Der Kapitalismus der Frauen ist viel schöner

 Anita Roddick

Aus Romanen und Filmen kennt man ja den Plot: Hochmütiger, rasend erfolgreicher Großindustrieller will die Firma seinem ältesten Sohn übergeben, dieser aber ist unangenehm, untauglich und inkompetent. Trotzdem ist der Industrielle auf seinen legitimen Erben fixiert. Inzwischen rackert sich der ungeliebte andere Sohn, der aus irgendwelchen Gründen nicht die Gunst des Vaters genießt oder vielleicht unehelich ist, mühsam hoch, bis irgendwann der Erbe ausfällt und der talentierte andere Sohn sein Schattendasein beenden und in den Vorstand aufsteigen darf. Diese Geschichte spielt, viel globaler aber ebenso dramatisch, in unseren Tagen. Nur handelt es sich nicht um einen ledigen Sohn, einen Stiefsohn, einen ungeliebten jüngeren Sprößling, sondern um eine Tochter. Der Kapitalismus hat seine Töchter entdeckt - oder auch umgekehrt. Die Führungsetage mag noch nicht davon betroffen sein, aber auf allen anderen Stufen hat der Nadelstreifen Gesellschaft bekommen. Frauen gehen in Seminare und lassen sich beibringen, wie man argumentiert, sich eine Gehaltserhöhung holt, eine Firma gründet. Sie bilden Karrierenetzwerke, um sich gegenseitig zu informieren und zu kooperieren. Die populäre Literatur sucht nach Rezepten und bietet viele an, aber in Wirklichkeit gibt es keines, bzw. gibt es so viele, wie es Frauen gibt. Von unseren Gesprächspartnerinnen vermutete die eine die Ursache ihrer besonderen Durchsetzungsfreude in der Tatsache, daß sie viele aggressive Brüder hatte und früh lernte, sich durchzusetzen; die andere erklärt ihr Selbstbewußtsein damit, daß sie verwöhnt und verhätschelt worden war und erst kämpfen mußte, als sie halb erwachsen war und stark genug für Konfrontationen. Die eine warf sich mit besonderem Ehrgeiz in die Sache, um ihrem Vater, der sie als Kind stets ignoriert und zugunsten ihrer Brüder übersehen hatte, etwas zu beweisen. Die andere hielt sich für besonders ambitioniert, weil ihr Vater sie zur Leistung gedrillt hatte und ihre Entwicklung immer sehr interessiert verfolgte. Manche nahmen die Ermutigung Ihrer Eltern dankbar auf; anderen war das Fehlen einer solchen Ermutigung ein Ansporn; wiederum andere litten unter dem Desinteresse der Eltern, suchten sich aber dafür anderswo eine Quelle der Bestärkung, z. B. bei einer besonders netten und interessierten Lehrerin. Frau Hölzl, engagierte Abteilungsleitern in einer Institution für Sozialarbeit, sieht in ihrer sehr unsteten, zuwendungsarmen Kindheit den Grund für ihr späteres Durchhaltevermögen. »Ich hätte als Kind nicht überlebt, wenn es mir nicht gelungen wäre, mich immer wieder präsent zu machen, so daß man mich auch wahrnimmt. Das war sicher schon aus meiner speziellen Position heraus einer der mir eigenen Beweggründe.« Auf der anderen Seite ist Anita Roddick, erfolgreiche Geschäftsfrau, überzeugt davon, daß gerade die viele Aufmerksamkeit und Zuwendung, die sie von ihren Eltern erhielt, der »Alpha-Plus«-Faktor in ihrer Psychostruktur wurde. »Von frühester Jugend an hörte ich immer wieder, wie toll ich war, daß ich etwas ganz Besonderes war. Ein Kind nimmt so etwas gerne auf, und es prägt.« Auch die österreichische Umweltministerin Marilies Flemming tippt darauf, daß ein vielgelobtes und vielbeachtetes Kind am ehesten zu einer selbstbewußten Frau heranwächst, und ist den eigenen Eltern dafür dankbar. »Einem Kind muß man immerzu sagen, daß es klug ist, schön ist, daß man es großartig findet. Zurechtgetrimmt wird man im Leben noch früh genug; ein festes Fundament des Selbstvertrauens ist die beste Grundlage für das Leben.« Es gab aber auch Frauen, die ohne einen Funken Ermunterung vorankamen oder sich ihre Ermunterung in bescheidenen Portionen überall dort holten, wo etwas zu holen war. Khurshid Haider zum Beispiel, eine der wenigen Botschafterinnen im diplomatischen Corps der islamischen Länder, wuchs nicht nur mit dem völligen Desinteresse der Eltern an den schulischen Leistungen ihres begabten Kindes auf. Auch ihre spätere, glänzende Karriere als Professorin und später als Diplomatin wurde begleitet von dem Bewußtsein, daß ihre Eltern das alles nicht mit Stolz wahrnahmen als Erfolg, sondern sich wegen der peinlichen Abweichung ihrer Tochter von den Normen ihrer Schicht genierten. Ihre Ermunterung mußte sie immer von anderswo holen: von einer Nonne im Internat, in dem sie lernte, von Freunden und Kollegen und aus ihrem eigenen inneren Willen. Bei aller Unterschiedlichkeit und bei allem Elan, mit dem Frauen ihre Zurücksetzungen überwanden, zog sich doch das Faktum dieser Zurücksetzung konstant durch ihre Lebensgeschichten. Nur selten waren selbst die Töchter aus privilegierten Häusern die auserkorene »Erbin«; oft wurden auch sie vom ambitionierten Vater belächelt oder ignoriert, von der Mutter zur Damenhaftigkeit angehalten. Wenn es Brüder gab, waren diese meist ganz selbstverständlich zur Leistung, zur Firmenübernahme auserkoren. Dadurch gewinnt die biographische Erzählung so mancher, letztlich erfolgreichen Frau eine leicht märchenhafte Komponente - sie sind die Stieftöchter der Elite. Monika Culen zum Beispiel. Ihre Familie, seit Generationen im Unternehmertum, war sehr dem Leistungsdenken und der Marktwirtschaft verpflichtet. Auf die Ausbildung der Tochter aber wurde »überhaupt kein Wert gelegt«, während »mein Bruder von klein auf hart auf Unternehmer trainiert« wurde. Monika sollte natürlich das Abitur machen, das gehörte zur Grundausstattung einer zukünftigen Unternehmersgattin. Wie sie aber mit ihrer Schulbildung zurechtkam, interessierte nicht weiter. »Keiner hat sich um die Schule gekümmert, es hieß immer: »Deine Intelligenz erkenne ich daran, wie du mit den Lehrern auskommst.« Im Gegensatz dazu wurde die Ausbildung des Sohnes bis ins kleinste Detail sorgfältig geplant und beaufsichtigt. »Das hat für ihn begonnen mit frühen Aufenthalten im Ausland, entsprechenden Schulen, Studium in Amerika. Bei mir hat es einmal geheißen, ich könnte eine Druckerei von meinem Großvater erben, die wurde dann aber verkauft und einem anderen Betrieb einverleibt. Das Versprechen wurde vergessen, während mein Bruder intensiv vorbereitet wurde, auch sein Eintritt in die Firma wurde irrsinnig vorbereitet, die Übergabe des Betriebes an ihn war höchst professionell gemacht. Bei mir gab es nichts dergleichen, ich war aber so indoktriniert, daß mir das nicht aufgefallen ist.« Zumindest nicht bewußt. In vielen Frauen arbeitet das latente Gefühl, von den eigenen Eltern nicht richtig für voll genommen zu werden, unbewußt weiter - vor allem dann, wenn es sich um eine Familie handelt, in der Leistung und Arbeit an sich groß geschrieben werden. Das kann auch eine ambivalente Wirkung haben. Vor allem rückblickend wissen es manche dieser Frauen zu schätzen, daß sie dem rigorosen Auge des Vaters und seinen gnadenlosen Anforderungen einfach deshalb entkamen, weil er sie gar nicht richtig wahrnahm und nicht viel von ihnen erwartete. Manche hatten auch den Freiraum, sich ein eigenes Betätigungsfeld zu suchen, während ihre Brüder gar keine andere Wahl hatten, als in den Familienbetrieb einzusteigen oder das zu studieren, was ihr Vater für gut befand. Als kleines, stacheliges Ärgernis war die Geringschätzung des Vaters vielleicht auch noch gut für die Motivation - die Töchter wollten ihm beweisen, wie unrecht er damit hatte, ihnen nichts zuzutrauen. jedenfalls läßt sich hier ein Muster erkennen. War die aufstrebende männliche Leistungsgeneration des Kapitalismus vom Drang getrieben, in die Fußstapfen des Vaters zu steigen und ihn gleichzeitig zu überflügeln, sein Werk fortzusetzen und ihn zugleich abzusetzen und zu übertreffen, so sind die neuen Töchter des Kapitalismus zumindest teilweise von dem Wunsch motiviert, dem Vater ihr Können und ihren Wert zu beweisen. Die Unternehmerin Joseanne Baens kommt aus einem privilegierten, aufgeklärten Elternhaus. Aber für alle Beteiligten ist es ganz selbstverständlich, daß die Firma des Großvaters - Moulinex-Belgien - auf den Bruder übergeht. Auch das ist ein Muster: daß die patriarchalische Grundhaltung so festgefahren ist, daß nicht einmal eine davon abweichende Realität daran rütteln kann. Als der Großvater nämlich stirbt, übernimmt zunächst seine Tochter, Joseannes Mutter, die Firma. Zu diesem Zweck studiert sie sogar nachträglich an der Harvard Universität, um sich die nötigen betriebswirtschaftlichen Qualifikationen anzueignen. Sie macht ihre Sache sehr gut, aber dennoch wird sie lediglich als eine Art Regentin betrachtet. Erst nachdem ihr Sohn auch in die Firma eingetreten ist, ist die Welt wieder in Ordnung. Joseanne liebt das Geschäftsleben, zum Teil sicherlich, weil es ihrem Wesen entspricht, und zum Teil, weil sie zu Hause die Atmosphäre des lebendigen Wirtschafts- und Kulturlebens mitbekam. Trotzdem stellt ihre Familie sie ganz automatisch in den Schatten des Bruders, wenn es um berufliche und geschäftliche Zukunftsplanung geht. Angelika Jahr, Tochter des großen Verlagshauses, sollte standesgemäß heiraten, während für ihre Brüder Positionen im Management vorgesehen waren. Die Brüsseler Psychologin Danielle Zucker wird ganz selbstverständlich übergangen, als ihr Vater »seinen Sohn« in den familieneigenen Diamantenhandel einführt. Jede Frau fand ihren eigenen Weg, mit dieser Zurücksetzung umzugehen. Danielle suchte sich einen ganz eigenen Bereich , in dem sie sich nicht nur eine eigene Position erkämpfen konnte, sondern in den sie sogar, als Therapeutin, die verbleibenden Reste von Kummer und Kränkung produktiv einarbeiten konnte. Angelika entdeckte in ihrer relativen Nichtbeachtung einen Vorteil für sich, denn da der strenge Vater keine großen Erwartungen an sie richtete, mußte sie auch nicht mit der Angst leben, ihn zu enttäuschen. Die Brüder mußten sich als seine Assistenten in seinem unmittelbaren Umfeld ständig messen, während Angelika nur hin und wieder sein liebevolles Auge auf sich spürte, »wobei sein Erstaunen deutlich war: »Ach, die Kleine, schau mal, was sie kann!«

Elizabeth Staunton, 35

Leiterin der England-Sektion von Amnesty International, London

Wir treffen, Elizabeth Staunton im Londoner Büro von Amnesty International. Es ist Samstagnachmittag, aber im Büro herrscht reger Betrieb.

»Ich komme aus der Arbeiterklasse. Meine Mutter war zuerst Putzfrau in einem Krankenhaus, danach führte sie ein kleines Wohnheim. Mein Vater war Ambulanzfahrer. Um meine Eltern schichtmäßig genauer einzuordnen: Sie waren solide Arbeiterklasse, sie schätzten den Wert von Schulbildung, aber hatten selber nicht die Chance gehabt, eine zu bekommen. So würde ich ihren Standort beschreiben. Ich ging also in die Volksschule, und dort hörte ich erstmals von der Einrichtung des Internats und war davon fasziniert. Ich las alle möglichen Bücher und Romane, die von Internaten handelten, und glaubte, daß man dort unheimlichen Spaß hätte. In einer tollen Überredungsaktion überzeugte ich alle davon, daß ich dort unbedingt hingeschickt werden mußte. Schließlich schaffte ich es, ein Stipendium für ein Internat zu bekommen.

Dort war es dann unendlich langweilig und trostlos. Aber das hatte auch seine gute Seite, denn so habe ich wenigstens sehr viel gelesen, um dem gedanklich zu entfliehen. Und dadurch hatte ich gute Noten, also schienen sie es in der Schule alle selbstverständlich zu finden, daß ich natürlich auch auf die Uni gehen sollte. Ich studierte Englisch, Psychologie und ein bißchen Rechtswissenschaften. Wenn ich rückblickend überlege, haben mich Randgruppen und soziale Probleme immer schon fasziniert. Während der Internatszeit gingen wir samstags nach dem Unterricht durch den Park in der Stadt. Und im Park saßen die Stadtstreicher, und die haben mich sehr interessiert. Ich bin ganz langsam durch den Park gegangen und hab mich mit ihnen unterhalten, und sie haben mich schon allein deshalb fasziniert, weil ihre Sicht der Welt so anders war als die der Nonnen, die meine Schule leiteten. Nach der Uni habe ich dann von einer Organisation gehört, der Simon Community, die Heime für Drogensüchtige unterhielt, und dort habe ich dann gearbeitet. Ich habe eines dieser Heime geleitet. Das war eine ziemlich ungewöhnliche Berufswahl für jemanden, dessen Familie sich von einem Studium eigentlich den sozialen Aufstieg erwartete, und meine Eltern waren sehr besorgt. Ich kann sie verstehen, das war schließlich nicht ungefährlich, und mir wäre es auch nicht recht, wenn meine Tochter so etwas täte. Ich machte das also eine Weile, und dann ging ich zur Uni zurück, um mich zu erholen. Naja, und weil es halt typisch für jemanden aus der Arbeiterklasse ist, eine konkrete Fertigkeit haben zu wollen, entschied ich mich dann für Jura. Nach der Promotion habe ich in einem juristischen Beratungsteam gearbeitet, wir hatten vor allem mit Frauen zu tun, die Heimarbeit leisteten und sehr ausgebeutet wurden. Das waren vorwiegend ausländische Frauen aus Pakistan, die für fast nichts gearbeitet haben. Und ich arbeitete für eine Rechtskanzlei, die geschlagene Frauen vertrat. Ich wollte dann meine Ausbildung strategischer einsetzen, nicht immer nur einen Fall und noch einen Fall vertreten, sondern ich wollte ein Problem grundlegend aufgreifen, Präzedenzfälle schaffen. Ich ging zum Council of Civil Liberties, dort wurden arbeitsgerichtliche und andere soziale Fälle aufgegriffen und bis zum Europäischen Gerichtshof hinauf durchgefochten. Das hat mir die Wichtigkeit der europäischen und darüber hinaus der internationalen Komponente gezeigt. Ich erkannte, daß der Druck der öffentlichen Meinung ein wertvolles Instrument ist. Und ich interessierte mich zunehmend für Menschenrechtsfragen. Dann sah ich, ganz zufällig, am Anschlagbrett in der Cafeteria eine Notiz, daß Amnesty International einen Direktor sucht. Also meldete ich mich an für ein Bewerbungsgespräch. Als ich zum Interview kam, war ich im achten Monat schwanger. Ich war bestimmt ihr riesigster Kandidat, wahrscheinlich waren sie schon allein davon ganz sprachlos. Natürlich interessierten sie sich dafür, wie ich die Situation zu managen gedachte, denn hier muß auch am Wochenende gearbeitet werden. Sie fragten mich, ob ich die vorgesehenen .Arbeitszeiten würde einhalten können, und ich sagte ja. Dann dachte ich, daß ich am besten ein wenig ausführlicher antworten sollte, also sagte ich noch, daß ich es mit meinem Mann besprochen. hätte und wir es organisieren könnten. Ich glaube, es war gut, daß ich das noch dazugesagt habe. Mein Mann hat ebenfalls einen anspruchsvollen Job, er ist in der Administration des sozialen Wohnungsbaus. Wir haben eine Haushälterin und wohnen mit Freunden zusammen. Im Büro hier haben wir 35 feste Angestellte und ebenso viele Freiwillige. Die Freiwilligen sind entweder sehr jung, Studenten, oder es sind Leute im Ruhestand. Die Pensionäre sind besonders toll, denn oft haben sie aus ihren früheren Berufen Fähigkeiten, die für uns sehr wertvoll sind. Zum Beispiel haben wir einen Arzt im Ruhestand, der kann sehr gut mit den vielen medizinischen Journalen korrespondieren und sie für unsere Sache gewinnen. Die gesamten Finanzen liegen eigentlich in den Händen unserer Freiwilligen, viele haben von früher buchhalterische Kenntnisse. In England haben wir 60 000 Mitglieder, international eine dreiviertel Million. Es ist uns gelungen, in der Kommerzwelt Unterstützung zu finden. Sogar die Post hat begriffen, daß Amnesty etwas mit Briefsendungen zu tun hat und für sie eigentlich ein Riesengeschäft bedeutet, und sie helfen uns jetzt. Ich finde es gut, wenn wir ins Bewußtsein gerückt werden, wenn unsere Plakate überall kleben. Ich fühle mich hier sehr zufrieden. Genau das war eigentlich mein Ziel: mir eine Fertigkeit anzueignen und sie dann einer Bewegung anzubieten, die sie verwenden kann. Hier wird meine Ausbildung wirklich verwertet. Und sie bringt hier mehr, glaube ich, als wenn ich als einzelne meine eigene Anwaltspraxis hätte. So steht eine Organisation, stehen sehr viele Menschen hinter mir. Zugleich sind unsere Ziele sehr konkret. Wir wollen unsere Mitgliederzahlen erhöhen, wir wollen schneller auf Vorfälle reagieren, wir wollen eine bessere Öffentlichkeitsarbeit. Unsere spezielle Gruppe möchte auch die Aufmerksamkeit auf die Situation von Frauen und Kindern lenken, weil wir glauben, daß diese beiden Gruppen oft zu kurz kommen. Unser Aufgabengebiet ist klar und präzise, das gefällt mir daran. Man muß einen langen Atem haben, das stimmt schon, aber es gibt auch Erfolge. Zum Beispiel stehen wir nun schon seit Jahren und Jahren vor der sowjetischen Botschaft und wollen eine Petition überreichen, und nie durften wir hinein. Und jetzt wurden wir vorgelassen. Wenn man ein moralisches Anliegen vertritt, darf man allerdings eigentlich so nicht denken. Es gibt einfach Dinge, die müssen gesagt werden, auch wenn keiner sie hören will.«  Elizabeth Staunton wächst auf in einer Umgebung, in der eine abgeschlossene Schulbildung, ein Universitätsbesuch, ein qualifizierter Job weder für ein Mädchen noch für einen Jungen zum normalen Lebensweg gehören. Zwei Dinge kommen zusammen, um sie hier auf eine andere Schiene zu heben: ihre eigene, innere Motivation und eine bildungsfreundliche Haltung der Eltern. Die Eltern »schätzen den Wert von Schulbildung«, hätten vielleicht selber gerne eine erhalten, daher kommt der Wunsch der Tochter ihnen nicht abwegig vor. Elizabeth selbst fühlt eine starke Anziehung gegenüber Schule und Lernen; gleichzeitig interessiert sie sich für soziale Gerechtigkeit und ist fasziniert von anderen Perspektiven. Die Stadtstreicher, die im Park herumsitzen und einen so starken Kontrast zu den Nonnen im Internat bilden, sind nur ein Sinnbild dafür. Alles, was Elizabeth in ihrer FamiIie und  Nachbarschaft miterlebt hat, wird in ihrer späteren Studienzeit einen steten, latenten Kontrast zur Welt der Universität bilden. Von Anfang an fühlt sich Elisabeth von den Benachteiligten angezogen, und ihre Karriere ist von diesem konstanten Faden gekennzeichnet. Es beginnt mit den Drogensüchtigen, aber das ist ihr zu sozialarbeiterisch. Elizabeth möchte näher an die »Prinzipien«, an die Strukturen heran. Und sie möchte nicht mit leeren Händen dastehen, sondern etwas mitbringen: eine ganz konkrete berufliche Qualifikation. Das ist in ihrem Fall dann die Ausbildung als Anwältin. Auch hier tastet sie sich vor, immer mit einem besonderen Hang zu Problembereichen: ausgebeutete ausländische Heimarbeiterinnen, mißhandelte Frauen. Die Arbeit mit dem Council for Civil Liberties eröffnet eine neue Perspektive, die der Öffentlichkeitsarbeit. Amnesty International ist als nächster Schritt ganz logisch. Elizabeth erwartet nicht, daß ihr moralisches Interesse und ihr guter Wille allein sie schon tragen. Sie möchte etwas bieten, etwas können. Auch bei den freiwilligen Mitarbeitern schätzt sie nicht bloß das Engagement, sondern bewundert auch die Fertigkeiten. Guter Wille allein genügt nicht; so grob könnte man es eigentlich ausdrücken, und damit löst sich eine gern postulierte, aber ungerechtfertigte Gegenüberstellung in Luft auf. Tendenziell nämlich gibt es immer noch eine Bereitschaft, Pragmatik und Moral als entgegengesetzte Dinge zu betrachten. Die Moral wird aber erst dann besser dastehen, wenn sie auch pragmatisch denkt. Die Frauen, die in diesem Kapital stehen, verkörpern dieses Motto und erwarben sich alle diese Einsicht.

Marlies Konstantin, 45, Jounalistin

Marlies Konstantin erlebte die Welt als junges Mädchen bereits als einen Ort, in den man nicht blindes Vertrauen setzen konnte. Väter und Ehemänner konnten einen verlassen, Brüder konnten sterben. Politisch, sozial und kulturell war die Welt interessant, aber verbesserungswürdig. Und: Wenn man sich auflehnte und ausdauernd war, konnte man Erfolg haben.

»Ich komme aus Thessaloniki. Meine Familie gehört der Mittelschicht an. Mein Vater war Geschäftsmann. Meine Mutter wäre als junge Frau gerne auf die Universität gegangen, aber das galt damals nicht als schicklich. Sie war eine sehr ambitiöse Frau, aber für sich selbst durfte sie es nicht sein, also war sie es für mich. Mein Vater war ganz anders, sehr nonchalant, er hatte mehr Charisma, war viel weniger ernst. Es war keine gute Ehe, und meine Eltern haben sich getrennt, als ich zwölf Jahre alt war. Er war Spieler, hatte immer Freundinnen und Affären, und eines Tages zog er aus und ging nach Athen. Ich fühlte mich als Kind sehr geliebt, da hatte ich eigentlich keine Zweifel.

Mein Vater nannte mich seine Prinzessin, er kaufte mir teure Geschenke. Aber es war keine abgerundete Beziehung, und sie entwickelte sich später nicht mehr weiter, weil er wegging. Und weil ich Position beziehen mußte. Aus weiblicher Solidarität stellte ich mich auf die Seite meiner Mutter, denn ihr war ein Unrecht geschehen. Die Lektion, die ich nur halb ausgesprochen aus der Trennung und aus dem Schicksal meiner Mutter zog, war wohl, daß die Gesellschaft mit Frauen nicht gerecht verfährt. Sie stellt ihnen eine Aufgabe, nämlich die Ehe, die sie aber alleine nicht erfüllen können. Der Mann kann sie verlassen, und dann haben sie versagt, ohne daß es ihre Schuld war. Es kam noch ein zweiter Schicksalsschlag. Mein älterer Bruder, ein sehr begabter, attraktiver und intelligenter junger Mann, starb im Alter von 27. Für mich war er sehr wichtig gewesen, er hatte mich sehr beeinflußt. Er war wie ein Lehrer für mich, er hat immer alles, was ihn gerade bewegte, mit mir diskutiert. Er starb, als ich im Ausland war. Ich hatte ein Stipendium für die USA bekommen. Dort studierte ich und arbeitete nebenher, um meinen Unterhalt zu verdienen. Ich habe Geschenke verpackt, habe in einer Bibliothek gearbeitet, war Lehrerin einer dritten Volksschulklasse. Dann starb mein Bruder, und das war ein Wendepunkt in meinem Leben. Ich mußte nach Griechenland zurück, mußte das Leben meiner Mutter wieder irgendwie zurechtbiegen, nachdem dieser Schicksalsschlag es zertrümmert hatte. Ich hatte drei Jobs, denn auch finanziell sah es mit ihr sehr schlecht aus. Ich arbeitete im Museum als Assistentin des Direktors, ich gab Nachhilfestunden, und abends gab ich Englischunterricht. Das war viel, aber es hat auch einige alte Interessen von mir wieder geweckt, zum Beispiel für die Archäologie. Nachdem die finanzielle Situation wieder im Lot war und meine Mutter sich stabilisiert hatte, ging ich wieder nach Amerika. Ich fand einen Job in Washington als Reporterin in einer Presseagentur. Für Frauen war es eine sehr optimistische Zeit, viele von uns dachten, daß es möglich sein würde, alles zu werden und alles zu haben. Das war die Philosophie, die uns leitete. Wir hatten viele Netzwerke und Verbindungen, und das wurde mein Leben, Washington und die vielen tollen Frauen, die dort unterwegs waren. Ich blieb in der Presseagentur, arbeitete mich langsam hoch, wurde schließlich Abteilungsleiterin für Persisch und Paschtu. In dieser Organisation arbeiteten überwiegend Männer, und zwar solche mit sehr traditionellem Hintergrund. Ich arbeitete mich hinauf zur rechten Hand des Direktors und lernte dadurch sehr viel über Autorität. Dann habe ich geheiratet, ich habe es immer hinausgeschoben, weil ich es mit Kinderkriegen in Verbindung setzte, aber dann war ich 38, und der Zeitpunkt war gekommen. Wir haben geheiratet, ich hatte Glück, und es klappte mit einer Schwangerschaft, so wurde Janna geboren. Dann aber gab es ein Problem. Ich sollte befördert werden, und statt dessen wurde ich übergangen, und es wurde ein Mann genommen. Ich war sehr sicher, daß ich die qualifizierteste unter den Kandidaten war. Daher entschloß ich mich zur Klage. Damit stellte ich mich gegen den Direktor, gegen die Institution. Es war sehr stressig, denn ich mußte ja weiterhin dort arbeiten. Viele Leute gingen mir aus dem Weg, weil sie nicht wußten, wie die Sache ausgehen würde, daher war ich ziemlich isoliert. Das hat mehr als ein Jahr gedauert. Mein Mann hat mir geholfen, er stand sehr dezidiert hinter mir, und das ist nicht selbstverständlich, denn Arbeitsprobleme dieser Art können eine Ehe, eine Familie, sehr belasten. Es kam dann nie zur Verhandlung, sondern es kam zwei Tage vor dem Termin zu einem, Vergleich. Sie gaben mir die Position und eine Abfindung. Dazu waren sie bereit, weil sie wußten, daß wir die besseren Argumente hatten. Erstens standen meine Qualifikationen außer Diskussion, und dann gab es vom Obersten Gerichtshof eine Entscheidung, derzufolge man von Diskriminierung ausgehen könne, wenn in einer bestimmten Organisation überhaupt keine Frauen in Leitungspositionen anzutreffen wären. Sie wußten, daß sie vor Gericht verlieren würden, aber sie warteten bis zwei Tage vor dem Termin, vielleicht in der Hoffnung, daß ich entnervt aufgeben würde. Ich ging dann trotzdem aus dieser Institution weg. Ich hätte es zu belastend gefunden, jeden Tag mit diesem Chef zusammenzuarbeiten, der mich nicht haben wollte. Ich trat in den diplomatischen Dienst ein, und sie schickten mich hierher, nach Peshawar. Es ist ein schwieriger, ein untypischer Dienstort. Eine der großen historischen Tragödien unserer Zeit läuft hier gerade ab, und die Dimension des Problems ist überwältigend. Es geht um Menschenrechte, Frauen, Demokratie... belastend für mich ist meine Hilflosigkeit gegenüber Leuten, die meinen Schutz bräuchten. Menschen werden bedroht, erpreßt, unter Druck gesetzt, und ich kann nichts dagegen tun. Ich kann ihnen sagen, ja, das ist Terrorismus, genauso arbeiten die, mit Einschüchterung und Gewalt. Aber das sind Worte, die keinem helfen. Es ist sehr gefährlich hier, immer wieder passiert etwas, Drohungen müssen ernstgenommen werden, aber zugleich hat man keine Möglichkeit, etwas dagegen züi unternehmen, sich zu schützen. Meine Tochter lebt mit mir. Sie ist jetzt sieben Jahre alt, sie geht in die internationale Schule. Ich wollte ein Kind, weil ich immer schon der Meinung war, daß ich ein Recht habe auf alles, und das ist schließlich so eine wichtige Dimension im Leben. Ich wäre nicht zufrieden gewesen damit, in 15 Jahren Bilanz über mein Leben zu ziehen und zu sagen, nun, darauf habe ich verzichtet, das war eine Option, die ich hatte, und ich habe mich dazu entschieden, sie nicht zu ergreifen. Ein Kind zu haben erweitert das Spektrum der Emotionen. Ich bin weitgehend mit meiner Tochter allein, und ich kenne sehr viele Frauen, die ihre Kinder überhaupt ohne verbindliche Beziehung zu einem Mann erziehen. Ich finde das in Ordnung; die Beziehung zum Kind ist in meinen Augen die verbindlichste. Janna ist in meinem Leben ein Anker. Mein Führungsstil ist sehr auf Konsens gebaut, ich versuche immer, meine Entscheidungen so zu erklären, daß sie für meine Mitarbeiter einsichtig und nachvollziehbar sind. Ich unternehme sehr ungern einen Kraftakt. Oft gelingt es mir dadurch, Leute zu kooptieren, die unter anderen Umständen gegen mich wären. Meine Arbeit und meine Überzeugungen sind miteinander verwoben, ich kann keine klare Grenze ziehen, dazu ist meine Tätigkeit zu sehr Bestandteil meiner Identität. Mein Mann? Wie ist er ... also, er ist sehr gebildet. Er ist ein großer Befürworter der Rechte der Frauen. Er glaubt daran, nicht weil er mich liebt, meinetwegen, sondern weil es seinen eigenen Überzeugungen entspricht. Mit Menschen, die nicht so sind, die nicht engagiert und interessiert sind, kann ich im allgemeinen wenig anfangen. Es gibt ein griechisches Wort, wissen Sie ... idiotis. Auf griechisch bedeutet das nicht, daß jemand dumm ist, nein. Sondern es ist ein Mensch, der nur an privaten Dingen interessiert ist, der nicht interessiert ist am Wohl der Allgemeinheit. Mit solchen Leuten kann ich wenig anfangen. Die Männer hier sehen mich als Kuriosität, als jemand, der gänzlich aus dem Rahmen ihrer Vorstellungen fällt. Ich gelte hier nicht als Frau; in der Welt von Peshawar bin ich keine Frau.« Marlies kommt zwar schichtmäßig aus etablierten Verhältnissen, aber ihr Hintergrund weist die für eine später engagierte Frau typischen Brüchigkeiten auf. Die Scheidung und das Unglück der Mutter sensibilisierten sie für die Gefahren eines abhängigen Frauenlebens. Vor allem, nachdem der Bruder gestorben war, bestand »die Familie« nur noch aus zwei Frauen, Mutter und Tochter, die sich selber finanziell und emotional durchbrachten. In ihrem späteren Leben hat Marlies dieses Vorbild nachgestellt: Sie lebt mit ihrer Tochter über weite Zeitstrecken alleine. Damit erlebt die Tochter den Vater so ähnlich, wie Marlies ihren erlebte: als charmante, aber abwesende männliche Erscheinung, die vor den harten Seiten und Anforderungen des Lebens den Rückzug antritt und mit einem vergleichsweise geringeren Pflichtgefühl ausgestattet ist. Marlies' Empfindsamkeit für soziale Belange wurde noch durch andere Erfahrungen gestärkt. Durch ihren älteren Bruder, der sehr intellektuell und kritisch war, gewann sie eine Vorliebe für soziale Fragen, Diskussionen und Standpunkte. Später, als Immigrantin in den USA, erlebte sie sich als Außenseiterin und mußte sich erst allmählich einen Platz suchen. Diese etwas entfremdete Perspektive ist oft die entscheidende Voraussetzung für einen kritischen Blick.