Der reformulierte Strukturbegriff im Anschluß an Godelier, Althusser und Amason wird im folgenden auf seine historisch-empirische Tragfähigkeit untersucht. Erfüllt er die in ihn gesetzte Erwartung, Auskunft über die soziale Konstitution des Geschlechterverhältnisses unter bürgerlich-kapitalistischen Bedingungen geben zu können? Die Genauigkeit einer solchen Auskunft hängt von den Informationen ab, die über den untersuchten Gegenstandsbereich bereits vorliegen. Die Struktur - und Widerspruchstheorie im Anschluß an die obigen Autoren stellt ja nicht mehr als den metatheoretischen Rahmen zur Verfügung, der mit Inhalten erst noch anzureichern und aufzufüllen wäre. Als Untersuchung, die ein Problem der feministischen Forschung zu lösen sucht, kann mit diesem theoretischen Gerüst auf bereits vorliegende Ergebnisse der Frauenforschung zurückgegriffen werden. Diese Resultate lassen sich wiederum nach zwei Richtungen unterscheiden. Zum einen erlaubt die vorgeschlagene Vorgehensweise den Rückgriff auf bereits erhobenes und veröffentlichtes Datenmaterial, das sekundäranalytisch einer ReInterpretation und -Evaluation unterzogen werden kann. Zum anderen wird es mit ihr möglich, Übereinstimmungen und Differenzen zu vorliegenden theoretischen Entwürfen und Analysen herauszuarbeiten, um die Kontinuität feministischer Forschung zu akzentuieren. In dem hier entwickelten theoretischen Rahmen lassen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede wie folgt verorten. Sie beziehen sich allesamt auf das feministische Materialismus-Postulat, wenngleich ausschließlich auf die Vergesellschaftung weiblicher Arbeitskraft und nicht auch der weiblichen Gebärtätigkeit. Sie nehmen für sich nicht in Anspruch, strikt politisch-ökonomisch zu argumentieren; die erkenntnis- bzw. strukturtheoretischen Problematiken wie im vorangehenden Kapitel dargestellt sind innerhalb dieser Theoriekonzeptionen entweder belanglos oder wurden aufgrund des Theoriestandes der Frauenforschung seinerzeit noch nicht gesehen. Die Frage nach der sozialen Strukturiertheit des Geschlechterverhältnisses, die heute im Mittelpunkt der Theoriearbeit der Frauenforschung steht, ließ sich bis vor kurzem noch nicht stellen, es gab kaum eine wissenschaftskritische Rezeption der historisch-materialistischen Theorietradition, die diese Frage- und Problemstellung erst generierte. Diese Differenz drückt sich im folgenden in der systematisch-analytischen Aufbereitung des Stellenwerts des Geschlechterverhältnisses und nicht, wie bei den hinzugezogenen Autorinnen, der sozialen Plazierung von Frauen aus. Notwendig ist mit einer solchen Reformulierung der Fragestellung diejenige nach der Interdependenz von Klassen- und Geschlechterverhältnis verbunden, auch diese Dimension besitzt bei den im folgenden hinzugezogenen Autorinnen einen untergeordneten Stellenwert. Weiterhin existiert das Theorie-Empirie-Problem in diesen Untersuchungen nicht in der hier angeschnittenen Art und Weise, auch nicht als Frage nach der Operationalisierbarkeit einer Metatheorie. Godeliers Anspruch einer "Verallgemeinerung der Methode der strukturalen Analyse" wird als eine solche Metatheorie verstanden. Als theoretische Aussagen werden diese Entwürfe deshalb heuristisch der Ebene von verborgenen Strukturzusammenhängen zugeschlagen, sofern sie nicht ausdrücklich historisch-empirische Bezüge aufweisen und dann im Sinne sichtbarer Funktionszusammenhänge interpretiert werden. Erst das Resultat der Untersuchung kann Aufschluß darüber geben, ob die Frage nach den Konstitutionsbedingungen des Geschlechterverhältnisses über den bisherigen Forschungsstand hinausgeht oder nicht; die Vorgehensweise der Untersuchung berechtigt ist oder nicht. Die systematische Gliederung des Kapitels folgt der Unterscheidung zwischen einer Struktur der Produktivkräfte und der ihr innewohnenden Dynamik, die die Transformation von einer zur anderen Produktionsweise induziert, und einer Struktur der Produktionsverhältnisse, die sich so lange als invariant erweisen kann, bis sie mit den in Bewegung geratenen Produktivkräften nicht mehr vereinbar ist. In der Darstellung schlägt sich dieser analytische Zugang folgendermaßen nieder. Ausgangspunkt ist ein historischer Abriß der verschiedenen Ausprägungen einer Einheit von Wirtschafts- und Familienverband unter agrarisch - handwerklichen Bedingungen in ihrer Einbindung in die besondere Eigentumsverfassung der vorindustriellen Gesellschaft. Diese Wirtschafts- und Familienverbände integrierten die Geschlechter, weitgehend unabhängig von
ihrem Besitzstatus, [1] Arbeitsteilung und Fortpflanzung in ihrer historischen Besonderheit einschloß.
Dieser historische Abriß leitet über zur Darstellung der besonderen sozialen Organisationsform dieser Verbände vermittels familien-, gesinde- und dienstvertraglicher Regelungen. Sie bilden in ihrem inneren Zusammenhang die 'Invariante' im Übergang von der alten zur neuen Wirtschafts- und Bevölkerungsweise; behielten für den gesamten Untersuchungszeitraum des 19. Jahrhunderts ihre Geltung. Sie bildeten infolgedessen einen wichtigen Stabilitätsfaktor des in Bewegung geratenen Sozialgefüges. Die Analyse dieses Rechtskomplexes verspricht auf diese Weise Auskunft über strukturell gesetzte Grenzen und Möglichkeiten des Re-Arrangements der Geschlechter, der sozialen Konstitution des Geschlechterverhältnisses unter 'neuen' Bedingungen und Voraussetzungen. Die Analyse von Veränderungen und Anpassungsleistungen dieser Rechtskomplexe an die 'neue' Ordnung erhellt auf spezifische Weise das Gefüge, innerhalb dessen 'Teilung der Arbeit' und 'Fortpflanzung' sich unter kapitalistischen Bedingungen zwischen den Geschlechtern und Klassen herauskristallisierten. Die gesellschaftliche Dynamik, die hier zum Ausdruck kam, wurde infolgedessen mit einer bestehenden Rechtsordnung in ganz bestimmte Bahnen gelenkt. Theorien und Analysen des Wandels der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung im Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft tragen Stabilitätsfaktoren der obigen Art in der Regel nicht Rechnung. Dennoch stellen sie zusätzliche historisch-empirische Daten zur Verfügung, an denen sich der Wandel in der Vergesellschaftung von Arbeitskraft ablesen läßt. Im dritten Teil des Abschnitts werden zunächst Theorien der historischen Entwicklung von Frauenarbeitskraft auf ihre Aussagekraft hin untersucht. Anschließend wird eine sekundäranalytische Auswertung von Daten der Frauenarbeitsforschung unternommen. Ergänzt wird diese Analyse durch den Einbezug von 'Fortpflanzung', des generativ-gesellschaftlichen Bestandserhalts. Im abschließenden Teil des Kapitels wird das Gesamtergebnis resümiert: Wie sich die ursprünglich agrarisch-handwerkliche Einheit von Wirtschafts- und Bevölkerungsweise zu einer strukturellen Trennung verfestigte.
4.1 Die ständische Einheit von Wirtschafts und Bevölkerungsweise:
Ausgangspunkt der Transformation des Geschlechterverhältnisses
Unter den Bedingungen der agrarisch-handwerklichen Standesgesellschaft artikulierte sich die Verbindung (oder Einheit) von Wirtschaften und Fortpflanzung in der Existenz von Familienverbänden, die zugleich Arbeitseinheiten waren. Das gilt auch dort, wo bereits unter ständischen Bedingungen Sonderformen existieren, d.h. Familien, die keine Erwerbseinheiten darstellen: Sie sind zu ihrer Existenzsicherung wiederum abhängig von einer solchen größeren Einheit, z.B. von einem Gutshaushalt oder von einem Verleger. Für die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft gilt wiederum anderes. Beziehen sich beide Vergesellschaftungsformen in der ständischen Gesellschaft auf die Erwirtschaftung eines Mehrprodukts unter vorwiegend agrarischen Bedingungen bei wenig entwickelter Waren-und Geldwirtschaft, so in der bürgerlichen Sozialordnung auf die Erzeugung eines Mehrprodukts primär in Waren- und Geldform. Diesem Sachverhalt entsprechen wiederum spezifische Funktionszusanmenhänge: die ständische Wirtschafts- und Familieneinheit kann ihre sozio-ökonomische 'Funktion' auf weitgehend naturalwirtschaftlicher Grundlage lösen; das gilt selbst für den hierarchischen Zusammenhang solcher Verbände untereinander (Verhältnis Grundherr/dienstpflichtige Bauern). Anderes gilt für den Sozialzusammenhang von Wirtschaftsunternehmung, Familie und Sicherungssystemen. In ihrer Getrenntheit voneinander können sie analoge 'Funktionen' auf primär geldwirtschaftlicher Grundlage nur über das Medium Geld erbringen, das sie wiederum in einem Sachzusammenhang miteinander verbindet. Doch noch ein weiteres Differenzierungsmerkmal ist festzuhalten: Die Existenzsicherung von Individuen auf der Grundlage einer Naturalwirtschaft impliziert persönliche Abhängigkeiten. Das bedeutet jedoch nicht, es hätte auch in dieser Gesellschaft nicht bereits markt- und geldvermittelte Abhängigkeiten gegeben - in Lohnarbeitsverhältnissen. Umgekehrt setzt die entwickelte Waren- und Geldwirtschaft notwendig voraus, daß diese Abhängigkeiten eine andere Gestalt annehmen. Es kann zwar davon ausgegangen werden, daß der verborgene Strukturzusammenhang mit der Herausbildung einer entwickelten Waren- und Geldwirtschaft in diesem Medium eine dinghafte Gestalt annimmt, die Frage ist allerdings, ob hier durchgängig davon die Rede sein kann, Geld trete unterschiedslos als Medium der Vergesellschaftung von Individuen, ihrer Arbeit und Generativität, in Erscheinung; ob sich nicht auch hier naturalwirtschaftliche Elemente erhalten. Nachstehend eine schematische Darstellung, die auf das Strukturkonzept von Godelier zurückgeht und es zugleich ausdifferenziert. Seiner Lesart zufolge besteht die 'Struktur' aus zwei Unterstrukturen. In der Struktur der 'Produktivkräfte' hat sozialer Wandel seinen vorrangigen Platz, in der Struktur der 'Produktionsverhältnisse' wiederum gesellschaftliche Invarianz, innerhalb derer sich dieser Wandel vollzieht. Beide Strukturen in ihrer Interdependenz bringen sozialen Wandel unter den Bedingungen einer Korrespondenz oder Nicht-Korrespondenz hervor; die Grenzen der Vereinbarkeit beider kennzeichnen die Ablösung einer 'Produktionsweise' durch eine andere. Dieses Schema wird zum Ausgangspunkt einer Analyse der Transformation der feudal-ständischen zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft genommen. Unter der Voraussetzung, daß die obigen Strukturmerkmale nicht ausschließlich für eine marktvermittelte Ökonomie gelten, sondern für Sozialorganisation in einem breiteren Rahmen, läßt sich das Schema auf den Tranformationsprozeß der Sozialorganisation beziehen. Im vorliegenden Fall handelt es sich um die Einheit von Familie und Erwerb, in der sich eine besondere Kombination der beiden Strukturdimensionen artikuliert, bzw. um deren Auflösung in unterschiedliche Sozialeinheiten, die deren ursprüngliche Aufgabe übernehmen. Auch für sie gilt, daß sich in ihnen eine jeweils besondere Kombination der beiden Strukturdimensionen niederschlägt, die wiederum auf der Ebene der Sozialorganisation selbst untereinander in einem funktionalen Zusammenhang stehen. Übernimmt man, als Arbeitsbegriff, die Godeliersche Festlegung, die Ebene der Sozialorganisation sei der Ausdruck eines sichtbaren Funktionszusammenhangs der verborgenen Struktur, besagt die Übernahme des Denkmodells, daß unter dieser Voraussetzung zwei Funktionsmodi auseinanderzuhalten sind: Familie und Wirtschaftsunternehmen als Bestandteile oder Elemente der Sozialorganisation stehen untereinander in einem 'funktionalen' (und versachlichten) Zusammenhang, und daß dies so ist, hängt wiederum damit zusammen, daß beide eine (sichtbare) Funktion der (verborgenen) Struktur darstellen. Sie sind nicht Element dieser Struktur - das wären nach dieser Lesart etwa unterschiedliche Ausprägungen der Produktivkräfte oder Produktionsverhältnisse wohl aber 'Element' der Sozialorganisation als sichtbarem Funktionszusammenhang. Dieses begriffliche Raster schließt eine im Godelierschen Entwurf nicht enthaltene Annahme ein: daß die Individuen, die in diese Institutionen eingebunden sind, nicht nur in ihrer Arbeit, sondern gleichermaßen in ihrer Generativität über sie vergesellschaftet werden. Sie erhalten ihren sozialen 'Platz', hier im Anschluß an Althusser, vermittels einer Funktionsbestimmung, die sie objektiv-gesellschaftlich verortet.
{{146-6-1}}Das obige Schema stellt noch keine Anhaltspunkte zur Verfügung, nach welchen Kriterien von einer Ausdifferenzierung der ständischen Wirtschafts- und Familieneinheit in getrennte soziale Institutionen die Rede sein kann. Im folgenden wird unterschieden zwischen der räumlichen, funktionalen und rechtlichen Einheit oder Trennung von Familie und Erwerb.
Die in der historischen Familienforschung geläufige Begrifflichkeit neigt dazu, diese Differenzen einzuebnen. Das gilt besonders für die noch immer gängige Bezeichnung 'ganzes Haus'. Ein solches 'Haus' konnte sich über Eheschließung und Familiengründung etablieren, jedoch nicht notwendig, wenn es gleichrangig im Sinne eines Wirtschaftsverbandes verstanden wird. Das gilt für Kirchengüter, unter Umständen auch für Adelsgüter, deren Eigentümer an einem anderen Ort lebt. Das schließt wiederum nicht aus, daß zu solchen Verbänden Familien gehörten, die dort Land bewirtschafteten oder ein unzünftiges Handwerk betrieben [2]. Die Trennung von Familie und Erwerb kann als Ausgangspunkt eines sehr viel umfassenderen gesellschaftlichen Differenzierungsprozesses gelesen werden, d.h. als Prozeß der Herausbildung gesellschaftlicher Teilbereiche, "die sich auf ganz bestimmte, gesellschaftlich notwendige Funktionen spezialisiert haben und untereinander nur in relativ losen Beziehungen stehen" (Kaufmann 1975, S. 174; meine Hervorh.). Diesen Funktionsbegriff enthält die obige Darstellung auch, neben dem einer 'Funktion' von 'Struktur'. Kaufmann spricht mit seiner Definition nicht die strukturale Ebene an, die hier im Sinne einer 'verborgenen Struktur' konzipiert ist. Der ständische Wirtschafts- und Familienverband bildete zunächst eine räumliche und funktionale Einheit, sie ging mit der Trennung von Familie und Erwerb verloren. Max Weber nennt ein weiteres und wahrscheinlich das wichtigste Differenzierungsmerkmal, das in der vorindustriellen Einheit von Wirtschaft und Familie noch nicht besteht. Weber spricht von einer 'Sondervergesellschaftung', als deren Folge die Trennung von Familie und Erwerb gelesen werden kann: "Aber nicht etwa die räumliche Sonderung des Haushalts von der Werkstatt und dem Laden ist ... das entscheidende Entwicklungsmoment, ... sondern die 'buchmäßige' und rechtliche Scheidung von 'Haus' und 'Betrieb' und die Entwicklung eines auf diese Trennung zugeschnittenen Rechts: Handelsregister, Abstreifung der Familiengebundenheit der Assoziation und der Firma, Sondervermögen der offenen und Kommanditgesellschaft und die entsprechende Gestaltung des Konkursrechtes" (Weber 1964, Bd. 1, S. 297).
Trotz rechtlicher Scheidung von Familie und Erwerb blieb beiden Formen von Wirtschaften und Leben eines gemeinsam: Familienhaupt und Betriebsinhaber waren in der Regel identische Personen, das gilt zumindest bis zur Etablierung einer Trennung von Leitungsfunktionen und Eigentumstiteln in der entwickelten Industriegesellschaft. Aber auch sie ersetzte niemals vollständig die ursprüngliche personale Identität von 'Eigentümer' und 'Familienhaupt'. Für die ständische und frühindustrielle Gesellschaft kann durchgängig eine solche Identität angenommen werden. Sie gilt in unterschiedlicher Konstellation für die drei wichtigsten Typen einer Verbindung von Wirtschaft und Familie:
- in der Landwirtschaft war Regelfall die räumliche, funktionale und rechtliche Einheit von Produktion und Reproduktion,
- im Handwerk bestand zwar eine räumliche und rechtliche Einheit, wohl aber bereits eine funktionale Trennung beider Bereiche in Handwerksbetrieb und Familienhaushalt und
- in Industrie und Gewerbe waren beide Bereiche bereits räumlich, funktional und rechtlich voneinander getrennt.
Analoges gilt für Verwaltung und Beamtenschaft, mit dem Unterschied, daß sie keine 'produktiven' Funktionen im obigen Sinne wahrnahmen, und letzteres gilt auch für ländliche und städtische Unterschichtfamilien ohne eigenständige Existenzgrundlage. Das ganze 19. Jahrhundert über gab es diese 3 Typen nebeneinander - so die proto-industrielle Heimarbeiterfamilie noch als Einheit von Wirtschaften und Leben, aber doch schon in einem Werk- oder Dienstvertragsverhältnis zu einem Verleger, während sich im Manufakturwesen des 17. und 18. und im Fabrikwesen des 19. Jahrhunderts bereits klar die Scheidung beider Bereiche artikuliert. Der ständische Wirtschafts- und Familienverband läßt sich als gesellschaftliche Einrichtung interpretieren, in der sich zwei unterschiedliche Ausprägungen von Ungleichheit im Geschlechterverhältnis niederschlagen: eine vertikale und eine horizontale. Eine vertikale Gliederung besitzt die ständische Gesellschaft bereits auf der Grundlage ihres Eigentums- und Besitzgefüges, es weist diesem Wirtschafts- und Familienverband seinen Platz in der ständischen Gesellschaft zu, vermittelt über die Personalunion von Familienhaupt und Eigentümer. In der Bauernschaft besaßen allerdings 20% aller Bauern weibliche Erben. In diesem Fall übernahm ein Schwiegersohn die Leitung des Wirtschafts- und ohnehin des Familienverbandes. Seine Verfügungsrechte über den Grundbesitz waren jedoch eingeschränkt (vgl. Dörner 1974, S. 48f. und Goody 1982, S. 88). Eine solche vertikale Differenzierung besitzt der Verband auch im Binnenverhältnis und zwar in dem Maße, wie innerhalb eines solchen Verbandes Arbeitsverhältnisse zur Geltung kommen. [3] Sie regulieren den Einsatz und die Kontrolle von Arbeitskraft und reglementieren darüber hinaus die gesamten Lebensumstände der ihnen Unterworfenen. Diese vertikale schneidet sich mit einer horizontalen Ungleichheit im Geschlechterverhältnis, innerhalb des gesamtgesellschaftlichen Gefüges von unterschiedlichem Gewicht je nach Standeszugehörigkeit und Besitzstatus des Hausherrn. Im Binnenverhältnis des Verbandes regelt sie die sozio-ökonomischen Beziehungen zwischen den Geschlechtern und Generationen. Das gilt für die Spitze eines solchen Verbandes, sofern er über Ehe und Familie gestiftet wird, ebenso aber auch unterhalb dieser Ebene. Mittels haus- und familienrechtlicher Regelungen vermochte ein solcher Verband den Einsatz und die Kontrolle von Arbeitskraft, gleichermaßen aber auch von Generativität zu regulieren. Verheiratetes Gesinde im Diensthaushalt stellte eine Ausnahme dar (vgl. Mitterauer/Sieder 1984, S. 59). Die Möglichkeit zur selbständigen Haushaltsführung bestand jedoch schon zu einem historisch relativ frühen Zeitpunkt in großen Handelshäusern (vgl. Mitterauer 1976, S. 83). So zählten zu einem agrarischen Wirtschafts- und Familienverband freies und unfreies Gesinde, Tagelöhner, Inwohner, im Fall von Adelsgütern qualifiziertes Personal wie Hauslehrer und Erzieherinnen; in bäuerlichen Wirtschaften häufig nicht erbberechtigte Kinder oder Geschwister des Eigentümers. Sie besaßen in letzterem Fall den Gesindestatus, wenn sie es nicht von vornherein vorzogen, in einem anderen solchen Verband Gesindedienste zu verrichten. Zum handwerklichen Wirtschafts- und Familienverband zählten wiederum, über die 'eigentliche' Familie hinausgehend, Lehrlinge und Gesellen, weniger demgegenüber Gesinde. Zum ländlichen unzünftigen Handwerk gehörten nicht einmal Lehrlinge und Gesellen (vgl. Mitterauer 1976, S. 108). Freies Gesinde war in den städtischen Wirtschafts- und Familienverbänden beschäftigt, so bei den Gastwirten, Kaufleuten; dasselbe gilt für die frühbürgerliche Familie, die keine erwerbswirtschaftlichen Funktionen wahrnahm. Sie lebte bereits von Einkommen, das an anderer Stelle erworben war, in Industrie, Gewerbe oder Verwaltung. Und es gab darüber hinaus die Familien ohne jegliches Gesinde, die Kleinfamilie in der heutigen Bedeutung. Die ständische 'Hausgründungsregel' [4] verknüpfte die Eheschließung mit dem Nachweis einer ausreichenden Existenzsicherung zum Unterhalt einer Familie; zu unterscheiden ist allerdings zwischen im engeren Sinne politischen und familiären Heiratskontrollen: Wichtigster Bestandteil einer unmittelbar politischen Heiratskontrolle waren Vorschriften, die im Interesse des Erhalts der 'Reinheit' der staatstragenden Oberschicht (Adel) vollgültige Ehen mit standesniederen Personen untersagten (vgl. Dörner 1974, S. 37f., Wehler 1987, Bd. 2, S. 146 ff.). Sie wiederum sind Bestandteil familienrechtlicher Bestimmungen, wurden allerdings im Zuge der Aufhebung der Erbuntertänigkeit [5] aus dem Geltungsbereich hausrechtlicher Kontrollen in dem Maße herausgenommen, als weder freies Gesinde noch gewerbliche Lohnarbeitskraft zur Heirat der Einwilligung des Dienstherrn bedurfte. In einem Wirtschafts- und Familienverband lebten nach diesem Zeitpunkt lediglich Familien im Inwohner-Status, die zur Eheschließung eine obrigkeitliche Genehmigung einholen mußten [6]. Mit diesem Hinweis ist bereits angedeutet, daß die Beziehungen der Mitglieder eines solchen Verbandes untereinander zwar durchaus eindeutig, aber doch wiederum auf vielfältige Weise geregelt wurden. Ihnen ist jedoch eines gemeinsam. Die Kontroll - und Weisungsbefugnisse gegenüber verwandten Personen im Familienverhältnis und gegenüber Arbeitskräften in einem Arbeitsverhältnis bündelten sich in der Person des Eigentümers und Familienhauptes; diese Person fungierte als Träger beider Verhältnisse. Und noch eine weitere Besonderheit: man kann nicht von einem Vorrang des einen Verhältnisses vor dem anderen Verhältnis ausgehen, beide waren von mindestens gleichrangiger Bedeutung auch hinsichtlich der Ausgestaltung des Geschlechterverhältnisses unter ständischen und industriellen Bedingungen im 18. und 19. Jahrhundert. Das belegt bereits die Zahl derjenigen, die von Eheschließung und Familiengründung [7] ausgeschlossen waren.
Die obige Typologie sagt nichts darüber aus, wie sich die einzelnen Wirtschafts- und Familienformen in ihrer Einheit und Getrenntheit auf die einzelnen Stände verteilten. Genaue Angaben für einen größeren Herrschaftsbereich werden selbst der sozialhistorischen Forschung nicht möglich sein. Auch die in den vergangenen Jahren entwickelte Methode der Familienrekonstitution erlaubt darauf keine Rückschlüsse: sie erfaßt lediglich Verwandtschaftsbeziehungen, nicht aber Dienstvertragsverhältnisse. Für den hier verfolgten Zweck genügt ein Überblick über die ständische Differenzierung nach Eigentums- und Besitzkriterien. Er erlaubt den Schluß, daß die Mehrheit der Bevölkerung weder über Eigentum oder Besitz, noch über eine Familie verfügte und daß auch diejenigen, die zur Ressource 'Grund und Boden' Zugang hatten, nur in seltenen Fällen die Möglichkeit besaßen, Reichtum anzusammeln. Eine weitere Schlußfolgerung: Das Modell der frühbürgerlichen Familie mit seiner geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung galt, hochgerechnet auf die Bevölkerungszahl des deutschen Reichsgebiets um 1800, für allenfalls ein Hunderstel seiner Bevölkerung; das Modell des bäuerlichen Wirtschafts- und Familienverbandes mit fremder Arbeitskraft dürfte für etwa 25% der Bevölkerung gegolten haben: Ein Drittel der Landbevölkerung waren Bauern, die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung jedoch arm. Die sozialromantische Verklärung des vorindustriellen Zeitalters neigt dazu, diesen Sachverhalt nur allzu leicht zu übersehen, auch die Frauenforschung ist nicht frei von solchen Tendenzen. Die deutschen Herrschaftsgebiete waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch reine Agrarstaaten. Auf dem Land lebten ca. 80% der Bevölkerung. [8] Der Adel stellte nicht mehr als 1% der Bevölkerung, in manchen deutschen Herrschaftsgebieten noch weniger als das. Er besaß, als Ausfluß der Grundherrschaft, feudale Rechte auf Naturalabgaben und Rentenzahlungen, auf Zwangsgesindedienste und andere Dienstleistungen, ebenso auf die einträgliche Patrimonialgerichtsbarkeit (vgl. Koselleck 1967, S. 40). Der Adlige war, in seiner Eigenschaft als Grundeigentümer auf diese Weise zugleich Arbeitgeber, Richter, Patronats- und Jagdherr und Kompagniechef seiner Erbuntertänigen. Die Bauern stellten etwa ein Drittel der Landbevölkerung und unterschieden sich noch einmal erheblich voneinander entsprechend ihren jeweiligen Besitzrechten und Verpflichtungen gegenüber dem Grundadel. Wehler unterscheidet zwischen
- den nur selten anzutreffenden völlig freien Bauern ohne jegliche Dienstverpflichtungen und Abgaben,
- den sehr viel häufiger vorkommenden Bauern, deren Bodenrechte auf Erbpacht und Erbzinsrecht beruhten und deren Kinder einem Gesindezwang beim Grundherrn unterlagen. Über die Erbnachfolge konnten diese Bauern wiederum frei verfügen.
- Ein Typus besaß ebenfalls das Erbrecht; Boden, Gebäude und Inventar gehörten jedoch dem Grundherrn, er entschied letztlich über die Erbnachfolge nach Vorschlag des Bauern. Diese Bauern waren zu Abgaben und Diensten verpflichtet und konnten weder Land abtreten, noch Hypotheken auf ihr Land aufnehmen.
- gab es die 'unerblichen Lassitten', sie stellten den Großteil der ostelbischen Bauern. Sie unterlagen denselben Beschränkungen wie der dritte Typus.
- Ein Typ, allerdings geringer an der Zahl, bestand aus Zeitpächtern,
- einen Typus bildeten die Leibeigenen. Sie waren ebenfalls relativ selten in den deutschen Herrschaftsgebieten
(Wehler 1987, Bd. 1, S. 140 ff.). Regelfall in der westdeutschen Grundherrschaft war der Minderfreie, der als persönlich freier Mann [9] auf grundherrlich gebundenem Boden
einer Reihe von Dienstverpflichtungen, Abgaben und Einschränkungen unterlag; in den ostelbischen Gebieten herrschte demgegenüber der Typus der erbuntertänigen Bauern vor. Wehler zieht aus dieser Typologie folgendes Resümee: "Je nach Stellengröße, dem Besitzrecht und der Rechtsstellung bemaßen sich die Rechte und Pflichten der Bauern vor Gericht, auf der Steuerliste, in der Dorfgenossenschaft, vor allem aber hinsichtlich der Dienste und Abgaben, denen bis auf die Ausnahme der wenigen besitzrechtlich und persönlich freien Hofbesitzer alle Bauern unterworfen waren. Damit stößt man auf einen harten Kern bäuerlicher Abhängigkeiten, von denen auch eine nachhaltig stratifizierende Wirkung ausging. Diese Auflagen verpflichteten die Bauern mit ihren Familien zu regional stark voneinander abweichenden Leistungen, die, gemessen oder sogar ganz ungemessen, Arbeitszeit, Naturallieferungen, Rentenzahlungen und noch dazu versteckte Subventionen für die Herren umfaßten" (ebd., S. 163). Gesindeordnungen unterwarfen darüber hinaus die Kinder der Bauern, auf die die Grundherren ein Vormietrecht besaßen, den Zwängen der grundherrlichen Hauswirtschaft. Hinzu kamen hohe Abgaben: Im 18. Jahrhundert zwischen 40 und 50% der bäuerlichen Bruttoproduktion. Die wirtschaftliche Lage der Bauern wurde weiter beeinträchtigt durch hohe Landessteuern, gegen Ende des 18. Jahrhunderts rund 40% des bäuerlichen Nettoertrags. Für ca. 80% aller Bauern galt, daß ihr Lebenshaltungsniveau um das Existenzminimum herum pendelte, mal darüber, oft aber auch darunter lag. Sie lebten und arbeiteten zwar in einer 'Einheit von Produktion und Reproduktion', dies bedeutete jedoch keineswegs eine sorgenfreie Existenz aus eigenen Erträgen. Von diesen bäuerlichen Schichten unterscheiden sich noch einmal die unterbäuerlichen Gruppierungen:
- die Kleinstelleninhaber, die auf schlechtem (nicht verhuftem) Land wirtschafteten, das entweder ihr Eigentum oder ihnen leihweise vom Grundherrn überlassen war. Sie partizipierten in der Regel an den Gemeinheiten an Wald und Wiese, ihre Existenz konnten sie vom Ertrag der eigenen Wirtschaft jedoch nicht bestreiten. Sie waren meist auf einen Nebenverdienst angewiesen.
- Eine Gruppe bildete die landlose Bevölkerung. Sie besaß entweder eine eigene Hütte oder lebte weitaus häufiger als Einlieger in einem fremden Haushalt. Sie bewirtschaftete allenfalls einen Garten oder Acker und erbrachte in der Landoder Gewerbewirtschaft Lohnarbeit.
- Eine und letzte Gruppe der ländlichen Bevölkerung bildete das freie Gesinde auf Bauernhöfen und das unfreie Gesinde auf Herrenhöfen. Sie wurden gegen Kost, Kleidung und Unterkunft, u.U. gegen einen geringen Jahreslohn, beschäftigt.
Bereits um die Mitte des 18. Jahrhunderts bildeten die ländlichen zusammen mit den städtischen Unterschichten den größten Teil der Bevölkerung in den deutschen Herrschaftsgebieten. In diesen breiten Unterschichten vollzog sich das demographische Wachstum im 18. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Für das deutsche Reichsgebiet wird die Bevölkerungszahl um 1750 auf ca. 16 - 18 Mio. geschätzt, um 1800 soll sie bereits ca. 23 - 24 Mio. betragen haben. Die Bevölkerungsexpansion vor dem Einsetzen des Industriezeitalters wird noch deutlicher anhand der Zahlen für Preußen: In den Grenzen von 1846 betrug dessen Bevölkerungszahl 1700 5.1 Mio., 1740 bereits 6.4 Mio und um 1800 8.8 Mio. - innerhalb eines Zeitraums von nur 100 Jahren nahezu eine Verdopplung seiner Einwohnerzahl, trotz politischer und familiärer Heiratskontrollen. Bis 1848 war die Bevölkerung Preußens auf 16.2 Mio. angewachsen, verdoppelte sich also noch einmal im Verlauf von nur 50 Jahren (vgl. Wehler 1987, Bd. 1, S. 68 ff. und Bd. 2, S. 17 f.).
Nach 1800 sind zwei Tendenzen beobachtbar: ein starker Zuwachs der besitzlosen, lohnarbeitenden Landbevölkerung (vgl. Koselleck 1967, S. 503 ff.) und beim Gesinde eine wachsende Hierarchisierung (vgl. Weber-Kellermann 1987, S. 160). Das Gesinde stellte um 1800 nach Koselleck 1/7 der Gesamtbevölkerung Preußens, das sind in absoluten Zahlen 1 Mio. Besonders die Zahl der bei Hofe verbleibenden Mägde und Knechte vermehrte sich stark, sie wuchsen hinein in die Schicht der landlosen Tagelöhner (ebd., S. 133). Im 19. Jahrhundert wanderten darüber hinaus viele dieser Besitzlosen aus in überseeische Gebiete (vgl. Philippovich 1892). Ein weiterer Teil der landlosen Unterschichten wanderte ab in die Städte und suchte dort Arbeit als Tagelöhner, Handlanger, Dienstboten; Männern bot sich die Möglichkeit des Militärdienstes, viele zogen allerdings wohnsitzlos und bettelnd über das Land. Nach neueren Schätzungen soll es sich bei letzteren um einen Bevölkerungsanteil von mehr als 10% gehandelt haben. Auf dem Land schuf die Ausbreitung des Heimgewerbes diesen Land- und Besitzlosen zum Teil neue Existenzmöglichkeiten, es bildete so einen in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzenden Faktor auch des sozio-ökonomischen Wandels hin zu einer gewerblich-industriellen Produktionsweise. Das proto-industrielle Heimgewerbe behielt seine Bedeutung bei bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts, als Fabriken ihm endgültig die Existenzgrundlage entzogen (vgl. Mooser 1984). Die städtische Oberschicht betrug in der Regel nicht mehr als 5% der Stadtbewohner, die Mittelschichten stellten allenfalls ein Drittel der städtischen Bevölkerung. Selbst für letztere gilt nicht die Vorstellung eines zwar arbeitsamen, aber doch relativ sorgenfreien Lebens. Neben dem zünftigen Handwerk hatte sich ein oft übersetztes Kleingewerbe etabliert und lebte häufig am Rande des Existenzminimums. Ähnliches gilt für das selbständige Handwerk: die meisten Handwerker verfügten weder über Lehrlinge, noch über Gesellen. Die Kaufleute, Krämer, Gastwirte lebten ebenfalls unter eher ärmlichen Umständen, aber noch immer besser als die vielen Unterbürgerlichen. Letztere stellten bereits im Mittelalter bis zu 50% der Stadtbevölkerung, nunmehr angewachsen auf häufig bis zu 70%; dokumentiert z.B. für die Städte Wismar, Rostock und Münster (vgl. Wehler 1987, Bd. 1, S. 193). Ein Proletariat gab es noch nicht, wohl aber freie Lohnarbeiter in den Manufakturen. Wie der Handwerksbetrieb verfügten diese über einen ausgebildeten Stamm an Arbeitskräften, in der Mehrheit bestand die Belegschaft jedoch aus ungelernten Kräften der städtischen und ländlichen Unterschichten. Wie im proto-industriellen Heimgewerbe war in diesen Manufakturen ein hoher Anteil Frauen und Kinder beschäftigt, sie stellten oft 1/4 bis 1/3 der Gesamtbelegschaft [10]. Die Frauen und Männer im deutschen Herrschaftsbereich des beginnenden 19. Jahrhunderts waren eingebunden in eine agrarisch-handwerkliche Sozialverfassung. Das gilt selbst für jene, deren Lebens- und Arbeitsbedingungen von den Vorläufern der Industriegesellschaft geprägt waren: im ländlichen Heimgewerbe, im Manufakturwesen, in der Montanindustrie. Der relativ hohe Grad an Einheitlichkeit in dieser Sozialverfassung auf der Ebene der Wirtschafts- und Familienverbände wird erkennbar, wenn die Rechtsgrundlage betrachtet wird, die die agrarisch-handwerkliche Familienökonomie zusammenhielt und die zugleich das institutionelle Dach für die Familien- und Wirtschaftsorganisation der Übergangsgesellschaft abgab. Exemplarisch läßt sich dies an der Rechtsordnung Preußens aufzeigen; das 1794 in Kraft getretene Preußische Landrecht (ALR) war Grundlage für einen Komplex von Rechtsbestimmungen, der über die Zeit der Reichsgründung hinweg bis zur Einführung des BGB im Jahre 1900 galt.
4.2 Familien - und Arbeitsrecht als Garanten von Geschlechterungleichheit
Die in diesem Abschnitt angestrebte Analyse eines inneren Zusammenhangs von Rechtsbestimmungen und Ungleichheit im Geschlechterverhältnis am Beispiel des Geltungbereichs des ALR war bereits vor zehn Jahren Gegenstand einer Untersuchung von Ute Gerhard (1978). Die von ihr behandelte Problemstellung wird hier erneut unter den eingangs genannten Gesichtspunkten aufgegriffen; von der seinerzeit von dieser Autorin behandelten Fragestellung nach der sozialen Plazierung von Frauen und deren Wandel unterscheidet sich die vorliegende Untersuchung in der Frage nach den Konstitutionsbedingungen des Geschlechterverhältnisses. Die Differenz zu ihrer Untersuchung liegt vor allem in der theoretischen Konzeptualisierung und im Einbezug neuerer Ergebnisse der rechtshistorischen Forschung (Weber -Will 1983). Gerhard befaßt sich jedoch zusätzlich mit Problemstellungen, die hier lediglich am Rande gestreift werden, weil bereits ihre Arbeit und andere Monographien vorliegen: die zum Verständnis des Frauenbildes des Familienrechts im ALR wichtigen geistesgeschichtlichen und politischen Einflüsse, wie sie in dessen Konzeption eingeflossen sind. Verwiesen sei hier ebenfalls auf die grundlegende Arbeit von Schwab (1967) und die Ausführungen bei Mestwerdt (1961), Dörner (1974) und Weber-Will (1983). Die Schneidung von Familien-, Gesinde- und Dienstvertragsrecht [11] wird im folgenden als komplexe Bündelung von Rechtbestimmungen im Sinne eines sichtbaren Funktionszusammenhangs der verborgenen Struktur interpretiert, der über den Staat [12] gestiftet wird. In deren Zentrum steht die Vergesellschaftung von Individuen, ihrer Arbeit und Generativität, über den Zugang zu der Ressource 'Grund und Boden'. Gleichzeitig verschiebt sich dieser Fokus in der Übergangsgesellschaft auf Vergesellschaftung über die sich herauskristallisierende Ressource 'Kapital'. Im Zuge der Entstehung der neuen Produktionsweise erfolgt die Vergesellschaftung von Arbeit und Generativität über den Bezugspunkt 'Kapital' und dessen Medium 'Geld', jedoch immer noch innerhalb der Geltung dieses Rechtskomplexes. Dem Rekurs auf den obigen Rechtskomplex, verstanden als Ausdruck der Struktur von Produktionsverhältnissen, liegt eine weitere theoretische Vorüberlegung zugrunde: Er besitzt, innerhalb einer Vielzahl möglicher anderer Artikulationen dieser spezifischen Struktur, eine besondere Bedeutung, die ihn gegenüber jenen hervorhebt. Läßt sich die Annahme belegen, daß die Arbeit und Generativität von Individuen zentral über diesen Rechtskomplex vergesellschaftet werden, läßt er sich zugleich als Ausdruck einer Dominante von Struktur interpretieren. Dieser von Althusser geprägte Begriff wird hier in dem Sinne aufgegriffen und transformiert, daß diesen beiden Vergesellschaftungsmodi, Arbeit und Generativität, eine privilegierte Bedeutung gegenüber anderen Modi beigemessen wird. Die folgenden Überlegungen gelten dem Nachweis, daß erstens eine solche strukturelle Interdependenz besteht, daß sie aus sichtbaren Funktionszusammenhängen rekonstruierbar ist; und zweitens der Überprüfung der These der Existenz eines 'objektiven Zirkels' in der Fortschreibung sozialer Ungleichheit. Besteht er tatsächlich, sind Auswirkungen auf die Annahme einer strukturellen Invarianz zu erwarten: Die von Godelier im Anschluß an Marx aufgestellte These, diese Struktur mitsamt ihrem internen Widerspruch besäße eine solche Invarianz ausschließlich in bezug auf eine bestimmte Produktionsweise, würde durch den Nachweis der Existenz eines 'objektiven Zirkels' relativiert. Es müßten zumindest fließende Übergänge zwischen beiden Bezugspunkten der Vergesellschaftung von Individuen, ihrer Arbeit und Generativität, erkennbar werden oder, noch anders formuliert, die Vergesellschaftung über 'Grund und Boden' und über 'Kapital' müßte Gemeinsamkeiten oder Korrespondenzen zu erkennen geben. Die analytische Bedeutung einer solchen Vorgehensweise für den Fortgang der Untersuchung: Mit ihr dürften sich Anhaltspunkte ergeben, wo kapitalistische Vergesellschaftung auf überlieferte Traditionen zurückgreift und ihren eigenen Erfordernissen anpaßt, wo sie aber auch völlig neue Voraussetzungen und Bedingungen schafft, die allesamt auf das Verhältnis der Geschlechter in warenproduzierenden Gesellschaften Einfluß nahmen und nehmen. Noch einige Erläuterungen zum systematischen Aufbau der Argumentation. Auf der analytischen Ebene sichtbarer Funktionszusammenhänge orientiert sie sich an der Überlegung einer ursprünglichen Einheit und sukzessiven Trennung von Familie und Erwerb. Historisch gerichtete und gegenwartsbezogene soziologische Analysen dieser Bereiche verzichten häufig auf die Untersuchung der Bedeutung rechtlicher Regulierungen dieser Bereiche, in noch stärkerem Maße gilt das für die Untersuchung der Interdependenz von Familie und Erwerb und infolgedessen auch für rechtliche Interdependenzen. Aus solchen einzelwissenschaftlichen und, bezogen auf die Soziologie, teildisziplinären Sichtweisen resultieren mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Reihe von Mißverständnissen zwischen historischer und gegenwartbezogener Forschung, die in den vorliegenden Untersuchungskontext hineinreichen. Das gilt etwa für die Vorstellung der vorindustriellen Familienwirtschaft als Versorgungseinheit, von Historikern kurzerhand als 'Ideologie' tituliert, mit der gelegentlich sozialpolitische Modelle der Altersversorgung legitimiert werden (vgl. Mitterauer/Sieder 1984, S. 61). Gleicherweise gilt das für die in der Frauenforschung häufig anzutreffende Annahme, beide Geschlechter hätten in der vorindustriellen Gesellschaft im Familienverband eine relativ gleichberechtigte soziale Position eingenommen. Diese Sichtweise trägt weder der hier als 'horizontal', noch der als 'vertikal' bezeichneten Differenzierung Rechnung; sie vernachlässigt in beiden Fällen zugunsten einer sozialromantischen Verklärung der Vergangenheit das hohe Ausmaß an sozialer Ungleichheit im vorindustriellen Zeitalter. In Rechtsnormen schlägt sich ein Soll - und nicht der Ist-Zustand nieder. Ihre Durchsetzung ist allerdings an ein gewisses Maß von sozialer Akzeptanz angewiesen - selbst bei denjenigen, die durch sie gesellschaftliche Benachteiligung erfahren. Das gilt auch für patriarchalische Vergesellschaftungsmuster. Sie wurden von der breiten Masse der Frauen in der Übergangsgesellschaft offensichtlich nicht infragegestellt. Die Analyse von deren prägender Wirkung wird von der historischen Familienforschung bis heute vernachlässigt, das gilt ebenfalls für die Familiensoziologie. Beide tendieren dazu, den Einfluß von Rechtsnormen auf Familienstrukturen und -beziehungen zu unterschätzen, so Klippel (1978, S. 566 und 1985, S. 4S0). Dieser Autor plädiert mit Nachdruck für eine interdisziplinäre Vorgehens- und Sichtweise. Eine interdisziplinäre Perspektive würde dazu beitragen können, einige Fehlschlüsse zu beseitigen. Aus diesem und noch aus einem anderen Grund werden im folgenden die Grundzüge der einzelnen Rechtskomplexe dargestellt: Sie stellen das historisch-empirische 'Material' dar, das Aufschluß darüber geben kann, wie sich erst in Teilaspekten bekannte Strukturprinzipien in ihm artikulieren. Die exklusive Sicht der marxistischen Forschung auf die Vergesellschaftung von Arbeit legt eine Vorgehensweise nahe, die von der partiellen Bekanntheit der Strukturprinzipien ausgeht, jedoch zusätzliche Anhaltspunkte zum Beleg der Hypothese gewinnen muß, daß diese Prinzipien sich nicht allein auf die Vergesellschaftung von 'Arbeit', sondern gleichermaßen auf die von 'Generativität' beziehen und für sie gelten. Zur sachlichen Begründung der Wahl des ALR, das ja lediglich für einen Teil des deutschen Herrschaftsgebiets galt, um von seiner Untersuchung mögliche Schlüsse auf allgemeine Entwicklungstendenzen ziehen zu können: Diese Rechtsordnung galt für den größten Teil der deutschen Territorien. Sein Familienrecht stellte darüber hinaus die Diskussionsgrundlage für das ab 1900 geltende Familienrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) dar. Dasselbe gilt für sein Dienstvertragsrecht punktuell knüpfte die Reichsgewerbegesetzgebung ab 1871 an es an. [13] Die gesinderechtlichen Bestimmungen des ALR galten nur bis 1810, von diesem Zeitpunkt ab übernahm deren Funktion die Preußische Gesindeordnung (Ges0). Deren Geltung überdauerte das Inkrafttreten des BGB im Jahre 1900. Die Gesindeordnung wurde erst nach dem Sturz des Kaiserreichs 1918 ersatzlos gestrichen [14]. Handwerksordnungen werden in die Darstellung in dem Maße einbezogen, wie deren Bestimmungen Eingang in dienstvertragliche Regelungen fanden. Aus diesem Rechtskomplex können zumindest Schlüsse auf eine mitteleuropäische Entwicklung in der Transformation und Strukturierung des Geschlechterverhältnisses gezogen werden, wie sie sich in der Einheit von Wirtschafts- und Familienverband bündelten, mit der Trennung dieser Einheit in Erwerb und Familie zunehmend allerdings auf unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche erstreckten.
4.2.1 Familienrechtliche Patriarchalismen
Der erste der hier untersuchten Rechtskomplexe des ALR betrifft das Familienrecht, es regelt die Beziehungen der Geschlechter vor allem in horizontaler, vermittelt aber auch in vertikaler Richtung. Unter 'Familie' versteht das ALR die 'häusliche Gesellschaft' als unterste Stufe im politischen Gesamtgefüge der ständischen und vorindustriellen Gesellschaft. Das Gesinde und dessen Rechtsstellung zur und innerhalb der 'häuslichen Gesellschaft' ist ansatzweise mit ihm erfaßt', dieses Arbeitsverhältnis findet seinen Rechtsausdruck in einer gesonderten Gesindeordnung. [15] Das Familienrecht des ALR definiert das Geschlechterverhältnis nach strikt patriarchalischen Grundsätzen. Die Rechtsstellung des Mannes in seiner Eigenschaft als 'Haupt der häuslichen Gesellschaft' zeichnet sich durch umfassende Entscheidungsbefugnisse hinsichtlich der Lebensgestaltung aller Familienmitglieder aus. Als ein solches 'Haupt' ist er Vater, Ehemann und Dienstherr in Personalunion; die in diesen unterschiedlichen Verhältnisbestimmungen festgelegten Rechte und Pflichten machen insgesamt seine familiale und wirtschaftliche Vormachtstellung gegenüber den ihm Hausunterworfenen aus. Zu berücksichtigen wäre weiterhin das Verhältnis des 'Hauptes der häuslichen Gesellschaft' zu den Altenteilern (seinen Eltern oder denen der Ehefrau, wenn der Besitz und das Eigentum aus deren Familie stammen). Im hier erörterten Kontext ist besonders der Hinweis wichtig, daß die Autoritätsposition nicht unbedingt in der älteren, sondern auch in der mittleren Generation liegen kann (3 Generationen-Haushalt) (vgl. Mitterauer/Sieder 1984, S. 49). Letzteres war im 19. Jahrhundert jedoch nicht Regelfall. Im gesamtgesellschaftlichen Besitz- und Eigentumsgefüge erfährt die Vormachtstellung des Hausherrn in der Mehrzahl der Fälle sicherlich eine Relativierung, je nach dem, über welche wirtschaftlichen Ressourcen eine solche 'häusliche Gesellschaft' verfügt. Dieser Sachverhalt wird hier vernachlässigt, verwiesen sei hier wiederum auf die ausführliche Darstellung in Wehlers "Deutsche Gesellschaftsgeschichte" (1987). Als Vater von Töchtern und Söhnen räumte ihm das ALR eine Vormachtstellung gegenüber der Mutter dieser Kinder ein, zum Ausdruck kommt das im Begriff 'väterliche Gewalt'. Standesgemäßer Unterhalt und eine entsprechende Erziehung galten zwar als Aufgabe der Eltern, die Mutter jedoch vorwiegend zuständig für die "körperliche Pflege und Wartung der Kleinkinder" bis zum Alter von vier Jahren. Ab diesem Alter konnte der Vater der Mutter die Aufsicht über die Kinder auch gegen ihren Willen entziehen, und er konnte die Kinder ohne Einwilligung der Mutter zur Adoption freigeben (Vgl. Weber-Will 1983, S. 118). Dem Vater fiel weiterhin eine Vorzugsstellung bei der Einwilligung zur Eheschließung von ehelichen Kindern zu. Ohne eine solche Zustimmung war deren rechtsgültige Heirat ausgeschlossen. Das galt selbst für Kinder, die bereits verheiratet gewesen waren; für Söhne, die aus der väterlichen Gewalt entlassen waren und für Töchter nach deren Volljährigkeit (24 Jahre). Der Vater konnte im Fall einer solchen Eheschließung innerhalb einer Frist von 6 Monaten nach Kenntnis deren Aufhebung beantragen. Auf die Partner(innen)wahl seiner Kinder besaß er infolgedessen einen starken Einfluß, ebenso auf die Heirat selbst. Eine Einwilligung der Mutter sah das ALR nicht vor; sie war lediglich erforderlich im Falle der Heirat minderjähriger, vaterloser Kinder und zwar zusammen mit der des Vormunds (vgl. ebd., S. 126). Dörner spricht von einer 'negativen Partnerauslese': "Da ein lohnlos in der familiären Produktionsgemeinschaft mitarbeitendes Kind sein nötiges Auskommen regelmäßig nur dann finden kann, wenn der Hausvater dazu die erforderlichen Mittel oder zumindest in Form von Mitgift oder Ausstattung eine entsprechende Starthilfe zur Verfügung stellt, steht es praktisch im Belieben des Einwilligenden, die Voraussetzungen zur Versagung der Heiratserlaubnis zu schaffen und sich dadurch, falls er im konkreten Fall die Wahl mißbilligt, bis zur Emanzipation (in diesem Fall des Sohnes, UB) den Weg zu (bestimmten)... rechtlichen und ökonomischen Einflußmöglichkeiten offenzuhalten" (Dörner 1974, S. 39f.). Töchter und Söhne unterlagen einer unentgeltlichen Mitarbeitspflicht in Wirtschaft und Gewerbe des Vaters. Besaßen die Kinder eigenes Vermögen, fiel dem Vater der Nießbrauch zu. Starb der Vater, gingen die Rechte und Pflichten nicht automatisch auf die Mutter über. Es bestand allerdings die Möglichkeit, daß sie zu deren Vormund bestellt wurde, erst in dieser Eigenschaft gingen die väterlichen Rechte und Pflichten auf sie über, das Recht des Nießbrauchs am Kindesvermögen eingeschlossen. Volljährig wurden Kinder im Alter von 24 Jahren, damit jedoch nicht automatisch aus der väterlichen Gewalt entlassen. Hier kommt eine ganz erhebliche Geschlechtsspezifik im Vater-Kind-Verhältnis zum Tragen, die gleichzeitig die außerfamiliale Geschlechterhierarchie fortschreibt: Bei großjährigen Söhnen erlosch die väterliche Gewalt damit, daß diese eine "abgesonderte Wirtschaft" errichteten, bei Töchtern endete die väterliche Gewalt mit deren Heirat oder bei Großjährigkeit der Tochter nur mit ausdrücklicher Entlassungserklärung des Vaters. Mit der Großjährigkeit erhielten die Kinder weiterhin die Verfügungsgewalt über ihr freies, d.h. nicht dem väterlichen Nießbrauch unterstelltes, Vermögen. Diese Regelung bezieht sich auf das außerhalb der väterlichen Wirtschaft Erworbene in Form von Arbeitslohn und aus ihm Angespartes, d.h. der Vater besaß kein Anrecht auf das von einer volljährigen Tochter außerhalb der Hauswirtschaft Verdiente, obwohl sie nach wie vor der väterlichen Gewalt unterlag. Die einzige Erwerbsmöglichkeit für Frauen auf dem Land war der Gesindedienst, er erstreckte sich häufig auf einen Zeitraum von 12, 15 Jahren, um eine Aussteuer anzusparen. Analoges gilt für das städtische weibliche Gesinde. Für bürgerliche Frauen gab es überhaupt keine Erwerbsmöglichkeiten, selbst wenn sie welche hätten suchen können (vgl. auch Frevert 1986, S 81). Wurde die Arbeitskraft der Tochter jedoch in der Familienwirtschaft benötigt, wird sie keine Möglichkeit besessen haben, für sich etwas zu erwerben. Bei der Heirat einer Tochter hatte der Vater jedoch eine Ausstattungspflicht; so wie er verpflichtet war, einem Sohn einen Grundstock zur Wirtschaftsgründung zu überlassen. Gegenüber ledigen Töchtern bestand keine solche Ausstattungspflicht des Vaters. Für die Tochter erlosch die väterliche Gewalt erst mit dem natürlichen oder sozialen Tod des Vaters, falls unverheiratet und nicht ausdrücklich vom Vater aus dessen Gewalt entlassen. In der älteren Naturrechtslehre entzündeten sich an der Frage dieser besonderen Form einer Ungleichbehandlung der Geschlechter Kontroversen: man fragte sich, ob nicht auch Töchter mit der Errichtung eines eigenen Hausstandes aus der väterlichen Gewalt zu entlassen seien. Mehrheitlich hielt man das weibliche Geschlecht für zu 'schwach', um für sich selbst Verantwortung zu übernehmen. Ein Zeitgenosse: "Denn da das weibliche Geschlecht wegen seines zarten Nervenbaus der Verführung am meisten ausgesetzt, auch zu strengen Arbeiten und bürgerlichen Geschäften nicht recht fähig ist, so werden Eltern ihre erwachsenen Töchter ihrer Aufsicht nicht eher entlassen, als bis sie der Aufsicht eines Mannes anvertraut werden können". [16] Söhne konnten sich auch gegen den Willen des Vaters aus dessen Gewalt lösen, indem sie nach Erreichen der Volljährigkeit dessen Haus verlassen und Erwerbsarbeit annehmen konnten. Diese Möglichkeit besaßen Töchter nicht. Noch 1863 verneinte die Rechtsprechung ausdrücklich die Befreiung der Tochter aus der väterlichen Gewalt mit Gründung eines eigenen Hausstandes (ebd., S. 216). Erst das Familienrecht des BGB ließ die väterliche Gewalt mit dem Erreichen der Volljährigkeit von Tochter und Sohn erlöschen (§ 1626 BGB a.F.).
Eine erste Tendenz zur Lockerung dieser Form von Geschlechterherrschaft setzte bei unverheirateten Frauen und Witwen ein, erhalten blieb allerdings das Rechtsinstitut des männlichen Beistandes bei außerhäuslichen Geschäften. Einen Sonderstatus besaßen schon frühzeitig die Kauffrauen, begründet mit der "Sicherheit und Begünstigung des Handels" (ebd., S. 271). Kauffrauen sollten Männern auch deshalb rechtlich völlig gleichgestellt sein, "da diese normalerweise von Jugend auf im väterlichen Geschäft 'hülfliche Dienste leisteten und dabei auch Geschäftskenntnisse erwürben" (ebd., S. 272). Zur Ausübung des Berufs der Kauffrau mußten Frauen wiederum das Bürgerrecht 17 erwerben, die Preußische Ständeordnung von 1808 und ein zu ihr verfaßtes Reskript hoben eindeutig hervor, daß ledige und verheiratete Frauen dazu berechtigt, unter Umständen sogar verpflichtet waren (ebd., S. 274.) Voraussetzung hierfür war wiederum bei ledigen Frauen die Entlassung aus der väterlichen Gewalt, bei verheirateten Frauen die Einwilligung des Ehemannes - gegen deren Willen war es Frauen in der Regel unmöglich, sich geschäftlich zu betätigen. Als Ehemann besaß das 'Haupt der häuslichen Gesellschaft' ähnlich weitreichende Kontrollbefugnisse, die Handlungs- und Bewegungsfreiheit einer Ehefrau einzuschränken. Das ALR spricht jedoch in diesem Verhältnis nicht von einem Gewaltrecht gegenüber der Ehefrau wie im Falle der Kinder (ebd., S. 63). Mit der Heirat erlangte die Ehefrau die Standesrechte des Mannes und das Recht auf standesgemäßen Unterhalt. Sie wurde ausdrücklich auf den Wirkungskreis des Wirtschafts- und Familienverbandes beschränkt, d.h. sie war "schuldig, dem Hauswesen des Mannes nach dessen Stande und Range vorzustehen". Von einem Recht auf Leitung des Hauswesens war noch keine Rede, ebensowenig von einem Recht auf außerhäusliche Tätigkeit (vgl. Mestwerdt 1961, S. 64). Dem Ehemann wurde ausdrücklich das Recht zugestanden, die Rechtsbeziehungen der Ehefrau gegenüber Dritten zu kontrollieren. Gegen seinen Willen durfte sie kein Gewerbe betreiben (im Zusammenhang der Kauffrauen wurde bereits darauf verwiesen), ohne seine Zustimmung keine Prozesse führen, Verwaltung und Nutznießung des eingebrachten Vermögens der Frau fielen dem Ehemann zu. Die Ehefrau konnte allein frei über ihr Vorbehaltsgut entscheiden. Grundsätzlich ließ das ALR keine Vertragsfreiheit im Güterrecht zu. Besonders das Grundeigentum erhält besonderen Schutz. Frei verfügen konnte ein Ehemann lediglich über das eingebrachte bewegliche Vermögen der Frau. Im Falle von Grundstücken und 'Gerechtigkeiten', die eine Frau in die Ehe einbrachte, konnte der Ehemann nur mit ihrer Zustimmung darüber verfügen. Weil dieses Vermögen, von existentieller Bedeutung für den Wirtschafts- und Familienverband ist, wird es in diesem Fall der Verfügungsgewalt des Hausherrn zunächst entzogen (vgl. Dömer 1974, S. 53). An dieser Bestimmung wird sehr deutlich, daß der Zugriff auf ökonomische Ressourcen Geschlechtervorrechte relativieren kann; gleiches gilt im Falle der Kauffrauen. Die Ehefrau besaß das Recht, weibliches Gesinde ohne Einwilligung des Ehemannes einzustellen, zu dessen Entlassung war sie wiederum nicht befugt. Ihre Stellung gegenüber dem Gesinde war insofern prekär, ein entscheidendes Machtmittel diesem gegenüber blieb dem Ehemann vorbehalten. Das Familienrecht des ALR legt nicht ausdrücklich fest, ob der Unterhaltspflicht des Mannes gegenüber der Frau eine analoge Verpflichtung der Frau gegenüber dem Mann bestand, die Rede ist lediglich von wechselseitigem Beistand. Wie im Falle der Kinder fiel dem Ehemann ihr Erwerb während der Ehe zu, d.h. sie war ebenso wie diese zu unentgeltlicher Mitarbeit in dessen Haus und Gewerbe verpflichtet. Auch Grundstücke und Kapitalien, die mit den Einkünften aus einem von der Ehefrau betriebenen Gewerbe erworben waren, fielen in das Eigentum des Mannes (vgl. Weber-Will 1983, S. 79). Ein Einkommen der Ehefrau aus einem selbständig ausgeübten Gewerbe wird zu dieser Zeit wohl eher den Ausnahmefall dargestellt haben, Kontroversen unter den Redaktoren des ALR darüber, was unter das Vorbehaltsgut einer Ehefrau fallen solle und was nicht, sind allerdings dokumentiert. Ein Verfügungsrecht auf ihr Arbeitseinkommen aus Lohnarbeit bzw. aus einem eigenständig geführten Gewerbebetrieb erhielten Ehefrauen erst mit Einführung des BGB (§ 1367 BGB) [18] Das Güterrecht des ALR unterwarf die Ehefrau insofern einer weitgehenden Unterordnung unter und Abhängigkeit vom Ehemann. Den umfassenden Machtbefugnissen, die diese Kodifikation dem Ehemann gegenüber der Ehefrau einräumt, steht ein Scheidungsrecht gegenüber, das häufig wegen seiner vergleichsweisen Liberalität gerühmt wird. Der absolutistische Staat verfolgte grundsätzlich eine pronatale Bevölkerungspolitik. Bestimmte Scheidungsgründe des Familienrechts des ALR werden ausdrücklich damit begründet, daß es "der Population zum Nachtheil" gereiche, wenn ein Ehepaar gezwungen würde, zusammenzubleiben, obwohl zwischen den Ehepartnern Abneigung besteht (so Friedrich II von Preußen, vgl. Dörner 1974, S. 59).
Scheidungsgründe waren: Ehebruch, böswilliges Verlassen, Versagen der ehelichen 'Pflicht', Unvermögen zur Leistung der ehelichen 'Pflicht', Nachstellen nach dem Leben, Kriminalität, unordentliche Lebensführung, Versagen des Unterhalts, Wechsel der Religionszugehörigkeit, unüberwindliche Abneigung, Widerruf der Eheschließung.
Das ALR sah die Möglichkeit einer Ehe auf Probe vor. Mit einer solchen Zeitehe sollte minderjährigen Männern die Möglichkeit eröffnet werden, "durch Heirat eine Kraft zur Bewältigung der in ihrem Hause anfallenden Arbeiten zu gewinnen. Das Gesetz ermöglichte damit - vor allem für die bäuerliche Bevölkerung - eine Ehe, bei der angesichts ihrer Aufkündbarkeit nicht die gefühlsmäßigen Bindungen, sondern allein das 'Fortkommen der Wirtschaft', die finanziellen und arbeitsmäßigen Vorteile durch den zukünftigen Gatten und die Schwiegereltern im Vordergrund stehen" (Dörner 1974, S. 35). Hier drängt sich der Gedanke geradezu auf, daß die Eheschließung neben dem Wunsch nach Nachkommenschaft der Rekrutierung kostenloser Arbeitskraft für den Wirtschafts- und Familienverband diente. Hinweise auf eine solche unverhohlen nutzenorientierte Einstellung von Männern bei der Auswahl einer Ehefrau sind in der sozialhistorischen Literatur in überreichem Ausmaß dokumentiert. Die Heirat einer wenig leistungsfähigen Frau konnte natürlich gerade dann, wenn die Subsistenzgrundlage schmal war, die Existenz einer Bauernwirtschaft gefährden. Dieses rational nachvollziehbare Argument ist in der ständischen Gesellschaft jedoch verschränkt mit einer Geringschätzung der Person der Frau, nicht ihrer Funktion.
Zu den Scheidungsfolgen: Eine Frau behielt in der Regel Stand und Rang des Mannes, die er zum Zeitpunkt der Scheidung innehatte. Gehörte sie einem niedrigeren Stand an und wurde schuldig geschieden, fiel sie in den Herkunftsstand zurück; gehörte sie vor der Eheschließung einem höheren Stand an, konnte sie wieder in ihn aufsteigen, wenn sie als nicht schuldig galt. Die schuldlos geschiedene Frau konnte, als wichtige Neuerung gegenüber gemeinrechtlichen Regelungen, vom Mann standesgemäßen Unterhalt bis an ihr Lebensende fordern. Darüber hinausgehende Unterhaltsansprüche der Frau gegenüber dem geschiedenen Ehemann sah das ALR nicht vor (Weber-Will 1983, S. 155). Umgekehrt stand ein entsprechender Unterhaltsanspruch dem geschiedenen Mann nur dann zu, wenn er sich wegen seines Alters oder wegen Gebrechlichkeit nicht selbst zu ernähren imstande war. Kam der schuldige Teil seinen Unterhaltsverpflichtungen nicht nach, drohten ihm oder ihr Strafarbeit oder Gefängnis. Diese Bestimmung richtete sich vor allem gegen die Unterschichten und sollte als Abschreckung dienen: vom liberalen Scheidungsrecht der ALR machten gerade die Unterschichten regen Gebrauch [20]
4.2.2 Patriarchalismus des Gesinderechts
In die agrarisch-handwerklichen Wirtschafts- und Familienverbände war in der Regel Gesinde integriert, analoges gilt für frühbürgerliche Familienhaushalte. Systematisch gehört das Gesinderecht unter die Vorschriften des ALR über die Familie, die 'häusliche Gesellschaft'. Die ursprüngliche Begründung lautete, daß es sich bei solchen Diensten um 'häusliche Dienste' handle: "Daß Verhältniß zwischen Herrschaft und Gesinde gründet sich auf einen Vertrag, wodurch der eine Theil zur Leistung gewisser häuslicher Dienste auf eine bestimmte Zeit, so wie der andere zu einer dafür zu gebenden bestimmten Belohnung sich verpflichtet" (§ 1 ALR II 5). Die 1810 in Kraft getretene Preußische Gesindeordnung, die ab diesem Zeitpunkt an die Stelle der gesinderechtlichen Bestimmungen des ALR trat, legte fest, daß nicht mehr nur häusliche, sondern "häusliche und wirtschaftliche Dienste Gegenstand des Gesindevertrags sein konnten". Grund hierfür war die Aufhebung von Erbuntertänigkeit und Gesindezwangsdiensten, die zuvor ihnen Unterworfenen gerieten nunmehr in den Geltungsbereich der Gesindeordnungen [21]. Mit dem Ende der Erbuntertänigkeit und der Gesindezwangsdienste stellte sich das Problem einer geeigneten Rechtsgrundlage für die Arbeitsverhältnisse der ländlichen Dienstboten. Bis zu diesem Zeitpunkt rekrutierten sie sich aus zwangsdienstpflichtigen Bauernfamilien. Man löste das Problem dergestalt, daß die Vorschriften über das freie Gesinde - genauer: das städtische Gesinde - auf das nunmehr ebenfalls 'freie' Gesinde der Landwirtschaft ausgedehnt wurden. Weil dieses Gesinde nur zum Teil häusliche Dienste verrichtete, sprach man nunmehr von "gewisse(n) häusliche(n) oder wirtschaftliche(n) Dienste(n)" (§ 1 Ges0 1810). Alle anderen gesetzlichen Vorschriften über Arbeitsverträge stellen sich als Ausnahmetypen des Gesindevertrags dar, denn zu Beginn des 19. Jahrhunderts übertraf die Zahl des Gesindes erheblich die der gewerblichen Arbeiter (vgl. Vormbaum 1980, S. 27). Vor allem auf den großen Gütern in den östlichen deutschen Herrschaftsgebieten trat an die Stelle der Gesindezwangsdienste nunmehr entlohntes Personal. Wollten die Betroffenen nicht die Heimat verlieren, mußten sie die Lebens- und Entlohnungsbedingungen in Kauf nehmen, die die Gutsherren ihnen, trotz formalrechtlicher 'Befreiung', anboten (vgl. Winkel 1985, S. 90). Die Regulierung der Eigentumsverhältnisse auf dem Land erfolgte endgültig in Preußen erst 1850, während die Untertänigkeit bereits 1808 aufgehoben wurde. Die Freisetzung von Arbeitskraft aus der Gutsuntertänigkeit bedeutete für den Grundadel übrigens den Verlust finanzieller Privilegien, die Patrimonialgerichtsbarkeit erhielt sich jedoch bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts (vgl. Koselleck 1967, S. 488). Als Begriffsmerkmale des Gesindedienstes sind zu nennen:
- Vertragsabschluß auf längere oder auf unbestimmte Zeit,
- Vertragsgegenstand sind entweder häusliche Dienste außerhalb des Berufs oder Gewerbes des Dienstherrn oder landwirtschaftliche Dienste,
- Aufnahme in die Hauswirtschaft des Dienstherrn [22],
- Unterwerfung unter die Zucht und Hausordnung des Dienstherrn,
- Verpflichtung zu unangemessenen und grundsätzlich unspezifischen, keine besondere Qualifikation erfordernde Leistungen,
- Entgeltlichkeit der Arbeit
(vgl. Vormbaum 1980, S. 24).
Täglich kündbare Arbeitsverträge (Tagelöhner) und vorübergehend geschlossene Arbeitsverträge (Saisonarbeiter, Heuerlinge) fielen nicht unter die Geltung der Gesindeordnung. Fabrikanten und Gutsherren versuchten im Verlauf des 19. Jahrhunderts dennoch immer wieder, diese Arbeitnehmergruppen den Gesindeordnungen zu unterwerfen. Derartige Begehren an die Verwaltung wurden jedoch laufend abgewiesen. Überall dort, wo ein schriftlicher Arbeitsvertrag bindend vorgeschrieben war, war der Gesindestatus von vornherein ausgeschlossen (vgl. Koselleck 1967, S. 67). Nicht unter das Gesinderecht fällt weiterhin die Kategorie der Einlieger, denen ein Gutsbesitzer Land und Wohnung gegen die Verpflichtung zu entgeltlicher Arbeit überließ: sie fielen unter die Bestimmungen für Tagelöhner. Allerdings wurden 1854 Bestimmungen des Gesinderechts auch auf sie ausgedehnt, die Kontraktbrüche betrafen, d.h. Ungehorsam, Widerspenstigkeit, unberechtigtes Verlassen des Dienstes und Koalitionsbildung wurden von nun an nach dem Gesinderecht strafrechtlich verfolgt. Im Kampf um den Geltungsbereich des Gesinderechts spiegeln sich insofern die sozialen Spannungen jener Zeit deutlich wider. Weiterhin fielen Gewerbegehilfen nicht unter das Gesinderecht, jedoch existierte seit Geltung des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuches (1861) eine Regelung, die Personen, die in Handelsgeschäften 'Dienste' leisten, ebenfalls dem Gesinderecht unterwarf. Die obigen Begriffsmerkmale enthalten keine Geschlechtsspezifik, analoges gilt für das Dienstvertragsrecht. Die Frage wäre dann, in welchem Zusammenhang beide mit der Entstehung geschlechtsspezifischer Ungleichheiten gesehen werden können. Einige Hinweise im Vorgriff auf spätere Argumentationen: Es gab eine Geschlechtsspezifik hinsichtlich des Umfangs, in dem beide Ordnungen für Frauen und Männer galten. Mit zunehmender Industrialisierung sank die Anzahl der als Gesinde beschäftigten Männer und stieg die der Frauen. Die außerordentlich restriktiven Bestimmungen der Gesindeordnung betrafen zum Ende des Jahrhunderts in hohem Maße Frauen und darüber hinaus Arbeitsfelder, die von der Industrialisierung kaum oder überhaupt nicht berührt wurden. Wie später dargestellt, wurde hier möglicherweise weibliche Arbeitskraft in einen Erwerbsbereich abgedrängt, der im Zusammenhang der sozialen Konstitution von Berufen (Beck/Brater/Daheim 1980) gesehen werden muß und Einfluß nahm auf das Entstehen einer 'neuen' geschlechtlichen Arbeitsteilung. Als Dienstherr besaß das 'Haupt der häuslichen Gesellschaft' noch sehr viel weiterreichende Kontroll- und Machtbefugnisse gegenüber den Dienstabhängigen, verglichen mit denen gegenüber Ehefrau und Kindern: Der Dienstherr konnte polizeiliche Zwangs- und Kontrollmittel einsetzen, mitunter auch auf das Strafrecht zurückgreifen, um das Gesinde seinem Willen und seinen ökonomischen Interessen zu unterwerfen. Dieses System von Rechtsnormen erweckte den Eindruck, "daß die Existenzberechtigung der Dienstboten allein darin liegt, die Vorteile der Herrschaft zu sichern" - notfalls mit Gewalt. [23] Hatte das Gesinde sich nicht ausdrücklich zur Ableistung bestimmter Dienste verpflichtet, mußte es jede Arbeit ausführen, die ihm aufgetragen wurde. Aber selbst in einem solchen Fall war es verpflichtet, andere Arbeit zu übernehmen, wenn Arbeitskräfte ausfielen. Zu leisten waren Dienste "allen zur herrschaftlichen Familie gehörenden oder darin in bestimmten Verhältnissen oder bloß gastweise aufgenommenen Personen" (§ 58). Sie waren persönlich zu erbringen, Vertretung war nur mit Erlaubnis der Herrschaft gestattet. Das Gesinde war dazu verpflichtet, auch außerhalb des Dienstes die Interessen der Herrschaft zu wahren, ebenso bestand eine Pflicht zur Denunziation ungetreuen Gesindes bei der Herrschaft, wenn jemand Kenntnis davon erhielt. Wer dies unterließ, riskierte Schadenersatzforderungen der Herrschaft. Gesinde war verpflichtet, sich allen Anordnungen der Herrschaft zu unterwerfen und "die Befehle der Herrschaft und ihre Verweise mit Ehrerbietung und Bescheidenheit anzunehmen" (§ 75) [24]. Der Herrschaft hatte es zu jeder Tages- (und häufig auch zur Nacht-)Zeit zur Verfügung zu stehen, durfte sich ohne deren Wissen nicht vom Haus entfernen und hatte die zeitliche Erlaubnis einzuhalten. Wiederholtes Verlassen des Hauses des Nachts war ein Grund zur fristlosen Entlassung. Die Erlaubnis der Herrschaft zum Verlassen des Hauses galt auch für die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz. Eine Verpflichtung der Herrschaft zur Gewährung von Freizeit erstreckte sich lediglich auf den Besuch des Gottesdienstes. Was das Fehlen von Freizeitregelungen für das Gesinde bedeutete, läßt sich erst dann in vollem Umfang ermessen, wenn bedacht wird, daß auf dem Land Arbeitszeiten bis zu 20 Stunden in Erntezeiten keine Seltenheit waren. Gewerbliche Arbeiter konnten über ihre berufsfreie Zeit frei verfügen, trotz überlanger Arbeitszeiten auch in diesem Bereich. Die Kündigungsfrist für ein Dienstverhältnis betrug ein Jahr, nach Ablauf dieses Jahres mußte die Herrschaft Gesinde ziehen lassen. Diese Vorschrift (§ 40) sollte verhindern, daß Gesinde in einem einmal eingegangenen Gesindeverhältnis dauerhaft festgehalten wurde, so lange es arbeitsfähig war (ebd., S. 45). Eine Lücke in der Gesetzgebung, die von Dienstherren gelegentlich ausgenutzt wurde: Gestattet war der Abschluß von Verträgen, die zwar eine bestimmte Laufzeit enthielten bzw. die eine Kündigungsfrist nannten, beide jedoch so lang bemessen, daß sie auf eine lebenslange Dienstverpflichtung hinausliefen. Die genannten Kündigungsgründe gestatteten es der Dienstherrschaft wiederum, mit vorgeschobenen Gründen Gesinde nach Belieben zu entlassen. Grundsätzlich konnte das Dienstverhältnis nur nach Laufzeit der Dienstzeit beendet werden; wurde es nicht innerhalb der gesetzlichen Fristen gekündigt, verlängerte es sich stillschweigend. Demgegenüber nennt die Preußische Gesindeordnung 19 (!) Gründe als Anlaß zur fristlosen Entlassung des Gesindes durch den Dienstherrn: Üble Nachrede, Beleidigung, Tätlichkeiten gegenüber der Herrschaft, "beharrlicher Ungehorsam", einmalige "Widerspenstigkeit", Verbalinjurien und Handgreiflichkeiten gegenüber vorgesetztem Gesinde, von der Herrschaft nicht gebilligter Umgang mit deren Kindern, Diebstahl, Veruntreuung und die Anstiftung von Nebengesinde hierzu, Schuldenaufnahme im Namen, jedoch ohne Vorwissen der Herrschaft, Verkauf oder Beleihen einer noch nicht abgezahlten Livree, wie bereits erwähnt, mehrfaches Entfernen vom Haus ohne Vorwissen und Erlaubnis der Herrschaft, unvorsichtiger Umgang mit Feuer und Licht trotz und ohne Vorwarnung, ansteckende Krankheiten "durch lüderliche Aufführung" (§ 128), Ausbleiben zu Geschäften über die vorgesehene Zeit, Trunk- und Spielsucht, Schlägereien, Mangel an Geschicklichkeit, wenn unter dieser Bedingung eingestellt, Gefängnisstrafen von mehr als acht Tagen, Schwangerschaft des weiblichen Gesindes, "in welchem Fall jedoch der Obrigkeit Anzeige geschehen und die wirkliche Entlassung nicht eher, als bis von dieser die gesetzmäßigen Anstalten zur Verhütung alles Unglücks getroffen worden, erfolgen muß" (§ 133), Vorlage gefälschter Zeugnisse, Verschweigen eines aus den genannten Gründen gekündigten vorhergehenden Arbeitsverhältnisses. Das Gesinde selber war nur dann zum fristlosen Verlassen des Dienstes berechtigt, wenn die Herrschaft es lebens- oder gesundheitsgefährdend mißhandelte, wenn es ohne eine solche Gefährdung, "jedoch mit ausschweifender und ungewöhnlicher Härte behandelt" wurde (§ 137), wenn die Dienstherrschaft es zu sitten- oder gesetzeswidrigen Handlungen anzustiften versuchte, wenn die Herrschaft es nicht vor "unerlaubten Zumutungen" von Familienangehörigen oder anderen Personen im Hause schützte, wenn selbst "notdürftige Kost" oder Kostgeld verweigert wurden und wenn die Herrschaft Reisen unternahm, deren Dauer die Dienstzeit überstieg bzw. ihren Wohnsitz verlegte, ohne die Kosten für die Rückfahrt des Dienstboten nach Ablauf der Dienstzeit zu übernehmen. [25] Darüber hinaus existierten noch Gründe für das vorzeitige Beenden des Dienstverhältnisses nach Kündigung zum Ende des laufenden Quartals: seitens der Herrschaft bei mangelndem Geschick des Gesindes, bei Verschlechterung der Vermögensverhältnisse der Dienstherrschaft; seitens des Gesindes bei unpünktlicher Lohnzahlung, wenn die Dienstherrschaft es "öffentlicher Beschimpfung eigenmächtig aussetzt(e)" und wenn ein Dienstbote durch das laufende Dienstverhältnis einen Nachteil erlitten hätte, wie Verzicht auf eine Heirat oder die Gründung eines eigenen Hausstandes. Das Pendant zu dieser ungleichen Verteilung von Rechten und Pflichten stellen die Schadenersatzregelungen der Gesindeordnung dar. Das Gesinde hatte Schadenersatz zu leisten bei mehrfachem Vertragsabschluß, Verweigerung des Dienstantritts, Stellen einer untauglichen Vertretung, vorsätzlichem oder fahrlässigem Schaden für die Dienstherrschaft, vorzeitigem Verlassen des Dienstes und, wie erwähnt, unterlassener Denunziation von Nebengesinde im Fall von dessen Untreue. Der Dienstherr war lediglich dann zu Schadenersatz verpflichtet, wenn er sich weigerte, Gesinde anzunehmen, wenn es ohne grobes Verschulden mißhandelt wurde und wenn er ihm wider besseres Wissen ein günstiges Arbeitszeugnis ausstellte. Die Pflichten des Dienstherrn gegenüber dem Gesinde erstreckten sich auf die Pflicht zur Lohnzahlung, zur Beköstigung und Unterkunft. Weiterhin bestand eine Fürsorgepflicht des Dienstherrn gegenüber dem Gesinde. Im Krankheitsfall war er verpflichtet, "für seine Kur und Verpflegung zu sorgen", falls sich das Gesinde durch den Dienst oder innerhalb des Dienstes eine Krankheit zugezogen hatte (§§ 86, 87). In anderen Erkrankungsfällen war er nur dann zur Fürsorge verpflichtet, wenn der Dienstabhängige keine zu einer solchen Fürsorge verpflichteten Verwandten in der Nähe hatte oder wenn diese ihren Verpflichtungen nicht nachkamen. Diese Pflicht des Dienstherrn bestand jedoch lediglich bis zum Ende der Dienstzeit, danach war er nur noch gehalten, die Armenbehörden zu verständigen, "damit sie für das Unterkommen eines dergleichen verlassenen Kranken sorgen können" (§ 93). Befanden sich öffentliche Einrichtungen am Ort, konnte der Dienstherr den Kranken sofort dort unterbringen und die anfallenden Kosten mit dem Lohn verrechnen, den er für diesen Zeitraum erhalten hätte. Diese 'Fürsorgepflicht' des Dienstherrn erstreckte sich insofern lediglich auf Arbeitsunfälle bzw. Krankheiten, die sich das Gesinde im Dienst zuzog. In der preußischen Rechtsprechung wurde der Grundsatz aufgestellt, daß diese Fürsorgepflicht darüber hinaus dann wegfiel, wenn dem Dienstabhängigen fehlerhaftes Verhalten nachgewiesen werden konnte. Nachstehend ein Beispiel dafür, mit welchen Begründungen das Krankheits- und Unfallrisiko auf die Arbeitnehmer abgewälzt wurde: Eine Dienstmagd wird beim Eintreiben des Viehs vom Stammochsen schwer verwundet. Sämtliche Instanzen weisen die klagende Frau ab, weil sie es unterlassen habe, auf Zuruf hin dem Stammochsen auszuweichen. Sie habe sich die Verletzungen deshalb durch eigene Unvorsichtigkeit zugezogen (vgl. Vormbaum 1980, S. 56f., Fußnote 124).
Auf eine Besonderheit des Gesinderechts, auch im Vergleich mit anderen arbeitsrechtlichen Bestimmungen, wurde eingangs bereits hingewiesen:
Es eröffnete dem Dienstherrn die Möglichkeit, polizeilichen Zwang dem Gesinde gegenüber zum Durchsetzen seiner Interessen einzusetzen. Er konnte es mit Hilfe der Polizei zum Dienstantritt zwingen, ebenso zum Verbleiben im Dienstverhältnis bis zu dessen Ablauf. Einer polizeilichen Überwachung kam weiterhin der Zwang zu Zeugnissen und zum Führen von Dienstbüchern gleich. Sie dienten der Kontrolle der Vertragstreue des Gesindes, stellten eine Führungs- und Leistungsbescheinigung dar und besaßen darüber hinaus die Funktion eines polizeilichen Führungs- und Leumundszeugnisses [26]
4.2.3 Freiheit im Zwang: Das Dienstvertragsrecht
Die Rechtsverhältnisse der in Handwerk, Industrie und Handel Beschäftigten, die nicht unter das Gesinderecht fielen, zeichnen sich durch vergleichsweise freizügigere Regelungen aus. Im Rahmen der hier vorgeschlagenen Systematik der Darstellung wird auch das Dienstvertragsrecht, seiner Natur nach geschlechtsneutral, im Sinne einer impliziten Geschlechtsspezifik verstanden. Augenfällig ist dies bei Dienstverhältnissen innerhalb eines Wirtschafts- und Familienverbandes in räumlicher, funktionaler und rechtlicher Einheit (Gutsbesitz), weniger schon bei Getrenntheit von Familie und Gewerbebetrieb. Bereits im ALR wurden Fragen des gewerblichen Arbeitsvertrags behandelt: sie erstreckten sich auf so unterschiedliche Sachverhalte wie Werkvertrag, Liefervertrag, Verlagsvertrag, Verträge über Arbeitsleistungen von Handwerkern, Tagelöhnern und Künstlern. Für das traditionelle zünftige Handwerk galten wiederum Sonderregelungen 27 . Für die Beschäftigten im Heimgewerbe galt ab 1810, d.h. mit Einführung der Gewerbefreiheit, vor allem das Werkvertragsrecht, seltener (Waren-)Kaufvertrag und Dienstvertragsrecht. Diese Arbeitnehmergruppe unterschied sich von anderen Arbeitnehmern und deren Dienstverhältnis auch dadurch, daß sie ihre Arbeit selbständig gestalten können, Dauer und Lage der Arbeitszeit nach Belieben festlegen, ebenso deren Umfang und Intensität selbst bestimmen können (vgl. auch Vietinghoff-Scheel 1972, S. 93). Bestimmte qualifizierte Berufe, die innerhalb eines Familienverbandes ausgeübt wurden, fielen von vornherein unter das Dienstvertrags- und nicht unter das Gesinderecht, wie z.B. der Beruf des Hauslehrers. Das galt weiterhin für Hofbedienstete. Diese Regelungen dem Sammelbegriff 'Dienstvertrag' zuzuordnen, unterstreicht die dem Dienstvertrag des BGB entsprechende Funktion des landrechtlichen Dienstvertrags: "gemeinsame rechtliche Basis für die einzelnen abweichend gestalteten Arbeitsverträge der verschiedenen Gewerbe zu sein"
(Vietinghoff-Scheel 1972, S. 5). Dienstverträge durfte jede(r) voll Geschäftsfähige eingehen, Ehefrauen bedurften zum Vertragsabschluß allerdings der Genehmigung des Ehemannes, Kinder vor Eintritt der Volljährigkeit der des Vaters, ledige, volljährige Frauen, die ja der väterlichen Gewalt auch bei Volljährigkeit unterlagen, auch nach ihrem 24. Lebensjahr der Einwilligung des Vaters. Bis zur Aufhebung der Erbuntertänigkeit konnten Gutsuntertanen Dienstverträge nur mit Genehmigung des Grundherrn eingehen. Er besaß ein 'Vormietrecht' auf deren Arbeitskraft, bevor sie sich entgeltlich verdingen durfte und konnte. Nach Aufhebung der Erbuntertänigkeit wurde die Rekrutierung von Arbeitskraft für die Gutsherren zu einem gravierenden Problem. Eine zunehmend intensivere Bodennutzung steigerte den Arbeitskräftebedarf, gleichzeitig reduzierte die Abnahme der Zwangsgesindedienste durch Ablösung den Umfang des der Gutsherrschaft zur Verfügung stehenden und vor allem unentgeltlichen Arbeitskräftepotentials. Die Gutsherren gingen deshalb dazu über, ansässigen Dienstfamilien das ihnen überlassene Land wegzunehmen, um sie in die Status der formal freien Lohnarbeiterschaft zu zwingen. Als solche waren sie dann gezwungen, gegen Entgelt beim Gutsherrn zu arbeiten, im Tagelohn oder als Gesinde (vgl. Koselleck 1967, S. 499). Adligen war die Ausübung eines Gewerbes aus Standesgründen untersagt, sie kamen insofern nur bedingt als Vertragspartei infrage, d.h., nach Aufhebung der Erbuntertänigkeit, allenfalls als Arbeitgeber zur Anheuerung von Lohnarbeitskraft zur landwirtschaftlichen Nutzung (Tagelöhner) [28]. Ein schriftlicher Arbeitsvertrag war nur im Ausnahmefall vorgeschrieben, nämlich dann, wenn die Gesamtlohnsumme den Betrag von 50 Talern nicht überschreiten würde, und das galt allenfalls für langfristige Verträge von hochqualifizierter Arbeitskraft. Mündlichkeit des Vertragsabschlusses war insofern die Regel, das gilt auch noch für Fabrikarbeit unter der Geltung des ALR. Da der Gesindestatus bei denjenigen Arbeitnehmern ausgeschlossen war, deren Arbeitsvertrag der Schriftform bedurfte, versuchten Unternehmer wiederholt unter Berufung auf die Mündlichkeit der Vertragsvereinbarung, für ihre Beschäftigten den Gesindestatus zu erhalten. Der Arbeitnehmer hatte die Pflicht zur Verrichtung der Arbeit unter Aufsicht und nach Vorschrift des Arbeitgebers. Die Arbeit war persönlich zu erbringen, Vertretung nur mit Einwilligung des letzteren möglich. Anders als im Gesindevertrag vorgesehen haftete die Arbeitskraft allein für Schäden aufgrund groben und mäßigen Versehens. Bei besonders qualifizierten Arbeiten erstreckte sich die Schadenersatzpflicht allerdings auch auf geringfügige Schäden. Die Entlohnung konnte bar oder in Naturalleistungen erfolgen. Für Gesinde, das zu einem erheblichen Teil in den Lebenszusammenhang der Hauswirtschaft eingebunden war, ist diese Regelung sinnvoll, für die gewerblichen Arbeitskräfte, die nicht in einem Haushalt mit dem Arbeitgeber lebten, hatte diese Bestimmung gravierende Folgen sie ist Ursache für die Auswüchse des Trucksystems. Ebensowenig war der Entlohnungszeitpunkt ausdrücklich geregelt. Sämtliche Gewerbeordnungen in den deutschen Herrschaftsgebieten fehlte ein ausreichender Lohnschutz. Deren Bestimmungen bezogen sich lediglich auf die Art der Lohnzahlung und nicht auf die Lohnhöhe (vgl. Schäfer 1985, S. 69). Konnte die Leistung ohne Verschulden einer Vertragspartei nicht erbracht werden, stand beiden Parteien ein Rücktrittsrecht zu. Die Arbeitskraft konnte allein auf Entlohnung der bereits erbrachten Arbeit bestehen, setzte sie die Arbeit nach Beseitigung einer solchen Störung fort, stand ihr ein Lohnanspruch auch für die Dauer der Unterbrechung zu. Verschuldete die Arbeitskraft die Nicht-Leistung, war sie zu Schadenersatz für den nicht erbrachten Teil verpflichtet. Lag ein Verschulden des Beschäftigers vor, konnte die Arbeitskraft den üblichen Tagelohn für einen angemessenen Zeitraum verlangen, bis sie einen neuen Arbeitsplatz gefunden hatte. Im Konkursfall rangierten Lohnansprüche an bevorrechtigter Stelle (vgl. Vietinghoff-Scheel 1972, S. 11). Polizeigewalt konnte der Arbeitgeber gegenüber der Arbeitskraft nicht mobilisieren; das änderte sich allerdings mit dem Inkrafttreten der Gewerbeordnung von 1845. Arbeitsschutzvorschriften kannte das Dienstrecht noch nicht [29], ebensowenig bestand eine 'Fürsorgepflicht' des Arbeitgebers. Für die Vertragskündigung bestanden keine besonderen Vorschriften, viele Dienstverträge bezogen sich ohnehin auf Tagelohnarbeit. Eine Entlassung vor der vereinbarten Zeit war nur möglich, "wenn er (der Arbeitnehmer, UB) untüchtig befunden wird, oder sonst seiner Pflicht kein Genüge leistet" (§ 907). Ergänzende Normierungen erstreckten sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf die Arbeit der Handwerksgehilfen und der Manufaktur- und Fabrikarbeiterschaft. So eröffnete das ALR zünftigen Handwerksgenossen die Möglichkeit der Annahme von Fabrikarbeit, ohne ihre Zunftrechte zu verlieren (§ 429). Die vom Zunftzwang befreiten Fabriken unterlagen wiederum einer staatlichen Konzessionspflicht; in die Konzessionen selbst wurden arbeitsvertragliche Regelungen aufgenommen. Ein anschauliches Beispiel stellt das "Reglement für die Zeugdruckereien in Berlin zur genaueren Bestimmung des Verhältnisses der Besitzer solcher Druckereien und der Drucker" von 1802 dar: Dieses Gewerbe besaß noch handwerkliche Züge, beruhte jedoch bereits auf Großorganisation und Zunftfreiheit. Die Beschäftigung weiblicher Arbeitskraft war infolgedessen möglich und gestattet. Der Arbeitsvertrag war frei aushandelbar, die Kündigungsfrist betrug 14 Tage. Fristlose Kündigung der Arbeitskraft war möglich bei Tätlichkeiten des Arbeitgebers, bei erheblicher Mehrarbeit oder Erschwernis der Arbeit. Umgekehrt besaß der Beschäftiger das Recht zur fristlosen Entlassung der Arbeitskraft bei Ungehorsam, Beleidigung seiner Person, unvorsichtigem Umgang mit Licht und Feuer und bei Diebstahl. Bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses war ein schriftliches Zeugnis ('Abschied') vorgeschrieben; es mußte Angaben enthalten über Beschäftigungsdauer, Kündigungsgrund und offenstehende Vorschüsse. Der nächste Beschäftiger hatte sie vom Lohn einzubehalten und an den vorherigen Arbeitgeber auszuzahlen. Bei falschem Zeugnis wurde der Beschäftiger schadenersatzpflichtig, ebenso dann, wenn er Arbeitskräfte ohne Zeugnisse einstellte oder Arbeitskraft von anderen Unternehmern abwarb. Ab 1839 wurde das Dienstvertragsrecht im Rahmen der Gewerberechtsreform umgestaltet, man dehnte vor allem Vorschriften des handwerklichen Arbeitsvertrags auf gewerbliche Arbeitnehmer aus. Von besonderer Bedeutung war die Einführung einer 14-tägigen beiderseitigen Kündigungsfrist, die Einführung des Koalitionsverbots und die der Strafbarkeit des Arbeitsvertragsbruchs. Unter Strafandrohung fielen weiterhin "grober Ungehorsam" und "beharrliche Widerspenstigkeit" (ebd., S. 44). In ihren Grundzügen blieben diese arbeitsvertraglichen Regelungen das ganze 19. Jahrhundert über in Kraft, wurden in der 2. Hälfte des Jahrhunderts jedoch zunehmend ergänzt durch besondere Fabrikordnungen. Auch sie regelten weder Fragen des Arbeitslohns noch der Arbeitszeit. Die Unternehmer behielten sich das Recht zur einseitigen Herauf- oder Herabsetzung der Löhne vor, die generelle Arbeitszeitdauer schwankte zwischen 10 1/2 und 12 1/2 Stunden plus Pausenzeiten. Mit der Einführung von Fabrikordnungen wurde weiterhin versucht, auch diese Arbeitnehmer einem umfassenden Reglement zu unterstellen, so etwa mit dem Verbot des Sprechens untereinander während der Arbeitszeit. Neben diesen innerbetrieblichen wurden außerbetriebliche Disziplinierungsmaßnahmen durchzusetzen versucht bzw. durchgesetzt; in einem Fall bis hin zur Einführung einer Genehmigungspflicht der Heirat des Arbeitnehmers
durch den Arbeitgeber und einer ebensolchen Pflicht vor Aufnahme einer Berufstätigkeit von Familienangehörigen, etwa der Ehefrau eines Arbeitnehmers, durch den Fabrikherrn (ebd., S. 97). Positive Züge besaßen die Fabrikordnungen und deren Reglementierungen m.E. allerdings dann, wenn sie Arbeitnehmer zum zwangsweisen Eintritt in Kranken-, Unterstützungs- und Pensionskassen verpflichteten. Zur Deckung der Kosten wurde ein Lohnteil einbehalten, einen weiteren Betrag zahlte der Arbeitgeber (vgl. auch Kocka 1983, S. 117 ff.) [30]
4.2.4 Strukturelle Invarianz im Familien- und Arbeitsrecht
Die vorangehenden Überlegungen waren von der These angeleitet, daß der sichtbare Funktionszusammenhang von Familien-, Gesinde- und Dienstvertragsrecht mit den verborgenen Strukturmerkmalen der Standesgesellschaft darin korrespondiert, daß sich in ersterem Vergesellschaftungsmodi Ausdruck verschaffen, die noch auf einer grundsätzlich an Grund und Boden gebundenen Verfügungsgewalt über Arbeitskraft und Generativität beruhen. Sie artikuliert sich für beide Verhältnisbestimmungen in der Personalunion von männlichem 'Familienhaupt' und 'Eigentümer', sie läßt sich infolgedessen auch als patriarchale bezeichnen. Sozio-ökonomische Träger dieses spezifischen Produktions- und Reproduktionsgefüges sind aber auch jene, deren Lebensumstände von diesen Familienvätern und Eigentümern kontrolliert werden: die Familien- und Dienstabhängigen beiderlei Geschlechts. Der Zusammenschluß ersterer stellt sich umgekehrt als Ausschluß letzterer in dem Sinne dar, daß ihnen Familiengründung und Eigentumserwerb versagt sind bzw. bleiben. Allerdings wäre es unzutreffend, hier von einer eindeutigen Polarisierung sprechen zu wollen, das Gefüge weist eine vielfältige Differenzierung auf. So erwirbt die Erbin eines Bauernhofes mit dem Tod des Vaters zwar sein Eigentum, ist aber dennoch zur lohnlosen Mitarbeit für einen Ehemann verpflichtet; zur Eigentumssicherung ist ihre Heirat funktionale Voraussetzung. Diese Person unterliegt weitreichenden Kontroll - und Machtbefugnissen des Ehemanns, obwohl formal Eigentümerin von Grund und Boden. Eine Frau - als Erbin, Ehefrau, unentgeltliche Arbeitskraft verkörpert in ihrer Person eine dreifache (objektive) Funktionszubestimmung zur Sicherung der patriarchalen Eigentumsordnung. Über ihre Person wird Eigentum vererbt, sofern keine männlichen Erben vorhanden sind. In diesem Fall wiegt der verwandtschaftliche Status schwerer als die Geschlechtszugehörigkeit. In ihrer Eigenschaft als Ehefrau relativiert sich wiederum dieser Vorteil; sie kann über dieses Erbe nur in beschränktem Maße Verfügungen treffen, Verwaltung und Nießbrauch fallen einem Mann zu. Zugleich unterliegt sie der Verpflichtung, ohne einen anderen Gegenwert als den eines 'standesgemäßen Unterhalts' zur Mehrung dieses Eigentums beizutragen, das im Regelfall an die männliche Nachkommenschaft übergeht. Umgekehrt sind dienstabhängige und damit eigentumslose Frauen und Männer nicht von vornherein von der Familiengründung und vom Eigentumserwerb ausgeschlossen, es kann sich um einen zeitlich begrenzten Ausschluß handeln. Sie besitzen zumindest die Chance, die Mittel zu einer Familiengründung und deren Unterhalt anzusparen. Aber auch hier greift eine Geschlechtsspezifik. Heiratet eine solche Frau, ist sie nunmehr nicht länger von einem fremden Dienstherrn, demgegenüber jedoch von einem Ehemann abhängig. Heiratet ein dienstabhängiger Mann, gerät er zwar ebenfalls aus der Dienstabhängigkeit, wird jedoch zum Familienvorstand und Eigentümer, auf welcher ökonomischen Grundlage auch immer: die Eheschließung begründet spezifische Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern selbst dann, wenn sie nur geringfügig über 'Besitz' verfügen und sich vielleicht über viele Jahre hinweg in einer vergleichbaren sozialen Position als Dienstabhängige befanden. Auch in diesem Fall kann von einer objektiven Funktionsbestimmung der Frau gesprochen werden, die sich in ihrer Person verkörpert. Mit dem Nutzen aus dem Ertrag ihrer Arbeitskraft erhält der Ehemann die Chance, selbst zu einem Eigentümer aufzusteigen; die Frau wechselt, ökonomisch gesehen, lediglich die Bezugsperson, die von ihrem Arbeitseinsatz profitiert. Obwohl beide, Frau und Mann, unter gleichen ökonomischen Ausgangsbedingungen eine Familie gründeten, ist sie nun an verpflichtet, für ihn zu arbeiten, während er sie zu 'unterhalten' hat. Was die Frau letztlich gewinnt, besteht im günstigsten Fall in einer Existenzsicherung, die über das eheliche Arbeitsverhältnis hinausgeht: als spätere Altenteilerin am gemeinsam Erwirtschafteten zu profitieren. Die gesellschaftliche Norm der Unterordnung der Frau unter den Willen eines Mannes, über familienrechtliche Bestimmungen verbindliche Regel, hat Auswirkungen auf konkrete Arbeitszuweisungen, deren Inhalte und soziale Wertigkeit. Analoges gilt für Dienstabhängige. Obwohl es sich hierbei um Frauen und Männer handelt, die einem Mann in seiner Eigenschaft als Eigentümer und Arbeitgeber unterworfen sind, sind Frauen auch in der Beschäftigungshierarchie - dienstabhängigen - Männern wiederum untergeordnet oder besitzen insgesamt einen niedrigeren Status wie Männer in derselben sozialen Lage; hierauf wird zurückgekommen. Sie unterstehen zwar einer identischen Dienst- bzw. Arbeitsrechtsordnung. In der Koppelung mit familienrechtlichen Bestimmungen und den normativen Orientierungen, die sich in ersteren artikulieren, die den Individuen beiderlei Geschlechts vielleicht kaum als Zwang erschienen, die von ihnen auch akzeptiert wurden, bedeutete das für Frauen eine Verdoppelung patriarchaler Kontrollen. Erst mit der Genehmigung eines Vaters oder Ehemanns war ihnen außerfamiliale Erwerbsarbeit überhaupt möglich, und wenn sie entgeltliche Arbeit aufnahmen, gerieten sie in ein Sozialgefüge, dessen patriarchalem Charakter sie von nun ab als Dienstabhängige unterlagen. Im Hinblick auf die Vergesellschaftung von Generativität läßt sich an dieser Stelle festhalten, daß hier ebenfalls eine Geschlechtsspezifik wirksam wird. Als Töchter und Söhne eines Vaters waren beide Geschlechter von seinem Einverständnis zu einer Heirat und Familiengründung abhängig; zusätzlich waren politische Heiratskontrollen wirksam, die ebenfalls beide Geschlechter als Mitglieder eines bestimmten Standes betrafen. Daß politische und familiäre Heiratskontrollen und Eheverbote dem Erhalt von Besitz, von sozialer Ungleichheit als Standesungleichheit, dienten, braucht nicht gesondert betont zu werden. Der Sachverhalt ist evident. Anders als Männer unterlagen ledige Frauen jedoch einer besonderen Kontrolle als Dienstabhängige: die Folgen einer außerehelichen Schwangerschaft bzw. Geburt hatten allein die Frauen zu tragen. Sie verloren in der Regel ihren Arbeitsplatz und waren Strafverfolgung ausgesetzt. Männer, in ihrer Eigenschaft als Kindesväter, waren lediglich zu Unterhaltszahlungen verpflichtet, denen sie sich häufig genug entzogen, riskierten darüber hinaus allerdings öffentlichen Druck, eine Ehe mit der Kindesmutter einzugehen. Nachteile in einem Beschäftigungsverhältnis entstanden ihnen hierdurch nicht. Hier liegt die Vermutung nahe, daß legale bzw. legalisierte Formen der Fortpflanzung Geschlechtervorrechte absichern sollten, ohne daß sie zugleich Standesrechte beinhalten: negative Sanktionen trafen mit voller Wucht die Frau, ungeachtet ihrer Standeszugehörigkeit. Diese männlichen Geschlechterprivilegien können, im Anschluß an Schmerl (1989), darin gesehen werden, daß sich Männer, als soziale Gruppe, Gewißheit über die biologische Verwandtschaft mit einem Kind verschaffen wollten. Nur innerhalb dieser Überlegung macht es Sinn, die reproduktiven Fähigkeiten einer Frau in eine legale Geschlechterverbindung zu kanalisieren, die der Frau gleichzeitig die Verpflichtung zum Verzicht auf eine außereheliche Geschlechtsverbindung auferlegt. Selbst die geschlechtliche Doppelmoral, die den Mann, wenn überhaupt, weit weniger negativ sanktioniert als die Frau, ergibt dann noch Sinn. Er konkurriert allenfalls mit anderen Männern um die Nutzung der Reproduktionsfähigkeit der Frau, unterliegt allerdings der expliziten normativen Verpflichtung, eine legale Geschlechtsverbindung (und damit die Nutzungsrechte eines anderen Mannes an einer Frau) zu respektieren. Frauen sind auch hier als Subjekt das Objekt von sozialen Funktionsbestimmungen zum Erhalt einer Eigentumsordnung, die zugleich eine Geschlechterordnung beinhaltet. Die ständische Bevölkerungs- und Wirtschaftsweise befinden sich mit diesen Überlegungen in einem augenfälligen inneren Zusammenhang: Die minderen Rechte von Frauen an ihrem Eigentum, sofern sie welches besitzen, korrespondieren mit ebenso minderen Rechten an ihrem Körper und der Person. Den Nutzen aus ihrem Arbeits- und Gebärvermögen ziehen, vermittels sozialer Normierungen, Männer. Das Ausmaß, indem sie dazu befähigt sind, hängt von ihrer Plazierung im Eigentumsgefüge ab: je besitz- und eigentumsloser ein Mann, desto stärker seine Angleichung an die soziale Plazierung von Frauen des eigenen Standes. Umgekehrt gilt: je höher die Plazierung einer Frau im Eigentumsgefüge, desto stärker das Ausmaß ihrer Vorrechte gegenüber einem Mann - sofern sie nicht mit ihm verwandt bzw. mit ihm verheiratet ist. Das Eigentumsgefüge erweist sich aus dieser Perspektive als 'dominant' gegenüber den generativ-geschlechtlichen sozialen Arrangements, hat unter gewissen Bedingungen sogar die Umkehrung der Geschlechterhierarchie zur Folge.
Die obige Verwendung von Althussers Funktionsbegriff, der bei ihm an die Stelle des (bewußtseinsphilosophischen) Subjektbegriffs tritt, verortet Frauen und Männer lediglich als Objekte; als Objekte bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse, die beiden Geschlechtern ein ungleiches Maß an gesellschaftlicher Teilhabe, am gesellschaftlichen Produkt zuweist. Indem sie diese ihnen zugewiesenen 'Funktionen' einnehmen und übernehmen, sind und werden sie 'funktional' für den Erhalt des sozialen Ganzen. Der Funktionsbegriff läßt sich jedoch noch auf eine andere Dimension ausdehnen. Der dargestellte Rechtskomplex ist ja nicht aus dem Nichts entstanden, ist selber Resultat menschlich-gesellschaftlichen Handelns: Ausfluß bestimmter Interessenlagen und Geschlechternormen denjenigen, die ihn inaugurierten, Ausdruck der Träger politischen Willens, Artikulation der Träger ökonomischer Macht. Alle diese Träger gesellschaftlicher Herrschafts- und Machtverhältnisse sind ebenfalls in solche 'Funktionsbestimmungen' eingebunden - aber eben nicht lediglich als deren Objekte, sondern als Subjekte von Gesellschaftsgestaltung. Hier kommt zweifellos eine weitere Geschlechtsspezifik zum Tragen: Die Funktionsbestimmung als Subjekt von Macht- und Herrschaftsausübung ist Frauen grundsätzlich versperrt. Wenn sie als Subjekt agieren und figurieren, dann innerhalb der ihnen zugewiesenen Funktionsbestimmung als Objekte von Macht und Herrschaft. Ihnen bleibt eine soziale Plazierung versperrt, die sie dazu befähigen würde, ihre Lebensbedingungen als gesellschaftliche zu gestalten. Was ihnen als Gestaltungsraum zugestanden wird, ist ihre individuelle Verortung innerhalb eines vom anderen Geschlecht vorgegebenen objektiven Rahmens - qua selbst-herrlicher Standesprivilegien. Für die Transformation von der agrarischen zur industriellen Produktionsweise, unter den Bedingungen einer völlig neuartigen Vergesellschaftung von Arbeit und Generativität, mußte dieses normativ-rechtlich abgesicherte Ungleichheitsgefüge Folgen haben. Die dargestellte Rechtsordnung überdauerte diese Transformationsphase und wurde erst dann an die neuen Voraussetzungen und Bedingungen der Vergesellschaftung beider angepaßt, als sich andere Formen geschlechtlicher Arbeitsteilung längst etabliert hatten. Wie sich diese Restrukturierung vollzog, von welchen tradierten Arbeitsteilungen sie ihren Ausgang nahm, wird im folgenden nachgezeichnet. Erst dann lassen sich Aussagen darüber formulieren, ob überlieferte Geschlechterungleichheiten in Arbeitsteilung und Existenzsicherung sich erhielten, vielleicht sogar verschärften, oder ob sie abgebaut wurden: die These ihrer Vertiefung wird etwa von Duden/Hausen (1979) vertreten, die These eines Abbaus liegt der Beweisführung von Heise (1989) zugrunde.
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