Die hebräische Bibel schweigt über uns. Jesus schweigt über uns. Die Autoren frühchristlicher Schriften schweigen ebenfalls bis auf den Apostel Paulus, der in seinem Brief an die Römer, eher beiläufig und deutlich abfällig, Liebesbeziehungen von Frauen zu Frauen erwähnt, die in der römisch-hellenistischen Welt mehr als jemals sonst sichtbar wurden (vgl. Brooten).
Auch das Schweigen der Kirchenväter über lesbische Beziehungen ist deutlich, bis auf zwei oder drei eher beiläufige, abfällige Bemerkungen. Frauenliebende Frauen selbst schweigen jahrhundertelang aus verschiedenen Gründen; dies ist ja auch die Rolle, die uns Frauen in der Kirche zugedacht war.
Nur im erosfreundlichen Hochmittelalter erscheint für eine Weile ein positiveres Bild: Wir hören Liebesgedichte von Frauen an andere Frauen, von Nonnen, Beginen und Minnesängerinnen, nicht nur die Stimmen von Kirchenmännern, die negativ urteilen über Frauen und ihre Beziehungen untereinander.
In den schlimmen Jahrhunderten der Verfolgung von Frauen und der Verteufelung weiblicher Sexualität, vom Ende des Mittelalters bis weit in die Neuzeit hinein, können wir kaum ein frauenfreundliches Zeugnis erwarten.
Wenn bürgerliche Frauen im 18. und 19. Jahrhundert - domestiziert, asexualisiert, in erstickend enge Rollenkorsetts gezwängt - ihre romantische Freundschaft und leidenschaftliche Liebe zu Frauen in Briefen, Tagebüchern und literarischen Werken darstellen, sind nur wenige kirchlich eingestellte Frauen darunter. Lesbische christliche Frauen scheinen auch in der ersten Frauenbewegung zu fehlen, in der selbst radikale Frauenrechtlerinnen große Zurückhaltung im Offenlegen ihrer eigenen lesbischen Beziehungen übten. Erst im Schlepptau der neuen Frauenbewegung wagen christliche Frauen, die Frauen lieben und in ihnen den Mittelpunkt ihres Lebens sehen, selbstbewußt geworden, die dichten Lagen jahrhundertelangen Schweigens zu durchbrechen. Für diese Bewegung ist das Buch amerikanischer Schwestern »Lesbische Nonnen brechen das Schweigen«[1] ein Signal.
Bei unserem Aufbruch brauchen wir nicht nur die stärkende Gemeinsamkeit lesbischer Frauen untereinander, sondern auch die Verbindung mit den Schwestern vor uns. Wir brauchen Identifikationsmodelle aus unserer Frauengeschichte, positive Spuren vom Leben frauenliebender christlicher Frauen.[2] Wir müssen auch unsere Leidensgeschichte aufarbeiten, die Geschichte des Verschweigens, der Unterdrückung und Verfolgung lesbischer Frauen. Die Passionsgeschichte von Frauen in der Kirchengeschichte läßt uns trauern und zornig werden, aber auch den Mut finden, Änderungen zu wollen und neu anzufangen.
Es scheint jedoch ein nahezu aussichtsloses Unternehmen zu sein, in der so patriarchalisch bestimmten christlichen Geschichte die Spuren von Frauen, die Frauen geliebt haben, auffinden zu wollen. Das Leben von Frauen, ihr Werk und ihre Leistungen, besonders aber ihre Liebe zueinander verschwinden in der Geschichte wie die Spuren eines Schiffes im Meer, nach einem Bild, das Anna Maria von Schurmann gebraucht, eine hochgelehrte Frau des 17. Jahrhunderts, die erste protestantische Theologin, die als »zehnte Muse« und »holländische Sappho« gerühmt wurde[3]
Der Überlieferungszustand unserer Frauengeschichte ist fragmentarisch, und die historisch-theologische Frauenforschung steckt noch in ihren Anfängen; es fehlen uns Forschungsmöglichkeiten für feministische Theologinnen an den Universitäten. Wenn wir den Versuch wagen, der Geschichte lesbischer Frauen in der Kirche nachzuspüren, und dabei Forschungslücke an Forschungslücke knüpfen, müssen wir fordern: Wir brauchen dringend Forschung von Frauen an Universitäten und Hochschulen, die ohne Zensur unsere eigenen Fragen stellen[4] und neue Quellen finden oder altbekannte Texte neu interpretieren, die der männlich orientierten Wissenschaft bisher belanglos erschienen sind. Wahrscheinlich sind bei den frühchristlichen gelehrten Frauen, bei mittelalterlichen Mystikerinnen, in den Lebensgeschichten von Ordensgründerinnen und Diakonissen und in unbekannten Werken, Tagebüchern und Briefwechseln frauenliebender Frauen noch manche Schätze unserer Geschichte zu heben. Frauen werden noch viele Mosaiksteine zusammentragen müssen, damit die Geschichte unserer Vorschwestern, einer unterdrückten christlichen Gruppe, nicht mehr länger »eine abenteuerliche Reise in ein Reich des Schweigens und der Widersprüchlichkeit« bleibt, wie E. Ann Matter in ihrem Vortrag »Meine Schwester, meine Braut. Frauenidentifizierte Frauen im christlichen Mittelalter«[5] ausführte.
Der Mangel an Quellen zur Geschichte des verborgenen Lebens von Frauen und die »Fußnotenexistenz« lesbischer Frauen in wissenschaftlichen Werken führen dazu, daß wir uns bei der Suche nach unserer Geschichte so oft mit dem zu befassen haben, was Männer über Frauen geschrieben haben, wie Frauen ihrer Meinung nach waren und zu sein hatten. Die Spiegelung weiblicher Lebenszusammenhänge in verzerrender männlicher Weltsicht kann sich allerdings sehr davon unterscheiden, wie Frauen sich selbst verstanden haben.
Es besteht ein groteskes Mißverhältnis zwischen der Anzahl von Quellen, die gleichgeschlechtliche Liebe unter Männern behandeln, und den Quellen, die frauenliebende Frauen erwähnen. In seiner Studie zur Sozialgeschichte der Homosexualität im christlichen Abendland trägt John Boswell reichhaltiges Quellenmaterial über einen Zeitraum von nahezu 1500 Jahren zusammen. Von den rund 400 Seiten des Buches betreffen jedoch nur etwa zwölf Stellen oder Fußnoten Frauen.[6]
In patriarchalen Gesellschaften schreiben Männer für ein männliches Publikum, vor allem über andere Männer als die eigentlich wichtigen Menschen. Mit Frauen befassen sie sich, falls überhaupt, nur nebenbei. Dies gilt gleichermaßen für antike, frühchristliche und mittelalterliche Autoren ebenso wie für die Werke von Zeitgenossen zum Thema Homosexualität und Kirche, in denen lesbische Frauen nicht vorkommen[7]
Neben dem desinteressierten Schweigen von »maßgebenden Menschen« ist eine weitere Variante der »Totschweigestrategie« [8] lesbischer Existenz das aktive Auslöschen von Traditionen der Frauenliebe. Dieses Verschweigen dient in der Hand der Mächtigen zum Unsichtbarmachen der Möglichkeit lesbischer Existenz, dieses »versunkenen Kontinents, der von Zeit zu Zeit bruchstückhaft auftaucht«[9] zum Beispiel in der wunderschönen Liebesdichtung Sapphos. Aber selbst das Werk Sapphos, der berühmten altgriechischen Dichterin von der Insel Lesbos aus dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert, hat bis auf wenige überlieferte Fragmente den Filter patriarchalischer Zensur und Tradierung nicht überstanden: es wurde diffamiert und vernichtet.[10] Daher ist uns aus der Antike - in auffallendem Gegensatz zu der Fülle literarischer Zeugnisse zur Liebe unter Männern - in Sapphos Liebesliedern nur dieses eine fragmentarische Zeugnis lesbischer Liebe überliefert, das von einer Dichterin stammt und eine positive Sicht von Liebe unter Frauen vermittelt. Es gab jedoch viele antike Dichterinnen, von denen uns kaum mehr als der Name bekannt ist, die ebenso wie die zeitgenössischen Männer homoerotische Liebesdichtung verfaßt haben könnten.
Die kostbaren und vergänglichen Bücher, in alter Zeit Papyrusrollen, mußten von Generation zu Generation immer wieder neu mit der Hand abgeschrieben werden, um zu überdauern, oder später in noch kostbarere Pergamenthandschriften übertragen werden. Bei diesem Überlieferungsprozeß, für den jahrhundertelang christliche Klöster zuständig waren, verschwand so manches antike Werk auf Nimmerwiedersehen und machte Psaltern und Bibelkommentaren Platz. Da unter den Mönchen eine Kultur homoerotischer »geistlicher Freundschaft« gepflegt wurde, kopierten sie wahrscheinlich gern Werke von Männern, die auch andere Männer liebten, wie viele lateinische Klassiker. Mönche waren oft recht frauenfeindlich eingestellt, so daß Werke von Dichterinnen »verloren«gingen. Wir kennen literarische Äußerungen frauenliebender Frauen erst aus Nonnenklöstern des 11./12. Jahrhunderts, die Handschriften herstellten und illuminierten.
Als eine rühmliche Ausnahme von diesem selektiven Überlieferungsmechanismus, der sich gegen Frauen wendet, sei der gelehrte griechische Patriarch Photios aus dem 9. Jahrhundert genannt, der in seiner »Bibliothek« über verschollene hellenistische Literatur referiert und uns so einen ganz seltenen Hinweis auf eine gleichgeschlechtliche Heirat unter Frauen überliefert, indem er eine »lesbische Liebesgeschichte mit Happy-End« nacherzählt: In seinem Roman »Babyloniaca« habe der Autor Lamblichos aus dem 2. Jahrhundert von Berenike erzählt, der Tochter des ägyptischen Königs, und ihrer wilden und gesetzlosen Leidenschaft für die schöne Mesopotamia, wie sie mit ihr geschlafen habe und wie sie ihr entführt, später jedoch gerettet und wieder zu ihr zurückgebracht worden sei. Nach dem Tod ihres Vaters Königin von Ägypten, habe Berenike Mesopotamia geheiratet und wegen der Geliebten einen Krieg mit dem Entführer geführt[11]
Neben dem eklatanten Mangel an Quellen zu lesbischen Beziehungen haben wir noch eine zweite methodische Schwierigkeit: Frauen, die Frauen lieben, werden meist als Untergruppe männlich vorgestellter Homosexualität gesehen in der phallokratischen Anmaßung, daß alles, was über Männer gedacht und geschrieben wird, irgendwie Frauen als die untergeordnete Menschenklasse mitbetrifft. Obwohl wir heute erkennen, daß gleichgeschlechtliche Beziehungen unter Frauen und unter Männern keine parallelen Erscheinungen sind, müssen wir uns als Frauen in einer von Männern beherrschten Theologie und in einer von Männern geleiteten Kirche paradoxerweise doch häufig mit Aussagen zur männlichen Homosexualität befassen. Es gilt zu prüfen, ob Frauen jeweils mit gemeint oder ausgeschlossen sind und welche Bedeutung diese Aussagen für lesbische Frauen haben. Unser Ziel dabei ist jedoch, die Einordnung lesbischer Existenz unter männlicher Homosexualität als eine Verfälschung und Auslöschung unserer Geschichte zu überwinden[12]
Bei der Suche nach frauenliebenden Vorschwestern wollen wir das für uns Frauen Stärkende und Positive betonen. Kaum bekannte christliche Traditionen, die versuchen, Erotik und Liebe als wertvolle menschliche Erfahrung zu verstehen, sollen uns hier wichtiger sein als die altbekannten leibfeindlichen Positionen, die die christliche Tradition prägten.
In einem ersten Abschnitt sollen Liebe und Freundschaft unter Frauen als eine Ausgestaltung des Ideals geistlicher Freundschaften in klösterlichen Gemeinschaften dargestellt werden. Die Quellenlage erlaubt hier einen Einblick in alternative Modelle nicht-heterosexueller Beziehungen. in der christlichen Geschichte von den Anfängen bis zum Mittelalter. In einem zweiten Abschnitt müssen wir uns mit der abwertenden Beurteilung von Frauenliebe und mit der Leidensgeschichte von Frauen befassen. Der Zusammenhang zwischen Verfolgung von Ketzern und Hexen und der Verfolgung lesbischer Frauen soll untersucht werden. In einem letzten Abschnitt wird das nach der Hexenverfolgung gründlich entsexualisierte Freundschaftsideal in seinem Weiterleben als romantische Liebe und Freundschaft unter bürgerlichen Frauen betrachtet. Diese leidenschaftlichen, lebenslangen Frauenfreundschaften waren sozial vollkommen akzeptiert, bis die Frauenrechtsbewegung, die zunehmenden Möglichkeiten autonomer Lebensgestaltung für Frauen ohne Eheschließung und die »Entdeckung« der Sexualität Frauenbeziehungen suspekt und gefährlich erscheinen ließen.
Erst heute scheint der Versuch möglich, eine christliche und eine lesbische Identität als Frau zu vereinen und in Frauenbeziehungen die bisher ausgegrenzte Sexualität in verantwortlicher Weise zu integrieren.
Wenn wir bei dem Wagnis, in der Geschichte den Spuren von Frauen nachzugehen, die ihre primäre Identifikation in anderen Frauen fanden und sie liebten, doch oft Quellen betrachten müssen, die nicht von Frauen selbst stammen, bitten wir unsere Leserinnen um Geduld und darum, zu beherzigen, was Christine de Pisan (1364 - ca. 1430), Schriftstellerin und Historikerin, dazu bemerkt:
»Frauen schrieben keine Bücher,
noch schrieben sie Dinge hinein,
die man dort gegen sie und ihre guten Sitten lesen kann...
Aber hätten Frauen selbst geschrieben -
das weiß ich ganz genau -
sie hätten es anders gemacht.«[13]
Geistliche Freundschaft in klösterlichen Gemeinschaften
vom frühen Christentum bis ins Mittelalter
Homoerotische Freundschaften unter dem Klerus
Ausgehend von der heutigen Haltung von Kirchen und christlichen Gemeinden zur Homosexualität erscheint kaum eine andere Annahme denkbar, als daß das Christentum von seinen Anfängen an homosexuellen Beziehungen ablehnend begegnet und daß die feindselige Einstellung in den Ländern der westlichen Welt unter christlichem Einfluß entstanden sei. Wider Erwarten kommt John Boswell nach eingehendem Quellenstudium zu dem Schluß, im ersten Jahrtausend christlicher Geschichte habe es keine einheitliche Lehre gegen Homosexualität gegeben. Die frühe Kirche habe die biblischen Schriften keineswegs so verstanden, daß sie Liebe und Freundschaft unter Menschen des gleichen Geschlechts verwarfen. Eine christliche Kultur homoerotischer Freundschaften war anerkannt und weit verbreitet. Erst im 13. Jahrhundert sei es zu einem gesellschaftlich bedingten radikalen Wandel von der Toleranz gegenüber gleichgeschlechtlicher Freundesliebe zu scharfer Ablehnung gekommen, der sich in der scholastischen Theologie manifestiert. In der frühen Kirchengeschichte habe es zwar unter den »Kirchenvätern«, darin eher Außenseiter in ihrer Zeit, kritische Stimmen gegenüber homosexuellem Verhalten gegeben, dieselben »Väter« verurteilten allerdings ebenso vehement das Rasieren, Geldverleih gegen Zinsen, die Ehescheidung, den Militärdienst und Zimmerpflanzen als »unnatürlich«.
Neben den asketischen und unerbittlich leibfeindlichen Strömungen im frühen Christentum, die wie die gesamte zeitgenössische nichtchristliche Philosophie Erotik ablehnten und Sexualität vom 5. Jahrhundert an nur noch zu Zeugungszwecken billigen konnten, habe es immer eine sinnenfrohe und leibfreundliche christliche Tradition gegeben, die eine positive Haltung zu Erotik, Liebe und zu gleichgeschlechtlicher Freundschaft erkennen ließ. In dieser Tradition wurde besonders in den Klöstern das Ideal »geistlicher Freundschaft« gepflegt, das sich zum Beispiel in einem griechisch-orthodoxen »Hochzeitsritus« für zwei Mönche zur geistlichen Bruderschaft aus dem 9./10. Jahrhundert[14] und in klösterlicher Liebesdichtung zeigt. Diese »Freundschaft« und »Bruderliebe« nahm sich Jesus und Johannes, »den Jünger, den er liebte«, zum Vorbild und war durchaus nicht nur himmelwärts gerichtet. In der Liebe zum konkreten Menschen wollte sie sich der Liebe zu Gott nähern.
Aus den erhaltenen literarischen Zeugnissen, die zu der schönsten Liebesdichtung der christlichen Tradition gehören, spricht unverkennbar romantische Liebe, manchmal innig und zart, manchmal sinnlich und leidenschaftlich.
Homoerotische Freundschaften kamen unter dem christlichen Klerus häufig vor. Angesehene Bischöfe, Gelehrte und kanonisierte Heilige, auch Nonnen und Äbtissinnen pflegten im 12. Jahrhundert »geistliche Freundschaften«. Nichts hindert uns daran anzunehmen, daß ähnliche Beziehungen wohl auch außerhalb von Klöstern vorkamen, ohne daß sie literarische Spuren hinterließen.
Das Konzept »geistlicher Freundschaft« (amicitia spiritualis) enthält durchaus erotische und sinnliche Inhalte. Diese Freundschaft ist noch nah dem griechischen Eros, der »romantischen Liebe« späterer Zeiten, weil sie der Kultur antiker Gesellschaften entstammt, in der Erotik und Sexualität Bestandteil einer Beziehung unter Menschen des gleichen Geschlechts sein konnten. Die heute übliche scharfe Trennung bei der Definition von Freundschaft und Liebe ist heterosexistisch: Freundschaft darf nur ohne Sexualität gelebt werden, Liebe dagegen muß mit Sexualität gelebt werden, und zwar zwischen Menschen verschiedenen Geschlechts. Diese Definition verstellt den Blick für das Phänomen christlicher spiritueller Freundschaft ebenso wie für Frauenbeziehungen mit ihren fließenden Grenzen zwischen Freundschaft, Erotik und Liebe. Wie einzelne Ordensleute damals ihre persönlichen Freundschaftsbeziehungen im Rahmen eines Gelübdes von Ehelosigkeit und Keuschheit gelebt haben, wissen wir nicht, da es nicht üblich war, über Sexualität zu reden; es finden sich nur wenige Andeutungen dazu. Sinnlich-erotischer Ausdruck konnte in verschiedenem Maß Teil dieser Freundschaften sein oder auch ganz fehlen. Alkuin am Hof Karls des Großen mit seinem Kreis geistlicher Freunde und Schüler, die zu den bedeutendsten Gelehrten der karolingischen Renaissance im 9. Jahrhundert gehörten, stand in der Tradition liebender Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden in religiösen Gemeinschaften. [15] Dafür sind die Anreden »Vater - Sohn«, in Nonnenklöstern »Mutter - Tochter« typisch.
In leidenschaftlichen Liebesgedichten, die alle an Männer gerichtet sind, gibt Alkuin seinen Gefühlen Ausdruck und verherrlicht die Liebe in eleganten Versen wie sein antikes Vorbild Vergil. Im Alter bereut er seine »Jugendsünden«. Diese Reue bezieht sich kaum auf die Tatsache homoerotischer Beziehungen, sondern nur darauf, daß er als Mönch, der sich einer zölibatären Lebensweise verpflichtet fühlte, Sexualität in seinen Freundschaften gelebt hatte.
Am anderen Ende des Spektrums geistlicher Freundschaft stehen Mystiker wie der Heilige Bernhard von Clairvaux, dem in seinen Freundschaften wohl kaum eine erotische Komponente bewußt war, der Heilige Aelred von Rievaulx, der Heilige Anselm und andere.
Anselm von Canterbury, der »Vater der Scholastik«, war im 11. Jahrhundert dem Ideal jungfräulichen Lebens ganz ergeben und pflegte doch außerordentlich starke emotionale Beziehungen zu Männern wie seinem Lehrer Lanfrank und zu einigen seiner Schüler[16] In sein theologisches Werk integriert er Liebe und Spiritualität. Aus menschlicher Zuneigung und Freundschaft, aus Gesprächen, entstehen die theologischen Erkenntnisse. Ähnlich wie Anselm gibt auch der Abt von Kloster Reichenau, Lehrer und Schriftsteller Walafrid Strabo (gestorben 849) der Liebe zu seinen geistlichen Freunden Liutger und Gottschalk in zarter, vergeistigter Liebeslyrik Ausdruck, die eine im frühen Mittelalter seltene Tiefe und Feinheit des Empfindens zeigt.[17]
Was bedeutet dies für Frauen? Frauen gehörten bekanntlich niemals dem Klerus an, im Mittelalter lebten jedoch sehr viele Frauen in Klöstern. Aber auch die offenbar weitgehende Akzeptanz homoerotischer Beziehungen unter Mönchen und einflußreichen Klerikern im ersten christlichen Jahrtausend heißt für Frauen nicht von vornherein, daß Freundschaften und Beziehungen unter Frauen gleichermaßen geschätzt wurden. Für die Jahrhunderte von der frühchristlichen Zeit bis ins hohe Mittelalter sind uns nur wenige auf Frauenfreundschaften bezogene Quellen bekannt: eine frühchristliche Märtyrerlegende aus dem zweiten Jahrhundert, eine Warnung von Augustinus vor sexuellen Beziehungen zwischen Frauen, ein anonymes Schmähgedicht aus dem 6. Jahrhundert, zwei Kommentare zu sexuellen Frauenbeziehungen anhand von Römer 1,26, einige irisch-angelsächsische Bußbücher aus dem Mittelalter - diese Quellen stammen aus der Feder von Männern. Wie Frauen selbst ihre Beziehungen erlebten, wissen wir für die frühchristliche und frühmittelalterliche Zeit nicht. Wir haben erst Zeugnisse von Frauen (Liebesgedichte und Briefe von Frauen in Klöstern und Beginenhöfen) im hohen und späten Mittelalter, besonders im 11. bis 13. Jahrhundert.
Freundschaft unter Frauen im frühen Christentum
In den frühchristlichen Jahrhunderten war die Märtyrerlegende von zwei Frauen, der Heiligen Perpetua und Felicitas, sehr beliebt.[18] In einer Zeit, in der romantische Freundschaften gepflegt wurden, erweckte die heroische Liebe der beiden jungen Frauen zueinander bis in den Tod, gepaart mit Glaubensstärke, viel Sympathie.
In Karthago starben am 7. März des Jahres 203 fünf Christinnen und Christen gemeinsam den Märtyrertod in der Arena durch wilde Tiere oder durch das Schwert. Perpetua und Felicitas, so berichtet die von Zeitgenossen aufgezeichnete Heiligenlegende, sollen sich im Gefängnis gegenseitig liebevoll getröstet und im Glauben gestärkt haben. Sie gaben sich vor ihrem gemeinsamen Tod zum Abschied noch den Friedenskuß. Das Gedächtnis an dieses frühchristliche Freundinnenpaar wird wachgehalten durch die namentliche Nennung in der Eucharistiefeier der katholischen Kirche neben den Aposteln Petrus und Paulus, Johannes und Jakobus und anderen Zeuginnen und Zeugen.
Ob bei einer der gnostischen Sekten des 2. und 3. Jahrhunderts, den Kainiten, tatsächlich alle sexuellen Ausschweifungen ausgeübt wurden, deren man sie bezichtigte, oder ob sie nur leibfreundlicher und frauenfreundlicher eingestellt waren, sei dahingestellt. Tatsächlich entspricht der Katalog ihrer sexuellen »Laster« genau dem, was üblicherweise von ketzerischen Sekten, später von den Hexen, behauptet wurde: »Geschlechtsgenuß bis zur Promiskuität, die Prostitution bis zum Inzest und die mann-männliche Liebe, die Tribadie bis zur Sodomie«. Frauen spielten offenbar in dieser gnostischen Ophitensekte eine große Rolle; sie sollen die Schlange als ihre Himmelskönigin verehrt und Satan angebetet haben. In einer entrüsteten Darstellung dieser »verbrecherischen« und »satanisch-sodomitischen« Sekte von 1906 heißt es über sie: »Um die Frauen für diese monströse >Religion< zu gewinnen, lehrte eine schöne Tribade namens Quintiia den Frauen die >Moraltheologie< der Sappho mit solchem Erfolg, daß die ungeheuerliche Sekte sich im Norden Afrikas und besonders im lasterhaften Karthago riesig ausbreitete.«[19]
Einen frühen Hinweis auf erotische Beziehungen unter christlichen Frauen gibt eine der Randbemerkungen von Kirchenvätern zu diesem Thema. Aurelius Augustinus (354-430), seit 396 Bischof von Hippo in Nordafrika, ermahnt in einem Brief eine religiöse Gemeinschaft jungfräulich lebender Frauen, die seine Schwester leitet, die vergeistigte christliche Liebe zu leben und sich nicht so zu verhalten, wie es offenbar andere Zeitgenossinnen taten: »Nicht fleischlich, sondern geistlich soll die Liebe unter euch sein. Denn was Frauen ohne Schamgefühl sogar mit anderen Frauen treiben, indem sie sich unanständigerweise amüsieren und herumspielen, das darf nicht nur von Witwen und unberührten Dienerinnen Christi, die sich mit einem heiligen Versprechen geweiht haben, nicht getan werden, sondern überhaupt nicht von Frauen, weder von Ehefrauen noch von unverheirateten jungen Mädchen.«[20]
Diese Bemerkung zeigt, wie verbreitet und bekannt Frauenbeziehungen im 4./5. Jahrhundert gewesen sein müssen. Nennt Augustinus doch ausdrücklich Frauen jeglichen Alters und jeder Lebensform: noch unverheiratete Jungfrauen, Ehefrauen, christliche Witwen und Nonnen, die Frauen lieben und Zärtlichkeiten mit anderen Frauen austauschen. »Gegen den Anstand und das Schamgefühl verstoßen« ist eine milde Form der Mißbilligung. Die Ausdrücke »scherzen« und »spielen« für erotische Handlungen unter Frauen verraten, daß hier ohne Mitwirkung eines Mannes keine wirkliche, ernstzunehmende Sexualität vorliegen könne. Augustinus sieht bekanntlich Sexualität in jeder Form als böse, schmutzige Lust an, sofern sie nicht in der Ehe durch den Wunsch nach Nachkommenschaft gerechtfertigt wird. Und das, obwohl er so bewegende Worte über die Liebe findet - aber eben nur über jene so unendlich reine, vergeistigte Liebe ohne jede Beimischung von angeblich erniedrigender Körperlichkeit. Seine dualistische Feindseligkeit gegen den Körper, gegen alle Formen von Erotik und besonders gegen Frauen, die er mit vielen seiner »heidnischen« Zeitgenossen teilt, hat fatale Auswirkungen auf die christliche Theologie gehabt, auch auf die reformatorische, die in der Sexualmoral und in der Wertung von Frauen keine Reformation unternahm (Luther war Mönch im strengen Orden der Augustinereremiten).
Der heilige Augustinus behauptet zum Beispiel, nichts sei für den männlichen Geist erniedrigender als die Versuchung durch Frauen und der Kontakt mit Frauenkörpern. Und der Körper eines Mannes sei angeblich so viel edler und überlegener als der Körper einer Frau, wie die Seele besser und edler sei als der Körper. In seinen lustvolleren Jugendjahren, bevor Augustinus Christ, Bischof und »Heiliger« wurde, hat er wie alle jungen Männer damals eine große Zahl von Sklavinnen und Sklaven, Freigelassenen und Angehörigen der unteren Volksschichten als Sexualpartner und -partnerinnen zur Verfügung gehabt. Sicher war das nicht der Fall bei den frommen christlichen Frauen, die er so väterlich zu geistigen Liebesbeziehungen anhielt; von ihnen wurde als freigeborenen Bürgerinnen Keuschheit und Jungfräulichkeit vor der Ehe erwartet. Augustinus schildert auch eigene Erfahrungen mit tiefer homoerotischer Freundschaft in seinen »Bekenntnissen« (Confessiones): Die Liebe zu einem Jugendfreund, mit dem »seine Seele eins war in zwei Körpern«, war für ihn sehr bedeutungsvoll; sein Tod habe ihn in Verzweiflung und in abgrundtiefen Schmerz gestürzt. Aber anders als viele seiner Zeitgenossen bereut er später bitter den gelebten sexuellen Aspekt seiner Leidenschaft: er habe die Reinheit der Freundschaft mit dem Schmutz der Begierde (concupiscentia) und der Wollust (libido) besudelt.
Uns als nachgeborenen Leidtragenden christlicher Leibfeindlichkeit bleibt nur das Bedauern darüber, daß sich die inhumanen Ansichten eines Augustinus und anderer frühchristlicher Asketen als Erbe antiker griechischer Philosophie schließlich im Christentum durchsetzten und nicht die erosfreundliche Haltung eines Paulinus beispielsweise, ebenfalls Bischof und Heiliger im 4. Jahrhundert. Seine leidenschaftliche Liebesbeziehung zu dem christlichen Dichter Ausonius lebt fort in seiner Dichtung von großer Anmut und Schönheit und hat die europäische mittelalterliche Liebesdichtung stark beeinflußt. Den heiligen Paulinus habe seine brennende Liebe zu einem Mann überhaupt nicht in seinem Gewissen belastet, meint Boswell, weder was den Gegenstand seiner Liebe noch deren Intensität angeht. Niemand scheint damals eine solche gegenseitige Anziehung unter Freunden als »unnatürlich« und »sündhaft« empfunden zu haben[21]
Eine Theologie der Freundschaft aus dem 12. Jahrhundert
Bevor wir zur mittelalterlichen Liebesdichtung von Frauen für Frauen kommen, müssen wir uns noch mit einer der liebenswürdigen Gestalten unter den »Heiligen der ungeteilten Christenheit« befassen, dem Heiligen Aelred von Rievaulx, Abt einer Zisterzienserabtei in England, der zu Unrecht vergessen ist. Aelred schrieb im 12. Jahrhundert ein klassisches Werk zur Theologie der Freundschaft, das für lange Zeit die Freundschaften von Nonnen und Mönchen stark beeinflußte, aber auch außerhalb der Klöster weit verbreitet war. Heute versuchen lesbische feministische Theologinnen und Philosophinnen ähnliches, indem sie Visionen und Modelle von Frauenfreundschaften erstellen.[22]
In seinen Schriften »Spiegel der Nächstenliebe« und »Geistliche Freundschaft (De amicitia spirituali)«, die er dem Mitbruder Bernhard von Clairvaux widmet, greift Aelred Motive aus der Tradition der geistlichen Liebesdichtung und der antiken Philosophie der Freundschaft bei Aristoteles und Cicero auf. Aelred hebt die Freundschaftsliebe zur Höhe der Nächstenliebe hinauf, ja zur Gottesliebe und entwickelt eine ausdrückliche Theologie homoerotischer Freundschaft.
Der Freund, »der Gefährte deiner Seele«, mit dem der Liebende eins werden will, muß darum sorgfältig ausgesucht werden. Freundschaft beginnt zwar mit Zuneigung, sie hat aber auch mit Unterscheidung und Ordnung, mit Verstand zu tun, die die geistliche Freundschaft davor bewahren, »fleischlich« zu werden. Die Liebe ist »süß« wegen der Zuneigung und »rein« wegen der Vernunft. »Welches Glück, welche Sicherheit, welche Freude bedeutet es, einen zu haben, zu dem du unter Gleichen wie zu einem anderen Selbst wagen kannst zu reden. Einem, mit dem du, ohne zu erröten, die Fortschritte in deinem geistlichen Leben teilen kannst, einem, dem du alle Geheimnisse deines Herzens anvertrauen kannst. Was ist angenehmer, als mit sich selbst den Geist eines anderen zu vereinen und eins statt zwei zu sein.«[23]
Liebe und Freundschaft, die ganz natürlich sind, ganz persönlich, betrachtet Aelred als die Grundlagen des klösterlichen gemeinsamen Lebens und als einen Weg, sich der Liebe Gottes anzunähern. Angeregt durch das Johannesevangelium und durch die »besondere Freundschaft« Jesu mit dem »Lieblingsjünger« Johannes, kommt Aelred zu Aussagen wie »wer in der Freundschaft bleibt, bleibt in Gott« und »Gott ist Freundschaft«[24]
Aelred von Rievaulx hat in seinen Essays und persönlichen Briefen genaue Aufzeichnungen über seine individuelle Entwicklung und seine freundschaftlichen Beziehungen hinterlassen. Als er, ehemals Mitglied des- schottischen Königshofes, der Welt unter vielen Kämpfen entsagte, um die eine und verläßliche Freundschaft zu Gott zu suchen, und in einen strengen Orden eintrat, habe er sich heftig in Simon verliebt, der bis zu seinem Tod das Zentrum in Aelreds Leben blieb. »Die Regeln unseres Ordens verboten uns zu sprechen, aber sein Gesicht sprach zu mir... sein Schweigen sprach zu mir.« Aus der bewegten Klage über den Verlust des geliebten Freundes könnten manche schließen, seine Liebe sei »allzu fleischlich« gewesen, sagt Aelred und fügt hinzu: »Laß sie denken, was sie wollen. « Später baut er eine tiefe Beziehung zu einem jüngeren Mitbruder auf, mit dem er »ein Herz und eine Seele« ist. Obwohl Aelred sexuelle Beziehungen zwischen Mönchen, die sich dem ehelosen Leben geweiht haben, nicht für erstrebenswert hält und er für sich persönlich auf gelebte Sexualität verzichtet - er bekämpft sein Verlangen mit Fasten und Bädern in einer eiskalten Quelle -, kann er auch in der körperlich vollzogenen Sexualität zwischen Freunden Gutes sehen: die Freude, die sie den Liebenden bringt. Diese »fleischliche Freundschaft«, wie er mit den Worten des von ihm verehrten Augustinus sagt, sei häufig unter jungen Leuten und könne als Stufe zu einer »heiligeren Freundschaft« dienen, die Gott und die beiden Liebenden vereine. Als Abt erlaubt Aelred seinen Mönchen, einander die Hände zu halten und ihre Freundschaft und Zuneigung füreinander auch körperlich-sinnlich auszudrücken. Gegen die Autorität von Ordensgründern wie Basilius dem Großen (4. Jahrhundert) und dem Heiligen Benedikt von Nursia (6. Jahrhundert), die in ihren Regeln für das Ordensleben gerade in den leidenschaftlichen »besonderen Freundschaften« eine Bedrohung der monastischen Ideale und des Gemeinschaftslebens sehen, beruft sich der heilige Aelred auf das Beispiel von Jesus und Johannes, deren Beziehung zueinander er als »vollkommene Liebe« und als »himmlisches Hochzeitsbett« beschreibt.
Frauenliebe im Kloster: Liebesdichtung von Nonnen
Ordensfrauen im Mittelalter wurden oft schon als Kinder im Alter von fünf bis sieben Jahren in ein Kloster zur Erziehung gegeben, wo Mädchen eine Bildung erhielten, die das Niveau von Männern und Frauen außerhalb der Klöster weit übertraf. Viele Frauen traten aus eigenem Entschluß in eine klösterliche Gemeinschaft ein, um einer Ehe zu entgehen, die die Frau der »munt«, der Vormundschaft des Eheherrn, unterstellte und seiner Gewalt unterwarf. Züchtigung von Ehefrauen war üblich und kirchlich abgesegnet. Manche Witwen nutzten nach dem Tod eines Ehegemahls, der kaum mehr wußte, als mit Schwert und Lanze zu klappern und den sie sich nicht selbst erwählt hatten, die Gelegenheit, urn in den gesellschaftlich höher bewerteten religiösen »jungfräulichen Stand« einzutreten und in einer Gemeinschaft von Gleichen und Seelenverwandten zu leben. Gerade Frauen aus dem Adel mußten als Familienfrauen oft recht isoliert von Freundinnen leben. Verständlich, daß so viele Frauen im 12. und 13. Jahrhundert in die Klöster drängten, um die Erfahrung von Schwesternschaft und »Freundschaft der Seelen« miteinander zu machen (bis die männlichen Orden sich weigerten, weitere Frauen aufzunehmen, und das Vierte Laterankonzil 1215 die Gründung neuer Frauenklöster verbot).[25] Ordensfrauen verbrachten fast ihr gesamtes Leben in einer Frauengemeinschaft und lebten frauenidentifiziert - vermutlich haben sie sich ebenso häufig in andere Nonnen verliebt, wie Mönche das dem Vernehmen nach taten. Nur haben Frauen gewöhnlich über sich geschwiegen und uns wenige Spuren ihrer Liebe hinterlassen.
In einer Handschrift des 12. Jahrhunderts aus dem Kloster Tegernsee, dem Mutterhaus von Benediktbeuren, der Heimat der berühmten »Carmina Burana«-Handschrift, findet sich eine Sammlung mittellateinischer Liebesbriefe. In diesen Gedichten reden Nonnen von ihrer Liebe zu einem Mann oder zu einer Frau. Diese kulturhistorischen Kostbarkeiten zeigen ohne Zweifel, daß im späten 11. und im frühen 12. Jahrhundert in süddeutschen Frauenklöstern zahlreiche kultivierte junge Frauen die Werte höfischer Minnedichtung auf die Priester übertrugen, die ihre Gemeinschaft betreuten. Die wenigen Liebesgedichte an Frauen beweisen aber auch, daß die Tradition geistlicher Freundschaft auch in den religiösen Frauengemeinschaften gepflegt wurde[26]
In den Liebesgedichten an Geistliche finden sich Hinweise auf die Gefahren der heimlichen Beziehung, Angst um die eigene Keuschheit und »Reinheit der Liebe« , die mit Mühe und Leid gleichgesetzt wird.[27] Dies zeigt eine durchaus realistische Sicht einer heterosexuellen Romanze unter klösterlichen Bedingungen, die für die beteiligten Frauen ein hohes Risiko barg. Auch die in anmutige lateinische Reime gefaßte Entschuldigung, mit der »unkultivierten Sprache« die Ohren des gelehrten Mannes zu beleidigen, fehlt nicht.
Negative Aspekte wie Angst vor unerwünschten Folgen, vor dem Verlust der Reinheit und vor Entdeckung eines heimlichen Liebesverhältnisses finden. sich in den drei Liebesgedichten von Nonnen an Mitschwestern nicht. Offenbar bestand keine Notwendigkeit, eine solche Beziehung geheimzuhalten. Liebe und Freundschaft unter den Ordensfrauen, selbst wenn diese als noch so intensiv, intim und exklusiv beschrieben wird, ist in den Frauengemeinschaften des 11. und 12. Jahrhunderts vollkommen anerkannt. Die drei von Frauen an eine Freundin gerichteten Liebesbriefe der Sammlung (V, VI, VII) haben die gleiche, in der Minnedichtung ebenso wie in der klösterlichen Liebesdichtung sehr beliebte Thematik: Sehnsucht nach der abwesenden Geliebten, Erinnerung an vergangenes Liebesglück, Versprechen unvergänglicher Liebe und die Hoffnung auf baldige Vereinigung der Liebenden.
Die Sprache, mittellateinische Verspaare mit Endreim ohne feste metrische Ordnung, zeigt Verwandtschaft mit den Liedern der »Carmina Burana«-Sammlung, aus deren Umfeld sie stammen. lin emotionalen Ausdruck wirken diese Liebesbriefe so authentisch, daß wegen der Intensität der Empfindung wohl die Komposition vernachlässigt wurde. Die Autorinnen kreisen um ihr Thema und finden kein Ende, in immer wieder neuen Bildern ihre Sehnsucht und Liebe auszudrücken.
Im sechsten Liebesbrief der Sammlung sagt eine Nonne zu einer anderen:
»Süßer bist du als Milch und Honig,
ausgewählt aus Tausenden.
Dich lieb ich vor allen,
du allein bist meine Liebe
und mein Verlangen.
Du süßer Trost meines Geistes,
ohne dich ist nichts angenehm
in der weiten Welt.
Alles, was schön war mit dir,
ist ohne dich mühsam und schwer.
Wenn es möglich wäre,
daß ich mein Leben für dich gäbe,
gern würd' ich es tun,
weil du allein es bist,
die ich erwählt habe
in meinem Herzen.«[28]
Die Briefschreiberin B. wirft der abwesenden Freundin C., »der einzigen und besonderen«, vor, daß sie so lange ausbliebe. »Willst du denn deine einzige Freundin zugrunde richten, die dich mit Leib und Seele liebt, wie du ja selbst weißt? Die wie ein verdurstendes Vögelchen nach dir seufzt in jeder Stunde, jeder Minute.«
Die scharfe Trennung bei Augustinus zwischen der rein geistigen Liebe und der »fleischlichen« Liebe ist hier einer ganzheitlichen Auffassung gewichen. In diesem Gedicht vereint die Verfasserin Elemente der geistlichen Freundschaft, die seelische Übereinstimmung und vergeistigte, wertschätzende Liebe (dilectio) mit Sinnlichkeit und Erotik aus der recht weltlichen Liebesdichtung: »tu sola amor et desiderium - du allein bist meine Liebe und mein Verlangen« (VI, 31) kann sprachlich kaum anders als erotisch und sexuell getönt verstanden werden. Die Ordensfrau betont auch den sinnlichen Anteil ihrer Beziehung, indem sie eigens auch den Körper in ihre Liebe einbezieht. »Anima et corpore te diligit - (die) dich mit Seele und Körper liebt.«
Beim fünften Liebesbrief meint der Herausgeber Peter Dronke, dem sich John Boswell anschließt, er enthalte keinen ausdrücklichen Hinweis auf das Geschlecht der Verfasserin.[29] Aus sprachlichen und inhaltlichen Gründen läßt sich jedoch die weibliche Autorenschaft nachweisen. Die Betonung der »wahren ungeheuchelten Freundschaft« (V,7) und der seelischen Harmonie zwischen den Liebenden spricht für eine gleichgeschlechtliche Beziehung in der Form der geistlichen Freundschaft. Auch der Schlußgruß des Briefes »Es grüßt dich, du süße Perle, auch der Konvent der jungen Frauen« (V,31) zeigt, daß die Briefschreiberin Mitglied einer klösteriichen Frauengemeinschaft ist und an eine andere Frau schreibt, die mit »süße Perle (dulcis margarita)« angeredet und mit einer weiblichen Personifikation, der »Philosophia«, verglichen wird.
»Obwohl uns so weite Entfernung trennt,
verbindet uns doch der Gleichklang der Seelen
und wahre Ereundschaft, nicht geheuchelt,
sondern in meinem Herzen verankert.
Du bist mir nah in meinen Träumen
wie die Philosophie
und gibst mir tröstliche Worte und fromme.«[30]
Wir wissen leider überhaupt nichts über die Verfasserinnen der drei Liebesgedichte an Freundinnen, nur daß sie im späten 11. oder frühen 12. Jahrhundert in einer klösterlichen Frauengemeinschaft in Süddeutschland lebten. Sie kamen wohl aus adligen Familien und waren so gebildet, daß sie in der Tradition geistlicher Freundschaft lateinisch dichten konnten. Noch nicht einmal ihren Namen kennen wir, denn die Handschrift überliefert für alle Briefe nur die abgekürzten Namen: »An G. von A.« lautet der Gruß zu Beginn des VII. Briefes, des schönsten der drei Liebesgedichte, das Boswell »das hervorragendste Beispiel mittelalterlicher lesbischer Literatur[31] nennt.
Vielleicht heißt die dichtende Nonne Aba, Agnes, Anna oder Adelheid? Diese Namen finden sich im »Hortus deliciarum«, dem Garten der Köstlichkeiten der Herrad von Landsperg aus dem 12. Jahrhundert, neben den Bildern der Äbtissin und ihrer sechzig »süßen Jungfrauen Christi«[32]
Herrads Werk, ein einzigartiges Lehrbuch für die Nonnen ihres Klosters, zeigt die umfassende Bildung mittelalterlicher Nonnen. Es enthält klassische Texte, Auszüge aus der Bibel und aus frühmittelalterlichen Autoren, Illustrationen sowie eigene lateinische Dichtungen mit Musikanleitung. Herrad lebte in einer Bildungs- und Kulturtradition von hochgelehrten Äbtissinnen im elsässischen Kloster Odilienberg; ihre Lehrerin und Vorgängerin Relindis und ihre Nachfolgerin Gerlindis verfaßten ebenfalls lateinische Dichtungen.[33]
Der Liebesbrief an die ferne Freundin, die sich offenbar trotz der Klausur auf einer längeren Reise außerhalb des Klosters befindet, beginnt mit einem großen »G« und dem Namen der Freundin, »ihrer einzigen Rose«. Dieses Initial war wohl in der Originalhandschrift des Briefes liebevoll farbig ausgestaltet. Vielleicht ähnelte es dem Initial der schreibenden und malenden Nonne Guda, die in einem mittelrheinischen Kloster um 1150 ihr Homiliar, eine Sammlung von Predigtstellen, recht selbstbewußt mit ihrem Porträt und ihrem Namen signierte als eine der frühesten Künstlerinnen, die ihren Namen nennen. Mit klaren Zügen und kraftvoll segnender Hand stellt sie sich selbst dar und fügt ihrer großen Leistung hinzu: »Guda, die Sünderin, die Frau, hat dieses Buch geschrieben und gemalt.«[34] Das Selbstbewußtsein der Nonne Guda könnte unser Freundinnenpaar auch gehabt haben. Taufen wir sie in unserer Phantasie Adelheid und Guda, weil sie uns nah sind. Weil die Geschichte ihnen sogar ihre Namen genommen hat. An Guda von Adelheid. So könnte es gewesen sein. Wir wissen es nicht.
»An G. von A.
Meiner einzig geliebten Rose
ein Zeichen kostbarer Zuneigung.
Habe ich denn die Kraft,
dein Weggehen geduldig zu ertragen?
Bin ich denn aus Stein,
daß ich deine Rückkehr
ruhig erwarten könnte?
Tag und Nacht hör ich nicht auf
zu trauern um dich,
wie amputiert fühl ich mich.
Jede Freude, jedes Vergnügen,
ohne dich ist's nichts wert.
Ich freu mich nicht mehr,
ich weine nur noch,
unaufhörlich bin ich traurig,
wenn ich mich an deine Küsse erinnere
und wie du mit zärtlichen Worten
meine Brust liebkost hast,
möcht ich sterben,
weil ich dich nicht sehen kann.
Was soll ich Arme tun,
wohin soll ich mich wenden?
Wenn mein Leib doch tot wäre,
bis du Heißersehnte zurückkommst.
Könnt ich durch die Lüfte segeln wie Habakuk,
nur ein einziges Mal zu dir kommen,
um das Gesicht meiner Liebsten zu sehen.
Was kümmerte es mich,
wenn ich in dieser Stunde sterben müßte?
Denn auf der ganzen weiten Welt
gibt es keine andere Frau,
die so lieb und wunderschön ist wie du,
und die mich so von Herzen,
so tief und zärtlich liebt.
Drum bin ich traurig ohne Ende,
bis ich dich wiedersehen kann.
Jener Weise hat recht:
ein großes Unglück ist's für uns,
mit denen nicht zu sein,
ohne die wir nicht sein können.
Solange die Welt besteht,
sollst du in meinem Herzen sein.
Was schreib ich noch mehr?
Komm schnell zurück,
du Süße, du Liebe!
Halt dich nicht
auf mit deiner Reise.
Weißt du, ich kann deine Abwesenheit
wirklich nicht länger ertragen.
Bis bald!
Und denk an mich.«
Liebesgedichte dieser Art in der Tradition der geistlichen Freundschaft und der höfischen Minnedichtung wurden im 12. Jahrhundert in den Klöstern zur Freude und zur Entspannung vorgelesen. Kein Schatten eines Verdachts scheint auf diesen Frauenbeziehungen zu liegen, noch ist aus der sinnenfrohen erotischen Sprache der klösterlichen Freundschaftslyrik eine Spur von schlechtem Gewissen herauszulesen. Der Herausgeber bemerkt zu diesem Liebesgedicht, es scheine eine leidenschaftliche körperliche Beziehung vorauszusetzen.[35] Ob ihre Freundschaft Zärtlichkeiten enthält, die über Küsse, zärtliche Worte und Streicheln der Brust hinausgehen, ist dem Gedicht nicht zu entnehmen. Eine genital-sexuelle Beziehung wäre in einem klösterlichen Kontext jedenfalls als schwere Verfehlung und als Bruch des Keuschheitsgelübdes angesehen worden, gleichgültig, ob mit einer Frau oder einem Mann begangen. Dies beweisen die für heterosexuelle und lesbische sexuelle Beziehungen vorgesehenen Bußen in den mittelalterlichen Bußbüchern, in denen Nonnen härtere Strafen auferlegt bekommen als nicht durch Gelübde gebundene »weltliche« Frauen. Mittelalterliche Klosterfrauen hatten durchaus sexuelle Wünsche und Erfahrungen mit intimen Beziehungen. Daß sie dafür auch Buße tun mußten, zeigt beispielsweise der zornige Stoßseufzer einer unbekannten Nonne aus dem 11. Jahrhundert. »Alle Äbtissinnen verdienen zu sterben, die ihnen untergebene Nonnen unglücklich und einsam im Bett liegen lassen, nur weil sie sich der Liebe ergeben haben. Ich weiß, wovon ich rede, denn ich mußte fasten bei steinhartem Brot wegen der Liebe.«[36]
Dagegen steht die Liebe der beiden Ordensfrauen zueinander, wie sie hier dargestellt ist, ganz in der Tradition geistlicher Freundschaft, wie wir sie von Aelred von Rievaulx und Anselm von Canterbury kennen. Als wahre Freundschaft, die »ohne Verstellung in tiefster (geistiger) Liebe liebt« (VII, 27 f.), überschreitet sie in ihrem verbalen und physischen Ausdruck nicht den damals gegebenen Spielraum zwischen Spiritualität und Sexualität in einer klösterlichen Lebensform. Zärtlichkeit, Umarmungen, Küsse und der leidenschaftliche dichterische Ausdruck von Liebe unter Freundinnen und Freunden des gleichen Geschlechts waren im 12. Jahrhundert mit tiefer Gläubigkeit und klösterlichen Gelübden vereinbar. Der Freiheitsraum für intensiven emotionalen und sinnlichen Ausdruck von Liebe und Freundschaft unter Ordensleuten war damals viel größer, gemessen an den Einschränkungen, die heutigen Nonnen und Diakonissen auferlegt werden, und an dem Mißtrauen gegenüber persönlichen Freundschaften in heutigen religiösen Gemeinschaften.
»Meine Augen verlangen sehnsuchtsvoll danach, euer Gesicht zu sehen, Geliebteste. Meine Arme strecken sich aus nach euren Umarmungen. Mein Mund sehnt sich nach euren Küssen.« So konnte beispielsweise Anselm von Canterbury an zwei junge Männer schreiben, die sich seiner klösterlichen Gemeinschaft anschließen wollten. Untröstlich über ihre Trennung und voll Verlangen nach ihm, schreibt er einem Freund einen leidenschaftlichen Liebesbrief, »Bruder Anselm an Gilbert, den Bruder, Freund und geliebten Liebhaber«[37] Damit bringt er einen Kirchenhistoriker des 20. Jahrhunderts in Verlegenheit, der die Sprache dieser Freundschaftsliebe als Übersteigerung bezeichnet, die nicht das bedeute, was wir heute dabei empfänden und hörten. Es handele sich nicht um den Ausdruck leidenschaftlicher Liebe, wie die Wortwahl heute nahe legen würde, da damals Liebe im wesentlichen ein »intellektuelles« Konzept gewesen sei.
Liebe - ein intellektuelles Konzept? In einer Zeit, deren Lieblingslektüre das »Hohe Lied der Liebe« ist, in der die Minnedichtung blüht? Es scheint sich eher um eine bei heutigen Auslegern häufige Freudsche Behinderung zu handeln, wenn sie meinen, die Gefühle früher lebender Menschen zensieren und verkleinern zu müssen, wenn sie sich nicht an das »richtige« Geschlecht wenden. Hätte Anselm seine Briefe an eine Frau gerichtet, gäbe es keine Interpretationsprobleme für die Tiefe seiner Empfindungen. So schreibt er als Mann einem Freund voll schmerzlicher Sehnsucht, während ihm beim Schreiben die Tränen Gesicht und Hände benetzen. Ein solch starker Ausdruck sinnlicher und zugleich vergeistigter homoerotischer Freundesliebe war damals einem Mönch und Heiligen gestattet.[38]
Hildegard und Richardis, eine geistliche Freundschaft
Die Liebesgedichte unbekannter Ordensfrauen an Mitschwestern in der Handschrift aus dem Kloster Tegernsee sind trotz hoher Emotionalität doch auch ein kunstvolles Spiel mit literarischen Motiven und Formen der im 11. und 12. Jahrhundert gepflegten Minnedichtung. Die Persönlichkeiten der liebenden Dichterin und der umschwärmten Geliebten bleiben in diesen »Liebesbriefen« ohne individuelle Züge. Die Nonnen sind als konkrete Personen nicht sichtbar. Es geht vor allem um die Feier der »geistlichen Freundschaft« und der »Minne«. Wie die beteiligten Frauen ihre Freundschaftsbeziehung persönlich gelebt haben, liegt für uns im dunkeln. Darüber schweigen sie wie so viele andere Frauen vor und nach ihnen in der Kirche, die Frauen geliebt haben.
Anders dagegen läßt der umfangreiche persönliche Briefwechsel der heiligen Hildegard von Bingen (1098-1179) ein lebensvolles Bild einer großen und kraftvollen Frauengestalt des 12. Jahrhunderts erkennen. Rund dreihundert Briefe hat die Äbtissin aus altem Adelsgeschlecht an die Großen und Mächtigen ihrer Zeit in Kirche, Politik und Geistesleben geschrieben, aber auch an ratsuchende Klostergemeinschaften und ihre Nonnen; Hildegards Korrespondenz gibt uns auch eine Chronik einer geistlichen Freundschaft zwischen ihr und einer Mitschwester. Nachdem Hildegard im Jahr 1141 als Gesandte Gottes, »als sie zweiundvierzig Jahre und sieben Monate war« [39] , den Auftrag erhalten hat, ihre Visionen niederzuschreiben und der Welt mitzuteilen, übt sie Kraft ihrer Sendung prophetische Zeitkritik. Sie ruft in Briefen und Schriften und auf Predigtreisen zur Umkehr auf; sie scheut nicht davor zurück, mit Bischöfen und Fürsten hart ins Gericht zu gehen und sich als Mystikerin politisch einzumischen. Oft beginnt sie ihre Mahnschreiben voll Autorität mit einer Wendung wie »Der da ist, spricht...«, so an Kaiser Friedrich l., oder mit einem prophetischen Satz wie: »Die Weisheit lehrte mich in wahrhaftiger Schau folgende Worte... « [40] Hildegard, »die Seherin vom Rupertsberg«, Mystikerin und Prophetin, eine der religiös und politisch einflußreichen Äbtissinnen ihrer Zeit, berühmt als Dichterin, hat sich in ihrer vielseitigen Begabung neben ihrem umfangreichen literarischen Werk auch der Dichtung und Komposition geistlicher Lieder gewidmet, naturwissenschaftliche Studien betrieben und über Heilkunst und Heilkräuter geschrieben.[41]
Hildegard von Bingen interessiert uns bei unserer Suche nach frauenidentifizierten christlichen Frauen vor allem als »Geistliche Mutter« ihrer Rupertsberger und Eibinger Schwestern in den beiden von ihr gegen starken männlichen Widerstand gegründeten Frauenklöstern. Mit diesen Frauengemeinschaften und einzelnen ihrer Nonnen, ihren geliebten »Töchtern«, ist Hildegard, die selbst als Achtjährige zu der Klausnerin Jutta auf den Disibodenberg kam, eng und herzlich verbunden. Um eine ihrer Schwestern, Richardis von Stade, reiht sich ein Zyklus von Briefen, in dem die »Mutterliebe« [42] Hildegards ergreifend Ausdruck findet. Hildegard selbst bezeichnet ihre Beziehung zu Richardis nicht als Mutterliebe, sondern als »liebende Freundschaft« und spricht von der jüngeren Richardis als »meiner Tochter und zugleich meiner Mutter« in der Tradition liebender Beziehungen zwischen Lehrerin und Schülerin in klösterlichen Gemeinschaften. Wie innig Hildegard mit der Nonne Richardis verbunden ist, die ihr in den zehn Jahren nach ihrer Berufung während der Arbeit an ihrem prophetischen Erstwerk zur Seite steht, berichtet sie selbst in ihrer Autobiographie: »Als ich das Buch Scivias (Wisse die Wege) schrieb, war ich einer adligen Nonne, der Tochter der genannten Markgräfin, in voller Liebe zugetan, so wie Paulus dem Timotheus. Sie hatte sich mir in allem durch liebende Freundschaft verbunden und litt mein Leiden mit mir, bis ich das Buch vollendet hatte.« [43]
Die Freundschaft zwischen Hildegard und Richardis hat nach vielen Jahren einen Sturm auszuhalten. Ihre Familie möchte Richardis zur Äbtissin machen, in einem reichen adligen Frauenkloster, dem Stift Bassum bei Bremen. Hildegard lehnt es jedoch mit guten Gründen ab, Richardis freizugeben, selbst als eine Delegation des Stifts einen Brief mit scharfen Drohungen des Erzbischofs Heinrich von Mainz vorweisen kann. Sie schreibt dem Erzbischof einen geharnischten Brief, in dem sie ihm Mißbrauch geistlicher Ämter vorwirft, und weigert sich entschieden, seinem Befehl Gehorsam zu leisten: »Die Gründe, die für die Erhebung jener Nonne (zur Äbtissin) vorgebracht werden, haben bei Gott kein Gewicht. Denn ICH, der Hohe und Tiefe und Umkreisende, der ICH das einfallende Licht bin, habe sie nicht gesetzt, sondern aus der ungeziemenden Verwegenheit einsichtsloser Herzen sind sie entstanden ... Darum darf man euren verfluchenden, böswilligen und drohenden Worten kein Gehör schenken.« [44]
Nach der Vollendung des Buches habe sich Richardis im Hinblick auf ihr angesehenes Geschlecht einer höheren Stellung zugeneigt. »Sie wollte Mutter eines vornehmen Klosters genannt werden. Dies erstrebte sie nicht im Sinne Gottes, sondern im Sinne weltlicher Ehrsucht.« [45] Hildegard versucht wiederholt in Briefen, Einfluß auf die Familie der Richardis zu nehmen. So schreibt sie der Markgräfin von Stade, der Mutter der Richardis, einen eindringlichen Brief, als diese ihre Tochter Richardis und ihre Enkelin Adelheid zu Äbtissinnen machen will. Hildegard möchte die beiden jungen Frauen bei sich in ihrer Gemeinschaft behalten: »Ich beschwöre und ermahne dich: bringe meine Seele nicht derart in Aufruhr, daß du meinen Augen bittere Tränen entlockst und mein Herz mit grausamen Wunden verletztest wegen meiner geliebten Töchter Richardis und Adelheid, die ich jetzt leuchten sehe im Morgenrot, geschmückt mit einem Perlengeschmeide an Tugenden. Hüte dich also, ihren Sinn und ihre Seele von dieser erhabenen Schönheit durch deinen Willen, Rat und Beistand abzulenken. Denn die Äbtissinnenwürde, die du (für sie) begehrst, ist sicher, sicher, ja sicher nicht von Gott, noch ist sie zum Heil ihrer Seelen. Wenn du also die Mutter dieser deiner Töchter bist, so hüte dich, der Untergang ihrer Seelen zu sein.« [46]
Dieser Brief bringt nicht den ersehnten Erfolg, weil Richardis sich den Wünschen ihrer Familie fügt; sie folgt dem verlockenden Ruf und wird Äbtissin in Bassum; Adelheid wird Äbtissin des Stiftes Gandersheim. Nach der Trennung wendet sich Hildegard »in Tränen und Trübsal« an den Bruder der Richardis, Hartwig, Erzbischof von Bremen, der die Berufung seiner Schwestern bewirkt hat, und versucht, Richardis zurückzugewinnen. [47] Sie bittet ihn, den Willen Gottes in dieser Sache zu erfüllen. »Denn meine Seele ist sehr betrübt, weil ein gewisser schrecklicher Mensch in der Angelegenheit unserer geliebten Tochter Richardis meinen Rat und Willen und den meiner Schwestern und Freundinnen mißachtet und sie durch seinen verwegenen Willen aus unserem Kloster entführt hat.« Einer Wahl Gottes widersetze sie sich nicht, doch könne sie in Hartwigs Forderung nicht den Willen Gottes sehen und das Seelenheil seiner Schwester. Darum beschwört sie ihn bei Christus und seiner edelsten Mutter: »Sende meine geliebte Tochter zurück«, und fügt ihren persönlichen Wunsch hinzu: »Doch bitte ich, daß ich durch sie und sie durch mich Trost findet.«
Hildegard wendet sich in dem Versuch, die »geliebte Tochter« Richardis zurückzugewinnen, sogar an Papst Eugen III., der antwortet, die Nonne solle entweder dort, wo sie ist, die Benediktinerregel streng einhalten - in dem reichen Stift adliger Damen kaum möglich - oder aber zu Hildegard zurückkehren.
Richardis aber bleibt als Äbtissin in Bassum, und Hildegard muß sich schmerzerfüllt in das Unabänderliche ihrer Trennung fügen. Sie fühlt sich verwaist zurückgelassen und erkennt »mit aller Deutlichkeit, daß sie Richardis zu sehr auf der Ebene der Natur geliebt hat«. Hildegard richtet an ihre geistliche Tochter und Freundin einen ergreifenden Brief, fordert Richardis jedoch nicht zur Rückkehr auf.
»Hildegard an Richardis von Stade, Äbtissin von Bassum
Höre, Tochter, mich, deine Mutter, die >im Geiste< zu dir spricht: Schmerz steigt in mir auf. Der Schmerz tötet das große Vertrauen und die Tröstung, die ich in einem Menschen besaß. Von nun ab möchte ich sagen: Besser ist es, auf den Herrn zu hoffen, als auf Fürsten seine Hoffnung zu setzen. Das heißt: Der Mensch soll Ihn, den Hohen, Lebendigen, schauen, ohne irgendeine Umschattung der Liebe und ohne die schwache Zuverlässigkeit, wie die luftige Feuchtigkeit der Erde sie nur für ganz kurze Zeit bietet. Der Mensch, der so auf Gott schaut, richtet wie ein Adler sein Auge auf die Sonne. Und darum soll man nicht sein Augenmerk auf einen hochgestellten Menschen richten, der wie die Blume verwelkt. Hierin habe ich gefehlt aus Liebe zu einem edlen Menschen. Nun sage ich dir: Jedesmal, wenn ich auf diese Weise sündigte, hat Gott mir diese Sünde entweder durch irgendwelche Ängste oder Schmerzen offenbar gemacht. So geschah es auch jetzt um deinetwillen, wie du selbst weißt. Nun sage ich wiederum: Weh mir Mutter, weh mir Tochter! Warum hast du mich wie eine Waise zurückgelassen? Ich habe den Adel deiner Sitten geliebt, deine Weisheit und deine Keuschheit, deine Seele und dein ganzes Leben, so daß viele sagten: >Was tust du?< Nun sollen alle mit mir klagen, die Schmerz leiden gleich meinem Schmerz; die aus Gottes Liebe in ihrem Herzen und Gemüt Liebe zu einem Menschen trugen, wie ich sie zu dir gehabt - einem Menschen, der ihnen in einem Augenblick entrissen ward, so wie du mir entrissen worden bist. Gottes Engel schreite vor dir her, es schütze dich Gottes Sohn, und Seine Mutter behüte dich. Gedenke deiner armen Mutter Hildegard, auf daß dein Glück nicht dahinschwinde.« [48]
Schon ein Jahr nach ihrer Ankunft im Stift Bassum stirbt die Äbtissin Richardis im Jahr 1151 an einer schweren Krankheit. Hildegard und Richardis sollten sich nicht wiedertreffen. Erzbischof Hartwig teilt Hildegard brieflich den Tod seiner Schwester mit. Sie habe die Ehre, die er ihr verschafft habe, gering geschätzt und sich in ihrer Todesstunde weinend aus ganzem Herzen nach Hildegards Kloster zurückgesehnt und sich dem Herrn durch seine Mutter und den heiligen Johannes empfohlen. Hartwig bittet: »Du wollest sie lieben, so sehr, wie sie dich geliebt hat. Und scheint sie irgendwie gefehlt zu haben, so gedenke wenigstens - da dies nicht auf sie, sondern auf mich zurückzuführen war - ihrer Tränen, die sie über das Verlassen deines Klosters vergossen hat; dessen waren viele Zeugen. Und wenn der Tod sie nicht daran gehindert hätte, wäre sie nach der eben erhaltenen Erlaubnis zu dir zurückgekehrt.« [49]
Im Antwortbrief Hildegards, die zu dieser Zeit vierundfünfzig Jahre alt ist, findet sich kein Vorwurf wegen der familiären Machtpolitik Hartwigs, auch kein Ausdruck des Schmerzes, sondern gläubiges Vertrauen und liebevolle Erinnerung an Richardis, an ihre Schönheit, ihre Klugheit und ihre Frömmigkeit. »Gott hat mit solchem Eifer von ihrer Seele Besitz ergriffen, daß die Lust der Welt sie nicht zu umgarnen vermochte; sie kämpfte vielmehr ständig dagegen, obgleich sie wie eine Blume erschien in der Schönheit und Zier und Symphonie dieser Welt ... Und doch wollte die alte Schlange sie durch den hohen Adel ihres menschlichen Geschlechtes von dieser seligen Ehre abziehen. Da aber zog der höchste König diese meine Tochter an sich und schnitt allen menschlichen Ruhm von ihr ab. Darum hegt meine Seele großes Vertrauen zu ihr, obgleich die Welt ihre Schönheit und Klugheit liebte, als sie noch in der Welt lebte. Doch Gott liebte sie noch mehr. Darum wollte Er Seine Geliebte dem feindlichen Liebhaber, der Welt, nicht überlassen.«
Und Hildegard findet auf ihre eigene Art schöne und starke Worte für ihre Liebe: »Also geschah es mit meiner Tochter Richardis, die ich meine Tochter und zugleich meine Mutter nenne. Denn mein Herz war voll von Liebe zu ihr, weil das Lebendige Licht in einer starken Schau mich lehrte, sie zu lieben.« [50]
Minnedichtung im Beginenhof und in der höfischen
Gesellschaft des 13. Jahrhunderts
Für ihre mystischen Visionen und die Schönheit ihrer Dichtung, für die sie die Volkssprache gebraucht, nicht mehr wie Hildegard und die Nonnen des 12. Jahrhunderts das Lateinische, ist auch Hadewijch berühmt, eine flämische Begine. Von ihrem Leben wissen wir wenig; sie hat in einem Beginenhof in Brüssel oder Antwerpen gelebt, in einer jener freieren religiösen Frauengemeinschaften, in denen Frauen aus den bürgerlichen Schichten im 13. Jahrhundert ohne klösterliche Gelübde in apostolischer Armut und Frömmigkeit lebten, für ihren Lebensunterhalt gemeinsam arbeiteten und sich mit Krankenpflege und Mädchenbildung befaßten [51] . Hadewijchs großes Thema ist die »Minne«, die ebenso in der höfischen Dichtung ihrer Zeit verherrlicht wird. Gott wird von ihr in der erotischen Sprache der Brautmystik als Liebe erfahren in einer Beziehung, die der Liebe unter Menschen ähnlich ist. Nur durch die noch unvollkommene Erfahrung irdischer Liebe kann die Vereinigung mit dem himmlischen Liebhaber und Bräutigam erahnt werden. Es gilt, gemeinsam nach dieser Minne zu streben; dazu drängt Hadewijch ihre Freundinnen. Ihre Briefe offenbaren auch ihre menschlichen Liebesbeziehungen, oft schmerzliche Sehnsucht durch lange Trennung von Schwestern. Einer ihrer Briefe zeigt, wie die Macht der »Minne« in ihrem Leben, zugleich göttlich und tief menschlich, ihr auch Leid bringt in der Beziehung zu der »besonderen Freundin« Sara. Es wird deutlich, wie sehr diese Freundschaften in die größere Frauengemeinschaft eingebunden und keine isolierten Zweierbeziehungen sind, sondern ein Netzwerk geistlicher Frauenfreundschaften bilden. Geistliche Freundschaft sollte mit mehr als einer anderen unterhalten werden.»Grüß Sara auch von mir, ob ich ihr nun irgend etwas bedeute oder gar nichts. Könnte ich doch vollkommen alles sein, was ich in meiner Liebe für sie sein will, gern wäre ich es. Und ich werde es auch vollkommen sein, ganz gleich, wie sie mich behandelt. Sie hat meine Betrübnis ganz vergessen, aber ich will sie dafür nicht tadeln und ihr Vorwürfe machen. Ich sehe ja, daß die Liebe sie in Ruhe läßt und sie nicht ermahnt, obwohl die Liebe sie immer neu anfeuern sollte, sich ihrem edlen Geliebten (d. h. Christus) zu widmen. Jetzt, da sie eine andere Beschäftigung hat und ruhig meinen Kummer mit ansehen kann, läßt sie mich leiden. Und doch weiß sie genau, daß sie ein Trost für mich sein sollte, hier in diesem Leben in der Fremde und in dem anderen Leben in der Seligkeit. Dort wird sie mir wohl ein Trost sein aber hier läßt sie mich im Stich.
Und Emma und Du selbst, Ihr seid mir gleichermaßen lieb. Ihr könnt mehr von mir erhalten als alle Menschen auf der Welt - außer Sara! Aber Ihr beide wendet Euch viel zu wenig der Liebe zu, die mich so furchtbar in den Zustand unerfüllter Liebe geworfen hat. Mein Herz, meine Seele und meine Sinne lassen mir keinen Augenblick Ruhe, nicht bei Tag und nicht bei Nacht: die Flamme brennt ständig im Kern meiner Seele.« [52]
In diesem Brief läßt Hadewijch noch einer weiteren Schwester, Margriet, ausrichten, sie möge sich vor Stolz hüten, sich ganz Gott zuwenden und sich darauf vorbereiten, mit der Frauengemeinschaft zu leben. »Sie ist uns jetzt schon so nahe, ja wirklich sehr nahe, und wir sehnen uns so danach, daß sie bei uns bleibt.«
Mit der Erwähnung einer Predigt über Worte des heiligen Augustinus, die sie in gewaltige Flammen gesetzt hat, schließt Hadewijch ihren Brief enthusiastisch: »Liebe ist alles!«
Die Erfahrung gelebter Schwesterlichkeit in dem Zisterzienserinnenkloster Helfta bei Eisleben mag auch Mechthild von Hackeborn bewogen haben, Gottes Beziehung zu uns auch als »Schwester in der süßen Freundschaft« zu verstehen. Mechthild sagt, Gott werde in der Schöpfung als »Vater« erfahren, in der Erlösung als »Mutter« und im Teilen des Reiches Gottes als »Bruder« [53] .
Das Kloster Helfta, in dem Mechthild lebt, ist im 13. Jahrhundert berühmt als Zentrum mystischer Frömmigkeit. Mechthilds Schwester, Gertrud von Hackeborn, ist dort Äbtissin, Erzieherin von Gertrud der Großen; auch die als häresieverdächtig angefeindete Mystikerin und Begine Mechthild von Magdeburg, die in glühenden Visionen die Minne zwischen Gott und der Seele darstellt, findet schließlich dort Zuflucht [54] .
Während Nonnen und Beginen in der Brautmystik des 13. Jahrhunderts der Minne zum göttlichen Bräutigam - und zuweilen auch zu den Mitschwestern - dienen, pflegen adlige Frauen an den Höfen der Provence zwischen 1160 und 1230 die höfische Minnedichtung neben ihren berühmteren männlichen Kollegen, den Troubadouren. Unter den etwa einundzwanzig französischen Minnesängerinnen, »Trobairitz« genannt, richtet zumindest eine (mutmaßlich) ihre Verehrung an eine andere Frau, »die einzige lesbische Stimme im Mittelalter außerhalb des religiösen Lebens« [55]
Ein der Dichterin Bieris de Romans zugeschriebenes Liebesgedicht in provencalischer Sprache ist ihrer Dame Maria gewidmet und feiert sie wie die gesamte mittelalterliche Dichtung von Frauen an Frauen in der höfischen Tradition von Sehnsucht, Trennung und Hoffnung auf Vereinigung mit der Geliebten. Nach dem Preis der besonderen Vorzüge ihrer Dame wirbt Bieris um sie.
»So bitte ich dich,
wenn es dir gefällt,
daß wahre Liebe, Verehrung und süße Schlichtheit
mir solchen Trost von dir bringen könnte,
wenn es dir gefällt, liebste Frau,
dann gib mir, was am meisten Hoffnung
und Freude verspricht.
Denn in dir liegt mein Herzensverlangen,
von dir kommt all mein Glück.
Deinetwegen seufze ich oft.
Weil Verdienst und Schönheit
dich hoch über alle erheben,
- keine übertrifft dich -
bitte ich dich flehentlich
durch dies Lied, das dich ehrt:
schenk deine Liebe nicht
einem windigen Verehrer.
Liebste Frau, Anmut, edle Sprache
und dein Geist erheben dich,
für dich sind meine Verse.
Denn in dir sind Freude und Glück
und all die guten Dinge,
die eine von einer Frau
erbitten kann.«
Diese französische Minnesängerin konnte im höfischen eleganten Spiel ihre Liebe zu einer verehrten Frau frei und ohne Versteckspiel ausdrücken wie Ordensfrauen und Beginen, weil diese Frauen wahrscheinlich in ihrem Verhalten und in ihrem Erscheinungsbild der jeweils geforderten weiblichen Rolle entsprachen. Solange Frauen nicht versuchten, in ihrem Aussehen, in Kleidung, Haartracht und in ihrem Auftreten Männer nachzuahmen und dadurch Privilegien in Frage zu stellen, schien man ihnen und ihren Freundschaften wenig Aufmerksamkeit zu schenken. Die Zeiten verschlechterten sich jedoch für Frauen gegen Ende des 13. Jahrhunderts. Dies kann beispielhaft am Schicksal der Beginen abgelesen werden. Die Beginenbewegung, eine echte Frauenbewegung, breitete sich im 13. Jahrhundert mit unglaublicher Schnelligkeit über alle Städte Europas aus. Da die Beginen nicht nach kirchlicher Erlaubnis fragten und als »allein« lebende Frauen ohne Gelübde, ohne Ehe jeglicher Kontrolle entzogen waren, stellte ihre Unabhängigkeit eine Bedrohung für die Hierarchie dar. Bischöfe stellten fest, daß Frauen Beginen wurden, um dem Gehorsam gegenüber den Priestern und dem Zwang ehelicher Bande zu entgehen. Die Freiheit und die Unabhängigkeit, die Beginen genossen, wurden als unmoralisch mißbilligt, ihre theologischen Diskussionen für häretisch erklärt. 1311 verurteilte ein Konzil die Lebensweise der Beginen. Viele Beginenhöfe wurden aufgelöst.
Geistliche Freundschaft bei Teresa von Avila
Auch für Ordensfrauen und Mystikerinnen im späten Mittelalter hat die »Freundschaft der Seelen« und ihre Vereinigung eine tiefe Bedeutung; Frauenklöster sind Gemeinschaften geistlicher Freundinnen. Katharina von Siena (14. Jh.), Teresa von Avila und Juana Inez de la Cruz nennt Janice Raymond als einige der hervorragenden Frauen, in deren mystischem Werk, in deren Dichtung und Theologie diese Freundschaft gefunden werden kann [56] .
Die heilige Teresa von Avila (1515-1582), »Kirchenlehrerin«, lebt zu einer Zeit, in der in Mitteleuropa Glaubenskämpfe stattfinden - Reformation und Gegenreformation - und in der Frauen, die Frauen lieben, als Hexen verbrannt werden. Aber in Spanien dauert das Mittelalter länger: Teresas Reform entspricht dem Geist früherer mittelalterlicher Reformen verweltlichter Orden. »Unter heftigem Widerstand von Welt-, Ordensklerus und Laienkreisen führte sie den Karmelitenorden zur ursprünglichen Strenge der vollkommenen Armut zurück, gründete achtzehn Frauen- und fünfzehn Männerklöster. Sie gilt als die größte Mystikerin der Kirche. Mit ihrem mystischen Leben verband sie ein apostolisch karitatives Wirken. Ihre Schriften zählen zu den klassischen Werken der spanischen Literatur.« [57]
Teresas Name war in Spanien mit Sappho verbunden, wie Vita Sackville-West in ihrem Buch über Teresa sagt [58] Sie habe in ihrer Lebensbeschreibung ihre leidenschaftliche Liebe zu einer Kusine und einer anderen Freundin angedeutet, die »dem gleichen Zeitvertreib« ergeben waren. Trotz der Mißbilligung ihrer Eltern habe Teresa sich an dem Zusammensein mit ihrer Kusine erfreut. Es sei schwierig zu sagen, was unter den Mädchen geschehen ist, doch Teresa gebraucht im Rückblick dafür starke Worte: »Todsünde« und »blind vor Leidenschaft«. Vermutlich hat dieses Jugenderlebnis ihre späteren Mahnungen über die Gefährdungen geistlicher Freundschaft beeinflußt.
Im 16. Jahrhundert ist der unbefangene und sinnliche Umgang mit Freundschaft, der uns bei den Ordensleuten des 12. Jahrhunderts anspricht, deutlich einer ambivalenten Haltung gewichen. Einerseits rät Teresa ihren Nonnen, von Beginn einer Freundschaft an auf der Hut zu sein; sie sollten sorgsam damit umgehen und die Ordensregel einhalten, um sich nicht von ihrer Zuneigung besiegen zu lassen. Andererseits beschreibt sie ihre Vision geistlicher Freundschaft mit Wärme und Anteilnahme: »Es ist seltsam zu sehen, wie leidenschaftlich diese Liebe ist, wie viele Tränen, Bußen und Gebete sie kostet! Wie sorgsam ist die liebende Seele bemüht, die Geliebte allen zu empfehlen, die Ansehen haben bei Gott, und darum zu bitten, für sie einzutreten. Wie ausdauernd ist ihre Sehnsucht, so daß sie nicht glücklich sein kann, bevor sie sieht, daß die geliebte Seele Fortschritte macht. Wenn diese Seele vorangeschritten ist und zurückzufallen droht, dann scheint ihre Freundin überhaupt keine Freude mehr am Leben zu haben: Sie ißt nicht mehr und schläft nicht mehr. Sie ist immer voll Angst, daß die Seele, die sie so sehr liebt, verloren gehen könnte und daß die beiden für immer getrennt würden.« [59]
Janice Raymond, die selbst zwölf Jahre in einem Orden verbrachte, merkt dazu an, der christliche Glaube habe Nonnen darin bestärkt, daß das, was sie so leidenschaftlich in der anderen liebten, die Seele sei. Darum sei auch das Geschlecht der »geliebten Seele« nicht von Bedeutung, sondern die Vereinigung der Seelen. Da geistliche Freundschaften oft dazu neigen, andere auszuschließen und die Gemeinschaft zu stören, beurteilt Teresa sie als Ordensreformerin doch recht skeptisch. Ihre Worte zeugen von Erfahrung: »Ein Ergebnis dieser Freundschaften ist es, daß die Nonnen sich untereinander nicht gleichmäßig lieben. Irgendein Unrecht, das einer Freundin angetan wurde, wird anderen nachgetragen. Eine Nonne möchte einer Freundin unbedingt etwas geben und versucht ständig, Zeit dafür zu finden, um mit ihr zu sprechen. Oft genug ist ihr Ziel dabei nichts anderes, als ihr zu sagen, wie sehr sie sie liebt und andere unwesentliche Dinge, viel mehr, als darüber zu reden, wie sehr sie Gott liebt. Diese intimen Freundschaften sind selten dazu angetan, zur Liebe Gottes zu führen. Ich bin mehr geneigt zu glauben, daß der Teufel sie begonnen hat, um für Spaltungen in den Ordensgemeinschaften zu sorgen.« [60]
Das Kloster als alternative Lebensform für Frauen im Mittelalter
Kein Zweifel! Es gab im europäischen Mittelalter leidenschaftliche Liebe zwischen Frauen. Wir besitzen zwar nur wenige literarische Zeugnisse davon - aber haben wir nicht erwartet, es gäbe gar keine? Sie stammen meist aus religiösen Frauengemeinschaften; andere frauenliebende Frauen konnten damals kaum schriftliche Aufzeichnungen hinterlassen. Klösterliches Leben bot, trotz mancher Einschränkung der individuellen Freiheit, Frauen einen Freiraum mit vielfältigen Bildungsangeboten und Muße zu geistiger, künstlerischer und handwerklicher Tätigkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur gingen im Mittelalter von den Klöstern aus. In den Bibliotheken, Schreibstuben und Werkstätten von Frauenklöstern wurde ein wichtiger Beitrag zur Kultur der Zeit erbracht. Die Dichterinnen und Künstlerinnen des Mittelalters und viele hochgebildete Frauen lebten in klösterlichen Gemeinschaften von Gleichen. Ihre Freundschaften konnten vergeistigt sein wie die Hildegards, aber doch voll Wärme und Tiefe des Empfindens. Andere Freundschaften schlossen auch intensive erotische und sinnliche Komponenten ein, die zuweilen so weit gingen, daß Fasten und Büßen angesagt war.
Den Vorschwestern, die dem Zwang zur Ehe und der Unterordnung gegenüber einem Eheherrn entgehen wollten, bot sich im klösterlichen Leben in einer Zeit der zahlenmäßigen Überlegenheit von Frauen eine alternative Lebensform zur herkömmlichen Frauenrolle. Eheloses Leben bedeutete nicht den Verzicht auf Liebe und Freundschaft; es bedeutete auch nicht unbedingt den Verzicht auf jede sexuelle Erfahrung. Klöster waren nicht die »Versorgungsanstalten für Sitzengebliebene« [61] , wie männliche Bosheit sie sah, aber auch selbst im späten Mittelalter nicht die dekadenten Bordelle, die Erasmus und die Reformatoren karikierten. Vielmehr fanden Frauen dort Entfaltungsmöglichkeiten für intellektuelle und künstlerische Interessen, die sie im »normalen« Frauenleben nicht entwickeln konnten.
Die Errungenschaften der Reformation, die als Befreiung von den Zwängen des Zölibats gedacht waren, haben paradoxerweise durch die Abschaffung der Klöster und durch den verstärkten Druck auf das Eingehen einer patriarchalischen Ehe eine tiefgreifende Einschränkung weiblicher Lebenswahlmöglichkeiten gebracht. Nichts griffen die Reformatoren so heftig an wie den Status religiös gelobter »Jungfräulichkeit«, auf den sie die moralische Verkommenheit von Nonnen und Mönchen zurückführten. Nonnen wollten sich nur den natürlichen Pflichten von Ehe und Mutterschaft entziehen, um ein loses, unmoralisches Leben zu führen. Die Berufung der Frau sollte fortan im Heim als Ehefrau und Familienmutter liegen. »Die neue Kirche der Reformatoren predigte den regelrechten Ehezwang; jede Frau sollte heiraten und damit einen - irdischen - Herrn über sich akzeptieren. Keine Nonnen, keine Huren mehr. Ob Calvin in Genf, Luther in Wittenberg oder Zwingli in Zürich, alle formulierten sie die gottgewollte Unterordnung der Frau in Anlehnung an Paulus.« [62]
Mit dem Nein zum ehelosen Leben und der Forderung nach Eheschließung und Mutterschaft für alle Frauen festigten die Reformatoren die Heterosexualität und die bürgerliche Ehe unter der Vorherrschaft des Mannes als die Eckpfeiler der patriarchalischen Gesellschaft. Erschwerend kam noch hinzu, daß unter dem Druck männlicher Konkurrenz in den wirtschaftlichen Notzeiten des ausgehenden Mittelalters Frauen fast vollständig aus dem Erwerbsleben vertrieben wurden und ihnen durch den Ausschluß von den Universitäten die Teilnahme am geistigen Leben verwehrt wurde. Während Männern im Zeitalter des Humanismus alle Möglichkeiten offen standen, wurden Frauen mehr und mehr in eine häusliche Ehefrauen- und Mutterrolle gedrängt, die sie rechtlich, wirtschaftlich und sexuell völlig von ihren Ehemännern abhängig machte. »Und das Problem der alleinstehenden Frauen? Die Unverheirateten waren willkommene und billige Helferinnen in verwandten Familien, die Vorzugsstellung der Nonne, die unbelastet von Gehorsams- und Gebärpflichten war und die Chance hatte, sich persönlich zu entfalten, sich zu bilden und innerhalb der Klostergemeinschaft politisch zu führen, war im protestantischen Raum gestorben. Den Zugang zur Bildung haben die Reformatoren den Frauen eher verwehrt, jenen zur Bibel gefördert ... Als einzige außerhäusliche Beschäftigung wurde die Armen- und Krankenpflege, das Amt der Diakonisse toleriert. Die Ehe, das Dogma der Reformation, triumphiert bis heute über die alleinstehenden Frauen; die Frauen waren ganz unter die Kontrolle des Herrn im doppelten Sinne geraten.« [63]
Die Ehe galt auch als das Heilmittel gegen sexuelle Ausschweifungen von Mönchen und gegen homosexuelle Beziehungen unter ihnen: »Die Bornquelle aller Hurerei und Unzucht im Papsttum ist«, sprach D. M. L. (d. h. Doctor Martin Luther), »daß sie die Ehe, den allerheiligsten Stand, verdammen. Denn Alle, die den Ehestand verachten, müssen in schändliche, gräuliche Unzucht fallen, auch also, >daß sie den natürlichen Brauch verwandeln in den unnatürlichen Brauch<, wie S. Paulus sagt zu Rom. I, weil sie verachten Gottes Ordnung und Creatur, das ist, das Weib. Denn Gott hat das Weib geschaffen, daß es soll bey dem Manne seyn, Kinder gebären und Haushaltung verwalten.« [64]
Im Gegensatz zu Paulus hat Luther bei dieser Bemerkung aus seinen Tischreden Beziehungen unter Frauen gar nicht im Blick (denn frauenliebende Frauen verachten gerade nicht »Gottes Creatur, das Weib« - sie werten es höher als Männer). Aus männlicher Sicht sieht Luther Frauen nur als potentielle Ehefrauen, Mütter und Hausfrauen.
Mit lesbischen Nonnen befaßt sich dagegen der Humanist Erasmus von Rotterdam (1466-1536), ein antiklerikaler Kritiker, der in seinen Schriften scharf gegen unabhängige, unverheiratete Frauen wettert und den »losen Lebenswandel« von Nonnen verspottet. Erasmus selbst ist nach einer lieblosen, harten Kindheit ins Kloster gezwungen worden und war »zeitlebens ein schwaches, schüchternes Männlein« [65] . In dem Dialog »Das Mädchen ohne Interesse an der Ehe« will ein Verehrer Katharina davon abhalten, in ein Kloster zu gehen. Er argumentiert, es sei nicht alles so jungfräulich unter diesen Jungfrauen. - Wie denn das? - Weil da viele seien, die eher Sapphos Verhalten nachahmten, als daß sie ihre Talente teilten[66]!
Vom Zwangszölibat zum Ehezwang
Kirche und Gesellschaft waren im 16. Jahrhundert noch nicht fähig und bereit, einzelnen Wahlmöglichkeiten zu geben und in Sachen des Glaubens und der Lebensform eine freie Entscheidung zu lassen. Um so weniger konnte dies Frauen zugestanden werden. An der Verfolgung der Beginen im 14. Jahrhundert ist bereits zu erkennen, wie sehr die »Jungfräulichkeit« und das »Alleinleben« vieler Frauen den Keim zu Autonomie und Widerstandsgeist in sich trägt. Weil diese freieren Frauengemeinschaften von der Hierarchie, das heißt der »Heiligen Herrschaft« von Männern, als gegen die Ordnung, als freizügig, unabhängig und häretisch gefürchtet wurden, mußten sie gewaltsam ausgerottet werden: Beginen wurden zu Hunderten von der Inquisition verurteilt und verbrannt, der Besitz der »Ketzerinnen« enteignet und beschlagnahmt [67] .
Die alte Männerkirche hatte oft Konflikte und Kämpfe mit widerborstigen Frauenklöstern und starken Äbtissinnen auszufechten, die neue machte mit der Ehelosigkeit und dem »Weiberregiment« (Luther) endgültig Schluß. Für manche Nonnen wie für Florentina, die als Mädchen gegen das ihr aufgezwungene Klosterleben protestierte und sich an Luther um Hilfe wandte, mag die Auflösung der Orden eine Befreiung gewesen sein [68] . Für andere bedeutete die Abschaffung der Klöster erneuten Zwang und Unterdrückung. »Die reformatorische Eroberung der Frauenklöster war verbunden mit roher Gewalt, mit wirtschaftlichen Sanktionen, mit psychischem Terror, mit Strafe nach sich ziehenden Geboten der Obrigkeit und mit Sprüchen aus dem Evangelium.« [69]
Frauenklöster, die ihre vertraute Lebensweise und den alten Glauben nicht aufgeben wollten, wurden zu ihrer »Befreiung« und zum »Eheglück« gezwungen, indem man starrsinnige Nonnen vergewaltigte und ihre Klöster ausplünderte und anzündete. Dies ist nachzulesen in der Denkschrift der Priorin Anna Stehelin, in der sie die Wirren von 1529 bis 1532 um Auflösung und Fortbestand ihres Dominikanerinnenklosters St. Katharinental bei Schaffhausen dokumentiert.
Auch die Memoiren der Äbtissin Charitas Pirckheimer von Nürnberg (bis 1528) bezeugen den erfolgreichen Widerstand von Charitas und ihren Nonnen gegen wiederholte Versuche, ihre Klostergemeinschaft durch Gewalttätigkeiten, Entführung von jungen Nonnen und sexuelle Angriffe aufzulösen. In einer Eingabe an den Rat der Stadt wendet sich die Äbtissin gegen Vorwürfe der Unmoral, die verleumderisch gegen ihr Kloster erhoben worden seien, und erklärt, sie verachte keineswegs den Ehestand und halte auch keine ihrer Nonnen mit Gewalt zurück. »Aber wie wir niemand zwingen, so wollen auch wir nicht gezwungen werden. Wir wollen vielmehr frei bleiben im Geist wie im Körper.« [70]