von Frauen empfundenen gesellschaftlichen und moralischen Verpflichtung gut auszusehen spielten, entwickelte sich Schminke zum Kennzeichen gesellschaftlicher Stellung. Farbe war die »Kleidung« sichtbarer Körperpartien. Genau wie edle Stoffe, feines Leinen und teurer Schmuck den Reichtum und die Stellung ihrer Besitzerin enthüllten, so wurde Schminke zu einem bezeichnenden Merkmal. Kosmetika waren grundlegende Accessoires, ohne die sich eine elegante Frau nackt fühlte. Im 18. Jahrhundert gab die kunstvolle Kreation einer modischen Erscheinung den Impuls zu einem neuen gesellschaftlichen Ereignis: der »Toilette«, einer halb privaten Angelegenheit, bei der eine Frau kokett wenigen privilegierten Bewunderern flüchtige Einblicke in ihre unzähligen Reize gewährte, während sie ihrem Friseur, ihrem Schneider und ihren Dienerinnen erlaubte, sich an ihr zu schaffen zu machen. Künstlichkeit, Phantasie und die bewußte Entwicklung einer verführerischen öffentlichen Persönlichkeit gehörten ebenso zu den Zielen der Toilette wie die tatsächliche Vollkommenheit der eigenen Erscheinung. Eine Zeremonie, die gleichermaßen von der »Morgentoilette der Precieuses« und der »Morgenaufwartung des Königs« inspiriert war, machte aus jeder Frau eine Königin.
Solche Künstlichkeit konnte nicht ewig dauern. Nach drei Jahrhunderten unentwegter Kritik durch Kirchenmänner, Moralisten und Ärzte wich die dicke Schminke der Frühen Neuzeit schließlich - vor dem Aufstieg des kritischen Bürgertums (das die Tarnung mittels Kosmetik mit der Unehrlichkeit, die es dem Adel unterstellte, gleichsetzte) -, einer elitären Sehnsucht nach bukolischer Einfachheit und - was vielleicht am allerwichtigsten ist - der Entdeckung des Impfstoffes gegen die Pocken, deren Narben nicht wenige Teints entstellten. Zum ersten Mal seit dem späten Mittelalter war natürliches Aussehen wieder in Mode. Nicht länger mit puritanischer Strenge oder heiliger Demut assoziiert, wurde die mit Wasser und Seife erzielte Frische unter Ludwig XVI. als Gipfel weiblicher Schönheit erachtet. Das 18. Jahrhundert rang mit einer neuen weiblichen Ästhetik, einer vor-romantischen Idealisierung schlichter Anmut, die sich in großen Augen, blassem Antlitz und einer schlanken, phlegmatischen Gestalt äußerte. All dies sollte die Feinheit von Empfindungen und Gefühlen vermitteln, die für das frühe 19. Jahrhundert und die romantische Vorstellung von Weiblichkeit den Ton angaben.[39]

SEXUALITÄT

Wurden frühe neuzeitliche Hygiene- und Kosmetikpraktiken durch eine Vielzahl von Überzeugungen und Sorgen geleitet, die vom gesteigerten Interesse an Gesundheit bis hin zur Einhaltung gesellschaftlicher Normen bezüglich der äußeren Erscheinung reichten, bestand das vielleicht grundlegendste Motiv dieser Praktiken wohl darin, dem Eros zu dienen. Im Europa des 17. Jahrhunderts existierten die wenigen verbleibenden öffentlichen Bäder aus zweierlei Gründen: Derjenige, der nicht aus gesundheitlichen Gründen badete, bereitete sich höchstwahrscheinlich auf ein Liebesabenteuer vor. In ähnlicher Weise wurden weibliche Kosmetika allgemein wegen ihrer unheimlichen Verführungskräfte verurteilt, die Moralisten und Theologen zufolge Männer mittels süßer Wirren der Lust in ihr Verderben stürzten. Stets gegenwärtig und zunehmend kontrolliert wurde Sexualität zum Schreckgespenst, sowohl der weltlichen als auch der geistlichen Obrigkeit. Sex, lediglich im Kontext der Ehe und dann nur als Mittel der Fortpflanzung geduldet, war einer Welle ständiger Überwachung und Unterdrückung unterworfen, mit dem ausdrücklichen Ziel, den Sittenkodex der städtischen und ländlichen Bevölkerung gemäß der durch Kirche und Staat festgelegten Richtlinien zu formen.

Die Renaissance der Prüderie

Während bereits im Mittelalter eine sexuelle Ethik formuliert wurde, die sich auf Sinnenfeindlichkeit und die Pflicht der Fortpflanzung gründete,[40] begann erst im 16. Jahrhundert eine umfassende Kampagne gegen alle Formen der Nacktheit und der außerehelichen Sexualität. Zwischen 1500 und 1700 führten neue Einstellungen zum Körper und neue gesellschaftliche Konventionen zu einer extremen Aufwertung von Sittsamkeit in allen Bereichen des täglichen Lebens. Bordelle wurden geschlossen, Badende wurden gezwungen, ihre Hemden anzubehalten, und das Nachthemd ersetzte das Evakostüm als altbewährtes Schlafgewand. Die untere Partie des Körpers wurde eine Welt für sich, verbotenes Territorium, das sich die Precieuses des 17. Jahrhunderts zu benennen weigerten. Unter dem doppelten Einfluß der protestantischen Reformation und der katholischen Gegenreformation gaben Künstler ihren schwer erkämpften Sieg für die Darstellung des menschlichen Körpers auf, und eine Vielzahl zufällig drapierter Stoffe, Blätter und Sträucher wurde eingesetzt, um die Blöße zu verhüllen.[41] Nacktheit galt als vulgär, als etwas, das nur übermütige Lehrlinge der Öffentlichkeit zumuteten, die sich an heißen Sommertagen im Fluß tummelten, und selbst dann konnte dies unangenehme Folgen haben, wie das Beispiel acht junger Männer aus Frankfurt beweist, die deswegen im Jahre 1541 zu einem Monat Gefängnis bei Wasser und Brot verurteilt wurden.[42] Im 17. und 18. Jahrhundert fielen vornehme Pariser Damen beim Anblick nackter Männerkörper an den Ufern der Seine in Ohnmacht. Ihre eigenen gelegentlichen Bäder wurden mit Milch oder einer Handvoll Kleie getrübt, um die Nackten vor den Augen ihrer Diener zu schützen. Sittsamkeit wurde zum Symbol sozialer und moralischer Überlegenheit, die den mittleren Schichten besonders teuer war, da sie sowohl das ungepflegte Äußere der Unterschichten als auch die zügellose Nachlässigkeit der Aristokratie verurteilten.
Die ersten Opfer der Welle gesellschaftlicher Sittenlehre waren Frauen. Von frauenfeindlichen Theologen und sexuell frustrierten Geistlichen als Töchter Evas verschrien, wurden Frauen als heimtückische Verführerinnen dargestellt, deren oberstes Lebensziel darin bestand, ahnungslose Männer zu verführen und dem Satan auszuliefern.[43] Die Medizin bekräftigte dieses Bild gieriger weiblicher Sexualität, indem sie erotische Erfüllung zur biologischen Notwendigkeit für Frauen erklärte. Ihre »hungerigen« Gebärmütter lechzten nicht nur danach gefüllt zu werden, sondern schreckliche Gebrechen würden all jene befallen, die das »natürliche« Gebot der Fortpflanzung nicht beachteten. Hysterie, eine Krankheit, deren Ursprung im Uterus gesucht wurde, wurde für Wahnvorstellungen teuflischer Besessenheit und andere Formen von Geisteskrankheiten verantwortlich gemacht.[44] Ein weiterer Faktor, der die Gleichsetzung von Frauen mit Sex und Sünde verstärkte, war der Ausbruch und die schnelle Verbreitung der Syphilis im späten 15. Jahrhundert. Obwohl die schlimmsten Epidemiewellen in den 50er Jahren des 16. Jahrhunderts abflauten, hielt sich die Krankheit und brannte sich unauslöschlich in die zeitgenössische Vorstellung ein als irdische Bestrafung für die Sünden der Lust, insbesondere für regelmäßige Besuche von Häusern mit schlechtem Ruf.
Städtische bzw. von der Stadt genehmigte Bordelle waren im spätmittelalterlichen Europa verbreitet. Gefördert und geschützt, um den Bedürfnissen der wachsenden Zahl sexuell reifer Jugendlicher, ungebundener Lehrlinge und Männer, die immer später heirateten, entgegenzukommen, wurde Prostitution jedoch auch gestützt, um die männliche Homosexualität zu bekämpfen, die als eines der größten gesellschaftlichen Übel jener Zeit und als Auslöser der verschiedensten Manifestationen göttlichen Zorns wie Pest, Hunger und Krieg galt." Im 16. Jahrhundert allerdings wandten sich dieselben Städte, die die Prostitution unterstützt hatten, gegen eben jene Häuser, die noch ein Jahrzehnt zuvor eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe erfüllt hatten. Beschuldigt, Lüsternheit und Krankheit zu verbreiten, Schlägereien und andere Formen bürgerlicher Unruhe zu schüren, junge Männer vom rechten Weg abzubringen, den Ehebruch zu erleichtern und das Familienvermögen zu verschleudern, wurden Prostituierte gemeinsam mit Landstreichern und Hexen - zu Angehörigen der »kriminellen« Bevölkerung gemacht und der Ächtung durch die weibliche und religiöse Obrigkeit anheimgegeben.[46]
Die Konsolidierung der legislativen Autorität und Gewalt, die die Renaissance prägte, befaßte sich nicht nur mit strafrechtlichen, sondern auch mit moralischen Vergehen. Ebenso wie der Körper den Theologen zufolge als für die Sünde empfänglich erachtet wurde, war er nach Auffassung der weltlichen Richter auch anfällig für »Verbrechen«. Für neu definierte Vergehen wurden neue Strafen eingeführt, und alte Verbrechen, falls sie sich gegen neue »Feinde« richteten, wurden in leichtere Missetaten umgewandelt. Ferdinand I. von Österreich gab daher eine Reihe von Edikten gegen moralische Vergehen heraus, die in der Schaffung einer »Keuschheitskommission« gipfelte, während in Frankreich nur fünf Jahre zuvor die Vergewaltigung einer Prostituierten zu einem so unbedeutenden Verbrechen erklärt wurde, daß es straffrei blieb. Zur selben Zeit mobilisierten katholische und protestantische Pfarrer und Priester die öffentliche Meinung gegen die »Damen der Nacht«: Lutherische Prediger waren für die Schließung der Bordelle in Ulm im Jahre 1537, in Regensburg im Jahre 1553 und in Nürnberg im Jahre 1562 verantwortlich. Zunehmend fühlten sexuelle Vergehen zu Verhaftungen und zu Verfahren vor weltlichen Gerichten. Im Jahre 1562 bezogen sich nicht weniger als 20% der Straffälle in Genf auf außereheliche sexuelle Beziehungen.[247] Im 17. und frühen 18. Jahrhundert wurde die öffentliche Moral mit unverminderter Leidenschaft überwacht. In Anas verhandelte der städtische Gerichtshof in den Jahren zwischen 1694 und 1717 232 Fälle, von denen nicht weniger als 100 sexuelle Vergehen betrafen: 92 bezogen sich auf Prostitution, drei hatten Vergewaltigung zum Gegenstand, vier befaßten sich mit den Problemen des Konkubinats und einer mit Polygamie.IS Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts wachten Kirche und Staat eifersüchtig über ihre Rechte bezüglich des Körpers und seiner Sexualität, indem sie Erotik zugunsten einer ehelichen und fortpflanzungsbezogenen Vorstellung sexueller Beziehungen verurteilten, in denen Sinnlichkeit als notwendiges Übel zur Erreichung des eigentlichen Ziels galt.

Von der Obrigkeit gebilligte Sexualität

In den Augen der kirchlichen und weltlichen Obrigkeit existierten zwei Grundtypen des Sexualverhaltens - eine akzeptable und eine verwerfliche. Erstere war ehelich und diente der Fortpflanzung. Die zweite war von Leidenschaft und sinnlichem Vergnügen geleitet, ihr Ergebnis mißgebildet und illegitim, ihre Folge die Sterilität. Galt sinnliche Leidenschaft außerhalb der Ehe als sträflich, war sie innerhalb der Ehe um so tadelnswerter, da sie nicht nur die kontrollierte und vertragliche Vorstellung ehelicher Zuneigung und die Gesundheit des Nachwuchses - empfangen in der Hitze eines Liebesexzesses - gefährdete, sondern auch die Fähigkeit der Eheleute, Gott zu lieben. Denn sie waren doch mehr von irdischer als von geistlicher Liebe durchdrungen.

Brautwerbung und vorehelicher Geschlechtsverkehr

Trotz maßgeblicher Vorschriften von Theologen, Ärzten und Staatsbeamten warteten junge Leute nicht immer auf die Ehe. um erotische Erfahrungen zu machen. Das stetig steigende Heiratsalter von Männern und Frauen in der Neuzeit (im Durchschnitt zwischen 25 und 28 Jahren) hatte zur Folge, daß sie häufig bereits ein volles Jahrzehnt lang geschlechtsreif waren, bevor es ihnen offiziell gestattet war, sexuelle Erfahrungen zu sammeln.[49] Es gibt unterschiedliche Auffassungen über das Ausmaß sexueller Aktivitäten in jener Zeit. Wurde Europa von einer Welle der Keuschheit ergriffen oder fanden erotische Bedürfnisse anderweitig Befriedigung? Zwei wichtige Änderungen zum Ende des Mittelalters - die Schließung der meisten Bordelle und das Rekordtief in der Geburtenrate unehelicher Kinder bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts haben einige Historiker als eine massive Verinnerlichung der sittlichen Belange mit dem Ergebnis sexueller Enthaltsamkeit interpretiert.[50] Andere wiederum machen Änderungen im Sexualverhalten, die von Selbstbefriedigung bis zur Verbreitung elementarer Empfängnisverhütung reichten, verantwortlich.[51] Unter gewissen regulierten Umständen konnten sich Männer und Frauen der unteren Schichten jedoch nicht nur ein bestimmtes Maß an sexuellem Experimentieren gönnen, sondern auch potentielle Ehepartner »ausprobieren«, ohne dafür mit einem moralischen Stigma behaftet zu werden.
Die unter der Bezeichnung bundling in England, und maraichinage, albergement oder creantailles in Frankreich bekannten unterschiedlichen Formen (elterlich genehmigten) vorehelichen Flirtens, sexuellen Experimentierens oder sogar eheähnlichen Zusammenlebens sind in ganz Europa belegt. Bundling bedeutete im allgemeinen, nachts um ein Mädchen zu werben, halbnackt im Bett in einem dunklen Raum. Obwohl bundling zwei junge Menschen einbezog, die die Nacht im Gespräch und mit Liebkosungen verbrachten, zog es selten eine Schwangerschaft nach sich. In der französischen Vendee war maraichinage eine Veranstaltung, bei dem sich mehrere Liebespaare in demselben Zimmer oder sogar im selben Bett aufhielten, so daß jeder, der in Ekstase zu geraten drohte, gebremst werden konnte. Im Savoyen mußte der junge Mann schwören, die Jungfräulichkeit des Mädchens zu achten, bevor er bei ihr übernachtete. In Schottland wurden die Oberschenkel des Mädchens symbolisch zusammengebunden.[52] Bundling führte zu Ehen, die sich auf Zuneigung und körperliche Anziehung giiindeten. Beiden Seiten wurde damit nicht nur Gelegenheit geboten, Gedanken und Charakter des anderen zu erkunden, sondern in den Jahren bis zur Hochzeit auch sexuelle Befriedigung zu erlangen, ohne das Risiko einer ungewollten Schwangerschaft oder einer unglücklichen Ehe eingehen zu müssen. Im späten 17. und im 18. Jahrhundert nahmen voreheliche sexuelle Praktiken sogar zu, was auf die erhöhte wirtschaftliche Unabhängigkeit junger Leute und auf das zunehmende Bedürfnis nach Zuneigung als Gmndlage einer Ehe zurückgeführt werden kann. Da es leichter wurde, seinen Lebensunterhalt früh zu verdienen und jung zu heiraten, nahm die elterliche Kontrolle ab, waren die Mädchen weniger auf ihre Jungfräulichkeit bedacht und wurde die Verbreitung gelockerter Sitten von einer größeren Zahl vorehelicher Schwangerschaften begleitet.[53]
In einer Gesellschaft ohne wirksame Geburtenkontrolle war der verläßlichste Indikator für vorehelichen Geschlechtsverkehr die Zahl der Kinder, die in weniger als 8.5 Monaten nach der Hochzeit geboren wurden. Da die Möglichkeit einer Empfängnis nach einmaligem Geschlechtsverkehr eines gesunden Paares sich um 2% bis 8% bewegt, war eine Schwangerschaft, die zur Ehe führte, wahrscheinlich das Ergebnis von wochen- oder monatelangem ungeschützten Verkehr. Allerdings zogen nicht alle unehelichen Schwangerschaften eine Heirat mit dem Vater des Kindes nach sich. Einige verlobte Paare nahmen die eheliche Bindung durch ein eheähnliches Zusammenleben vorweg und andere, deren Bund von den Eltern verhindert wurde, bedienten sich häufig einer Schwangerschaft, um die elterliche Zustimmung zu erlangen. Mädchen niedrigerer Schichten, die von reichen Männern als Geliebte gehalten wurden, oder von ihren Herren verführte Dienstmädchen wurden häufig mit einem armen Mann verheiratet, der sich glücklich schätzte, die für diesen Zweck gezahlte Mitgift einzustreichen. Was auch immer die Ursache jener Schwangerschaften gewesen sein mag, so verzeichnen englische Taufregister voreheliche Empfängnisraten, die in den Jahren 1550-1749 bei 20% lagen und sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf 40% verdoppelten.[54]
Weder die protestantische noch die katholische Obrigkeit betrachtete solch übles Treiben mit Nachsicht. Seit dem 16. Jahrhundert und insbesondere nach dem Konzil von Trient (1563) begann die katholische Kirche ihren systematischen Kampf gegen alle Formen vorehelicher sexueller Beziehungen. Bischöfliche Verordnungen belegen das Fortschreiten dieses Kampfes in Frankreich. In den pyrenäischen Diözesen Bayonne und Alet war beispielsweise Geschlechtsverkehr während der Verlobungszeit bis ins Jahr 1640 üblich, als er plötzlich Anlaß zur Exkommunikation wurde. In der Champagne wurden Treffen zwischen Jungen und Mädchen in den escraignes (Spinnstuben) von 1680 an mit derselben Strafe belegt. Dagegen hatten junge Leute in Savoyen ihr Recht auf albergement bereits 1609 verloren. Noch bis ins Jahr 1772 ging in der protestantischen Grafschaft Mömpelgard die weltliche Obrigkeit, der Herzog von Württemberg, ähnlich gegen das Nachtfreien vor.[55]
Trotz zahlreicher und wiederholter Versuche, vorehelichen Geschlechtsverkehr und eheähnliches Zusammenleben zu unterbinden, widerstanden die ländlichen Gebiete lange Zeit dem Modell der Ehe, das vorschrieb, daß Ehen von den Eltern arrangiert werden sollten. Daher konnten im 19. Jahrhundert Anthropologen in Frankreich eifrig Beweise ähnlicher Rituale der Brautwerbung sammeln, von denen einige bis ins frühe 20. Jahrhundert fortdauerten.[56] Dagegen setzte sich in den Städten, wo Reichtum gemeinhin schwerer wog, der elterliche Einfluß bei der Wahl des Ehepartners durch. Das Europa des 16. und 17. Jahrhunderts erlebte eine Zunahme von Erlassen gegen die Ehe ohne elterlihe Zustimmung, was junge Leute zunehmend der Möglichkeit beraubte, sich ihren Gefährten/ihre Gefährtin selbst zu wählen; sogar dann, wenn sie sich bereits ein Versprechen gegeben, Ringe getauscht oder gar eine sexuelle Beziehung hatten. In den Städten, in denen Heiratsstrategien eine Schlüsselrolle bei den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bestrebungen der mittleren Gesellschaftsschichten spielten, erwies sich das paternalistische Modell der Ehe als besonders effizient. Es blieb bis ins 18. Jahrhundert unangefochten, als die »Anglomanie« die Tendenzen zu einer neuen sentimentalen Vorstellung ehelicher Zuneigung in den Oberschichten verstärkte. Das aristokratische England war dem übrigen Europa einen Schritt in der Entwicklung einer neuen Familienideologie voraus. In diesem neuen Konzept der Familie traten engere, zärtlichere und gleichberechtigtere Beziehungen zwischen Mann und Frau, Eltern und Kindern an die Stelle der alten patriarchalischen Hierarchie, die seit dem späten Mittelalter bestimmend gewesen war.[57] Gleichwohl kritisierten jene, die entschieden für die Berücksichtigung gegenseitiger Zuneigung bei der Wahl des Ehepartners eintraten, gleichermaßen die beiden anderen Beweggründe für eine Ehe zum einen den Wunsch nach finanziellem Gewinn, der als Wurzel vieler ehelicher Miseren galt, und zum anderen die sexuelle oder romantische Leidenschaft, die unrealistische Erwartungen ehelichen Glücks schuf.

Eheliche Beziehungen: Fortpflanzung versus Lust

Eine Reihe von Besonderheiten charakterisieren das Sexualverhalten im Europa der Frühen Neuzeit. An erster Stelle die durchschnittliche Zeitspanne von zehn oder mehr Jahren zwischen Pubertät und Ehe. Diese Kluft, die in den unteren Gesellschaftsschichten im Vergleich zu den Bessergestellten breiter war, weitete sich während des 17. und 18. Jahrhunderts noch aus. Darüber hinaus blieb eine beachtliche Zahl von Menschen ledig. Sie betrug etwa 10% bei den Bauern und der ärmeren Stadtbevölkerung und 25% bei den Oberschichten. Eine zweite Besonderheit ergibt sich aus einer Überlagerung der biologischen Konstante des Sexualtriebs durch das Konzept romantischer Liebe. Die Vorstellung von romantischer Liebe, die im Konzept der Troubadour-Literatur des 12. Jahrhunderts nur außerhalb der Ehe möglich war, wurde durch den Buchdruck und die im 16. und 17. Jahrhundert steigende Lese- und Schreibfähigkeit verbreitet. Sie inspirierte Gedichte, Theaterstücke und Romane, bis sie sich schließlich in der Mitte des 18. Jahrhunderts ihren Weg in das tägliche Leben bahnte. Das dritte und letzte Merkmal ist der Primat der christlichen Lehre bei der Legitimation und Ausübung des Geschlechtstriebs. Argwohn und Feindseligkeit in der Einstellung zur Sexualität blieben vorherrschend, obgleich dies bereits durch protestantische und humanistische Bemühungen, das mittelalterliche Ideal der Jungfräulichkeit durch den heiligen Stand der Ehe zu ersetzen, abgemildert wurde.[58] Medizinische Literatur, biologische Abhandlungen und Sittentraktate stimmten überein in ihrer Unterstützung einer fortpflanzungsorientierten Vorstellung sexueller Aktivität, bei der die Lust allein im Interesse der Fortpflanzung erlaubt war.
Die kirchliche Obrigkeit betrachtete jeden außerehelichen Geschlechtsakt ebenso als Todsünde wie jeglichen ehelichen Beischlaf, der nicht der Fortpflanzung diente. Der heilige Hieronymus erklärte den Ehemann, der seine Frau zu leidenschaftlich umarmte, zum »Ehebrecher«, weil er sie nur um seines Vergnügens willen liebte, so wie er eine Mätresse lieben würde. Bekräftigt durch Thomas von Aquin und endlos wiederholt von den Verfassern der Beichtbücher im 16. und 17. Jahrhundert, verurteilte die Brandmarkung der Leidenschaft in der Ehe die verliebte Gattin ebenso wie den triebhaften Gemahl. Sogar die Stellungen, die das Paar wählte, unterlagen einer strengen Kontrolle. Der Koitus a tergo (nicht zu verwechseln mit dem Analverkehr) wurde als wider die menschliche Natur erklärt, weil er die Paarung von Tieren nachahmte. Mulier super virum (die Stellung, bei der die Frau auf dem Mann liegt) galt als gleichermaßen »unnatürlich«, weil sie Frauen in eine aktive und überlegene Position versetzte, was ihrer passiven und untergeordneten gesellschaftlichen Rolle zuwiderlief. Jegliche erotische Akrobatik, die von der Konvention - die Frau auf dem Rücken liegend, der Mann auf ihr - abwich, galt als suspekt, da sie dem Vergnügen auf Kosten der Fortpflanzung den Vorrang gab. Die einzige Stellung, die das Säen des männlichen Samens begünstigte, war die, die symbolisch mit dem Pflügen der Erde durch den Bauer assoziiert wurde.[59]
Medizinische Schriften unterstützten theologische Vorschriften über die optimalen Bedingungen zur Zeugung des Nachwuchses hinsichtlich der Zügelung der Leidenschaft und der günstigsten Stellung. Jegliche Abweichung von der Norm konnte diesen Vorschriften zufolge zu mißgebildeten oder sonstwie unzulänglichen Nachkommen führen. Sowohl die katholische als auch die protestantische Obrigkeit bestimmte eine Anzahl von Tagen, an denen dem Geschlechtsverkehr entsagt werden sollte. Für die Gläubigen waren alle Fastentage keusche Tage, ebenso wie sämtliche kirchlichen Feiertage, so zum Beispiel Sonntage, Weihnachten, Karfreitag und Ostern. Enthaltsamkeit wurde auch während der Fastenzeit empfohlen, obwohl neuzeitliche Theologen von den Gläubigen nicht länger vollkommene Abstinenz erwarteten. Über die 120 bis 140 kirchlichen Feiertage hinaus, an denen vom Beischlaf abgeraten wurde - wenn er nicht sogar ausdrücklich untersagt war -, sollten Ehepaare in den heißen Sommermonaten während der verschiedenen Phasen weiblicher Unpäßlichkeit auf Geschlechtsverkehr verzichten. Das Intimwerden während des Zyklus und der 40 Tage der »Unreinheit», die der Geburt folgten, galt nicht nur als potentiell gefährlich für den Mann, sondern stand in dem Ruf, während der Schwangerschaft oder während des Stillens die Überlebenschancen des Kindes zu mindern. Die wachsende Sorge um das Wohl der Kleinkinder, deren Sterblichkeitsrate in den ersten beiden Lebensjahren außergewöhnlich hoch lag, veranlaßte viele Ärzte und Geistliche dazu, den Geschlechtsverkehr während der gesamten Stillzeit zu verbieten. Obgleich nicht stets anerkannt wurde, daß schnell aufeinanderfolgende Schwangerschaften die Mutter schwächten, galt die Milch einer schwangeren Frau als schädlich für das noch zu stillende Kind. Das würde nämlich dazu führen, daß es plötzlich entwöhnt und vorzeitig der Nahrung und des Schutzes, den »gesunde« Muttermilch bekanntermaßen bietet, beraubt würde.[60]
Zweifellos hätten viele Frauen, die durch zahlreiche Schwangerschaften und die Erziehung vieler Kinder ausgezehrt waren, gern von dem mittelalterlichen Recht, die »eheliche Pflicht« zu verweigern, Gebrauch gemacht, gerade auch deshalb, weil eheliche Keuschheit als erstrebenswert erachtet wurde, wenn die Familie eine annehmbare Größe erreicht hatte. Die Theologen des 16., 17. und 18. Jahrhunderts gestatteten es jedoch keinem der beiden Partner, die sexuellen Bedürfnisse des anderen zu vernachlässigen. Der eheliche Beischlaf wurde zunehmend als legitimes Mittel zur Befriedigung des natürlichen Geschlechtstriebs anerkannt, nicht mehr nur als bloßes Mittel der Fortpflanzung oder als die Begierde kanalisierende Ersatzhandlung. Eine Verweigerung -würde den frustrierten Partner nur in das größere Unheil des Ehebruches oder gar zur »Selbstbefleckung« Masturbation treiben.
Die biblische Überlieferung von Onans Sünde und der darauffolgenden göttlichen Strafe wuchs sich zu einer der größten Zwangsvorstellungen neuzeitlicher Geistlicher und Mediziner aus. Beichthandbücher, wie beispielsweise die Instructions pour les Confesseurs du Diocese de Chalon-sur-Saöne (Lyon 1682), erwiesen sich als äußerst einfallsreich, wenn es um das Thema der mollesse ging. Sie drängten Priester dazu, ihre Herde - insbesondere junge ledige Männer - eingehenden Befragungen zu unterziehen. Die Fragen sollten jedoch nicht zu detailliert gestellt werden, damit die noch Unschuldigen vor allzu großem Wissen bewahrt wurden. Zusammen mit dem Koitus interruptus, der Homosexualität und der Sodomie gehörte Masturbation zu den vier sexuellen Sünden, die das natürliche Fortpflanzungsgebot zugunsten »perverser« Lust mißachteten. Obwohl diese geheime Praxis zu weit verbreitet war, als daß sie einer exemplarischen Bestrafung wie etwa im Fall des Analverkehrs und der Sodomie bedurften, gab sie doch immer wieder Anlaß zu großen Befürchtungen, da gemeinhin angenommen wurde, daß schlechte Gewohnheiten, derer man sich in der Jugend bediente, noch bis ins Erwachsenenalter nachwirken und das Ehebett beflecken bzw. ganz an die Stelle der Ehe treten könnten.[61] Mit Beginn des 18. Jahrhunderts nahmen Laienpriester den Kampf gegen das auf, was damals als weitverbreitetes gesellschaftliches Leiden galt. Angeregt durch Publikationen wie Bekkers Onania. or tbe Henions sin of Self-Pollution, and all its frigbtful consequences in both sexes considered with Spiritual and Physical Advice to tbose who have already injuria tbemselves by this abominable Practise (1710) oder Tissots Onanisme, ou dissertation physique snr les maladies produites par la mastiirbation (1760), beteiligten sich Ärzte, Pädagogen und Eltern an einer Kampagne gegen die Selbstbefriedigung, die erst im Laufe des 19- Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichen sollte. Der Verdacht, daß sowohl Masturbation als auch der Koitus interruptus von verheirateten Paaren praktiziert wurde, die sexuelle Lust auch ohne die Last der Fortpflanzung genießen wollten, quälte Moralisten und Theologen im 16. und 17. Jahrhundert am stärksten.
Bei den Historikern, die sich mit Familie und Sexualität befassen, gehen die Meinungen über den Verbreitungsgrad von Onanie und Koitus interruptus in der Frühen Neuzeit auseinander. Einige schreiben den Rückgang vorehelicher Empfängnis und unehelicher Geburten vor Mitte des 18. Jahrhunderts der steigenden Praxis von Masturbation und Koitus interruptus zu, während andere von einer Internalisierung neuer moralischer Werte ausgehen.[62] Wie auch immer vor- und außereheliche Verhaltensmuster waren, so scheint sicher, daß die Angst vor den Risiken einer Geburt und den finanziellen Belastungen durch eine wachsende Kinderschar zahlreiche Ehepaare dazu veranlaßte, ihren ohnehin bescheidenen Handlungsspielraum für sexuelle Befriedigung mittels des Koitus interruptus und der Masturbation noch weiter zu begrenzen. Natürlich verlangt der Koitus interruptus ein erhebliches Maß an Disziplin vom Manne und bereitet der Frau wenig Lust, da sie dabei zwar häufig sexuell erregt aber unbefriedigt gelassen wird. Doch selbst beim Geschlechtsverkehr mit dem Ziel der Fortpflanzung hatte die vorschnelle Ejakulation des Mannes frustrierende Auswirkungen auf die Frau. Rechnet man die Erfahrungen aus jahrelanger Selbstmanipulation dazu und aus lieblosen Verbindungen, die sowohl den Adel als auch das Bürgertum charakterisierten, müssen die Chancen beidseitig befriedigender sexueller Beziehungen im Rahmen der Ehe sehr gering gewesen sein.
Die einzige Form der Masturbation, die von katholischen Beichtvätern und von Ärzten gebilligt wurde, war die weibliche Selbstmanipulation entweder zur Vorbereitung auf den Geschlechtsverkehr (um die Gleitfähigkeit zu erhöhen) oder nachdem der Mann vorschnell ejakuliert und sein Glied zurückgezogen hatte. Der weibliche Orgasmus »öffne« den Mund der Gebärmutter und setze die weiblichen »Samen« frei, die nach Auffassung der Ärzte im 17. Jahrhundert für den Akt der Zeugung genauso wichtig waren wie die des Mannes.[63] Obwohl das Recht der Frauen auf Orgasmus in den Beichtbüchern bis weit ins 18. Jahrhundert hinein debattiert wurde, akzeptierte die Mehrzahl der Theologen für die weibliche Befriedigung die medizinische Theorie Galens: Wozu hätte Gott den Frauen diese Quelle der Lust schaffen sollen, wenn sie ohne jeden Nutzen wäre? Der Haken dieser Logik lag in der Tatsache, daß Frauen passiv und lustlos empfangen konnten, mit der Folge, daß es an ihrem »Samen« mangeln würde. Nie um eine Erklärung verlegen, kam die Medizin den Kirchenvätern entgegen, indem sie den weiblichen »Samen« zum bloßen Gehilfen seiner männlichen Entsprechung erklärte. Würde er zum selben Zeitpunkt wie der des Mannes ausgeschieden, würden schönere Nachkommen gezeugt.[64] Von Beichtbüchern und medizinischen Abhandlungen beeinflußt, wurde die fortpflanzungsorientierte Rechtfertigung weiblicher Lust zum Gemeinplatz in der gängigen Ratgeberliteratur, wie beispielsweise in Aristoteles Meisterwerk (London 1690), einer Sammlung von Ratschlägen zur Fortpflanzung, Schwangerschaft und Kindererziehung. Diese Sammlung blieb in unterschiedlichen Formen und in ca. 30 Ausgaben bis weit ins 19. Jahrhundert erhalten. Dadurch, daß sie volkstümliche Auffassungen von Sinnlichkeit mit allgemeineren Grundsätzen medizinischen Wissens und dem zuversichtlichen Naturalismus der Aufklärung verwoben, bezeugen Veröffentlichungen wie die eben genannte eine wachsende Bereitschaft, die christlichen Gebote in bezug auf die eheliche Sexualität zu lockern und sowohl die körperliche Vereinigung als auch die Lust daran als Grundlage einer erfolgreichen Ehe in wachsendem Maße zu akzeptieren.[65]

Wiederheirat und Charivari (Katzenmusik)

Obwohl die Ehe einen lebenslangen Vertrag darstellte, wurde sie vielfach als Verbindung verstanden, die nur so lange währte, bis der Tod sie löste. Nur wenige Paare wurden zusammen alt, und junge Mütter und Väter, die mit einer Schar kleiner Kinder allein gelassen worden waren, verheirateten sich ziemlich schnell wieder. In den ländlichen Gebieten Frankreichs dauerten im 18. Jahrhundert die Hälfte der Ehen weniger als 15 Jahre und mehr als ein Drittel weniger als 10 Jahre.[66] Frauen waren zu jener Zeit die gefährdetste Bevölkerungsgruppe, denn mindestens 10% der weiblichen Sterbefälle in den fruchtbaren Jahren zwischen Hochzeit und Klimakterium waren auf Infektionen nach der Geburt oder andere Komplikationen, die durch die Geburt verursacht wurden, zurückzuführen.
Je jünger die Witwe oder der Witwer war, desto wahrscheinlicher war es, daß sie nochmals heirateten. Die Mehrzahl der Frauen und Männer unter 30 gingen eine zweite Ehe ein. Männer über 40 hatten es leichter, sich wieder zu verheiraten als Frauen. In Meulan in Frankreich beispielsweise heiratete jeder sechste Witwer noch einmal, während nur eine von 15 Witwen einen anderen Mann fand. In Crulai waren die Unterschiede bei Frauen und Männern über 40 sogar noch gravierender; Jeder dritte Mann heiratete noch einmal, während nur eine von 25 Frauen dies bewerkstelligte. Im allgemeinen folgte die Wiederheirat dem Verlust des Ehepartners sehr schnell auf den Fuß, aber auch hier waren die Männer den Frauen voraus. Witwer nahmen sich gewöhnlich innerhalb von 18 Monaten nach dem Tode ihrer Gefährtin eine zweite (dritte oder vierte) Frau, während Witwen bis zu zwei Jahren benötigten, um einen neuen Partner zu finden. Das Kanonische Gesetz erlegte keine spezielle Frist für die Wiederverheiratung auf, obwohl ein Jahr Trauer angemessen erschien. Einzelne Länder dagegen verlangten von den Witwen nach dem Tode ihres Mannes eine zwölfmonatige Enthaltsamkeit, da sie ansonsten alle Vergünstigungen verwirken würden, die sie durch dessen Ableben gewonnen hatten.[67]
Jede vierte oder fünfte Eheschließung im Europa der Frühen Neuzeit war eine Wiederverheiratung. Nach dem Verlust ihrer Gattin heirateten Männer gern Frauen, die jünger waren als ihre verstorbene Frau, deren materieller Besitz und Mitgift das Familienvermögen häufig aufbessern half. Frauen dagegen neigten dazu, die zweite Ehe mit einem älteren Mann oder mit einem Vertreter eines sozial niedrigeren Standes einzugehen. Entgegen allem Anschein ermöglichten einige der zuletzt genannten Verbindungen den Frauen ein gewisses Maß an beruflicher und finanzieller Unabhängigkeit. Handwerkerwitwen, die einen der Lehrlinge ihres Mannes heirateten, konnten somit teilweise die Geschäfte ihres verstorbenen Ehemannes weiterführen.
Trotz eindeutiger materieller und menschlicher Erleichterungen, die eine Wiederverheiratung für eine leidgeprüfte Familie bedeutete, wurden neue Verbindungen von der Kirche oder der lokalen Gemeinde nicht immer gern gesehen. Die Kirche mußte sich vor allem mit den Implikationen einer Wiederverheiratung im Rahmen des Auferstehungskonzepts beschäftigen. Würden Männer, die drei- oder viermal heirateten, als Polygamisten auferstehen? Aus diesem Grunde weigerten sich Geistliche in einigen südfranzösischen Diözesen bis ins frühe 17. Jahrhundert hinein, den üblichen Segen bei einer nochmaligen Heirat aus Körper, äussere Erscheinung und Sexualität   91 zusprechen. Gleichermaßen hielt die örtliche Jugend ein Charivari ab, um gegen die Wiederverheiratung eines älteren Mannes bzw. einer älteren Frau mit einem jungen, noch unverheirateten Gemeindemitglied zu protestieren.
Diese lautstarken Umzüge, die in ganz Europa unter unterschiedlichen Namen bekannt waren - mattinata in Italien, skimmington ride oder rough music in England und charivari in Frankreich -. richteten sich meist gegen Eheschließungen, die in irgendeiner Weise von der Norm abwichen, z. B. durch »schlechtes« Benehmen seitens eines Ehepartners (Witwen machten sich häufig vorehelicher sexueller Beziehungen und Schwangerschaften schuldig), durch die Hochzeit eines schwangeren Mädchens, das als Jungfrau gekleidet war, durch den Verzicht auf einen traditionellen Teil des Hochzeitsrituals (wie beispielsweise den Tanz), durch das das NichtZahlen einer rituellen Gebühr, in Geld oder in Form von Getränken, durch eine Wiederverheiratung, die von erheblichen Alters- oder Besitzunterschieden zwischen Mann und Frau begleitet war.[68] Der letztgenannte Grund gab gleichzeitig auch am häufigsten Anlaß zu einem Charivari.
Obwohl sich das maßgebliche Anliegen der skimmington rides (Katzenmusik) gelegentlich auf die Verurteilung ehebrecherischer Frauen und von Pantoffelhelden ausweitete, richtete sich das Hauptaugenmerk des Charivari jedoch meist auf Eheschließungen, insbesondere auf solche zwischen einem Witwer und einer jungen Frau. Für diese mißtönende musikalische Parodie, mit der die Jugend oder andere dem frischvermählten Paar ein Ständchen brachten, bis sie Geld, Essen oder etwas zu trinken bekamen - ein Beitrag, mit dem sich das Ehepaar sein Recht auf eine ruhige Hochzeitsnacht erkaufte -, gibt es unterschiedliche Interpretationsmuster. Diese Summe, die lange Zeit als eine Art Entschädigung für die gesamte Gruppe der unverheirateten Männer galt, da ein älterer Mann ihnen eine Frau aus der Gruppe ihrer zukünftigen Bräute gestohlen hatte, wurde ferner als eine Art Bezahlung dafür angesehen, daß man seine frühere Gattin unwiderruflich »begraben« hatte. Der Lärm des Charivari, so hieß es, sollte den Geist der Verstorbenen beschwichtigen, um so den Ehemann von jedem Verdacht der Bigamie in diesem und im nachfolgenden Leben zu befreien. Die lärmende Kakophonie dieses beliebten Rituals wurde auch als Ausdruck gesellschaftlicher Unordnung verstanden, die, im Gegensatz zur Musik und zum Tanz gewöhnlicher Hochzeiten, dazu beitrug, eine von der Norm abweichende eheliche Verbindung in die Gemeinschaft einzugliedern, indem die Dissonanzen externalisiert wurden.[69] Die Weigerung, den ausgelassenen Musikern eine Gebühr zu entrichten bzw. das Zahlen einer als unzureichend erachteten Summe konnte zu Anschlägen auf das Hauis der Frischvermählten oder sogar zu schweren Körperverletzungen führen. Gerichtsprotokolle sind voll von Berichten über Charivaris, die in offene Schlägereien ausarteten. Im Jahre 1528 weigerte sich ein Witwer in Modena, seinem Bruder und den übrigen mattinata-Teilnehmern den üblichen Obolus zu entrichten. Außer sich vor Zorn, sprachen die Zecher beim örtlichen Friedensrichter vor, der ihnen Neutralität während ihres Vergeltungsakts, der in der Zerstörung des Hauses des Bräutigams vom Dach bis zum Keller gipfelte, zusicherte.[70] In Lyon wandte sich Florie Nallo 1668 gegen ein Charivari, das ein Nachbar aus Anlaß ihrer Wiederverheiratung organisiert hatte, und revanchierte sich, indem sie ihn öffentlich einen Gehörnten schimpfte. In der folgenden Nacht organisierte dieser Nachbar ein zweites Charivari, bei dem der Neuvermählte angeschossen und zusammengeschlagen wurde, weil er angeblich die Kompagnons dadurch beleidigt hatte, daß er ihnen nur ein paar Pfennige angeboten hatte, um einen trinken zu gehen.[71]
Das Charivari, das sowohl auf dem Land als auch in der Stadt seit dem 14. Jahrhundert weit verbreitet war, unterlag vom 16. Jahrhundert an zunehmend der Kontrolle weltlicher und kirchlicher Obrigkeiten. Während die städtischen Obrigkeiten alle Formen der Volksjustiz überwachten, sahen die Vertreter der protestantischen wie der katholischen Kirche ihre Billigung einer zweiten Ehe durch diesen Brauch in Frage gestellt. Trotz verschärfter Überwachung überlebte das Charivari bis ins 20. Jahrhundert hinein als eine kollektive und ritualisierte Kontrollinstanz der Ehe. Einerseits stärkte es übliche Verhaltensmodelle, andererseits nahm es notwendige Abweichungen von der gesellschaftlichen Norm zur Kenntnis und akzeptierte sie schließlich.

Unerlaubte Sexualität

Außerhalb der Ehe war keine Sexualität gestattet. Die Schwere sexueller Vergehen wurde im Hinblick auf die Zahl der Verstöße gegen die drei grundlegenden Rechtfertigungsgründe erlaubter körperlicher Beziehungen - die Pflicht zur Fortpflanzung, die Anpassung an Naturgesetze und das sakramentale Konzept der Ehe - kategorisiert. Ein Verstoß »ersten Grades« war der einfache Geschlechtsakt zwischen unverheirateten Personen, die kein Keuschheitsgelübde abgelegt hatten. Je nach Alter und gesellschaftlicher Stellung der beiden Partner konnte das Vergehen mehr oder weniger streng geahndet werden. Die Vergewaltigung einer Jungfrau wog im allgemeinen schwerer als ciie einer Witwe. Die Androhung von Gewalt oder ein Eheversprechen seitens des Mannes stellten mildernde Umstände zugunsten der Frau dar. Der »zweite Grad« sexueller Sünde war Unzucht. Beim einfachen Ehebruch war lediglich eine verheiratete Person beteiligt, beim doppelten Ehebruch dagegen zwei. Inzest wurde ebenso wie die Verführung einer Nonne - einer »Braut« Christi - als Form des Ehebruchs geweitet.
Die dritte und schwerwiegendste Art sexueller Vergehen waren Verstöße »wider die Natur«, die die beiden eben erwähnten Formen insofern übertrafen, als sie die Fortpflanzung ausschlössen. Die Angst vor Masturbation, Homosexualität und Sodomie sollte Geistliche, weltliche Obrigkeiten und Ärzte die ganze Frühe Neuzeit hindurch verfolgen. Selbstbefriedigung sollte zum Schreckgespenst des 18. und 19. Jahrhunderts werden, obwohl auch die wechselseitige Stimulierung zur Selbstbefriedigung in der Ehe wegen ihrer Unfruchtbarkeit verurteilt wurde. Der Tatbestand der Sodomie galt als »erfüllt«, wenn er sich auf Analverkehr bzw. oralen Verkehr in Verbindung mit homoerotischen Beziehungen bezog. Dagegen galt er nur als unvollständig erfüllt, wenn er sich auf nicht-vaginale heterosexuelle Beziehungen bezog. Bestialität (Verkehr mit Tieren) dagegen war die unbeschreibliche Sünde schlechthin. Selbst in weniger prüden Schriften oder Beichtbüchern fand sie lediglich unter ihrer lateinischen Bezeichnung Erwähnung. Sie stellte Männer, die diesem Laster frönten, nicht nur auf eine Stufe mit Tieren, sondern stand auch im Verdacht, hybride Monster hervorzubringen.[72]

Verführt und verlassen
Unsere Kenntnisse über außereheliche Beziehungen gründen sich größtenteils auf historische Aufzeichnungen, die die Früchte solcher Verbindungen belegen. Allerdings kann die tatsächliche Geburtenzahl unehelicher Kinder nur schwerlich als Indikator für Häufigkeit und Art unerlaubter sexueller Aktivitäten angesehen werden. Eine uneheliche Schwangerschaft bedeutete gewöhnlich eine unerwünschte Komplizierung, und Studien über unerlaubte Beziehungen in einem Zeitalter, das weder wirksame Verhütung noch Antibiotika kannte, zeigen, daß verschiedene sexuelle Praktiken dem Koitus vorzuziehen waren. Die Angst vor Geschlechtskrankheiten, Schwangerschaft und sogar emotionalen oder rechtlichen Konflikten förderten alternative Praktiken wie Schmusen, Betasten und gegenseitiges Masturbieren. Darüber hinaus barg der einmalige Geschlechtsakt kaum die Gefahr einer nachfolgenden Schwangerschaft, d.h., daß sogar diejenigen Beziehungen, die sich nicht auf eine Form der Geburtenkontrolle (im allgemeinen Koitus interruptus, das Kondom blieb bis ins 18. Jahrhundert eine Seltenheit) sehr gute Chancen hatten, unentcleckt zu bleiben. Die Hauptinformationsquelle über unerlaubten Beischlaf im Ancien Regime sind die Petitionen an die geistliche und weltliche Obrigkeit von Frauen, die von Männern geschwängert worden waren, die sie entweder nicht heiraten wollten oder konnten. In Frankreich unter dem Namen declarations de grosseste (Schwangerschaftserklärung) bekannt, enthalten diese Dokumente wertvolle Angaben über die Mutter und den angeblichen Vater des Kindes sowie über die Umstände ihrer Beziehung.
Drei verschiedene Muster unrechtmäßiger Beziehungen sind aus den declaration de grossesse erkennbar. Da wird erstens das Verhältnis zwischen Ungleichen beschrieben, bei dem der Mann gewöhnlich der Frau in sozialer und finanzieller Hinsicht überlegen ist. Zuweilen ist der Verführer gleichzeitig Dienstherr seiner Sexualpartnerin, manchmal bietet er ihr auch eine Anstellung, Geld oder Essen im Austausch für ihre Liebesdienste. Insbesondere Frauen der unteren Schichten waren für diese An der Ausbeutung prädestiniert, nicht nur, weil sie im Vergleich zu Männern - gleich welchen Beruf diese ausübten - weniger verdienten, sondern weil ihre Herren traditionell ein Anrecht auf den Körper der Frauen, die sie beschäftigten, beanspruchten.[73] Dienstbotinnen waren insofern doppelt angreifbar, als sie nicht nur bezüglich ihres Lebensunterhaltes vom Familienoberhaupt abhingen, sondern auch in ständiger Nähe mit einer Reihe von Männern lebten: mit Hausherren, deren Söhne und männlichen Bediensteten. In diesen ungleichen Beziehungen waren Frauen meist unter 25 und gewöhnlich 10 bis 30 Jahre jünger als der Mann, den sie anzeigten. Dies mag darauf hindeuten, daß Frauen, die um Zwanzig waren, naiver und daher leichter zu verführen waren. Es könnte aber auch eine Vorliebe älterer Männer für junge Mädchen belegen. Nicht alle diese Frauen waren jedoch unschuldige Opfer, denn berechnende »Goldgräberinnen« gab es immer und überall; ebensowenig waren alle Verführer herzlose Satyre, sondern gelegentlich auch Liebhaber oder Partner, die in einer langjährigen ehelichen Gemeinschaft lebten und versprachen, für ihr Kind zu sorgen. Solche ungleichen Beziehungen hatten jedoch sehr unterschiedliche Folgen für Männer und Frauen. Während der Alimentationsprozeß Männern ein äußerst geringfügiges Ausmaß gesellschaftlicher Ächtung bescherte, waren die Folgen einer nichtehelichen Beziehung für Frauen katastrophal. Öffentlich bloßgestellt, aus ihrer Stellung entlassen und manchmal sogar in ein Zuchthaus gesteckt, waren sie oftmals gezwungen, ihr Kind auszusetzen oder durch Prostitution ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.[74]
Die zweite Art der Beziehung, die in den declarations de grossesse erschien, involvierte sozial gleichgestellte Personen. Die Mehrzahl der Frauen, die in dieser Angelegenheit vor Gericht zogen, unterhielten Beziehungen zu einem Mann von gleichem gesellschaftlichem Status, den sie bezichtigten, ihnen die Ehe versprochen zu haben. Konnten jene Frauen, die ein ungleiches Verhältnis eingegangen waren, kaum  auf die Legitimation ihrer Verbindung hoffen, glaubten solche (bzw. gaben jedenfalls vor, es zu glauben), die in einer Beziehung mit sozial Gleichgestellten standen, daß ihre Schwangerschaft eigentlich eine voreheliche sei. Der Vorgang schien folgendermaßen abzulaufen.- Eheversprechen (häufig von einem Verlobungsgeschenk begleitet), rituelle Vergewaltigung, sexuelle Beziehungen, die von der Familie der Frau gebilligt wurden, gefolgt von böswilligem Verlassen. Alle Schritte, mit Ausnahme des letzten, waren wahrscheinlich bis ins 18. Jahrhundert hinein typisch für das voreheliche Verhalten der unteren Schichten sowohl in der Stadt als auch auf dem Land. Dies könnte erklären, weshalb die Frauen bei ihrer Version der Beziehung stets auf gemachten Eheversprechen und Geschenken beharrten, wohingegen die Männer ihre Partnerinnen der sexuellen Promiskuität beschuldigten und jegliche ernsten Absichten ihrerseits leugneten.[75]
Die dritte und letzte Form nichtehelicher Beziehungen war die kurzlebige Zufallsbekanntschaft. In solchen Fällen wird die Schwangerschaft entweder einer Vergewaltigung, dem promiskuitiven Verhalten oder der Prostitution der Frau zugeschrieben. Die Vergewaltiger waren meist »unbekannte« Männer, die nur aufgrund ihrer Kleider als Soldaten oder umherziehende Knechte identifiziert wurden und die sich an Bauerntöchter und Dienstmägde, die Botengänge verrichteten, heranmachten. Frauen, die in Wirtshäusern arbeiteten, und Gelegenheitsprostituierte hatten es angesichts ihrer Beziehungen zu verschiedenen Männern schwer, den Vater ihres Kindes festzustellen. Solche kurzlebigen Verhältnisse waren jedoch eher die Ausnahme als die Regel. In Aix-en-Provence stellen sie lediglich 4,7% aller declarations de grossesse dar, im Gegensatz zu 66,5% sozial gleicher und 28,7% sozial ungleicher Paare.[75]
Welcher Art war der Lustgewinn der Frauen bei solchen Beziehungen? Die declarations de grossesse geben kaum Auskunft über ihren Wunsch nach sexueller Befriedigung, selbst unter Berücksichtigung der freiwilligen Zensur und Manipulation von Informationen, die derartige autobiographische Schilderungen ohne Zweifel bestimmen. Anscheinend waren die meisten dieser sexuellen Beziehungen kurz und häufig brutal. Männer bemühten sich offensichtlich wenig darum, auf die Bedürfnisse ihrer Partnerinnen einzugehen, und das Vorspiel wurde so selten praktiziert, daß es quasi unbekannt war. Die Standardbeschreibung - »er warf mich zu Boden, steckte mir ein Taschentuch zwischen die Zähne und schob meine Röcke hoch« - war eine Konstante sowohl ehelicher als auch nichtehelicher Beziehungen. Selbst wenn keine Gewalt angewendet wurde, war deren Androhung jedoch stets gegenwärtig. Tatsache ist, daß sexuelle Beziehungen für die meisten Frauen eher instrumental und manipulativ als zärtlich waren. Sie waren Mittel zum Zweck (Ehe, finanzieller Gewinn oder das nackte Überleben) anstatt ein Zweck an sich zu sein.[77]
Die Unterdrückung des Konkubinats sowie aller Formen des nichtehelichen Geschlechtsverkehrs, die das 16. und 17. Jahrhundert charakterisierte, übte einen entscheidenden Einfluß auf die Zahl unehelicher Kinder aus. Der geringe Prozentsatz unehelicher Kinder (bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts weniger als 3% aller Geburten) spiegeln sicherlich eine gemeinhin strengere Beachtung des Gebotes vorehelicher Keuschheit ebenso wider wie die zunehmende Verbreitung von Verhütungsmaßnahmen, Abtreibung und Kindestötung. Die seit Ende des Mittelalters nachlassende Toleranzbereitschaft gegenüber unehelichen Kindern und dem Konkubinat ließ zum Schutz lediger Frauen, und insbesondere ihrer Kinder, schließlich nur die declarations de grossesse und Alimentationsprozes.se übrig. Je größer das gesellschaftliche Stigma, das dem Vergehen anhaftete, desto stärker war die Versuchung, das Beweisstück zu vernichten. Lim dem entgegenzutreten, wurden verschärfte Gesetze gegen Kindestötung erlassen und neue Findelhäuser gegründet. Von Frauen wurde in noch stärkerem Maße erwartet, daß sie ihre Schwangerschaft öffentlich eingestanden. Das führte dazu, daß die Mutter eines totgeborenen Kindes - hatte sie vorher ihre Schwangerschaft verschwiegen - solange des Mordes verdächtigt wurde, bis sie das Gegenteil beweisen konnte.[78]
Um das Jahr 1750 stieg die Zahl der nichtehelichen Geburten stark an - eine Entwicklung, die die ländlichen und städtischen Unterschichten in ganz Europa betraf. Vom rechtlichen Standpunkt aus gesehen lag der Grund dafür in der Verschärfung der Gesetzgebung hinsichtlich der Alimentationsprozesse. Galt im 16. Jahrhundert ein Eheversprechen, dem eine sexuelle Beziehung folgte, als bindend und endete die Bekanntgabe einer Schwangerschaft noch im 16. und 17. Jahrhundert in einer erzwungenen Ehe oder der finanziellen Entschädigung von Mutter und Kind, wurde die Last der Beweisführung im 18. Jahrhundert auf die Mutter abgewälzt, mit dem Ergebnis, daß gerichtlich beschlossene Eheschließungen eine Seltenheit wurden.
Wirtschaftlich gesehen lag der Grund für den Anstieg unehelicher Geburten teilweise in der Entwicklung der Heimindustrie, die es jungen Leuten vergleichsweise früh ermöglichte, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. So konnten sie sich der elterlichen und gesellschaftlichen Bevormundung entziehen und sich vorehelichen sexuellen Beziehungen in der Gewißheit hingeben, daß einer schnellen Heirat sollte sich eine Schwangerschaft einstellen - finanziell nichts im Wege stand. Natürlich ließ die steigende Zahl vorehelicher Schwangerschaften auch den Anteil nichtehelich geborener Kinder steigen, da die zunehmende Lockerung der Brautwerbungsrituale mit höheren Risiken für junge Frauen verbunden war. In diesem Falle waren es die Männer, die sich den Gepflogenheiten entweder aus finanziellen oder aus persönlichen Gründen widersetzten und sich weigerten, die Frau zu heiraten, die sie verführt hatten. Ähnliche Faktoren bewirkten auch in den Städten ein Ansteigen vorehelicher Beziehungen. Männer ohne Aussicht auf Landbesitz Lind junge Bauerntöchter wanderten in die Städte ab, um dort Arbeit zu suchen. In dieser unverbindlichen Umgebung mangelte es an der starken regulierenden Instanz von Familie und Dorfgemeinschaft sowie der kirchlichen Obrigkeit (deren Macht oft entscheidend mithalf, den mutmaßlichen Vater zur Heirat eines Mädchens zu zwingen). Die relative LJnabhängigkeit von der elterlichen Autorität, die Veränderung ihrer wirtschaftlichen Situation sowie sich wandelnde Verhaltensmuster seitens der Frauen veranlaßten diese, sich bereitwilliger dem vorehelichen Beischlaf hinzugeben, was sie zugleich aber auch in höherem Maße der Gefahr aussetzte, verführt zu werden. Der Zuwachs unehelicher Geburten betraf die Städte stärker als das Land. Diese Entwicklung wurde dadurch beschleunigt, daß ledige Schwangere oft aus ihrer Heimatgemeinde vertrieben wurden und ihr Kind in der Anonymität der Stadt zur Welt brachten. Dort stellten sie weder eine finanzielle Belastung für ihre Gemeinde dar, noch brachten sie Schande über ihre Familie.[79] Werden die unteren Schichten eher von rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen geleitet, so beeinflußte der Wandel von Ideen eher die Verhaltensmuster der oberen Schichten. Im 18. Jahrhundert wurden vermehrt Ehen zwischen gleichgestellten Partnern geschlossen, die sich auf gegenseitige Zuneigung und sexuelle Anziehung gründeten. Ehegefährten konnten nicht länger auf Vergebung für kleine erotische Eskapaden mit Dienstmädchen hoffen und beschränkten ihre außerehelichen Aktivitäten auf Prostituierte oder Mätressen. Die in der Aufklärung gelockerte öffentliche Moral sowie die steigende Zahl arbeitsloser Frauen, unverheirateter Mütter und der in Armut lebenden Frauen förderten die Ausbreitung der Prostitution. Für jene, die die Folgen der Promiskuität am meisten fürchteten - Folgen, die von öffentlichen Vaterschaftsprozessen über die finanziellen Lasten der Llnterstützung unehelicher Kinder bis hin zu Geschlechtskrankheiten und Scheidungsgesuchen reichten - galt als eine der sichersten Alternativen zum ehelichen Sex der Ehebruch mit einer verheirateten Frau, die aller Wahrscheinlichkeit nach nicht nur keine Geschlechtskrankheiten hatte, sondern auch jedes Kind als das ihres Ehemannes ausgeben konnte.

EHEBRUCH

Die Geschichte des Ehebruchs ist eine Geschichte der Doppelmoral. die die außerehelichen Affären der Männer tolerierte und die der Frauen verurteilte.[80] Eine Erklärung für diese Diskrepanz liegt in dem Wert, der der weiblichen Keuschheit auf dem Heiratsmarkt patriarchaler und begüterter Gesellschaften beigemessen wurde. Bis zur Hochzeitsnacht wurde von einer Frau Jungfräulichkeit gefordert und eheliche Treue für alle Zeit danach, damit sie ihrem Mann rechtmäßige Erben schenken konnte. »Wir hängen einen Dieb dafür, daß er Schafe gestohlen hat», bemerkte Dr. Johnson, »aber die Unkeuschheit einer Frau beraubt den Eigentümer seiner Schafe, seines Hofes und seines gesamten Besitzes«. Andererseits bemerkte er, »kluge verheiratete Frauen stören sich nicht an der Untreue ihrer Männer«, weil »Klagen eine Frau lächerlicher macht, als die Kränkung, die sie dazu veranlaßte«.[81]
Die Ansicht, daß Unzucht und Ehebruch des Mannes nur läßliche Sünden seien, über die die Frau hinwegsehen sollte, wurde dadurch genährt, daß vor dem 18. Jahrhundert die meisten Ehen der mittleren und oberen Schichten von den Eltern im Interesse familiärer, wirtschaftlicher und politischer Strategien vermittelt wurden. Nicht genug, daß Bräutigam und Braut vor der Ehe kaum Gelegenheit hatten, sich kennenzulernen, auch die emotionale Bindung nach der Hochzeit wurde als hinderlich erachtet, wenn nicht gar anstößig. Der Ehebruch des Mannes mit Dienstmädchen und Frauen unterer Schichten galt als normal, obgleich einige Frauen Einspruch gegen diese Doppelmoral und gegen die durch die Untreue zugefügte Kränkung weiblicher Gefühle erhoben.SJ Im frühen 17. Jahrhundert verlangten jedoch sowohl die Gegenreformation als auch der puritanische Sittenkodex ein größeres Maß an Verschwiegenheit hinsichtlich ehebrecherischer Beziehungen. Konkubinen und Mätressen wurden weder öffentlich zur Schau gestellt, noch wurde für die Kinder aus solchen Beziehungen durch systematische Verfügungen im Testament gesorgt.
Eine zweite Erklärung für die weitverbreitete Doppelmoral liegt darin, daß Frauen als sexuelles Eigentum ihrer Ehegatten angesehen wurden, dessen Wert sank, wenn es von einem anderen als seinem rechtmäßigen Besitzer gebraucht wurde. Vor diesem Hintergrund hing die männliche Ehre zunehmend von der Keuschheit der Ehefrau ab. Der Hahnrei war jemand, dessen Männlichkeit in Frage gestellt wurde, da er nicht nur unfähig schien, sein Eigentum angemessen »zu bewahren« (d.h., seine Frau sexuell zu befriedigen), sondern auch, seinem eigenen Haushalt vorzustehen. In vielen Ländern verzieh man den Mord an der Ehefrau, wenn sie in flagranti mit einem anderen ertappt Wurde, und er wurde nur leicht bestraft, wenn er durch ehebrecheriKÖRPER, ÄUSSERE ERSCHEINUNG UND SEXUALITÄT     99 sches Verhalten der Ehefrau motiviert war. Dies ist nur zu verständlich, wenn man bedenkt, daß eine untreue Ehefrau der Bewerbung ihres Mannes um öffentliche Ämter und Ehren gewöhnlich als nicht zuträglich erachtet wurde. In ländlichen Gegenden nahm die jeweilige Dorfgemeinde die Angelegenheit selbst in die Hand, indem sie betrogene Ehemänner und ihre widerspenstigen Frauen öffentlichen Bußritualen in Kirchen und rauhen skimmington rides aussetzten.[83]
Nur die Aristokratie bildete eine grundsätzliche Ausnahme zu der ansonsten allgemein verbreiteten Doppelmoral. An fürstlichen Höfen wurden attraktive Damen geradezu in das Bett ihres Herrschers gedrängt, um die Karriereabsichten ihrer Ehemänner voranzutreiben. Andere nahmen sich die Freiheit, sich einen Liebhaber zu halten, nachdem sie ihrer ehelichen Pflicht dadurch nachgekommen waren, daß sie ihrem Ehemann einen rechtmäßigen Erben geschenkt hatten. Darüber hinaus ließen sich nur wenige Männer der Oberschicht dazu hinreißen, ihr Leben in einem Duell zu riskieren, um den kompromittierten Ruf ihrer Ehefrau zu rächen. Im England des 18. Jahrhunderts war die unangenehmste Folge einer ehebrecherischen Liaison die hohe Entschädigung, die an die gekränkten Gatten gezahlt werden mußte. Einige von ihnen verdienten sich gar ihren Lebensunterhalt mit den Eskapaden ihrer Frau. Außerdem waren nicht alle Frauen, denen von Aristokraten der Hof gemacht wurde, verheiratet oder adlig. Zum Ende der Frühen Neuzeit stieg das Bildungsniveau der Töchter aus bürgerlichem Hause. Der damit einhergehende Mangel an Berufschancen traf Frauen aus gutem Hause, die aufgrund plötzlich auftretender wirtschaftlicher Ungewißheit und finanzieller Einbußen ihrer Familien verarmt waren. So entstand ein Reservoir attraktiver und kultivierter Mätressen, die ihrem jeweiligen Liebhaber in der Öffentlichkeit zur Ehre gereichen konnten.[84]
Im Italien des 17. und 18. Jahrhunderts bewirkten das Erkennen des affektiven Vakuums in den meisten adligen Ehen und die männliche Überzeugung von der Notwendigkeit einer Scheinüberwachung weiblicher Tugend die Entfaltung einer Art institutionalisierten Ehebruchs, der unter der Bezeichnung cavalier servente oder cicisbeo bekannt wurde. Ein Land wie Italien war für die Strenge, mit der es über die Keuschheit seiner Bürgerfrauen wachte, gleichermaßen bekannt wie für die Tatsache, daß es Aristokratinnen erlaubte, Männer ihres eigenen Standes, mit denen sie jedoch nicht verheiratet waren, als ständige Begleiter zu haben. Diese Vereinbarung, die es den Frauen der oberen Schicht ermöglichte, in Gesellschaft mit der notwendigen männlichen Begleitung aufzutreten, hatte verschiedene Vorteile. Bestenfalls wurde der cavalier (Galan) vom Ehemann selbst ausgesucht, und es war Ehrensache für ihn, die Tugendhaftigkeit seines Schützlings nie zu  kompromittieren. In vielen anderen Fällen war der cicisbeo jedoch eine Art zweiter Ehemann, der die Gunst seiner Dame mir ihrem rechtmäßigen Gatten teilte.[85]
Für die Mehrzahl der Frauen blieben außereheliche Affären allerdings ein Bereich, in dem der Preis dafür, daß sie ihren Körper und ihre Zuneigung hingaben, viel höher lag als der. der von Männern entrichtet werden mußte. Immer weniger gegen die Folgen von Verführung und Konkubinat geschützt, waren Frauen aufgrund der vorherrschenden Doppelmoral bei Ehebruch generell benachteiligt. Noch 1857 genehmigte das Scheidungsgesetz in England die Scheidung eines Mannes von einer Frau wegen gewöhnlichen Ehebruchs. Eine Frau konnte sich dagegen nur dann gerichtlich von ihrem Gatten trennen, wenn bei dessen Ehebruch noch erschwerende Umstände wie Grausamkeit, Verlassen, Bigamie, Vergewaltigung, Sodomie oder Bestialität hinzukamen.[86]

Der Weg zur Aussöhnung von Liebe, Sexualität und Ehe

Im 16. und 17. Jahrhundert herrschten zwei Klischeevorstellungen über das Sexualverhalten vor. Gemäßigter und häufig liebloser ehelicher Geschlechtsverkehr zielte lediglich auf die Zeugung eines männlichen Nachkommens ab. während nichteheliche Beziehungen einen Tummelplatz für gefühlvolle Liebe und sexuelle Leidenschaft boten. Brautwerbungsrituale der unteren Schichten, die es dem Paar erlaubten, sich noch vor der Verlobung kennenzulernen, ließen gegenseitige Zuneigung, sexuelle Anziehung und Ehe leichter vereinbaren. Die steigende Zahl unehelicher Geburten in dieser gesellschaftlichen Schicht während des 18. Jahrhunderts scheint jedoch ein Auseinanderklaffen von Liebe und Ehe zu suggerieren. Ledige Mütter dieses sozialen Spektrums wurden oft Opfer ihres Strebens nach gegenseitiger Zuneigung.[87] In den mittleren und oberen Schichten herrschte hingegen ein entgegengesetztes Muster vor. Obwohl die Doppelmoral im Hinblick auf voreheliche Keuschheit und eheliche Treue durch die gesamte Frühe Neuzeit hindurch bestimmend blieb, erlebte das 18. Jahrhundert die Entwicklung eines Modells zärtlicher und partnerschaftlicher Beziehungen, das sich auf emotionale Nähe und gegenseitige sexuelle Anziehung gründete. Aus diesem Wandel wie auch aus der größeren Autonomie, die jungen Männern und Frauen bei der Wahl ihres Ehepartners zugestanden wurde, resultierte eine Neudefinition weiblicher und ehelicher Tugenden, die auch solche körperlichen und emotionalen Funktionen mit einschloß, die bis dahin von Mätressen erfüllt worden waren. Auf dem Gebiet der nichtehelichen Sexualität gestattete die Lockerung der Sitten sowohl ein Ansteigen ehebrecherischer Beziehungen, von Prostitution und Homosexualität als auch die Verbreitung zahlreicher sexueller Hilfsmittel und Unterhaltungen (z.B. Godemiche und Pornographie).[88] Was die Einstellung zur Sinnlichkeit anbetrifft, bestand jedoch der radikalste Wandel in der Aussöhnung von Liebe, Sexualität und Ehe. die zur Grundlage für unsere gegenwärtigen Ehevorstellungen werden sollte.

Aus dem Englischen von Judith Ertz