Die Frauenbewegung verhalf mir zur Sprache

Politische Dimensionen lesbischer Existent

»Daß ich eine Frau liebe, geht niemanden etwas an.« Mit dieser Meinung leben viele lesbische Frauen in aller Verschwiegenheit ihre Liebe zu Frauen. Sie machen keine großen Worte darüber. In ihrem Bekanntenkreis ist soweit klar, daß die beiden zusammengehören. Sie teilen sich eine Wohnung, bei Familienfesten tauchen sie gemeinsam auf, vielleicht bewirtschaften sie zu zweit einen Garten und sparen auf den gemeinsamen Urlaub. Sie führen eine Zweierbeziehung, eine Ehe, wie Mann und Frau.
Was soll daran politisch sein?

Die politische Brisanz lesbischer Existenz

Die Frage nach der gesellschaftlichen Anerkennung lesbischer Lebensformen ist eine politische Frage. Lesbisch zu leben - offen oder versteckt - heißt, nicht der von der Mehrheit der Gesellschaft vorgelebten Heterosexualität zu entsprechen. Der Umgang mit sogenannten Minderheiten ist für jede Gemeinschaft und Gesellschaft ein zutiefst politisches Thema. 
Doch darüber hinaus kommt lesbischen Lebensformen eine gesellschaftspolitische Brisanz zu, die auf dem Hintergrund patriarchaler Verhältnisse erwächst: Als Frau Frauen zu lieben, sie zum Orientierungspunkt zu machen, ist eine Lebensform, die eine Grundfeste des Patriarchats - nämlich die selbstverständliche Orientierung am Männlichen - in Frage stellt.
Im Patriarchat zählt primär das, was Männer sagen, denken oder tun. Sie entscheiden in Politik, Wirtschaft, Verwaltung, Wissenschaft und Kirche und prägen diese Felder nachhaltig. Die offene oder subtile Höherbewertung des Männlichen durchzieht alle gesellschaftlichen Bereiche. Eine Lesbe ist eine Frau, die nicht einen Mann, sondern eine Frau an ihrer Seite hat. Sie ist eine Frau, die sich im emotionalen Bereich weitgehend von männlicher Bestätigung und Aufwertung unabhängig macht, sich in ihrer Ganzheit auf Frauen bezieht und Frauen für liebenswert, also der Liebe für wert hält. Sie sucht nicht nach dem ergänzenden Mann an ihrer Seite, um glücklich zu werden. Sie ist eine Frau, die sich entgegen der gesellschaftlich vermittelten minderen Wertigkeit von Frauen als vollwertig und ganz begreift und in anderen Frauen wichtige Partnerinnen sieht. Liebesbeziehungen zwischen Frauen wirken aufgrund dieser Werteverschiebung zugunsten von Frauen über den Rahmen einer individuellen Lebensentscheidung hinaus. Sie werden zu einem Politikum in einer von der höheren Wertigkeit der Männer überzeugten Gesellschaft. Lesbische Frauen konfrontieren Männer damit, für das persönliche Glück von Frauen nicht unbedingt benötigt zu werden, überflüssig zu sein, wenn es um Liebe, Geborgenheit, Sicherheit, Anerkennung oder Sexualität geht. Lesbische Partnerschaften stellen die Selbstverständlichkeit der Mann-Frau-Ergänzung in Frage. »An die romantische heterosexuelle Liebe und an den Märchenprinzen habe ich nie geglaubt, auch nicht, daß ich das Lebensglück durch einen Mann in einer Ehe finden könnte.«[1] Frauen als wertvoll zu erachten, sie zu lieben und diese Gefühle in ihrer Ganzheit zu leben, ist das Wesen lesbischer Liebe.
Nur ein politisches System, das von der Zentrierung am Männlichen lebt und diese als Selbstverständlichkeit begreift, wird eine Entscheidung für Frauen als Angriff gegen Männer werten und ahnden. Die Logik patriarchaler Strukturen läßt alle Lesben - ob sie wollen oder nicht - zu dem werden, was sie sind: eine politische Bedrohung. Sie werden zur Bedrohung eines Systems, das als Kernstück der Machtsicherung die Liebe zwischen Männern und Frauen - also zwischen Herrschenden und Beherrschten proklamiert und zu erzwingen versucht. Das Verschweigen und die Unterdrückung lesbischer Existenz sind die politische Reaktion auf eine politische Bedrohung.

Kirche und lesbische Existenz

In der Kirche wurde über Jahrhunderte hinweg ein christliches Frauenideal gepredigt. Es beinhaltet, daß die Frau in der Gemeinde schweigt, dient, sich selbstlos für andere aufopfert, treu sorgende Mutter und Ehegattin ist und sich nur in der Ergänzung zum Mann als vollwertig erlebt. Wen wundert es, wenn viele Frauen, insbesondere lesbische Frauen sich da nicht wiederfinden?
»Als lesbische Frau bin ich in der Kirche, wie sie sich im Moment darstellt, am falschen Ort, um das, was ich suche, zum Beispiel die Erfahrung von Gemeinschaft, auch zu finden. Ich komme dort nicht vor, bin nicht existent und werde nicht gehört.«
So wie dieser ergeht es vielen Lesben in der Kirche - auch den Pastorinnen unter ihnen, wie Lebensberichte zeigen: 
»Liturgieteile, Gebets- und Liedertexte gehen zu hundert Prozent vom allgemein anerkannten Standard >Hetero<-Glück aus. Ich selbst komme im kirchlichen Geschehen soweit es sich um die engsten Beziehungen dreht - nicht vor: schizophren! Mit anderen soll ich über ihre Beziehungen einen Gottesdienst gestalten, Fürbitte halten für das >Brautpaar< wo in der offiziellen Praxis der Kirche komme ich vor, wer betet für mich, für uns?
Die Selbstbejahung lesbischer Frauen in einer von Heterosexualität geprägten Kirche ist ein schwieriges, kraftverzehrendes Unterfangen. Für jede lesbische Frau bedeutet dies ein isoliertes Suchen und Tasten nach persönlichen Vorbildern und Identifikationsmöglichkeiten, aber auch nach Theorien und Erklärungen, warum die von ihnen als kostbar und erfüllend erlebte Liebe diffamiert wird. Mehr und mehr lesbische Frauen in der Kirche wenden sich den Impulsen des Feminismus zu, da sie dort Antworten auf ihre Fragen finden. Sie sehen sich als Beobachterinnen der Frauenbewegung, fühlen sich von ihr angezogen, auch wenn sie selbst dort nicht aktiv sind. Für viele hat die Begegnung mit der Frauenbewegung die Identitätsfindung als Lesbe erst ermöglicht, wie zahlreiche Aussagen der Frauen andeuten: 

»Mit dem Zusammentreffen von Frauen aus der Frauenbewegung hat meine Ich-Findung begonnen. Hier sind mir die ersten Lesben begegnet, und ich konnte mich dann zu meinem Lesbischsein stellen.«
»Vor der Frauenbewegung fehlten mir die Worte und Begriffe, auch der Mut und das Selbstbewußtsein, um über meine Frauenbeziehungen zu reden.«
»Die Frauenbewegung war wichtig für mich, für mein coming-out. Eine Zeitlang war ich sehr von feministischen und radikal lesbischen Theorien beeinflußt, die ich heute distanzierter und kritischer sehe.«
Doch der Annäherungsprozeß vollzog sich von beiden Seiten aus. Durch die feministische Theologiebewegung fühlten sich »weltliche« Frauen wieder angesprochen und wandten sich erneut der Kirche zu: »Mein Interesse an Kirche war schon einmal ganz geschwunden, ist aber durch bestimmte Strömungen wie >Frau und Kirche<, >Feminismus und Theologie< wieder wach geworden.«
In einem der Lebensberichte wird diese Entwicklung nachgezeichnet. Eine Frau, die sich von der Kirche losgesagt hatte, beschreibt ihre positiven Erfahrungen, nachdem sie einen neuen Zugang zur Kirche gefunden hatte:
»Feministische Theologie bestätigt mir, daß diese Kraft, die ich zwischen Frauen spüre, Tradition hat, gut ist und Leben spendet, wenn sie gelebt wird. Ich bin dankbar, innerhalb der Kirche so viele Frauen zu finden und täglich neu zu treffen, die mir bei der Suche nach meinem Glauben und meiner Identität als lesbische Frau weiterhelfen.« (Lebensbericht)

Feminismus und lesbische Existenz

Der Feminismus als Gesellschafistheorie geht davon aus, daß gesellschaftliche Erscheinungen nicht losgelöst von sozialen Verhältnissen, also den Machtverhältnissen zwischen Männern und Frauen, betrachtet werden können. Feministische Theorien lesbischer Existenz betonen die realen Machtverhältnisse der Geschlechter und fragen:
- Welche politische Bedeutung kommt dem Lesbischsein zu, wenn es in einer Gesellschaft gelebt wird, in der das weibliche Geschlecht eine untergeordnete Stellung einnimmt und das Verhältnis zwischen Männern und Frauen von Ungleichheit geprägt ist?
- Welcher Zusammenhang besteht zwischen Frauenunterdrückung und lesbischer Existenz?
Die konsequente Frage nach den Machtverhältnissen zwischen den Geschlechtern macht den Feminismus zu dem, was er ist: eine unbequeme Gesellschaftstheorie, die sich mit dem Gegebenen nicht zufriedengibt, sondern das Patriarchat mit seinem Oben und Unten von Mann und Frau als demokratische Gesellschaftsordnung in Frage stellt, Veränderungen fordert und Utopien einer menschlichen Gesellschaft entwickelt.
Darüber hinaus macht die feministische Theorie lesbischer Existenz die Defizite in den herkömmlichen Theorien zur Homosexualität offenkundig: Sozialwissenschaftliche Betrachtungen differenzieren in der Regel nicht zwischen Schwulen und Lesben, sondern begreifen lesbische Liebe in Ableitung und Analogiebildung von Konzepten über männliche Homosexualität. Unterschiede zwischen Lesben und Schwulen werden demzufolge nicht erfaßt und fallen - als angeblich zu vernachlässigende Größe - unter den Tisch.
Auf der Suche nach Identifikationsmöglichkeiten erleben Lesben das Theorie-Defizit traditioneller Betrachtungen als hautnahen Mangel. So schreibt eine Frau in ihrem Lebensbericht:
»Ich bin oft enttäuscht und sauer, wenn ich Literatur über Homosexualität lese und dann bemerken muß, das meiste bezieht sich auf männliche Homosexuelle. Da finde ich nur in Ansätzen Identifikationsmöglichkeiten; die Erfahrungen sind unterschiedlich, und ich habe Probleme, die Schwulen im Bereich Sexualität zu verstehen, ihren Umgang damit, ihre Bedürfnisse und Art, sie zu befriedigen. Dabei ergibt sich für mich die Frage, ob Sexualität bei Männern grundsätzlich anders ausgerichtet ist als bei Frauen.«[2]
Die Einführung der Kategorie »patriarchale Machtverhältnisse« bei der Analyse gleichgeschlechtlicher Liebe ermöglicht eine grundlegend neue Sichtweise: Männliche Homosexualität wird zur Liebe zwischen Menschen des herrschenden Geschlechts, weibliche Homosexualität zur Liebe zwischen Menschen des beherrschten Geschlechts. Hieraus ergeben sich weitreichende Unterschiede zwischen Lesben und Schwulen, abgesehen von der beide betreffenden gesellschaftlichen Diskriminierung als »Homosexuelle«.
In der feministischen Literatur wird kaum mehr von »weiblicher Homosexualität« gesprochen, sondern bewußt die Bezeichnung »Lesben« und »lesbisch« verwendet. Indem auch wir uns sprachlich von der Begrifflichkeit »weiblicher Homosexualität« loslösen, machen wir deutlich, daß wir jenseits der bestehenden Theorien über Homosexualität neu anfangen, Fragen zu stellen, und unzulässige Analogiebildungen ablehnen. Zudem suggeriert der Begriff »Homosexualität« eine einseitige Reduzierung lesbischer Beziehung auf Sexualität. Dies entspricht nicht der gelebten Realität dieser Beziehungen, wie wir später ausführen werden.
In der feministischen Theoriebildung ist die Auseinandersetzung mit lesbischer Existenz nicht von Anfang an selbstverständlich gewesen. Seit den Anfängen spielen Lesben in der Frauenbewegung eine zentrale Rolle, sie waren meist tragende und treibende Kräfte. 
Ihre persönliche Lebensform, ihr Lesbischsein wurde jedoch nur selten thematisiert, um nicht - so argumentierten meist die heterosexuellen Frauen - die gesamte Bewegung noch mehr in Verruf zu bringen. So engagierten sich Lesben Hand in Hand mit heterosexuellen Frauen zu Themen wie § 218, Verhütungsfragen und Frauenhäuser für geschlagene Frauen - alles Probleme, die Frauen in heterosexuellen Partnerschaften bedrängen.
Die Umkehrung, ein Engagement heterosexueller Frauen gegen Diskriminierung von Lesben, fand kaum statt. Die Spaltung der Frauenbewegung in Lesben und heterosexuelle Frauen gelang jedoch nicht überall. So reagierten beispielsweise amerikanische Feministinnen schon zu Beginn der siebziger Jahre auf den gezielten Spaltungsversuch durch die amerikanische Öffentlichkeit mit dem Slogan: »Ihr könnt uns alle Lesben nennen, so lange, bis es keine Vorurteile mehr gegen Frauen gibt, die Frauen lieben!«[3]
Das anfängliche Verschweigen lesbischer Frauen in der Bewegung und damit auch die Ausblendung der damit verbundenen Fragen nach den Ursachen der Diskriminierung von Frauenliebe ist mehr und mehr aufgebrochen. In der gegenwärtigen feministischen Diskussion spiegelt sich das zunehmende Sichtbarwerden lesbischer Frauen wider.
In der kirchlichen Frauenbewegung der Bundesrepublik beginnt der Prozeß der Formulierung und Einbeziehung lesbischer Positionen in die feministische Theologie zeitverschoben zur autonomen Frauenbewegung - gerade erst jetzt. Früher noch in den Hintergrund gedrängt, ist heute eine feministische Theoriebildung ohne die Einbeziehung lesbischfeministischer Positionen nicht mehr denkbar, denn »feministische Forschung und Theorie, die mit zur Unsichtbarmachung und Marginalität der Lesbierinnen beitragen, arbeiten in Wirklichkeit gegen die Befreiung und Erstarkung von Frauen als Gruppe«.[4]
Sowohl die Frauenbewegung als auch die Lesben sind selbstbewußter geworden und stellen unbequeme Fragen an die im Patriarchat so selbstverständlich proklamierte Heterosexualität.

Erziehung zur Heterosexualität

Die Aussagen der von uns befragten Frauen geben einen Einblick in die vielfältigen Beeinflussungsmechanismen und die oft banal erscheinenden Ebenen, auf denen sich Heterosexualität im persönlichen Alltag wie selbstverständlich darstellt:

Männermythos 


»Einen Mann zu haben als höchstes Ziel«, dies steckt hinter vielen freundlich gemeinten Fragen der Verwandtschaft und der Kolleginnen oder Kollegen: »Ich wurde immer wieder von der Verwandtschaft gefragt, ob ich nicht heiraten wolle, ob mir denn keiner gut genug sei.« Eine andere Frau schildert die quälenden Fragen der Verwandten nach dem Freund. Auch die eigenen Freundinnen oder Mitschülerinnen zeichnen an diesem Bild »Männermythos« mit: »Du brauchst doch einen Freund!« Unter Mädchen gilt das ungeschriebene Gesetz: »möglichst viele Verehrer, oder besser: möglichst einen Freund zu haben«. 
Eine andere Frau beschreibt ihre Erfahrungen so: »Die Ausrichtung auf die heterosexuelle Liebe war für mich im jugendlichen Alter ein ziemlich anstrengendes Spiel, weil frau eben ab einem bestimmten Alter mit einem Freund >ging< oder mit einem Mann geschlafen haben mußte.«
Auch von seiten der Eltern werden Töchter auf den zukünftigen Mann hin erzogen: »Von meiner Mutter kommt öfters die Frage nach meinen Heiratsplänen« oder: »Meine Mutter will, daß ich glücklich werde, einen Mann habe oder kriege.« »Heirat wird mit Glück gleichgesetzt, und ich muß betonen und beweisen, daß ich auch ohne Mann glücklich sein kann.«

Verschweigen 


Fast durchgängig erzählen die befragten Frauen, in ihrer Jugendzeit nie etwas über Liebe unter Frauen erfahren zu haben. »Lesbischsein war ein unbekanntes Wort« oder: »Ich kannte nur Familien, Ehen oder bestenfalls alleinstehende Frauen. Letztere erschienen mir aber nie besonders glücklich.« Andere Frauen erinnern sich: »Lesbischsein kam nie vor« oder: »Das Bild der christlichen Ehe und Familie war beherrschend, anderes war nicht gefragt.« Frauen werden in einem Klima groß, in dem es kaum Alternativen zur Mann-Frau-Zukunft gibt. Für Mädchen und Frauen, die durch Liebe mit anderen Mädchen oder Frauen verbunden sind, bedeutet dies, in einer Welt ohne Vorbilder zu leben: »Mit einer Frau zusammenzusein als realistische Zukunft, das gab es nicht, denn ich kannte einfach keine, die so lebte.«
Das Verschweigen und Unsichtbarmachen von Frauenliebe und Gemeinschaft unter Frauen führt dazu, daß viele Lesben immer noch glauben, sie allein hätten solche Gefühle. »Ich fühlte mich als die einzige Lesbe auf der Welt.« Die Geschichte des Widerstandes gegen die Selbstverständlichkeit männlicher Partnerwahl wird ignoriert; Vorbilder werden verschwiegen. Dadurch wird verhindert, daß Frauen in ihrer Selbstfindung von der Kraft autonom lebender, frauenidentifizierter Frauen lernen.

Verunglimpfung 


Das Mittel des Verschweigens reicht nicht immer aus, um lesbische Existenz gänzlich zu verhindern. Dort, wo sie trotzdem sichtbar wird, wird sie verunglimpft, in den Dreck gezogen, als sündig verdammt oder zu unterdrücken versucht: »Mein Lesbischsein wird als neurotisch infantil abgetan oder nicht ernst genommen« und: »Mein Lesbischsein wäre eine Fehlentwicklung« sind Erfahrungen, die lesbische Frauen machen. Auch der heimliche oder offene Lehrplan der Schule trägt dazu bei, Lesbischsein zu verunglimpfen und als nicht erwünscht zu beschreiben: »Im Religionsunterricht war nicht zu verkennen, daß es (das Lesbischsein, d. V.) zu Sodom und Gomorrha gehört.« Lesbischen Frauen fehlt es an Vorbildern; die wenigen, die es gibt, werden verunglimpft oder diskriminiert. So erstaunt es kaum, wenn sich eine Frau rückblickend fragt: »Auf welche lesbische Frau, die akzeptiert ist, sollte ich mich beziehen können?«
Das verunglimpfende Bild über Lesben, das noch oft in den Köpfen der heterogeprägten Umwelt steckt, muß nicht zwangsläufig zur konkreten Diskriminierurig einer lesbisch lebenden Frau führen. Aber umgekehrt muß der »tolerante« Umgang mit Lesben im Bekanntenkreis nichts an den verunglimpfenden Bildern im Kopf ändern. Häufig kommen abschätzende Einstellungen in Nebensätzen ganz beiläufig zutage. Gerade das am Rande, in Witzen oder Nebenbemerkungen gemalte Bild lesbischer Liebe kann es Lesben schwermachen, sich zwischen heterosexuellen Männern und Frauen wohlzufühlen. 

Was erleben Mädchen und Frauen konkret an psychischem Druck, nachdem ihre Umwelt das lesbische Leben wahrnahm? »Oft wurde mir gesagt, daß ich kein >richtiges< Mädchen sei.«
Die gesamte Person, ihre Identität als Mädchen schlechthin wird in Frage gestellt. Druck im Hinblick darauf, ein »richtiges« Mädchen, eine »richtige« Frau zu sein, wird meist durch elterliche Erwartungen vermittelt.
»Meine Antwort (auf die Frage nach den Heiratsplänen, d. V.) wird einfach nicht akzeptiert. Mich deprimiert die Erwartungshaltung, die an mich besteht und die ich nie erfüllen werde.«
Nicht selten ist gerade im familiären Bereich der moralische Druck groß, nach dem Motto: »Das tust du mir nicht an!« Auch die Mitschülerinnen und Freundinnen übernehmen ihren Teil, wenn Liebe unter Mädchen verunglimpft wird. Sicher steht hier keine reflektierte beabsichtigte Unterdrückung dahinter, wenn Mitschülerinnen weitergeben, was sie selbst vermittelt bekommen: »Mein erstes unschuldig offenkundiges Verliebtsein und Begehren einer Mitschülerin wurde von meinen Altersgenossinnen mit jahrelanger Ablehnung und Verspottung geahndet. Diese schlimmen Erfahrungen waren begleitet von der Trauer, daß ich meine Liebe zu Mädchen aus Furcht vor Abweisung und Verachtung nie zeigen konnte und daß ich diesen ganzen Kummer noch nicht einmal aussprechen durfte.«
Wie oft werden erste Bindungen auf diese Weise für immer ausgelöscht, Gefühle für immer verdrängt, um Verletzungen zu vermeiden? »Die lesbischen Anteile in mir, deren ich mir immer bewußt war und die ich als etwas Kostbares in meinem Leben empfand, habe ich mit zunehmendem Alter heroisch und rigoros zu unterdrücken versucht, um endlich die reife, erwachsene normale Frau zu werden.«
Der Zwang zur Heterosexualität, als diffuse Erwartung oder als konkrete Verletzung erlebt, zwingt so manche Frau, sich entgegen ihren Gefühlen auf Männer hin zu orientieren.
»Die geballte Erwartung meiner Umgebung und der Mangel an positiven Modellen und leise Zweifel in mir brachten mich zu dem Entschluß, entgegen meinen Gefühlen ein heterosexuelles Leben zu wählen und eine Familie zu gründen.«
»Als katholische Beamtentochter wurde ich selbstverständlich streng heterosexuell ausgerichtet erzogen. Heute empfinde ich diese Ausrichtung als fatal, denn ohne sie hätte ich nicht geheiratet, und allen Beteiligten wäre eine Menge erspart geblieben.«

Heterosexualität als politische Institution

Im Gegensatz zu traditionellen Betrachtungen gehen feministische Ansätze davon aus, nicht die Liebe unter Frauen, sondern die Selbstverständlichkeit, mit der immer noch die Heterosexualität als allgemeingültig hingestellt wird, zu analysieren. In der Diskussion um die Bedeutung erzwungener Heterosexualität nimmt Adrienne Rich,[5]amerikanische Feministin und Theoretikerin, eine zentrale Rolle ein. Als jüdische Lesbe, von Rassismus und Heterosexismus gleichermaßen betroffen, scheut sie sich nicht, kompromißlos und radikal Strukturen anzugreifen, die zur Unterdrückung von Menschen beitragen. Durch ihre Analysen lesbischer Existenz und Zwangsheterosexualität hat sie wichtige Impulse für die feministische Theoriebildung auch im deutschsprachigen Raum gesetzt. Ihr radikaler Ansatz besteht darin, Heterosexualität als Institution des Patriarchats zu begreifen und zu fordern, daß Heterosexualität als politische Institution erkannt und untersucht werden muß.
Sie schreibt: »Wenn wir die Institution als solche wahrnehmen, beginnen wir zudem, eine Geschichte des weiblichen Widerstands zu erkennen - eine Geschichte, die nie zum vollen Verständnis ihrer selbst gelangt ist, weil man sie so gründlich zersplittert, falsch benannt und ausgelöscht hat. Es wird einen kühnen Denkansatz erfordern, um die Politik, die Ökonomie und ebenso die kulturelle Propaganda der Heterosexualität so weit in den Griff zu bekommen, daß wir über die individuellen Sonderfälle hinaus zu der komplexen Sehweise gelangen, die nötig ist, um jene Macht aus den Angeln zu heben, die Männer überall über Frauen ausüben.«[6]
Adrienne Rich charakterisiert diese Macht, wobei sie die Grenzen der Religionen, Klassen, Rassen und Länder überschreitet.[7] Ihrer Analyse zufolge haben Männer weltweit die Macht,

  1. Frauen ihre eigene Sexualität zu verweigern
    durch Klitorisbeschneidung, Zunähen des Geschlechts (Infibulation), Keuschheitsgürtel, Bestrafung für Ehebruch oder lesbische Sexualität, psychoanalytische Leugnung der Klitoris, Leugnung der Sexualität nach den Wechseljahren;
  2. Frauen männliche Sexualität aufzuzwingen durch Vergewaltigung und Schläge, sexuellen Mißbrauch in der Kindheit, Zwangsehen, Prostitution, Kinderehen, psychoanalytische Theorien über Frigidität und vaginalen Orgasmus, sadistische Heteropraktiken, pornographische Beschreibung von Frauen, die angeblich Vergnügen an sexueller Gewalt und Erniedrigung haben, Triebtheorie, die die ungezügelten √úbergriffe der Männer mit dem vermeintlichen sexuellen Trieb zu entschuldigen versucht; durch die unterschwellige Botschaft in Kunst, Literatur, Medien und Reklame, sadistische Heterosexualität sei »normaler« als Sinnlichkeit zwischen Frauen;
  3. über die Arbeit von Frauen (einschließlich des Gebärens) zu bestimmen und sie auszubeuten durch unbezahlte Erziehungs- und Hausarbeit, Kontrolle über Abtreibung, Empfängnisverhütung und Geburt, Zwangssterilisation, Kuppelei, Tötung weiblicher Kinder, Vaterrecht, gerichtliche Beschlagnahmung der Kinder lesbischer Mütter;
  4. Frauen in ihrer Bewegungsfreiheit einzuschränken durch Vergewaltigungsterror, Fußeinbinden, Verkümmernlassen sportlicher Fähigkeiten, Modediktat, Schleierzwang, Ganztagsmutterrolle, erzwungene ökonomische Abhängigkeit vom Ehemann;
  5. Frauen als Objekte bei Geschäften unter Männern zu benützen
    durch Brautpreis, Kuppelei, Zwangsheirat, Benutzung von Frauen als »Geschenk« oder zur Förderung männlicher Geschäfte als eheliche Gastgeberin, Cocktailserveusen, Callgirls, »Bunnies«, Geishas, Sekretärinnen;
  6. Kreativität von Frauen zu ersticken durch Hexenverfolgung, Aufwertung männlicher und Abwertung weiblicher Kulturleistungen, Beschränkung weiblicher Selbstverwirklichung auf Ehe und Mutterschaft, Auslöschung weiblicher Traditionen;
  7. Frauen Wissen vorzuenthalten durch Nichtausbildung von Frauen, Rollenklischees, die Frauen von Wissenschaft und Technik fernhalten, Verschweigen von Frauen in der Geschichtsschreibung.

Nicht jede der hier aufgelisteten Methoden ist auf den ersten Blick als Zwang zur Heterosexualität erkennbar. Doch jede einzelne verstärkt das Machtgefüge, durch das Frauen zu der Überzeugung gebracht werden, daß Ehe und sexuelle Ausrichtung auf den Mann, selbst zum Preis von Unterdrückung oder Verzicht, unvermeidlich sind. Frauen werden im Patriarchat zur Heterosexualität gezwungen, um Männern das Recht auf den körperlichen und ökonomischen Zugang zu Frauen zu sichern.
Die Frage nach der Macht zwischen den Geschlechtern ist eine Frage nach der Sexualität. Dieser Zusammenhang wurde im deutschsprachigen Raum schon früh von Alice Schwarzer in ihrem Buch »Der kleine Unterschied« aufgezeigt.[8]Es erregte gerade deshalb großes Aufsehen und gehört noch heute zu jenen Büchern, die aufwühlen, weil sie - einfach, indem Frauen über ihr Leben erzählen - offen legen, wie eng Sexualität zwischen Männern und Frauen mit Macht verknüpft ist. Die Verknüpfung hat auch christliche Wurzeln: Anhand der Aussagen zur Sexualität weist Bernadette Brooten auf das hierarchische Geschlechterverhältnis in der Theologie des Paulus hin.[9] Seine Aussagen hatten nachhaltige Wirkung, denn sie wurden benutzt, um das christliche Bild der »untergeordneten Frau« zu stabilisieren. 
 Mary Hunt, katholische Theologin, beschreibt, wie sich bis heute Unterdrückung in der Sexualität widerspiegelt: »Die im Bett unter Druck gesetzte Frau, die Frau, die vergewaltigt oder geschlagen wird, die Frau, deren Ehemann oder Freund keine Verhütungsmittel benützt, die Frau, die als frigide bezeichnet wird, die Frau nach den Wechseljahren, alle diese Frauen sind verschiedene Seiten ein und derselben Frau: der im Patriarchat unterdrückten Frau.«[10]
Viele Männer und Frauen werden sich fragen, ob nun alle heterosexuellen Beziehungen zu verdammen seien. Auch wenn diese Frage aus Betroffenheit und Besorgnis erwächst, so ist dies doch die falsche Frage, denn sie zielt am Kern der politischen Analyse vorbei: Das Problem ist nicht die Heterosexualität, sondern der Zwang dazu. »Das Fehlen jeglicher Möglichkeit der Wahl ist und bleibt die große unerkannte Realität. Und solange Frauen nicht die Wahl haben, werden sie vom Zufall oder Glück einer Ausnahmebeziehung abhängig bleiben.«[11] Frauen die Möglichkeit einzuräumen, sich frei für die Liebe zu einem Mann oder einer Frau zu entscheiden, bedeutet eine Veränderung der Machtstrukturen zwischen den Geschlechtern. Männer, die bei ihrer Partnerinnensuche ernsthaft in Konkurrenz zu Frauen bestehen müßten, würden eher Fähigkeiten entwickeln, die gleichberechtigte Beziehungen ermöglichen, Machtansprüche müßten aufgegeben werden und Privilegien wären nicht mehr automatisch durchsetzbar.

Frauenbeziehungen

Entscheidung für lesbisches Leben

Aufsehenerregend an der feministischen Analyse lesbischer Existenz ist nicht nur das Infragestellen patriarchaler Heterosexualitätskonzepte, sondern auch, Lesbischsein als der freien Entscheidung zugänglich zu begreifen. Lesbischsein wird als Lebensform begriffen, für die sich Frauen entscheiden können und die letztendlich nur dadurch bestimmt ist, wie umfassend Frauen Erlebnismöglichkeiten und Erfahrungen mit Frauen in ihrem Leben integrieren möchten.
Die Liebe zu einer Frau zu entdecken, sie zuzulassen und nicht länger zu leugnen, ist in jeder Phase weiblichen Lebens möglich, ob mit 17, 35 oder 60 Jahren, ob mit guten, schlechten oder gar keinen Männererfahrungen, ob christlich erzogen oder atheistisch geprägt, ob konservativ oder liberal denkend: »Mein erotisches und sexuelles Interesse an Frauen erwachte, als ich die Dreißig überschritten hatte. Bis dahin hatte ich mich für unanfechtbar heterosexuell gehalten.« »Ich muß hinzufügen, daß mir meine homosexuelle Orientierung sehr früh, mit elf, bald nach der Pubertät, bewußt wurde.«

Die alltägliche Bedeutung von Frauenbeziehungen

Zärtliche, einfühlsame Freundschaften unter Frauen sind nahezu für alle Frauen nachvollziehbar und Teil ihres Alltags. Bei vielen spielen Frauenfreundschaften eine zentrale Rolle, ungeachtet dessen, ob die Partnerschaft mit Männern oder Frauen gelebt wird. 
Jutta Brauckmann befragte Frauen nach der Bedeutung, die Frauen in ihrem Leben einnehmen.[12] Sie erhielt von heterosexuell lebenden Frauen beispielsweise folgende Antworten:»Aus meinen Lebenserfahrungen kann ich sagen, daß ich zu Frauen eher schon Kontakt kriege; so aus der Art, wie sie sich äußern, wie sie sich verhalten, sind sie mir einfach näher.«
»Ich hab wirklich mehr mit Frauen zu tun gehabt, weil da eben ganz andere Gesprächsmöglichkeiten sind.«
»Mit 'ner Frau kann ich eher über alles reden.«
»Die Leute, die mir wichtig sind, sind mehrheitlich Frauen.«[13]
Heterosexuelle Frauen können sich ein Leben ohne Frauen nicht vorstellen. Der emotionale Rückhalt zeigt sich meist auf alltäglicher konkreter Ebene. Da ist die beste Freundin, mit der sich über alles reden läßt, die auffängt, tröstet und versteht. Da geben sich Kolleginnen untereinander Kraft, bauen sich gegenseitig auf, wenn alltägliche Enttäuschungen zu verarbeiten sind. Da schütten sich Nachbarinnen ihr Herz aus. Doch, so Jutta Brauckmann, »die Frauen eignen sich diese bedeutsamen alltäglichen Erfahrungen offenbar in sehr geringem Maße wirklich an. Sie scheinen vielmehr die Bewertung der Männer, dies sei Weiberkram und damit von minderer Relevanz, zu übernehmen.
Frauen reden viel und tun viel miteinander. Aber diese Aktivitäten sind normalerweise weder Thema ihrer Alltagsverarbeitung noch Thema im Freundeskreis oder zwischen Ehepaaren. Und durch das Nichtbewußtsein sind solche Erlebnisse grundlegend von Nichtexistenz bedroht.«[14]Die Parallele zum Verschweigen lesbischer Existenz ist offensichtlich: Über beiden liegt der Mantel des Kaum-Sichtbaren, des Kaum-Ernstnehmens. Rückhalt unter Frauen, stärkende Momente von Frauenfreundschaften und Interesse von Frauen an Frauen sind selten Thema der patriarchalen Kultur. Um so mehr dagegen die vermeintlich streitsüchtigen und rivalisierenden »Weiber«, die sich untereinander nie einig sind und sich eher die Augen auskratzen - so das überzogene Frauenbild in Witzen und sonstiger Literatur. 
Solidarische, stärkende Bindungen unter Frauen, offen ausgesprochen und hervorgehoben, passen weniger in eine Kultur, die »vom Mann an erster Stelle« ausgeht.
Es ist kein Zufall oder gar Nachlässigkeit, daß Frauen die Bedeutung, die andere Frauen in ihrem Leben spielen, verzerrt wahrnehmen oder bestenfalls als heimliche Erkenntnis in sich tragen. Dem Mann zu zeigen, wie sehr sie ihn braucht, ist eine der Regeln klassischer Mann-Frau-Stereotypen. Wenn Frauen, insbesondere die heterosexuell lebenden, den Stellenwert, den Frauen in ihrem persönlichen Leben wirklich einnehmen, realistisch sähen, benennten und sichtbar machten, wäre ein Schritt getan, die vermeintliche Spaltung von Frauen in Heterosexuelle und Lesben aufzuheben und Gemeinsamkeiten zu erkennen.

Sexualität in Frauenbeziehungen 


Sexualität kann, muß aber nicht zum Unterscheidungskriterium zwischen lesbischen und nichtlesbischen Beziehungen werden. Die Erfahrung zeigt, daß zutiefst frauenbezogene Frauen Bindungen mit Frauen eingehen, die ohne genitale Sexualität gelebt werden, während andere sich als heterosexuell begreifende Frauen Sexualität mit Frauen leben. Spätestens an diesem Punkt wird die Unmöglichkeit deutlich, Lesbischsein ausschließlich in Kategorien von Sexualität begreifen zu wollen.
Es besteht häufig ein großer Unterschied zwischen dem, wie Lesben sich selbst begreifen, und dem, wie eine ausschließlich genital fixierte Umwelt Lesbischsein definiert. Frauen, die mit Frauen schlafen, gelten als lesbisch - so die gängige Klassifizierung. Alles andere wird als Freundschaft verstanden. Viele Lesben definieren ihre Liebe zu Frauen weniger über genitale Sexualität als über die innere Verbundenheit. Sie begreifen ihre Sexualität als umfassendes Geschehen, als »erotischen Strom von Energie«[15] der sie mit Frauen verbindet .
»Ich mache mein Lesbischsein nicht daran fest, daß ich mit einer Frau statt mit einem Mann schlafe. Aber Sexualität ist für mich eine wichtige Möglichkeit, meine Zuneigung, Liebe und Verbundenheit zu anderen Frauen zu leben.«
»Liebe zu Frauen ist Vertrautheit, Nähe und schließt körperliche Liebe mit ein.«
»Sexualität ist für mich eine sehr tiefe Form der Begegnung, die für mich zu meiner Liebe zu Frauen gehört.«
Mary Hunt schreibt über den Zusammenhang von Lesbischsein und Sexualität: »Lesben lieben Frauen meist ohne die Fixierung auf die An- oder Abwesenheit genitaler Sexualität.«[16] Im ganzheitlichen Sinne hat Sexualität für lesbische Beziehungen eine zentrale Bedeutung: »Sexualität ist wichtig, aber nicht das Wichtigste. Zeit haben, augenblickliche Gefühlslage, Zärtlichkeit spielen eine große Rolle.« »Sexualität verstehe ich umfassend als Körpersprache. Jede zärtliche Handlung ist in sich wertvoll und schön.«
Unabhängig davon, wie Lesben innerhalb ihrer Beziehung Sexualität gewichten und leben, ist ihre Eigenständigkeit im sexuellen Bereich für die Gesellschaft provozierend. Die »Anmaßung«, auch ohne Männer Sexualität zu leben, Lust zu empfinden, sexuell aktiv und fordernd zu sein, die Geschlechterpolarität von aktiv-passiv und nehmen-geben aufzubrechen, ist eine Provokation besonderer Art.
Ist doch, wie bereits ausgeführt, die Sexualität ein Angelpunkt im Machtgefüge der Geschlechter. Folgerichtig betonen lesbische Feministinnen, daß es zwar niemanden etwas angeht, mit wem sie ins Bett gehen, es aber zentrale gesellschaftspolitische Bedeutung hat, daß es eine Frau ist.

Lesbischsein als Lebenskultur 


Lesbischsein ist mehr als nur die Eigenständigkeit im sexuellen Bereich: »Lesbischsein ist meine Form zu leben, mich zu öffnen, mich zu entwickeln, ganzheitlich zu sein.«
Lesbische Liebe geht weit über das hinaus, was in Kategorien genitaler Sexualität zu erfassen ist, wie die Aussagen von Frauen verdeutlichen. Sie ist auch mehr als ein politisches Infragestellen der HeterosexuaIität. Lesbische Liebe ist in ihrer Ganzheit ein Neuanfang. Sie ist eine Chance gleichberechtigter Beziehungen und »echter Gegenseitigkeit«[17] Sie ermöglicht die Erkundung neuer Wege zwischen Frauen und neue Klarheit in der Beziehung von Frauen und Männern. Sie ist eine vom Wert der Frau durchdrungene Lebenskultur. »Die Liebe zu Frauen gibt mir das Gefühl, weitgespannter, reicher lieben zu können.«
Lesbischsein ist eine Lebensform, in der Frauen sich wohl fühlen, Kraft schöpfen, Glück finden und in der Liebe verwirklicht wird. Sie ist eine Verbindung zwischen potentiell gleichen Menschen, denen die Gesellschaft keine Unter- und Überordnung vorgibt. Sie erlaubt echte Gegenseitigkeit. Sie ermöglicht, die sinnliche Kraft der Sexualität ohne patriachales Machtgefälle zu erleben. Sie bedeutet, sich als Frau zu erkennen und zu lieben:

  • »Meine Liebe zu Frauen hat meine innere Grundstruktur einschließlich der Glaubensstruktur grundlegend verändert. Seit dieser Zeit habe ich sehr tief das Gefühl, ganz und gar heil geworden zu sein, mit mir in tiefer Übereinstimmung zu leben, auch in Übereinstimmung mit meiner Sexualität.«
  • »Liebe zu Frauen ist für mich selbstverständlich und entspricht mir. Ich kann ich selbst sein und muß mich nicht verstellen.«
  • »Liebe zu Frauen heißt für mich sehr oft Wärme, Vertrauen, emotionaler Gleichklang, Spiegel meiner eigenen Weiblichkeit.«
  • »Meine Liebe zu Frauen gehört zu meinem innersten Wesen und erschien mir in meinem Leben immer als etwas sehr Schönes und Kostbares, auf das ich stolz war.

Das Selbstbewußtsein, das in diesen Aussagen deutlich wird, die am Anderssein gewachsene Identität, sollte uns nicht dazu verleiten, die Mühen zu vergessen, die hinter diesen mit sich im Einklang befindlichen Frauen liegen. Es klingt sonst nach Harmonisierung und Idealisierung. Und doch sind es Erfahrungen, die da sind, auch wenn Liebesbeziehungen unter Frauen die Möglichkeiten psychischer Zerstörung, Unfreiheit, Eifersucht und Bevormundung ebenso enthalten wie jede andere menschliche Beziehung auch. »Wir sollten uns davor hüten, romantisch zu verklären, was es hieß und immer noch heißt, unter Androhung schwerer Strafen >gegen den Strom< zu handeln und zu lieben.«[18]