Romantische Freundschaft und Liebe zwischen Frauen im 18. und 19. Jahrhundert

Und doch lebt trotz aller Verfolgung die Liebe zwischen Frauen weiter. Die brennenden Scheiterhaufen des 16. und 17. Jahrhunderts haben die Lektion, »es sei besser zu heiraten als zu brennen«, tief in das kollektive Unbewußte von Frauen eingegraben. Frauen lernten, es sei besser, auf Sexualität außer der in der Ehe zum Kindergebären notwendigen Sexualität zu verzichten, als sich foltern und verbrennen zu lassen. Am Ende von Furcht und Schrecken steht so das engelreine, mariengleiche, asexuelle Frauenbild des 18. und 19. Jahrhunderts, das der kirchlichen Sexualmoral endlich vollkommen entspricht, während Männer für sich eine Doppelmoral in Anspruch nehmen. Wenn wir heute nach der »sexuellen Revolution« die lebenslangen, monogamen Paarbeziehungen damaliger Frauen und ihre hochstilisierte Asexualität belächeln, sollten wir dabei die Millionen wegen »Sodomie«, wegen ihrer Sexualität, verbrannter Frauen nicht vergessen und bedenken, welche jahrhundertelange Gewalt und Gehirnwäsche dahintersteht, wenn Frauen Sexualität aus ihrem Selbstbild verbannten.

»Ich liebe dich mehr als alles andere auf der Welt«, schrieb die englische Schriftstellerin Geraldine Jewsbury 1841 an ihre verheiratete Freundin Jane Welsh Carlyle, die sich in ihrer Ehe mit einem Schriftsteller einsam und wertlos fühlte. Eine Wärme und Leidenschaft spricht aus diesem Briefwechsel, die über eine einfache Freundschaft hinausgehen. 
»0 Carissima mia, Liebste, du gehst mir niemals aus dem Kopf noch aus dem Herzen. Als du mich am Dienstag verließest, fühlte ich mich so entsetzlich niedergeschlagen, zu elend, um zu schreien. Was könnten wir denn auch tun?«[100] Beide Frauen kämpften gegen die beengenden Rollenvorschriften ihrer Zeit. Die unabhängig lebende Geraldine gab Jane, die gesetzlich und sozial in einer viktorianischen Ehe an einen verständnislosen Mann gebunden war, die Zuneigung und Ermunterung, die sie brauchte. Sie träumten von einem gemeinsamen Leben auf dem Land, wie für die meisten Frauen damals ein unerreichbarer Wunschtraum. Trotz ihrer Bindungen an Männer versicherten sie sich: »Du bist mir unendlich mehr wert und wichtiger. Du bist mir näher.« Die leidenschaftliche romantische Freundschaft zwischen den beiden Frauen dauerte fünfundzwanzig Jahre, bis der Tod sie trennte. Sie waren »Neue Frauen« vor dem Zeitalter der Neuen Frauen; in einem prophetischen Brief schrieb Geraldine 1849 an Jane: »Ich glaube, daß wir an bessere Tage rühren, in denen Frauen ein wirkliches, selbstbestimmtes, eigenes Leben führen können. Dann wird es vielleicht nicht mehr so viele Heiraten geben, und Frauen werden begreifen, daß sie nicht ihre Bestimmung verfehlt haben, wenn sie allein bleiben. Sie werden imstande sein, Freundinnen und Gefährtinnen füreinander zu sein, wie sie es jetzt noch nicht sein können ... Ich empfinde uns beide nicht als Versagerinnen. Wir sind die Vorbotinnen einer Entwicklung von Frausein, das bis jetzt noch nicht erkannt worden ist. ... Da werden Frauen nach uns kommen, die viel mehr die Fülle dessen erreichen werden, was Frauen möglich ist.« 


Langlebige, innige und zärtliche Freundschaften zwischen Frauen waren im 18. und 19. Jahrhundert eine erotische Mode, allgemein üblich und anerkannt, wie eine Fülle von Briefen, Tagebüchern und Dichtungen bezeugt. Carroll Smith-Rosenberg schreibt in ihrem Artikel 
»Meine innig geliebte Freundin!«: »Diese tief empfundenen gleichgeschlechtlichen Freundschaften waren etwas Selbstverständliches, allem Anschein nach eine wesentliche Facette des gesellschaftlichen Lebens. Zu diesen Beziehungen zählten die Zuneigung zwischen Schwestern, die sich gegenseitig Halt boten, die Schwärmereien heranwachsender Mädchen und die sinnlichen Liebesschwüre reifer Frauen. Es war eine weibliche Welt, in der Männer nur ein gchattenhaftes Dasein führten.«[101]
Lillian Faderman stellt in ihrer umfangreichen Studie zur romantischen Liebe und Freundschaft zwischen Frauen fest, es sei nicht möglich, in der Korrespondenz von Frauen aus dem 19. Jahrhundert keine leidenschaftliche Liebesbeziehung zu anderen Frauen zu finden. Die »Liebe verwandter Seelen (love of kindred spirits)«, »sentimentale« oder »romantische Freundschaften« oder »Heiraten (Boston marriages)« zwischen intellektuell und künstlerisch tätigen Frauen galten als so edel, daß sie offen und ohne Anzeichen von Schuld und Angst gelebt werden konnten. Auf ihnen lag nicht das Stigma, mit dem das sexuell aufgeklärte 20. Jahrhundert Frauenbeziehungen straft. Und doch waren diese engen emotionalen Bindungen zwischen Frauen Liebesbeziehungen in jeder Hinsicht, ausgenommen den genitalen Aspekt. Freundinnen küßten und umarmten sich, hielten sich an den Händen, dachten beständig aneinander und sehnten sich nacheinander bei den häufigen Trennungen. Sie teilten alle Herzensgeheimnisse und oft auch das Bett miteinander. Eine enge Interpretation von sexuellem Verhalten erlaubte Frauen große Freiheit im erotischen und sinnlichen Ausdruck untereinander. Faderman glaubt, die Entstehung romantischer Freundschaft sei als Wiederaufleben antiker gleichgeschlechtlicher Liebe in der Renaissancezeit zu erklären.[102] Schriftsteller wie Montaigne haben die Philosophie der Freundschaft bei Cicero und Aristoteles durch ihr Werk bekannt gemacht, auch die Ideale des Platonismus, in dem die vollkommene Freundschaft als die Vereinigung der Seelen höher eingeschätzt werde als heterosexuelle Liebe. Richtiger ist es jedoch, von einem Weiterleben der geistlichen Freundschaft des Mittelalters zu reden, die durch die Wiederbegegnung mit antikem Gedankengut neu belebt wird.

Aus dem 16. Jahrhundert sind literarische Zeugnisse von intensiven Frauenfreundschaften selten: Der englische Roman »Rosalynde« soll hier genannt werden, weil er an ein Frauenpaar aus dem Alten Testament erinnert. Paare von Freunden und Freundinnen werden im 16. Jahrhundert dargestellt als Menschen, die sich »ein Bett, ein Haus, einen Tisch und eine Börse« teilen. Wie ihr biblisches Vorbild Ruth begleitet Alinda ihre Freundin in die Fremde und bekräftigt ihre Treue in einer Rede, die der Liebeserklärung Ruths an Noomi ähnelt, die sich heute nicht Frauen gegenseitig geben, sondern Mann und Frau bei der kirchlichen Trauung: 


»Nimmer dringe in mich, dich zu verlassen,
vom Dir-folgen umzukehren!


Denn wohin du gehst, will ich gehn,
und wo du nachtest, will ich nachten, dir gesellt.


Dein Volk ist mein Volk,


und dein Gott ist mein Gott.
Und wo du sterben wirst, will ich sterben,


und dort will ich begraben werden.
So tue Er mir an, so füge er hinzu:


ja denn, der Tod wird zwischen mir und dir scheiden.«[103]

So wie Ruth spricht die eine Freundin zur anderen: 
»Du hast in deiner Alinda eine Freundin, die dir eine treue Gefährtin in all deinem Unglück sein wird, die ihren Vater verlassen hat, um dir zu folgen... Wie wir Bettgenossinnen waren im Glück, so werden wir Gefährtinnen in der Armut sein: immer will ich deine Alinda sein, und du sollst immer meine Rosalynd bleiben. So wird die Welt unsere Freundschaft erheben und von Rosalynd und Alinda reden wie von Pylades und Orestes.«[104]
In der gleichen Weise haben Nonnen im Mittelalter die Freundschaft zwischen dem Lieblingsjünger Johannes und Jesus auf sich und ihre Freundschaften bezogen. So übernehmen im 18. Jahrhundert Frauen für sich die biblische Freundschaft zwischen David und Jonathan und schwören sich gegenseitig eine Liebe, die »die Liebe der Männer übertrifft«. Von Jonathan, dem Sohn König Sauls, heißt es in den Büchern Samuels, er liebte David, wie man sein eigenes Leben liebt; die Freunde küßten sich und weinten beim Abschied voneinander. Bei der Totenklage um den gefallenen Freund singt David: »Weh ist mir um dich, mein Bruder Jonathan. Du warst mir sehr lieb. Wunderbarer war deine Liebe für mich als die Liebe der Frauen.«[105]
Die romantische Freundschaft der »Ladies von Llangollen« wird im 18. Jahrhundert in zahllosen Dichterversen als eine Freundschaft gefeiert wie die Davids, als die reine Verkörperung des höchsten Ideals geistiger Liebe. Unbefleckt von den Niederungen und den Lasten ehelicher Sexualität lebten Sarah Ponsonby und Eleanor Butler aus irischen Oberschichtfamilien in ländlicher Idylle miteinander ihren geistigen Interessen. Ihr kleines Haus in Wales, »ein Tempel, geweiht der Liebe zwischen Frauen«, einer »geheiligten Freundschaft, ewig und rein«, ist ein Wallfahrtsort für die Großen ihrer Zeit und für Dichterinnen und Dichter. Sie selbst waren »protestantische Nonnen«, viktorianisch prüde, asexuell und über jeden Zweifel erhaben erzkonservativ, keine Revolutionärinnen - und doch lebten sie den Traum ihrer Zeit von romantischer Freundschaft.[106] Die englische Dichterin Anna Sewards sieht in ihrem gemeinsamen Leben in gegenseitiger Hingabe, inmitten der Natur, ihr eigenes unerfülltes Lebensideal verwirklicht. Denn ihre romantische Freundschaft mit der früh verstorbenen Honora, die sie zudem noch wegen einer Heirat verließ, war weniger glücklich, obwohl Anna noch dreißig Jahre nach Honoras Tod ihr Liebesdichtung widmete. Die Ladies konnten um so schrankenloser bewundert werden, je weniger Frauen in der Lage waren, ihren Lebensstil nachzuahmen. Eine eigene Existenz außerhalb der Ehe oder der väterlichen Familie war undenkbar für Frauen, ökonomische Unabhängigkeit und Berufstätigkeit noch nicht in Sicht. Welche Frauen damals hatten schon das Glück, daß ihre Familien ihnen für ihr gemeinsames Leben eine kleine Rente gewährten? Wie viele brachten die Energie auf, sich so beharrlich arrangierten Ehen und Heiratsanträgen zu widersetzen, zweimal als junge Frauen in Männerkleidung davonzulaufen und die Eltern davon zu überzeugen, daß sie ihr Leben zusammen verbringen wollten?

Die Ladies von Llangollen, »Schwestern in der Liebe« (Wordsworth), die 1778 miteinander ausgerissen waren und danach dreiundfünfzig Jahre jeden Augenblick ihres Lebens bei Tag und bei Nacht bis zum Tod der einen miteinander verbrachten, waren kein Modell einer bedrohlichen neuen Lebensweise. Ihre eheähnliche Lebensgemeinschaft und ihre Liebe zueinander, dokumentiert in Eleanors Tagebüchern, in Briefen und Dichtungen anderer, bedeuteten für romantische Freundinnen den Traum vom gemeinsamen Glück, das bis zum Ende des 19. Jahrhunderts selten verwirklicht werden konnte, aber die Phantasie anregte.

Briefe, Tagebücher und Lebenserinnerungen enthüllen all die romantischen Gefühle von Verliebtsein und Leidenschaft, die im 20. Jahrhundert nur noch in Verbindung mit einer heterosexuellen Romanze vorgestellt werden können. Romantische Freundinnen machten einander den Hof; sie waren ängstlich besorgt um die Antwort der Geliebten und um Gegenseitigkeit; sie waren eifersüchtig und untröstlich bei der oft unvermeidlichen Eheschließung, die sie zwar räumlich, aber nicht emotional trennte. Sie glaubten, ihre Liebe zueinander sei ewig, und viele bewahrten die Treue bis über den Tod hinaus.

Romantische Freundschaften unter Mädchen wurden von Eltern und weiblichen Verwandten gefördert, da sie das höchste Gut einer Frau, ihre Jungfräulichkeit, bewahren halfen. Zugleich galten sie als eine Art Ehevorbereitung, als »Probe für das große Drama« im Leben von Frauen. In der Ehe des 19. Jahrhunderts trafen zwei vollkommen fremde Menschen aufeinander, wie Angehörige einer anderen Art oder Bewohner ferner Gestirne. Die Trennung der Geschlechter in eine Männerwelt und eine Frauenwelt war so strikt und grundsätzlich, daß eine bedeutungsvolle Kommunikation nur zwischen Angehörigen des gleichen Geschlechts möglich war. Der Kontakt zum anderen Geschlecht wurde vor der Heirat unterbunden; junge Leute wuchsen in einer streng homosozialen Umgebung auf. Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern zeichneten sich durch Förmlichkeit und Mangel an Kommunikation aus, auch in den oft nach wirtschaftlichen Interessen arrangierten Ehen mit großem Alters- und Statusunterschied. Scheidungen waren unmöglich, Seitensprünge (von Frauen) eine Katastrophe. Die Rechte von Ehefrauen glichen mehr denen von Leibeigenen und Kindern als von eigenständigen Erwachsenen.

Ehemänner nahmen die zärtlichen und intensiven Frauenfreundschaften als eine Tatsache des Lebens hin wie Schwangerschaft, Wochenbett und Kinderstube. Um in einem so ausgeprägten Patriarchat zu überleben, mußten Frauen sich gegenseitig den emotionalen Halt, das Verständnis und die Liebe geben, die sie nirgends sonst erhoffen konnten. Die von Männern wohlwollend beurteilten, gesellschaftlich nützlichen leidenschaftlichen Frauenfreundschaften galten nicht als bedrohlich, weil sie Vorrechte der Männer auf die ungeteilte gesellschaftliche Macht, auf den Zugang zu Frauen und die Herrschaft über sie noch nicht in Frage stellten. Männliches Überlegenheitsgefühl und der Stolz auf sexuelle Potenz und Geisteskraft feierten ungebrochen Triumphe. Frauen waren noch keine Konkurrentinnen, da man ihnen weder eine eigene soziale Existenz noch Sexualität zubilligte. Männer konnten bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts von der eigenen Größe und Unentbehrlichkeit fest überzeugt sein und hatten daher wenig Anlaß, aggressiv auf Liebe unter Frauen zu reagieren.

Auch wenn einzelne Frauenpaare wie die »protestantischen Nonnen« von Llangollen ein gemeinsames Bett teilten und sich offenkundig gegenseitig alles bedeuteten, so hatte dies mit dem Dämon Sexualität nichts zu tun. 1819 entschied ein höchstes Gericht in Schottland, den bekannten Gewohnheiten von Frauen zufolge sei absolut nichts Unehrenhaftes dabei, wenn eine Frau mit einer anderen ins Bett gehe. Handele es sich um einen Mann mit einer Frau oder einem Mann, sei eine sexuelle Handlung anzunehmen. Wenn aber eine Frau eine andere Frau umarme, beweise das gar nichts, entschieden die Richter und bekräftigten damit das Dogma der puritanischen Gesellschaft von der wesenhaften Asexualität und »Reinheit« ihrer Frauen, weil es schlechterdings nichts gäbe, was zwei Frauen im Bett miteinander tun könnten. Ohne geeignetes Werkzeug könne der Akt nicht vollzogen werden. Die Ehre aller anständigen britischen Frauen der guten Gesellschaft stand gewissermaßen auf dem Spiel, wenn die beiden schottischen Lehrerinnen in dem Prozeß gegen Verleumdung nicht von dem unsäglichen Vorwurf der Tribadie freigesprochen worden wären. Es handelte sich um Miß Marianne Woods und Miß Jane Pirie,[107]  die gemeinsam ein vornehmes Töchterpensionat leiteten, bis es durch die in Umlauf gesetzten Gerüchte über »unehrenhaftes und kriminelles Verhalten« geschlossen werden mußte, so daß sie ihre Existenzgrundlage verloren. Eine Schülerin hatte behauptet, Miß Woods sei mehrmals nachts in den Schlafraum gekommen, den sich Miß Pirie mit etlichen Schülerinnen, je zwei in einem Bett, teilte, und sei zu Miß Pirie ins Bett gekommen. Zum Beweis des »in Britannien unbekannten Verbrechens« gab die Großmutter des Mädchens, das Miß Piries Bettgenossin war, Lukians »Hetärengespräche« an. Die Richter konnten jedoch nicht davon überzeugt werden, daß ehrenwerte Frauen aus guter Familie, Christinnen und zu aufopferungsvoller, treuer Freundschaft fähig, etwas so Schmutziges wie Sexualität freiwillig auf sich nähmen, wenn es weder um Fortpflanzung noch um eheliche Pflichterfüllung ginge. Zum Beweis für die Reinheit ihrer Gesinnung führte der Verteidiger der beiden Frauen eine Bibel vor, die Miß Pirie ihrer »liebsten irdischen Freundin« geschenkt hatte mit der Widmung, sie würde auf alles verzichten außer auf die Freundschaft Gottes, nur um die ihre zu besitzen.

Die Lordrichter von Edinburg brachten mit ihrem Urteilsspruch zugunsten der beiden befreundeten Lehrerinnen den Glauben ihrer Zeit zum Ausdruck, den Margaret Fuller, eine frühe Feministin, um 1840 formuliert, die gleichgeschlechtliche Liebe sei bei weitem der heterosexuellen Liebe überlegen. Dasselbe Gesetz lenke beide, nur die Liebe einer Frau zu einer anderen sei rein intellektuell und vergeistigt, ungetrübt durch jede Beimischung niedriger Instinkte, ungestört durch fremde Zwänge und Interessen wie in einer Ehe, während nichts fehle, was den Wert und die Freude von Liebe und Beziehung ausmache.[108]
Wenn es Frauen nicht gelang, gemäß dem Idealbild der leidenschaftslosen und asexuellen Frau ihre romantische Freundschaft »rein« zu bewahren und die dem sinnlichen Ausdruck gesetzte Grenze zu respektieren, mußte dies bei der viktorianischen Verachtung der Sexualität zu quälenden Ängsten und Schuldgefühlen führen. Minnie Benson, verheiratet mit dem Erzbischof von Canterbury, schrieb 1878 in ihr Tagebuch folgende Sätze, die ihr schlechtes Gewissen über die sexuelle Beziehung mit ihrer Freundin Lucy Tait zeigen: 
»Wieder einmal und mit Scham, gewähre doch, oh Herr, daß die fleischliche Zuneigung in mir sterben möge, und daß alles, was zum Geist gehört, lebe und wachse. Lord, sieh herab auf Lucy und mich und laß diese Vereinigung, die wir beide so blind ... andauernd ersehnt haben, vorübergehen.«[109]
Für die meisten romantischen Freundschaften und gleichgeschlechtlichen Quasi-Ehen von Frauen ist jedoch das Fehlen genital-sexueller Beziehungen typisch. Bei den geistlichen Freundschaften mittelalterlicher Nonnen regelte das Keuschheitsgelübde und die Verachtung des Körperlichen ihren Umgang miteinander. Im 19. Jahrhundert wurden Frauen durch die bürgerliche Ideologie von der asexuellen reinen Natur der Frau und dem erniedrigenden Schmutz der Sexualität dazu gebracht, ihre Liebe zueinander möglichst vergeistigt zum Ausdruck zu bringen. Um die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts nehmen die langlebigen monogamen Paarbeziehungen von Frauen zu, die aufgrund ihrer außerordentlichen Fähigkeiten ein künstlerisches und intellektuelles Leben führen, Neue Frauen, die, wie die amerikanische Schriftstellerin Sarah Ornett Jewett um 1880 feststellt, eher eine Ehefrau als einen Ehemann brauchten.[110]

Es war unmöglich für diese selbstbewußten und kompetenten Frauen, eine eheliche Verbindung unter den Bedingungen ihrer Zeit einzugehen, die völlige Unterordnung und Aufgehen in der Familie verlangte. Viele Frauen, die »von ihrem Verstand lebten«, pflegten tiefe und umfassende Frauenfreundschaften, oft in gemeinsamer Arbeit. Frauen fanden in der feministischen Bewegung Liebe da, wo sie arbeiteten, stellte Havelock Ellis fest.[111] Als Beispiel für viele solcher Verbindungen unter Frauen seien die unter männlichem Pseudonym schreibenden »Michael Fields«-Frauen[112] Katherine Bradley und Edith Cooper genannt, »Liebende in Christus«, und ihr vollkommener Bund aus Liebe und Arbeit. Feministinnen von Jugend an, verwandt miteinander, wiesen sie nach ihrer Collegezeit die passive, einengende Frauenrolle zurück. Gegenüber einem Schriftstellerehepaar, das getrennt voneinander arbeitete und sich nicht wie sie selbst gegenseitig inspirierte und alles gemeinsam tat, bemerken sie in ihrem Tagebuch: »Wir sind enger verheiratet.« Um 1890 erklären sie in einem Gedicht: »Meine Liebe und ich nahmen unsere Hände und schworen gegen die ganze Welt: Dichterinnen und Liebende wollen wir immer sein.« Im Jahr 1907 konvertierten sie zum Katholizismus, weil sie für ewig vereint sein wollten und ihnen daher der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele zusagte.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts suchten immer mehr Frauen mit geistigen Interessen und beruflichen Ambitionen andere Frauen als Verbündete und Lebenspartnerinnen. Über die Hälfte der amerikanischen Collegeabsolventinnen blieben unverheiratet; in den Einrichtungen zur höheren Bildung von Frauen (Colleges) waren um die Jahrhundertwende Frauenpaare unter den Dozentinnen eine feste Institution. Ein herausragendes Beispiel unter vielen »Boston Marriages (Ehen)« sind Mary Woolley und Jeanette Marks, berühmt und angesehen in ihrer Zeit.[113] Ihre romantische Freundschaft begann 1895, als Jeanette noch Studentin war und Mary Woolley Professorin für Biblische Geschichte. Ihre Lebensgemeinschaft bestand zweiundfünfzig Jahre lang bis zu Woolleys Tod 1947. In der Zeit von 1901 bis 1937, während Mary Woolley Präsidentin des ersten amerikanischen Frauencolleges Mount Holyoke (1837 gegründet) war, lebten beide ganz offiziell zusammen im Haus der Präsidentin; alle wußten, daß Jeanette Marys Lebensgefährtin war. Bevor sie zusammenzogen, war es allgemein im College bekannt, daß sie sich gegenseitig jeden Abend besuchten, um sich einen Gute-Nacht-Kuß zu geben.

In der Studie über ihre romantische Freundschaft meint Anna Mary Wells, die beiden Frauen hätten zuerst eine Liebesgeschichte, dann eine Heirat miteinander gehabt, ungeachtet der Frage, ob ihre Beziehung sexuelle Komponenten hatte. Jeanette Marks gibt in ihrem Buch über die Ladies von Llangollen einen Hinweis darauf, warum sie sich zusammentaten: Beide liebten ihre Unabhängigkeit und nicht ihre Verehrer. Die jüngere Jeanette stand immer im Schatten der berühmten Freundin, obwohl auch ihre Leistungen beachtlich sind, beispielsweise veröffentlichte sie nahezu zwanzig Bücher.

Als Marks und Woolley 1895 ihren Bund fürs Leben schlossen, paßte dies vollkommen in die lange Tradition romantischer Freundschaften an Frauencolleges. Tragischerweise änderte sich während ihrer Lebenszeit die gesellschaftliche Bewertung von Frauenliebe radikal: Ihre Beziehung, die eben noch edel und schön und sozial anerkannt war, galt in der Meinung der neuen deutschen Psychiatrie und Sexualwissenschaft als krankhaft, abnorm, pervers. Als Reaktion auf die zunehmende weibliche Unabhängigkeit, Bildung und Berufstätigkeit und auf den Kampf um bürgerliche Rechte für Frauen hatte sich eine breite antifeministische Phalanx von Literaten und »Wissenschaftlern« gebildet, die als eine ihrer wichtigen Kampfmethoden den Horror vor Frauenbeziehungen verbreiteten, die den Herren allmählich bedrohlich vorkamen.

In einem unveröffentlichten Essay über »Unkluge College Freundschaften« sieht Jeanette Marks 1908 im Licht der neuesten europäischen »wissenschaftlichen« Erkenntnisse die Liebe unter Frauen, die die größte Kraftquelle ihres Lebens ist, als einen »unnormalen Zustand«, eine »Krankheit«, die von schlechten häuslichen Verhältnissen oder mangelnder Gesundheit herrührt. In starkem Widerspruch zu ihrem eigenen Leben sieht sie als einzige Beziehung, die in sich erfüllend und vollkommen sei, die Beziehung zwischen Mann und Frau. Wir können nur ahnen, wie schmerzlich und schädlich für ihr Selbstwertgefühl die neue herabsetzende Sicht romantischer Frauenfreundschaft von viktorianischen Frauen wie Marks und Woolley gewesen sein muß, die sie ihren eigenen stärksten Empfindungen und Überzeugungen entfremdete. Wissenschaftsgläubig internalisierten viele frauenliebende Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Definition antifeministischer Psychiater, die Frauenbeziehungen als medizinisches Problem ansahen.

Von Männern wie Richard von Krafft-Ebing (Psychopathia Sexualis, 1882) und Havelock Ellis (Sexual Inversion, 1897), die hauptsächlich geistesgestörte Frauen und Mörderinnen als die »typischen Invertierten« untersuchten, übernahm das 20. Jahrhundert sein Klischee lesbischer Krankheit und Dekadenz, nachdem Carl von Westphal 1869 einen ersten »Fall« einer jungen Frau »entdeckt« hatte, die gern Jungenkleider anzog, Jungenspiele bevorzugte und sich zu Frauen hingezogen fühlte.[114] Statt einen Protest gegen die langweilige, passive und einengende Mädchenrolle des 19. Jahrhunderts zu diagnostizieren, verfiel er auf »angeborene Degeneration« und »Krankheit«. Ähnlich Freud, der bei einem achtzehnjährigen Mädchen in der »Psychogenese weiblicher Homosexualität« lesbische »Männlichkeit« feststellt - in den intellektuellen Fähigkeiten und in der Unzufriedenheit mit der weiblichen Rolle. Dieser »Fall« zeigt alle typischen Kennzeichen einer romantischen Freundschaft des 19. Jahrhunderts - mit einem einzigen Unterschied, daß er von Freud durch die Brille von vierzig Jahren medizinischer Erforschung von »Abnormalität« betrachtet wird.[115]

Als die Rolle der Frauen in der Gesellschaft sich änderte, Frauen mehr Rechte für sich erkämpften und zunehmend Möglichkeiten zu einem von Männern unabhängigen Leben entstanden, ändert sich schlagartig die gesellschaftliche Bewertung der Liebe zwischen Frauen (zwischen 1850 und 1920 etwa), die nun für schlecht, dekadent und krankhaft erklärt und zum Tabu gemacht wird. Merkwürdigerweise gerade dann, als man entdeckt, wie die »wahre Freundschaft« zwischen Frauen, die in »ihren reinen Flammen alle anderen Formen von Liebe vereint« das Potential in sich trägt, ein ungerechtes System männlicher Vorherrschaft und weiblicher Unterordnung zu bedrohen. Auch hier ist für uns eine Lektion Frauengeschichte neu zu lernen: zu erkennen, welche Motive hinter der Pathologisierung, Diffamierung und Tabuisierung von Frauenbeziehungen stehen.

Die Absurdität der Beurteilung von Liebe und Freundschaft zwischen Frauen durch Menschen des 20. Jahrhunderts wird besonders deutlich, wenn die starken emotionalen Bande zwischen Frauen des 18. und 19. Jahrhunderts als krankhaft diskriminiert werden, die in ihrer Zeit vorbildlich und sozial erwünscht waren. Lebensbeschreibungen und Briefe, die offen und unbefangen von Zärtlichkeit und leidenschaftlicher Liebe unter Frauen reden, werden in unserem sexuell so freien und aufgeklärten Jahrhundert ängstlich zensiert und überarbeitet. Um den guten Ruf der amerikanischen Dichterin Emily Dickinson »zu retten«, kürzt ihre Nichte Martha Dickinson Bianchi 1924 unter dem Eindruck Freuds deren um 1850 geschriebene leidenschaftliche Liebesbriefe an Sue Gilbert um alle Passagen, die im 19. Jahrhundert völlig normal waren und im 20. Jahrhundert als »pervers« gelten.[116]
Romantische Liebe und Freundschaft zwischen Frauen, die im 18. und 19. Jahrhundert so angesehen und verbreitet war wie die geistliche Freundschaft unter Nonnen im Mittelalter,[117] erhält rückwirkend durch moderne Interpreten etwas Suspektes, wo doch, wie in lesbischer Liebe heute, nur Gutes, Schönes und Wertvolles war. Die intensive Zuneigung der englischen Königin Anne zu Sarah Churchill und anderen Frauen im 18. Jahrhundert lege nahe, meint ein heutiger Kritiker, irgend etwas mit ihren Gefühlen sei nicht in Ordnung, und fügt irritiert hinzu, auch die Schwester der Königin, Mary, scheine offenbar eine ähnliche Leidenschaft für ihre Freundin Frances Apsley gehegt zu haben, der sie zur Hochzeit folgenden Liebesbrief schrieb: 


»Ich bleibe auf in dieser Nacht, 


um meiner lieben lieben lieben liebsten Frau zu sagen..., 


daß ich immer mehr Liebe für dich empfinde,


jedesmal, wenn ich dich sehe.
Ich habe dich so lieb, 

daß ich es gar nicht anders ausdrücken kann,


als zu sagen:


ICH BIN DEINE LAUS AM BUSEN,


und ich wäre sehr glücklich,
dir immer so nahe zu sein.«