Dokumente zur Wirkungsgeschichte

1. Sophie La Roche über ihren eigenen Roman (1791)

Mein erster Versuch, die Geschichte des Fräuleins von Sternheim, ist die Frucht des größten Unmuths, welchen ich damals empfinden konnte. Ich trennte mich ungern von meinen beiden Töchtern, welche durch Zwang der Umstände in Straßburg bei St. Barbara erzogen wurden, und ich sprach öfters darüber in einem Tone voll Trauer mit meinem zu früh verstorbenen Freunde Brechter, Prediger in Schwaigern bei Heilbronn, einem an Verstand und Herzen höchst vortrefflichen Manne, welcher das Urbild aller Pfarrherren war, die so oft in meinen Erzählungen vorkommen, so wie seine Frau das Modell von Emilie in meiner Sternheim ist. Dieser Mann sagte mir einst: Sie jammern mich! Ihre lebhafte Seele windet sich immer um diesen Gegenstand, wie (vergeben Sie mir das Gleichniß!) die kleine papierne Schlange, welche man mit dem Kopfe auf eine Nadelspitze stellt, die auf einem Stäbchen an den Ofen befestigt ist, wo sie von der Spitze an in einer beständigen Bewegung bleibt, ohne von der Stelle zu kommen; so wie die Empfindungen Ihres Herzens Ihre Ideen treiben. Dies ist nicht gut; denn am Ende könnte wohl Ihr Geist und Ihr Character dabei verlieren. Wissen Sie was; bringen Sie alles, was Sie mir von Zeit zu Zeit zu Ihrer Erleichterung mündlich sagen, so wie Ihre Ideen sich folgen, genau zu Papier. Sie werden den Vortheil davon haben, Ihren Kopf auszuleeren; können dann in ruhigen Augenblicken es wieder lesen, und beobachten, ob Sie einige Zeit vorher in dem ungestümen Treiben Ihrer Gedanken Recht hatten oder nicht; üben zugleich Ihren Geist und erfüllen Ihre durch Abwesenheit Ihrer Töchter einsame Stunden. Das Ganze des Vorschlags gefiel mir, und das Gleichniß hatte die Idee hervorgebracht, als ob dem Manne meine immer gleichtönenden Klagen auch etwas Langeweile gemacht hätten, wie das Anschauen dieser Papierschlange thun würde; aber die Betrachtung kam nach: was wird dein guter Mann, was der J... sagen, wenn sie dich so viel schreiben sähen, und einmal ein solches Blättchen fänden? Doch ich wollte nun einmal ein papiernes Mädchen erziehen, weil ich meine eigenen nicht mehr hatte, und da half mir meine Einbildungskraft aus der Verlegenheit und schuf den Plan zu Sophiens Geschichte. - Ihre Aeltern erhielten den Charakter der meinigen; ich benutzte Zufälle, die an einem benachbarten Hofesich ereigneten, und verwebte sie in Sophiens Leben, welcher ich ganz natürlich meine Neigungen und Denkart schenkte, wie jeder Schriftsteller seine Lieblinge mit den seinigen auszustatten pflegt. Der Grund meiner Seele war voll Trauer; einsame Spaziergänge in einer lieblichen Gegend gössen sanfte Wehmuth dazu, und daraus entstand der gefühlvolle Ton, welcher in dieser Geschichte herrscht. Da ich nun darin die Grundsätze meiner eigenen Erziehung zeigen wollte, suchte ich zu beweisen:
»Daß, wenn das Schicksal uns auch alles nähme, was mit dem Gepräge des Glücks, der Vorzüge und des Vergnügens bezeichnet ist: wir in einem mit nützlicher Kenntniß angebauten Geiste, in tugendhaften Grundsätzen des Herzens und in wohlwollender Nächstenliebe die größten Hülfsquellen finden würden.« Sie wissen, daß ich dem gefühlvollen Herzen der armen Sophie alles wegnahm, was von ihr selbst und anderen geschätzt wurde, Ansehen, guten Ruf, Vermögen wohl zu thun, Freunde, Hoffnung das Herz ihres Gemahls wieder zu gewinnen, Bücher, endlich sogar den Anblick der schönen Natur, welche immer so erquickend für sie war. Aber Unrecht und Unglück geduldig tragen, Beleidigungen vergeben, Rachbegierde zu überwinden, den Fügungen des Himmels gelassen sich unterwerfen und gütig seyn, nebst Geschicklichkeit und Arbeit, waren eben so viele Stützen, von welchen sie wechselsweise aufrecht gehalten wurde, bis die Zeit ihrer Prüfung vorbei war.
Ich genoß während der Ausarbeitung dieser mir tröstlichen Träumerei den Vortheil, von welchem Cicero spricht: »Daß wir, wenn uns die wirkliche Welt nichts Angenehmes giebt, in das Gebiet der Einbildungskraft fliehen und dort die Gegenstände aufsuchen sollen, die uns eine stärkende Zerstreuung geben können.«
Ueberdies, meine Liebe! prägten sich auch Grundsätze edler Güte, mit der ganzen Schönheit ihrer Ausübung, tiefer in meine Seele; wie man behauptet daß eine Sprache, durch öftere Uebungen im Ueber-setzen aus derselben, fester in unser Gedächtniß kommt und uns eigen wird. Vielleicht lag in meiner Sternheim Vorbedeutung und Vorübung von manchem Weh, das in der Folge meine Seele traf, und es war für meine so lebhafte Einbildungskraft sehr glücklich, so lange vorausgesehen zu haben, daß Geduld und Verzeihen schön

  • Aus: Briefe über Mannheim. Zürich: Orell, Geßner, Füßli und Compagnie, 1791. S. 201-204.
    Wiederabgedr. in: Melusinens Sommer-Abende. Hrsg. von C. M. Wieland. Halle: N. Societäts-Buch u.
    Kunsthandlung, 1806. S. XXIV-XXX.

2. Caroline Flachsland an Herder vom 14. Juni 1771

Ich habe indeßen auch [die] Geschichte der Fräulein von Sternheim gelesen, mein ganzes Ideal von einem Frauenzimmer! sanft, zärtlich, wohlthätig, stolz und tugendhaft, und betrogen. Ich habe köstliche, herrliche Stunden beym Durchlesen gehabt, ach, wie weit bin ich noch von meinem Ideal von mir selbst weg! welche Berge stehn gethürmt vor mir! ach! ach, ich werde im Staub und in der Asche
bleiben!

  • Aus: Herders Briefwechsel mit Caroline Flachsland.
    Hrsg. von Hans Schauer. Weimar: Verlag der Goethe-Ges., 1926.
    (Schriften der Goethe-Gesellschaft. Bd. 39.) S. 238 f.

3. Herder an Caroline Flachsland vom 22. Juni 1771

Das schönste Stück, und was auf mich den meisten Eindruck gemacht, ist Fräulein Sternheim, von Wieland herausgegeben. Vielleicht können Sie mir historische Nachrichten geben, wer dies Stück geschrieben hat, ob wirklich seine Freundin, wie ich fast glaube, oder Er, in den Zeiten, da er noch etwas ernsthafter und feierlicher dachte. Aber sey Verf. wer wolle; für mich hat das durchgehende Dämmernde, Dunkle, und Moralischrührende eine Würde, eine Hoheit, die ich lange, lange nicht gefunden. Ich will, wenn die Geschichte fortgesetzt und geendiget wird, gern dies Stück dreymal lesen, ehe Amadis [der neue Amadis von Wieland, 1771], den schönen, und von Einer Seite des menschlichen Herzens, aber auch wahrhaftig nicht von mehrferen], sehr nützlichen Amadis, Einmal! Und das Buch widerlegt Wielanden offenbar, daß es außer der bloß leichten Schönheit einer menschlichen Seele, wahrhaftig eine höhere, ernsthaftere, rührende[re] Grazie giebt, die noch keine Betschwester ist, und mich unendlich mehr rühret. Lesen Sie, wenn Sie ihn noch nicht gelesen [haben], den kleinen Roman. Welche Einfalt, Moral, Wahrheit in den kleinsten Zügen, und alle werden interessant! Ja bis selbst auf alle, die W. darin tadelt. Aber welch Ende bisher! Ich blieb so betroffen, und gleichsam auf meinem Lebenswege gehemmet, daß ich, weil ich just vorigen Freitag den Roman las, und darauf Sonnabend eine Predigt machen mußte, durchaus von nichts anderm predigen konnte, als daß es unglückliche Schritte gebe, die man nachher lebenslang nicht zurückholen könnte, und was man nun thun sollte?

  • Aus: Herders Briefwechsel mit Caroline Flachsland. S. 241 f.

4. Brief der Julie Bondeli vom Februar 1772

Wer wird Ihnen Genie absprechen? --- vielleicht eine gelehrte Person, die sich in die Notwendigkeit versetzt sieht, ihre Gedanken einen nach dem andern zusammen zu buchstabieren, um zu einer klaren Idee zu gelangen. Ein solcher mag immerhin Rache an Ihnen nehmen um des Vorteils willen, den Sie haben, indem Sie Ihre Ideen gleich fertig und vollständig im Grunde Ihrer Seele vorfinden. Vielleicht wird man aber auch sagen: das ist kein Genie, weil -- weil Sie ein Weib sind, und ein Weib — mit Ihrer gütigen Erlaubnis — unmöglich Genie haben kann, da es doch immer nicht von der Währung sein könnte, wie dasjenige eines Mannes.    Bewahren wir nur unser Frauenangesicht, meine Liebe, und lassen sie schwatzen; bewahren wir unsern Takt, unser Gefühl, unsern durchdringenden Scharfblick und lassen sie gewähren! Wer am schnellsten läuft, rennt oft übers Ziel hinaus, und es handelt sich nur darum, es zu erreichen. Und so wäre es denn so viel als ausgemacht, daß Sie nur ein Weibergenie haben: ein trauriges Kompositum von Takt, Empfindsamkeit, Wahrheit, durchdringendem Verstand, Feinheit und Richtigkeit in Ihren Ansichten und Bemerkungen. Ihrer Schreibart ist ohne Frage eine weibliche Grazie und Eleganz eigen, wovon Gott weiß, und nicht Sie, warum dieselbe so schön, so ergreifend ist. — Meine liebe Sophie, lassen Sie jene nur schwatzen und fahren Sie so fort.

  • Aus: Mein Schreibetisch. Von Sophie von La Roche.
    Leipzig: Heinr. Graf, 1799. Bd. 2. S.300f. [Aus dem Frz. übers.].

5. Rezension von Haller in den »Göttingischen Anzeigen von Gelehrten Sachen«,
118. Stück, vom 3. Oktober 1771

Ein kleiner sittlicher und empfindsamer Roman ist vom Hrn. C. M. Wieland A. 1771 angefangen worden, dessen ersten Band auf 367 S. klein Octav Weidemanns Erben und Reich gedruckt haben. Das Feine, fast Subtile des Verfassers, seine lebhafte Einbildungskraft, und die Metaphysik des Herzens finden wir hier wieder; erfreuen uns aber, daß Hr. W. selber gefühlt hat, seine Heldinn müßte keine Rachimu, keine Danae, auch keine Musarion seyn, wenn der Leser an ihrem Schicksale Theil nehmen sollte. Seine Sophie hat Religion, und hält sehr viel auf ihren Pfarrer; nur einmal setzt Hr. W. sie als eine Moralistinn einer Frommen entgegen, und giebt ihr einen grossen Vorzug. Die Shaftsburyschen Reden wider die Furcht der Hölle, und den Wunsch für den Himmel verlieren alle Kraft, wann man ihnen das Figürliche wegnimmt; das durch die eingemischten fabelhaften Begriffe etwas von der Würde des Urbildes geschwächt hat. Sophie thut gute Werke mit Begier, sie freut sich darüber, sie erlangt ihren eigenen Beyfall. Aber sollte denn der Beyfall des unendlichen Wesens nicht auch unendlich mehr des Suchens weither seyn? GOttes Beyfall ist der Himmel, sein Mißfallen ist die Hölle, beydes im Wesen und in den Folgen. Hr. W. läßt indessen seine Heldinn, durch die Verwirrung der Umstände, und durch die List eines wohlgezeichneten Lovelace, in die äusserste Gefahr für ihre Ehre gerathen; sie läßt sich durch einen erkauften Kerl, der kein Geistlicher ist, mit einem Bösewichte trauen, und entflieht mit ihm. Doch wir zweifeln nicht, Hr. W. werde Mittel finden, seine edelmüthige Schöne von aller Befleckung zu bewahren, und nicht dem Rousseau nachahmen, der seine Julie, wie das gemeinste der Weiber, fallen ließ. Hat zum Titel: Geschichte des Fräuleins von Sternheim.

6. Rezension von Merck [mit Einschub von Goethe?]
in den »Frankfurter gelehrten Anzeigen«
vom 14. Februar 1772

Es haben sich bey der Erscheinung des guten Fräuleins von Sternheim sehr viele ungebetne Beurtheiler eingefunden. Der Mann von der großen Welt, dessen ganze Seele aus Verstand gebaut ist, kann und darf das nicht verzeihen, was er eine Sotise du coeur nennt. Er überließ also schon lange das gute Kind ihrem Schicksal und gedachte ihrer sowenig als ein Cammerherr seiner Schwester, die einen Priester geheurathet hat. Der Schönkünstler fand in ihr eine schwache Nachahmung der Clarissa, und der Kritiker schleppte alle die Solöcismen und baute sie zu Haufen, wie das Tier Kalihan bey unserm Freund Shakespeare. Endlich kam auch der fromme Eiferer und fand in dem Geist der Wohlthätigkeit dieses liebenswürdigen Mädchens, einen gar zu großen Hang zu guten Werken. Allein alle die Herren irren sich, wenn sie glauben, sie beurtheilen ein Buch — es ist eine Menschenseele; und wir wissen nicht, ob diese vor das Forum der großen Welt, des Ästhetikers, des Zeloten und des Kritikers gehört. Wir getrauen uns den Schritt zu entschuldigen, durch den sie sich Derbyn in die Arme warf, wann wir den Glauben an die Tugend in dem Gemälde Alexanders betrachten, da er seinem Leibarzt den Giftbecher abnahm. Zu dem Glaubenseifer kommt oft Bekehrungssucht; und mischten wir dazu ein wenig Liebe zum Ausländischen, zum Ausserordentlichen, in der Seele eines guten Kindes von 20Jahren, die sich in einer drückenden Situation befindet, so hätten wir ohngefähr den Schlüssel zu der so genannten Sotise. Die Scene bey der Toilette zeigt deutlich, daß das Werk keine Composition für das Publikum ist, und Wieland hat es so sehr gefühlt, daß er es in seinen Anmerkungen der großen Welt vorempfunden hat. Das ganze ist gewiß ein Selbstgespräch, eine Familienunterredung, ein Aufsatz für den engeren Cirkel der Freundschaft: denn bey Lord Rieh müssen die individuellen Züge beweisen, daß dieser Charakter zur Ehre existirt. Das Journal im Bleygebürge ist vor uns die Ergießung des edelsten Herzens in den Tagen des Kummers; und es scheint uns der Augenpunkt zu seyn, woraus die Verf. ihr ganzes System der Thätigkeit und des Wohlwollens wünscht betrachtet zu sehen. Auch der Muth hat uns gefallen, mit dem sie dem Lord Rieh einzelne Blicke in ihr Herz thun und ihn das niederschreiben läßt, was ihr innerer Richter bewährt gefunden hat. Es war ihr wahrscheinlich darum zu thun, sich selbst Rechenschaft zu geben, wie sie sich in der Situation ihrer Heldinn würde betragen haben; und also betrachtet sie den Plan der Begebenheiten, wie ein Gerüste zu ihren Sentiments. Will der Herr Kritiker uns ins Ohr sagen, daß die Fugen des Gerüstes grob in einander gepaßt, alles nicht gehörig behauen und verklebt sey, so antworten wir dem Herrn: Es ist ein Gerüste. Denn wäre der Machiniste Derby so fein ausgezeichnet wie Richardsons Lovelace, so wäre das Ganze vielleicht ein Spinnengewebe von Charakter, zu fein, um dem ungeübteren Auge die Hand der Natur darin zu entdecken, und der Schrifttext wäre Allegorie geworden.

  • Aus: Frankfurter gelehrte Anzeigen vom Jahr 1772.
    Erste Hälfte. [Neudr.] Heilbronn: Gebr. Henninger, 1882. S. 85 f.

7. Rezension von »Sr« [Sulzer?] in Nicolais »Allgemeine Deutsche Bibliothek« (1772)

Wenn diese Schrift auch nicht durch den vorgesetzten Namen des Herausgebers dem Publiko empfohlen würde, so würde sie sich doch durch ihren eigenthümlichen Werth von selbst empfehlen. Weil aber die prüfenden Leser gerade die wenigsten sind, so leistet der Name des Herrn W. derselben den reellen Dienst, daß desto-mehr Hände darnach greiften und unter diesem Stempel der innere gute Gehalt, von Lesern, die diese Art Schriften immer mit Mißtrauen in die Hand nehmen, desto minder bezweifelt wird. Ver-muthlich aus dieser Absicht hat sich Herr W. hier als Herausgeber genennet, der seinen eignen Schriften seinen Namen sonst nicht vorzusetzen pfleget. Man giebt die Frau Geheimderäthin von la Roche als Verfasserinn dieser Geschichte an, [...].
[...] Allenthalben sind die Situationen so gewählt, wie sie sich zu dieser Absicht und der Lieblingsidee der Verfasserin] passen, die ihrem Herzen Ehre macht: wohlthätig zu seyn und auf alle Weise seinem Nebenmenschen sich nützlich zu machen. Die V. verbindet diese Idee mit dem Charakter ihrer Heldin so genau, daß hieraus der sonderbare an das enthusiastische angränzende Schwung in der Denkungsart der Sternheim entspringt, womit Hr. W. nicht recht zufrieden zu seyn scheint. Aber in Ansehung dieses Punktes möchten wir lieber die V. rechtfertigen, als ihr einen Vorwurf machen. Wann der Heroismus der Hauptperson einer Geschichte nicht sowol in den Begebenheiten als vielmehr in dem moralischen Charakter derselben liegt, so muß das Wunderbare des Charakters, der Geschichte ihr eigenthümliches Interesse geben und die Begebenheit dienen nur dazu, diesen Charakter zu entwickeln. Da es nun der V. beliebt hat, das Interesse ihrer Geschichte auf den edlen moralischen Charakter der Sternheim zu stützen, wie konnte sich dieser vortheil-hafter auszeichnen, als durch ihr warmes und richtiges Gefühl der Tugend? Wir wünschten daher, daß die V. weniger durch das Wunderbare der Begebenheiten zu intereßiren gesucht hätte, dadurch würde die Geschichte weniger Körper bekommen haben, aber die Aufmerksamkeit des Lesers wäre desto stärker auf den moralischen Heroismus des Hauptcharakters geheftet worden. [...]
Die Charaktere der Lords Seymour und Derby geben einen artigen, aber gewöhnlichen, die unschuldige freymüthige Sternheim mit den verschlagenen ausgelernten Hofleuten, einen reizenden Contrast. Die richtige Schilderung des Hofes überhaupt, ist ein Beweiß der genauen Kenntniß desselben von Seiten der V. Aus dem Plan der Geschichte hätten wir wohl, ehe wir den zweyten Theil lasen, die heimhche Entweichung des Fräuleins mit dem Derby aus D. wegwünschen mögen. Dieser übereilte Schritt scheint mit der Denkungsart der Sternheim nicht übereinzustimmen: hierzu war die Situation noch nicht dringend genug, am wenigsten ist die mit dem Derby so gleichsam aus dem Stegreife vollzogene Vermählung wahrscheinlich, gegen den sie noch immer Ursache hatte mißtrauisch zu seyn. Wenn sie es für nothwendig hielt, aus D. zu entfliehen, warum gieng sie nicht auf ihre Güter, wo sie für allen Nachstellungen des Fürsten in Sicherheit war? Das ausdrückliche Verbot ihres Oncles konnte sie daran nicht hindern, denn wenn sie ihm gehorsamen wolte, so mußte sie gar nicht aus D. sich wegbegeben, und daß sie das Einkommen ihrer Güter ihm überläßt, das ist erst eine Folge des Entschlusses zu der Flucht mit dem Derby. Das aber ein Frauenzimmer, das zu Rettung seiner Ehre genöthiget ist, die Flucht zu ergreiffen, nicht anders als an der Seite eines Gemahls fliehen soll, das ist einer von den falschen Grundsätzen, den die V. von der Madame Beaumont angenommen zu haben scheint, die eine Lady sogar mit einem Peruckenmacher davon lauffen läßt. Die V. wendet zwar alle Kunst an, die Situation dringend zu machen, sie versetzt das Fräulein in einen hülflosen Zustand, sie ist ohne Freund, ohne Rathgeber, und mit der furchtbaren Idee erfüllt, daß sich ihre Anverwandten zu ihrem Verderben verschworen haben; aber der Leser findet hier eine geflissentliche Verschweigung sicherer Zufluchtsörter für die S. Hätte sie nicht der Fräulein von C. oder selbst der Herzogin von W. mit ihrer gewöhnlichen Freymüthigkeit sich entdecken und die letztere sie ins geheim, oder öffentlich in Schutz zu nehmen, vermögen können? [...]
Die ganze Geschichte ist in Briefe eingekleidet, die meisten davon sind von der St. Diese alle haben den guten Ton der Abhandlungen, aber nicht den leichten naiven Ausdruck, der die Briefe eines Frauenzimmers insonderheit als schön charakterisiren sollte. Die an sich guten moralischen und philosophischen Betrachtungen verliehren dadurch, daß sie ein junges Fräulein sagt. Viele von diesen Betrachtungen sind zu weitschweifig, z. B. führen wir hier nur den Brief auf der 177 S. des ersten Theils und den gleich darauf folgenden an. Der beissende Vorwurf der Tante, daß man es der Sternheim anmerke, daß sie die Enkelin eines Professors sey, ist daher treffend. Ihre Denkungsart fällt auch zuweilen ins kostbare, z. B. auf der 33 S. im 2ten Theil sagt sie: Da ich nicht so glücklich war, eine Griechin der alten Zeiten zu seyn, werde ich mich bemühen, wenigstens eine der besten Engländerinnen zu werden. Also auch Prädilection für die alten Griechinnen? Die Briefe des Derby entscheiden sich von den übrigen merklich, sie sind im Geschmack der Briefe des Lovelace an seine Freunde in der Ciarisse, beyde Charaktere haben überhaupt viel ähnliches. Das gefällt uns überaus wohl, daß über einem und den nemlichen
Gegenstand von verschiedenen Personen von ganz verschiedener Denkungsart Briefe eingerückt sind, wo eine Sache aus mancherley Gesichtspunkten betrachtet wird. So beschreibt z. B. das Fräulein, Seymour und Derby in drey aufeinander folgenden Briefen ein ländliches Fest, daß der Graf F. oder vielmehr der Fürst der Sternheim giebt. Sie spricht davon mit der liebenswürdigen Unschuld ihres Herzens, Seymour mit widrigen Vorurtheilen, wodurch alles einen bösen Anschein bekommt, Derby erzählt die reine Wahrheit, aber mit Rücksicht auf die Erreichung seiner ehrlosen Absichten. Dieses ganze Stück ist ein vortreflicher Commentar über die Morali-tät an sich gleichgültiger Handlungen. Auf der 219 S. des ersten Theils wird ein Gelehrter geschildert, den das Fräulein auf dem Landguthe des Grafen von F.[!] kennen lernt. Dieses Porträt gleicht dem Hn. Wieland vollkommen, auch die darauf folgende Unterredung der Sternheim mit diesem Gelehrten scheinet ein Fragment eines wirklichen Gesprächs der V. mit dem Herausgeber zu seyn, das hier in die Geschichte schicklich eingewebt ist. Der kleine vorlaute französische Schriftsteller, der hier zum Vorschein kommt, hilft die Schilderung des edeldenkenden bescheidenen Gelehrten und angenehmen Gesellschafters noch mehr erheben. Hier und da hat Herr W. einige Bemerkungen der Geschichte beygefügt, theils einigen Gedanken eine gemessnere Richtung zu geben, theils einige kleine Mängel anzuzeichnen. Einige Sprachfehler, als das Ort S. 59. der Chor S. 79. und einige Lieblingswörter der V., z. B. Jast von Leidenschaften, Spleen und dergleichen, die das Bürgerrecht in unsrer Sprache noch nicht haben, sind Kleinigkeiten, die bey dem übrigens correkten Ausdruck leicht zu übersehen sind. Mit Vergnügen merken wir hier noch an, daß in der bibliotheque des Sciences et des beaux arts eine französische Uebersetzung dieser Geschichte des Fräuleins von Sternh. angekündiget ist, wir wünschen nur, daß sie in gute Hände fällt, um wirklich übersetzt und nicht etwan travestirt zu werden. Sr.

  • Aus: Allgemeine Deutsche Bibliothek. Bd. 16.
    St. 2. 1772. S. 469-479.

8a) Lenz an Sophie v. La Roche am 1. Mai 1775

[...] Solange konnten Sie zusehen daß Ihre Sternheim unter fremdem Namen möchte ich beynahe sagen vor der Welt aufgeführet wurde und mit halb sovielem Glück, als wenn jedermann gewußt, aus wessen Händen dieses herrliche Geschöpf entschlüpfte. O wahrhaftig starke Seele, müssen doch Männer vor Ihnen erröthen und zittern. Lassen Sie mich aufrichtig reden, der Name des Verfassers komischer Erzählungen war keine gute Empfehlung für einen Engel des Himmels der auf Rosengewölken herabsank das menschliche Geschlecht verliebt in die Tugend zu machen, dieser Name warf einen Nebel auf die ganze Erscheinung, und ich danke Ihnen ebenso eyfrig, daß Sie ihn mir von den Augen genommen als ich Ihnen das erstemahl für Ihre Schöpfung gedankt haben würde. [...]

8b) am 25. Juni 1775

[...]
[...] Die Erscheinung einer Dame von Ihrem Range auf dem Parnaß (die so viele andre Sachen zu thun hat,) mußte jedermann aufmerksam machen. Mich ärgerte nichts mehr, als - Gott weiß, daß ich die Wahrheit sage, - als die dummen Noten, die mich allemal bey den seligsten Stellen in meinem Gefühle unterbrachen, gerad als wenn einem kalt Wasser aufgeschüttet wird. Gleich fühlte ich, daß in den Noten die Verfasserin nicht war, einige dunkle Klätschereyen sausten mir um die Ohren, Sie hätten dem Umgange mit Wieland vieles zu danken; ich muß Ihnen aber zur Beruhigung sagen, daß alle diese Nachrichten von Frauenzimmern kamen, bey denen ich die Quelle leicht entdeckte. Verzeihen Sie mir! Auf den Punkt ist ein kleiner Neid auch manchmal bey edlen Personen Ihres Geschlechts sehr natürlich, und mir also gar nicht einmal auffallend; nur ärgerte mich's, daß ich Niemand von meinem Geschlecht hörte, der gesunden Menschenverstand oder Edelmuth genug gehabt hätte, im Gegentheil zu behaupten: Wieland müsse Ihrem Umgange alles -alles vielleicht zu danken haben, was ihn schätzbar macht.

  • Aus: Briefe von und an J. M. R. Lenz.
    Hrsg. von Karl Freye und Wolfgang Stammler. Leipzig:
    Wolff, 1918. Bd. 1. S.97f.; 109.

9. Lenz in »Pandämonium Germanikum« (1775), 2. Akt, 2. und 4. Szene [Auszug]

Eine Dame, die, um nicht gesehen zu werden, hinter Wielands Rücken, unaufmerksam auf alles, was vorging, gezeichnet hatte, gibt ihm das Bild zum Sehen, er zuckt die Schultern, lächelt [bis über die Ohren hinauf], macht ihr ein halbes Kompliment und reicht es großmütig herum. Jedermann macht ihm Komplimente darüber, er bedankt sich schönstens, steckt es wie halbzerstreut in die Tasche und fängt wieder zu spielen an. Die Dame errötet. Die Palatinen der andern Damen, die Wieland zuhören, kommen in Unordnung, weil die Herrchen zu ungezogen werden. Wieland winkt ihnen lächelnd zu, undjakobi hüpft wie unsinnig von einer zur andern herum.
(Goethe zieht Wieland das Blatt Zeichnung aus der Tasche, das er vorhin von der Dame eingesteckt.)
Goethe (hält's hoch). Seht dieses Blatt, und hier ist die Hand, die es gezeichnet hat. (Die Verfasserin der Sternheim ehrerbietig an die Hand fassend.)
Eine Prüde (weht sich mit dem Fächer). O, das wäre sie nimmer imstande gewesen, allein zu machen.
Eine Kokette. Wenn man ein so groß Genie zum Beistand hat, wird es nicht schwer, einen Roman zu schreiben.
Goethe. Errötest du nicht, Wieland, verstummst du nicht? Kannst du ein Lob ruhig anhören, das soviel Schande über dich zusammenhäuft? Wie, daß du nicht deine Leier in den Winkel warfst, als die Dame dir das Bild gab, demütig vor ihr hinknietest und gestandst, du seist ein Pfuscher? Das allein hätte dir Gnade beim Publikum erworben, das deinem Wert nur zu viel zugestand. Seht dieses Bild an. (Stellt es auf eine Höhe. Alle Männer fallen auf ihr Angesicht. Rufen:)
Sternheim! wenn du einen Werther hast, tausend Leben müßten ihm nicht zu kostbar sein.
Pfarrer (von der Kanzel herunter mit Händen und Füßen schlagend). Bösewichter! Unholde! Ungeheuer! Von wem habt ihr das Leben? Ist es euer? Habt ihr das Recht, drüber zu schalten?
Einer aus der Gesellschaft. Herr Pfarrer, halten Sie das Maul!

  • Aus: Jakob Michael Reinhold Lenz.
    Gesammelte Schriften. Hrsg. von Franz Blei.
    München/Leipzig: Georg Müller, 1910. Bd. 3. S. 16-20.

10.  Gottlieb Konrad Pfeffel in der Fabel »Der Dogge« (1783)

Mit einem Geist, den keine Furcht bewegte,
Sahst du schon oft der Hand des Schicksals zu,
Die sich auf deinen Nacken legte,
Und streicheltest die ehrne Hand.
O du, Sophiens Vaterland,
Germania, wann wirst du sie belohnen?
Wann? ... doch du hast für Töchter keine Kronen
Und deiner Helden edles Blut
Versteigerst du für Gold. Nun gut!
Willst du vielleicht die Heldin auch verkaufen?
Laß sehn, wie schlägst du sie mir an?
Ich will als Collectant von Thür zu Thüre laufen
Bis ich den Preis bezahlen kann.
Dann will ich nach Amerika sie schicken,
Wo mancher deiner Söhne ruht,
Um seinen neuen Freyheitshut
Mit diesem Kleinod auszuschmücken.

  • Aus: Jakob Kellner: »Fünf Briefe an G. K. Pfeffel«.
    In: Archiv für Literaturgeschichte 12 (1884) S.299f.

11.  Goethe in »Dichtung und Wahrheit« [geschrieben 1813]

Wer die Gesinnungen und die Denkweise der Frau von la Roche kennt - und sie ist durch ein langes Leben und viele Schriften einem jeden Deutschen ehrwürdig bekannt geworden - der möchte vielleicht vermuten, daß hieraus [aus der aufklärerischen Freigeistigkeit G. M. v. La Roches und der Neigung seiner Frau zur Empfindsamkeit B. B.-C.] ein häusliches Mißverhältnis hätte entstehn müssen. Aber keineswegs! Sie war die wunderbarste Frau, und ich wüßte ihr keine andere zu vergleichen. Schlank und zart gebaut, eher groß als klein, hatte sie bis in ihre höheren Jahre eine gewisse Eleganz der Gestalt sowohl als des Betragens zu erhalten gewußt, die zwischen dem Benehmen einer Edeldame und einer würdigen bürgerlichen Frau gar anmutig schwebte. Im Anzüge war sie sich mehrere Jahre gleich geblieben. Ein nettes Flügelhäubchen stand dem kleinen Kopfe und dem feinen Gesichte gar wohl, und die braune oder graue Kleidung gab ihrer Gegenwart Ruhe und Würde. Sie sprach gut und wußte dem, was sie sagte, durch Empfindung immer Bedeutung zu geben. Ihr Betragen war gegen jedermann vollkommen gleich. Allein durch dieses alles ist noch nicht das Eigenste ihres Wesens ausgesprochen; es zu bezeichnen ist schwer. Sie schien an allem teilzunehmen, aber im Grunde wirkte nichts auf sie. Sie war mild gegen alles und konnte alles dulden, ohne zu leiden; den Scherz ihres Mannes, die Zärtlichkeit ihrer Freunde, die Anmut ihrer Kinder, alles erwiderte sie auf gleiche Weise, und so blieb sie immer sie selbst, ohne daß ihr in der Welt durch Gutes und Böses, oder in der Literatur durch Vortreffliches und Schwaches wäre beizukommen gewesen. Dieser Sinnesart verdankt sie ihre Selbständigkeit bis in ein hohes Alter, bei manchen traurigen, ja kümmerlichen Schicksalen.

  • Aus: Dichtung und Wahrheit. Dritter Teil.
    Dreizehntes Buch. Stuttgart/Berlin:
    Cotta, 1904 (Jubiläumsausgabe). Bd. 24. S. 137.

12. Eichendorff in »Der deutsche Roman« (1851)

Jene sanfte Moral aber, wie sie an sich weibisch ist, wurde daher auch sehr bald ausdrücklich für Frauen und von Frauen debütirt, deren Romanhelden wiederum Frauen sind. Von dorther datiren selbst noch die zahlreichen Entsagungsromane der neuesten Zeit, wo die alten Jungfern, welche im Grunde nichts mehr aufzugeben haben, anstatt eines wahrhaften Aufschwungs ernster Selbstüberwindung, gegen die imaginäre Teufelei der Männer kein anderes Mittel wissen, als sich zimperlich auf eine ebenso imaginäre Frauenwürde zurückzuziehen, die eigentlich nur die weibliche Kehrseite der männlichen Biederbigkeit ist. An der Spitze dieses weiblichen Tugendbundes steht eine brave Frau, die bekannte Sophie von Laroche, von den gleichzeitigen männlichen Tugendbündlern nur durch eine sorgfältige Parure von Empfindsamkeit unterschieden, gegen die jene Biedermänner gerade sehr plump und polternd zu Felde zogen. Gleich ihr erster Roman: »Das Fräulein von Sternheim«, eröffnet jenen feierlichen Rückzug der Damen in ihr tugendgeschmücktes Boudoir. Die Verfasserin raubt »dem gefühlvollen Herzen« ihrer Heldin Vermögen, Ansehen, guten Ruf, Freunde und Gemahl, um zu beweisen, »daß, wenn das Schicksal uns auch Alles nähme, was mit dem Gepräge des Glücks, der Vorzüge und des Vergnügens bezeichnet ist, wir in einem mit nützlicher Kenntniß angebautem Geiste, in tugendhaften Grundsätzen des Herzens und in wohlwollender Nächstenliebe die größten Hülfsquellen finden würden«. In »Rosaliens Briefen« wünscht sie unter Anderm durch die Darstellung des Hofmanns Cleberg junge Männer, die sich Hofdiensten widmen, auf den rechten Weg zu bringen; und »Melu-sinens Sommerabende« sind aus dem Verlangen entstanden, »aus ihren Lieblingsschriftstellern ihre Freundin Melusine unsterbliche Blumengewinde des Guten und Schönen der moralischen Welt neben Fruchtschnuren des Nützlichen sammeln zu lehren und ihre Tage damit zu schmücken«. Seltsam, während die Laroche die geistige Ahnfrau jener süßlichen Frauengeschichten geworden, ist sie, wie zur Buße, zugleich die leibliche Großmutter eines völlig andern genialen Geschlechts [ihre Enkel sind die Romantiker Clemens Brentano und Bettina von Arnim. BB-C], und nimmt sich dabei wie eine Henne aus, die unverhofft Schwäne ausgebrütet hat, und nun verwundert und ängsdich das ihr ganz fremde Element umkreist, auf welchem diese sich wiegen und zu Hause sind.

  • Aus: Joseph von Eichendorff: Historisch-kritische Ausgabe.
    Regensburg: Habel, 1965. Bd. 8. T.2. S.90f.

Texttyp

Literaturkritik