Bloß kein Rückzug ins Private

Judit Jaksch, Fachärztin, 41, Wien

  • Die Ärztin Judit Jaksch ist eine schlanke, sehr damenhaft wirkende Frau, die berufsgemäß eine Aura der Kompetenz ausstrahlt. Mit ihren hochgesteckten blonden Haaren und der zierlichen Figur stellt sie unverändert die junge Frau dar, in die sich der wohlhabende Westler auf den ersten Blick verliebte. Einige Tage nach dem Gespräch schickte uns Judit Jaksch noch eine Ergänzung zum Interview. Eine Botschaft hatte sie noch, die sie glaubte, ungenügend deutlich vermittelt zu haben. Diese übersandte sie uns noch schriftlich, und wir geben sie gerne weiter: »Das ist noch sehr wichtig«, schrieb sie. »Ja nicht mit dem möglichen Rückzug ins Private liebäugeln! Der Preis, den man am Ende dafür zahlen muß, kann sehr groß sein.«

An dieser Versuchung ging Judit Jaksch standhaft vorüber, aber es war wahrscheinlich sehr schwer. Der Gedanke, nach der Heirat mit dem Traummann aus dem Westen das Medizinstudium unter zahlreichen Erschwernissen fortzusetzen, wird wenig reizvoll gewesen sein. Daß sie es dennoch tat, sollte später für die Gesundheit ihres Selbstwertgefühls und die wirtschaftliche Eigenständigkeit segensreich sein, und es ist ihr ein Anliegen, diese Erfahrung anderen Frauen mitzuteilen. »Ich bin in Ungarn aufgewachsen, in der sogenannten stalinistischen Ära. Zu Hause hat es zwei Wahrheiten gegeben: die Wahrheit der Eltern, die zu Hause hinter vorgehaltener Hand gehandelt wurde, und die Wahrheit der Welt draußen. Es galt das strenge Verdikt, die Wahrheiten nicht zu vermischen. Für uns Kinder war das sehr schwer: Was ich zu Hause hörte, durfte ich draußen nicht sagen oder spüren lassen, sondern nur im Bewußtsein behalten.
Aber meine Sozialisation mußte ja auch über die Schule laufen, das brachte für mich persönlich unheimliche Schwierigkeiten, z. B. Freundschaften auch zu Hause zu integrieren. Religion spielte bei uns nicht so eine Rolle. Aber damals herrschte eine sehr antireligiöse Stimmung. Einen Weihnachtsbaum aufzustellen, Stille Nacht zu singen, hat schon als religiöse Betätigung gegolten und durfte in der Schule nicht erzählt werden. Außerdem gehörte meine Familie zu denen, die verfolgt wurden: Eine ganz starke Erinnerung ist ein Koffer im Vorzimmer, der immer vollgepackt dastand mit Decken, Konserven und allem Nötigen, damit, wenn in der Nacht der mit Vorhängen verhängte Wagen kam, der Großvater oder der Vater abgeholt wurde, sie alles bereit hatten. Wir Kinder durften diesen Koffer nicht anrühren. Der eine oder andere, Vater oder Großvater, ist ja auch tatsächlich immer abgeholt worden zu Verhören, oder sie wurden eingesperrt, man wußte nicht wo, wie lange, ob sie wiederkommen würden,. Das vorherrschende Gefühl meiner Kindheit war eine permanente Angst.
Meine Familie war von Geburt und Herkunft her der Klassenfeind. Mein Großvater wurde als Großgrundbesitzer im größeren Stil als »Kulak« bezeichnet. Das war der Fluch auf dem Haus: Der Großvater ist ein Kulak. Wir Kinder haben gar nicht gewußt, was ein Kulak ist. Wir haben nur gewußt, daß wir darunter leiden. Mein Großvater war vor dem Krieg Rechtsanwalt und nach dem Krieg hätte er die Enteignungsprozesse mit führen sollen, das hat er nicht getan, deswegen ist er arbeitslos geworden. Er hat dann als Maurer arbeiten müssen. Er war eher ein Intellektueller, ein feingliedriger, lesender Mensch, der bei dieser Behandlung sowohl physisch als auch psychisch völlig zusammengebrochen ist. Nach 1956 hat man ihn zwar rehabilitiert, aber es war zu spät für ihn. Meine Mutter hat Geschichte und Geographie studiert und auch promoviert vor dem Krieg. Sie hat zunächst nicht gearbeitet, aber als der Vater arbeitslos wurde, hat sie die Familie unterhalten und hat als Lehrerin gearbeitet. Das war für sie insofern sehr schwer, weil sie als Klassenfeindin dauernd Kurse machen mußte, in denen sie umerzogen werden sollte, um den Kindern das richtige Geschichtsbewußtsein weiterzugeben. Wir haben zu Hause eine große Bibliothek mit Geschichtsbüchern gehabt, die natürlich nicht mehr gegolten haben. Mein erster Plan im Leben war: Da bleibe ich nicht. Weder zu Hause, noch in Ungarn. Ich habe Sprachen gelernt, war unheimlich frankophil. Frankreich war das absolute Ziel. Ich wußte, daß das Paradies unweit von Ungarn existiert, der Westen hat mich stark angezogen, und das hat das Leben noch unerträglicher gemacht. Ich habe Französisch gelernt und in der Freizeit gedolmetscht und dann an die Universität gestrebt.
Es gab da einen Grundsatz meiner Mutter: Lerne was. Sie können dir alles wegnehmen, wie du siehst, außer dem, was du im Kopf hast. Das Lernen war auch für uns Mädchen immer ein bedingungsloses Angebot, auch wenn es uns finanziell sehr schlecht gegangen ist, haben wir eine Klavier- und eine Sprachlehrerin gehabt. Ich bin dann an die Universität gegangen, noch in Ungarn. Fünf Jahre lang. Da hat es ein sehr selektives Aufnahmesystem gegeben, hier sagt man numerus clausus, man hat nur so viele ausgebildet, wie man wirklich gebraucht hat. Es gab eine Aufnahmeprüfung mit Punkten. Aufgenommen wurden prinzipiell die mit maximaler Punkteanzahl. Die Arbeiterkinder, die Abitur und einen bestimmten Orden hatten, mußten obligatorisch aufgenommen werden. Ich habe damals eine maximale Punktezahl gemacht, weil ich ein unendlicher Streber war. Ich bin so ein Streber geworden, aus lauter Angst, daß ich nur so in diesem System etwas werden kann. Ich war gut, ich hätte mir da und dort eine nicht so gute Note leisten können, aber ich habe eingetrichtert bekommen: Du mußt die Beste sein, das ist deine einzige Chance. Ich habe bis zum Abitur keine Freunde gehabt; ich habe aus dieser Zeit nichts anderes mitgenommen als strebern, strebern, strebern. An der Uni habe ich gleich Medizin gemacht, das war etwas Außergewöhnliches in der Familie, da waren nur Juristen, die Großväter väterlicherseits und mütterlicherseits, der Stiefgroßvater, der Vater.
Aber es gab keine Einwände, nur ein Brotberuf mußte es sein, also Meeresbiologie oder Kunstgeschichte, woran ich auch gedacht hatte, war nicht drin. Da sagte meine Mutter, dafür rackere ich nicht; was sie ja getan hat. Ich habe dann Medizin gemacht. Ein Brotberuf: Wenn du nichts verdienst, kannst du aufs Land als Landarzt und von den Naturalien leben, das wurde ganz offen ausgesprochen. Ironischerweise habe ich dann tatsächlich unterschreiben müssen, daß ich mich verpflichte, nur als Landarzt zu arbeiten. Sonst wäre ich, bei meiner Klassenherkunft, nicht aufgenommen worden. Das habe ich natürlich unterschrieben, weil ich damals schon wußte, mich seht ihr nicht, ich gehe sicher weg, und wenn ich in Paris im Warenhaus Coca Cola verkaufen muß. Der Vater hat sich oft völlig zurückgezogen. Er hat sich im Souterrain des Hauses ein Zimmer eingerichtet, das war das Geheimnis meiner Kindheit, dort durften wir nicht hinein. Dort hat er die allerletzten Requisiten seines ehemaligen Lebens um sich versammelt, es gab viele Lampen, die Bilder hingen von der Decke bis zum Boden. Ich sehe diese Bilder noch vor mir. Sein Vater und auch er waren Jäger. Das erlegte Wild haben sie immer gemalt, die Wildgänse und Fasane mit blutigem Hals. Es gab eine Chesterfieldgarnitur mit vielen Polstern, einen Schreibtisch mit unendlich vielen Schubladen. Da durften wir ungefähr einmal im Jahr rein, aber das hat uns unvorstellbar angezogen. Das war der Mittelpunkt meiner Kindheit. Aber als mein Vater dann starb, hat meine Mutter diese Dinge im Garten zusammengesammelt, ein Feuer gemacht und alles verbrannt. »Und jetzt Kinder, macht einen Punkt hinter die Vergangenheit.« Dann habe ich geheiratet. Es kam ein Mann aus Österreich, ein Sudetendeutscher mit österreichischer Staatsbürgerschaft. Ich habe mich total verliebt. Wahrscheinlich war ich auch total hingerissen, daß sich ein Mann aus dem Westen in mich verliebt. Er war 15 Jahre älter als ich, mit allen Attributen des westlichen guten Lebens ausgerüstet. Er hat einen Mercedes gehabt.
Das war Ende der 60er Jahre bei uns unvorstellbar. Und der wollte mich heiraten, das war für mich schwindelerregend, weil er ja ein Botschafter des Abendlandes und des Paradieses war. Wir haben nur mit dem Wörterbuch miteinander geredet. Er hat mich am Plattensee erblickt und wich dann nicht mehr von meiner Ferse. Also von verbaler Kommunikation war da keine Rede. Er war überhaupt der erste Mann in meinem Leben. Ich bin sehr streng und extrem körperfeindlich erzogen worden, auch in bezug auf meinen eigenen Körper. Ich war aber binnen vier Monaten schon seine Frau. Dann habe ich einen kurzen Schock gekriegt, jetzt bin ich also verheiratet. Ich bin dann noch ein ganzes Jahr in Ungarn geblieben, bin hin- und hergefahren. Aber dann hat er gedrängt, daß er eigentlich geheiratet hat, damit ich auch zu ihm komme, und dem war dann nichts entgegenzusetzen. Ich bin also nach Wien gekommen und habe das Studium gemacht, trotz großer Ängste meiner Mutter, daß ich es nicht zuende bringen würde. Da hat sie mich sehr verkannt, denn ich habe immer vorgehabt, ich zu sein, so gut ich das damals begreifen konnte. Ich wollte durch die Verblendung der großen Liebe oder des Am-Traum-Ziel Westen-Angelangtseins nicht ein Jota von meinem Weg abweichen, ich wollte unbedingt Ärztin werden und unbedingt arbeiten.
Das war dann aber eine große Umstellung an der Uni Wien. Es war Kalter Krieg, und die Österreicher haben mir auch nichts geschenkt. Man hat mir an der Uni nichts anerkannt, obwohl ich schon fünf Jahre studiert hatte. Die ersten Prüfungen habe ich binnen drei Monaten mit Auszeichnung gemacht, dann sind sie stutzig geworden, das Professorenkollegium ist zusammengetreten und hat mir das erste Rigorosum en bloc anerkannt, aber das andere mußte ich machen wie jede andere hier. Ich habe das in kürzester Zeit, also in drei Jahren, alles gemacht. Deutsch habe ich auch hier gelernt. Ich habe einen Lehrer gehabt, der hat mit mir acht Stunden täglich Deutsch geübt, bis mein Kopf geraucht hat. Ich habe jeden Abend einen Zettelberg mit Vokabeln gehabt, sie in der Badewanne noch durchgelesen. Aber ich wollte unbedingt gut Deutsch sprechen können. Wir Ungarn haben ja alle solche Komplexe gegenüber dem Westen gehabt, wir sind abendlandsüchtig gewesen. Hier war das Abendland und Paradies, das hat man uns auch immer weisgemacht. Die Österreicher haben mich am Anfang kolossal beeindruckt, ich habe vor lauter Beeindrucktsein den Mund nicht zugekriegt. Bis dieser Mythos abgebaut war, sind Jahre vergangen. Ich habe also gelernt. Ich war damals schon viel erwachsener und selbstbewußter als die Studenten hier, ich wollte das studentische Leben nicht mehr, das hatte ich in Ungarn schon erlebt, und durch die Heirat mit einem um 15 Jahre älteren Mann hatte ich Anschluß an ganz andere Kreise.
Ich wollte rasch studieren, habe mir die Bücher gekauft und gelernt. Als ich fand, ich bin soweit, habe ich mich zur Prüfung gemeldet und mich am Dekanat angestellt für einen Termin; das war für die Pathologie, eine unserer großen Prüfungen. Vor mir standen zwei, drei Österreicher und plauderten so. Es waren noch dazu Männer, und sie redeten so unglaubliche Dinge von diesem und jenem Fachgebiet, von dem ich noch nicht einmal gehört hatte. Da habe ich gedacht, du bist wahnsinnig, was die Leute hier können, du bist ein Trottel, du mußt nach Hause und erst in einem halben Jahr wieder her, du kannst nichts. Die zwei Burschen hatten mich mit ihrer Privatunterhaltung so weit, daß ich tatsächlch aus der Reihe schied, noch ein Buch gekauft und noch gelernt habe. Irgendwann habe ich gefunden, na schön, ich muß es halt probieren. Ich habe dann auf Anhieb eine Auszeichnung gehabt. Das war mein erstes Aha-Erlebnis. Meine Ehe allerdings ist in dieser Zeit immer schlechter geworden. je besser mein Deutsch wurde, desto deutlicher wurde es auch, daß wir uns eigentlich nichts zu sagen hatten. Ich bin nach dem Studium völlig nahtlos an ein Krankenhaus gekommen. Das war damals noch kein Problem, man konnte sogar noch auswählen, wohin man wollte. Turnus ist ja eine gute Einrichtung, denn nach dem Studium ist man ahnungsloser denn je, und in diesem Turnus arbeitet man sich durch alle Fächer durch. Danach ist man dann wirklich Allgemeinmediziner. Außerdem kann man dabei herausfinden, was man eigentlich möchte. So bin ich an dieses Fach gekommen: Dermatologie. Die Kombination des Manuell Konservativen und des ästhethisch Möglichen hat mir gefallen, aber nicht im Sinne der plastischen Chirurgie, sondern ich wollte Ärztin sein und hellen. Man kann da die Sachen für das Auge kontrollierbar zum Besseren wenden.
Ich habe auch ein halbes Jahr auf der Intensivstation gearbeitet; danach wußte ich, ich packe das nicht. Da gibt es kein Privatleben mehr, weil man sich neben der Arbeit im Krankenhaus auch noch ständig fortbilden muß. Denn wenn man sich nicht fortbildet, muß man das Gefühl kriegen, der ist gestorben, weil ich mich nicht ausgekannt habe. Ich bin sehr zufrieden mit meiner Entscheidung. Auf der Station hat es am Anfang Bedenken gegeben gegen meine Einstellung, das habe ich damals aber kaum wahrgenommen. Ich habe da eigentlich einen Abstellposten angenommen, da haben mich die reingedrückt, die mich nicht wollten. Aber ich hab das gar nicht so gespürt, sondern meine Sachen gemacht. Ich habe viele Neuerungen eingeführt, bin nach Straßburg gefahren, um zu lernen, wie man Venen verödet. Ich habe nicht gewartet, bis man mir Sonderurlaub gab oder eine besondere Unterstützung, sondern habe mir Urlaub genommen und bin dort hingefahren.
Oder als ich die Dermatochirurgie organisiert habe, bin ich kurz nach New York, auf eigene Kosten, und habe mir das angeschaut, nach Hause gebracht und eingeführt. Ich habe da keine Konkurrenz gehabt, der Chef hat sich gefreut, wenn ich was Neues gebracht habe, das war auch gut für seinen Ruf. Bei uns sind überhaupt fünfzig Prozent Frauen, aber wir stellen keine Chefärztin, das ist schade, weil genug qualifizierte Frauen da wären, die bemühen sich auch um diese Position, aber vergeblich. Wir schaffen es in der Dermatologischen Gesellschaft nicht einmal zur Schriftführerin. In den männerdominierten Fächern ist das noch viel schlimmer. Ich habe da einen Vortrag gehalten bei dem Jahrestag der Plastisch-Chirurgischen Gesellschaft in Salzburg, bin dort mit einer Freundin hin, habe den Vortrag gehalten mit Diskussion, das war ganz gut. Am Abend gab es dann noch einen Empfang, da waren Türsteher, die haben sich ziemlich insistierend nach dem Mann erkundigt, dessen Begleitung ich sein sollte. Ich habe ihnen dann nach einiger Zeit klargemacht, daß in diesem Fall ich der Mann bin. Ich hatte zwei Karten: Vortragende und Begleitperson. Ich habe gesagt: »Ich bin der Mann, diese meine Freundin ist die Frau, geht das denn so?« Dann waren wir drin. Aber sie haben uns dann an den Tisch mit den Sekretärinnen, Schreibkräften und OP Schwestern gesetzt, und da saß ich als eingeladene Vortragende. Ich habe genau zehn Minuten dagesessen, dann bin ich gegangen. Das war vor drei Jahren.
Plastische Chirurgie ist ein männerdominiertes Fach, Frauen sind dort nur als Frauen ihrer Männer. Dann war die Scheidung. Die Ehe war nicht gut genug, daß war mir einfach zu wenig. Es war damals noch höchst unanständig zu sagen, dieser Mann ist mir zu wenig, während der Mann leicht nach einer Karriere sagen kann, diese Frau ist mir zu wenig geworden, sie ist nicht mitgekommen. Da kamen dann jedenfalls die ganzen Fragen: »Was hast du denn nicht gehabt? Eine wunderschöne Wohnung, dein Mann hatte Geld.« Die Verständigung mit meinem Mann war aber gleich Null. Ich habe überlegt, ich lebe hier im Westen, aber was ich davon wahrnehme, ist so bescheiden. Ich habe schon den Luxus genossen, aber ich habe mich plötzlich erinnert, wie ich mit 18, 20 war, um wieviel interessanter ich da gelebt habe. Wie wir Buchabzüge, von Hand gefertigt, herumgereicht haben, was wir für Pläne und Gedanken gehabt haben. Es hat in Ungarn nicht viel gegeben, aber wenigstens Gespräche und nicht diese Leere, die war lähmend und unterdrückend. Auch erotisch war die Beziehung zu meinem Mann nicht gut. Er hat gefunden, daß ich frigide bin. Er war mein erster Mann und sagte, er müsse es ja wissen, er habe schon 26 Freundinnen gehabt. Mir hat es auch nicht viel Spaß gemacht. Und das macht schon sehr klein. Ich habe dann, da war ich schon elf Jahre verheiratet, eine flüchtige Liaison gehabt und den Gegenbeweis angetreten. Aber für mich war dadurch innerlich ein sehr großer Freiraum geschaffen.
Ich habe meinen Mann dann verlassen. Ich wußte nicht, ob ich wen anderen wollte, nur daß ich ihn nicht mehr wollte. Ich habe eine eigene Wohnung genommen, das war dann nach österreichischem Recht »böswilliges Verlassen der ehelichen Gemeinschaft«. Ich hätte damals aufs Gemeindeamt gehen und ihn unterschreiben lassen müssen, daß er damit einverstanden ist, daß ich ausziehe, wie früher bei meiner Mutter, die meine Zeugnisse unterschrieben hat. Das war für mich Mittelalter, deshalb habe ich es nicht getan, mit der Folge, daß ich auf alles verzichtet habe. Ich finde, daß es selbstverständlich ist, Dinge zu teilen. Wenn ich geahnt hätte, wie es bei der Scheidung zugehen würde, wäre ich etwas klüger an die Sache herangegangen. Ich habe mich allerdings nicht getraut, meiner Mutter zu sagen, daß wir geschieden waren. Sie hat dann diesen fatalen 75sten Geburtstag gehabt, da waren wir längst getrennt und sind noch immer als Ehepaar zum großen Fest runtergefahren. Ich habe es einfach nicht geschafft, ihr von der Scheidung zu erzählen. Das wäre in ihren Augen ein schreckliches Versagen gewesen. Ich habe also meinen Ex-Mann gebeten mitzufahren. Die Praxis habe ich dazwischen aufgebaut. Es ist eine reine Privatpraxis. Ich mache aber nicht nur die Medizin, ich lerne Sprachen und Klavier, ich gehe schwimmen und turnen und lese viel. An einem Nachmittag habe ich Sprechstunde, an einem anderen operiere ich privat, und einen ganzen Tag arbeite ich im Krankenhaus und mache dort auch Nachtdienst.
Auf dem Papier arbeite ich im Krankenhaus bis eins, aber ich komme nie vor halb drei weg. Ich habe ein unheimliches Glück mit dem Beruf, er erhält mich vorzüglich, ich mache ihn gerne, und er ist offensichtlich das, was ich am besten kann. Man macht ja nur das gerne, was man kann. Es gibt kaum einen Tag, wo ich nicht gerne zur Arbeit gehe. Sie läßt mich sein, wer ich bin. Die gesellschaftliche Reputation der Ärzte ist ja sehr gut. Das habe ich gemerkt, als ich geschieden war und in Gesellschaft gegangen bin. Allein als Ärztin, das ist kein Problem, da fragt niemand, wer der Vater, der Mann oder sonstwer ist. Ärztin sein reicht, um als Person ernst genommen zu werden. Das ist nicht in jedem vielleicht mit gleichem Aufwand erkämpften Beruf so schön. Ich habe auch eine sehr gut gehende Privatpraxis und das Glück, dabei nette Leute kennenzulernen. Daß mich der Beruf erhält, sage ich offen, denn immerhin hat mein Mann gehofft, ich würde schon aus finanziellen Gründen einen Kompromiß mit ihm eingehen. Dann habe ich mit Wonne festgestellt, wieviel ich verdiene. Auch die meisten Männer beziehen ihr Selbstbewußtsein aus dem Geld. Ich kann eben was als Dermatologin, habe eine gute Privatpraxis, so daß ich davon gut leben kann. Ich glaube, es ist kein Zufall, daß so viele Frauen in diesem Beruf sind. Es ist schon immer eine Naturbegabung der Frau gewesen, etwas gedeihen zu lassen, sich um etwas zu kümmern. Ich operiere ja nicht nur. Ich kümmere mich auch hinterher darum. Ich bin sicher, daß das einen Teil meiner Beliebtheit ausmacht, das Kümmern. Mit den Leuten reden und dabei sein, das ist doch unsere Begabung als Frauen.
Wir schreien ja auch immer, daß die Männer nicht mit uns reden. Wir verlangen das und können es also auch bieten. Der Mann, mit dem ich jetzt eine Beziehung habe, unterstützt mich da auch sehr. Er ist absolut ein Intellektueller. Ich habe nicht geglaubt, daß ich unter den Ärzten so etwas finden würde. Denen bin ich auch glatt aus dem Weg gegangen. Mein Freund hat vorher noch Kunstgeschichte und Philosophie studiert. Er liest viel, weiß viel, kann sein Wissen weitergeben, ohne Lehrer zu sein. Ich bin wie eingebettet in ein Leben mit Büchern. Es ist ein Traum. Er ist fünf Jahre jünger, das war für mich ein ungeheures Problem. Nach der Scheidung hatte ich so einen Lebensplan gemacht: Ich brauche erstens einen Liebhaber, zweitens einen sehr intelligenten Menschen, vielleicht einen gebildeten, kultivierten alten Mann, bei dem man die übrigen Wünsche ganz gut in Schranken halten kann. Aber dann habe ich den Menschen gefunden, der beides ist. Den habe ich noch dazu in meiner ärgsten Männerhasserphase gefunden. Was der hat einstecken müssen... Er war Gott sei Dank emanzipiert genug... Als ich ihn kennenlernte, war er auch schon ein fertiger Mensch. Drum konnte er das wegstecken. Er ist im Rahmen seiner Ausbildung als mein Assistent zu mir in den OP gekommen. Dort habe ich mich auch in ihn verliebt. Ich habe mich da nur sehr schwer entscheiden können. Nach meiner Scheidung hatte ich mir eine richtig schöne Wohnung genommen. Mein Mann hatte mir immer einzureden versucht, daß ich ohne ihn nicht überleben könnte, daß ich nach der Scheidung verhungern und verkommen müßte. Das war für mich dann sehr schön, die Tür hinter mir zumachen zu können. Damals war die Wohnung frisch gestrichen, und ich hab' dann den Schlüsselbund an die Decke geworfen. Dabei ist ein Fleck entstanden, den habe ich mir einrahmen lassen. Das ist das Symbol meiner Unabhängigkeit.
Niemand sagt mir was, schreibt mir was vor. Meine privaten Probleme dürfen mich in meinem Beruf nicht stören und sollen in meinem Berufsleben nicht nach außen dringen. Die Vorstellung der Gesellschaft von den Ärzten ist eine sehr konservative. Da war es nicht so einfach mit einem gewissen Doppelleben. In dieser Hinsicht mache ich schon Kompromisse. Ich bin auch bereit, der Erwartung der Umwelt zu entsprechen, ich will diese Erwartung bewußt nicht stören. Nachdem ich eine Weile das Alleinsein genossen hatte, bin ich dann doch mit meinem Freund zusammengezogen. Organisiert ist eigentlich nur mein beruflicher Alltag. Ich habe kein Fernsehen, das habe ich früher schon abgeschafft. So bleibt mir sehr viel Zeit, z.B. für Theater, Konzerte. Meine Haushälterin kommt nur, wenn ich nicht da bin. Sie erledigt alles in meiner Abwesenheit. Mit dem Essen ist das bei zwei Personen nicht so kompliziert.
Ist was da, ist es gut, sonst gehen wir essen oder holen nur Nüsse aus dem Schrank. Mir ist wichtiger, daß ich mir eine Karte für Othello besorge. Dafür stehe ich zwei Stunden früher auf und stelle mich bei minus 12 Grad an. Wir gehen sehr gerne spazieren zusammen. Früher bin ich überhaupt nicht gegangen, nur vom Cocktail bis zum Taxi und zurück. Das sind die besten Gespräche, wenn man so zwei, drei, vier Stunden unterwegs ist. Mein Rat an andere Frauen ist, cool zu bleiben. Mir hat man den Kampf immer angesehen. Ich will die Männer nicht kopieren, wir wollen ja unsere eigene Farbe in diesen Beruf einbringen, aber es müßte der Tag kommen, wo wir selbstverständlich das sind, was wir sind, und das, was wir sind, eine Selbstverständlichkeit hat.«