Wir leben seit bald vierzig Jahren zusammen, haben gemeinsam eine Wohngemeinschaft von Studentinnen geleitet und dann mehr als zwanzig Jahre lang in einer Evangelischen Akademie zusammen gearbeitet. Jetzt, in unserem Ruhestand (dies Wort paßt schlecht zu uns), leben wir mit einer dritten, viel jüngeren Frau zusammen, mit der wir auch schon fünfundzwanzig Jahre lang befreundet sind. Auch heute noch können wir sagen, daß die Kraft unserer Beziehung(en) ein (oder der?) tragender Grund unseres Lebens ist. Immer weniger begreifen wir, warum unsere Gesellschaft und unsere Kirchen Ehe und Familie als die einzige von Gott gegebene und gewollte verpflichtende Gemeinschaft ansehen. Unser gemeinsames Leben zu zweit und zu dritt betrachten wir nicht als Ersatz für Ehe und Familie, sondern als eine eigenständige und in einer patriarchalen Welt und Kirche wesentliche und wichtige Lebensform.
Für uns selbst ist sie immer wieder neu spannend; sie nötigt uns, beweglich zu bleiben, auf nicht festgelegte Rollen einzugehen und neuen Erwartungen standzuhalten. Es ist uns bewußt, daß unsere gemeinsame Existenz viele Fragen provoziert, aber wir sind nur sehr bedingt bereit, detailliert darauf zu antworten. Die Tatsache, daß wir als Frauen zusammenleben, daß wir uns für diesen Weg entschieden haben und dazu auch stehen, daß wir uns gemeinsam und jede für sich für die Anliegen von Frauen einsetzen, scheint uns genug, Das ist bereits eine »politische« Aussage im Sinne einer Herausforderung an eine rein familienbezogene Umwelt. Wie wir unser persönliches Leben im einzelnen gestalten, ist kein Thema für die Öffentlichkeit. Hier denken wir manchmal: Wird heute nicht zu vieles in vermeintlicher Wahrhaftigkeit an die Öffentlichkeit gezerrt? Damit sind wir bei unserer Schwierigkeit, ein Geleitwort für dieses Buch zu schreiben.
Um das zu erklären, müssen wir ein wenig in unsere Geschichte zurückblenden. Wir, Marga Bührig und Else Kähler, wurden im Jahre 1959 gemeinsam in die Arbeit der Evangelischen Akademie für den Kanton Zürich berufen. Vorangegangen war unsere gemeinsame Arbeit im Studentinnenhaus, aber auch gemeinsame theologische Arbeit, ein wachsendes Engagement in der evangelischen Frauenarbeit (Else Kählers Dissertation »Die Stellung der Frau in den Briefen des Apostels Paulus«), die ständige Mitarbeit im Bayerischen Mütterdienst und die Anfrage von dort, doch ganz nach Nürnberg überzusiedeln. Frauen und Männer in der Schweiz, die uns kannten, starteten eine Gegenaktion.
So kam es zu der oben erwähnten Berufung. Im Laufe des Gesprächs tauchte dabei die an und für sich verständliche, den »normalen« Arbeits- und Lebensbeziehungen durchaus entsprechende Frage auf: Könnte nicht Else Kähler nach Deutschland gehen und Marga Bührig in der Schweiz bleiben? Uns kam dieser Vorschlag absurd vor, denn für uns stand fest, daß wir zusammenbleiben wollten. Ohne lange zu überlegen, sagten wir also: »Entweder beide oder keine.«
Die sehr männlich geprägte und auch fast ausschließlich aus Männern bestehende Wahlbehörde blieb daraufhin bei der Berufung von uns beiden. Was sie dabei dachten, wußten wir nicht. Es interessierte uns im Grunde genommen auch nicht. Nachdem wir in der Akademie (auf Boldern) während zehn Jahren unter anderem Tagungen mit »homosexuellen Männern und Frauen« - mehr Männern als Frauen - veranstaltet haben, nachdem wir 1980 einen Studienurlaub in Berkeley/Kalifornien verbracht und viele Frauen kennengelernt haben, die sich als »lesbian« bezeichnen, und nachdem wir die Lebensberichte in diesem Buch gelesen haben, fragen wir uns, ob das, was wir 1959 erlebt haben, heute noch möglich wäre, und wir neigen zu einem Nein. Heute würde unvermeidlich die Frage gestellt, offen oder hintenherum: »Sind die nicht lesbisch?«, und heute wäre vermutlich die Unbefangenheit (oder sollen wir sagen: die Naivität), mit der wir damals »entweder beide oder keine« gesagt haben, nicht mehr möglich. Wie würden wir heute antworten? Würden wir sagen: »Ja, wir sind lesbisch«? Wir glauben das nicht, und hier liegt wiederum unsere Schwierigkeit mit diesem Vorwort.
Für uns sind die Wörter »lesbisch« und »Lesbe«, jedenfalls im deutschen Sprachbereich, viel zu stark von Begriffen wie »Andersartigkeit« oder gar »Abartigkeit« gefärbt, und beides wird zentral auf Sexualität bezogen. Da liegen für uns die Grenzen dieser Bezeichnungen. Wir haben uns immer als »normale« Frauen verstanden, die durch ihre Lebensgeschichte zu diese Lebensform geführt wurden, die wir nicht gesucht hatten. Uns in ein bestimmtes Schema pressen zu lassen, uns in eine von bestimmten Vorstellungen und Erwartungen fixierte »Minderheit« einordnen zu lassen, hat für uns nie gestimmt und stimmt auch heute nicht. Trotz der wachsenden Solidarisierung mit jüngeren Frauen, die sich selbst als Lesben bezeichnen, können wir auch heute diese Bezeichnung für uns selbst nicht gebrauchen. Sie ist uns zu eng und zu sehr belastet, sie ist mißverständlich. Natürlich wissen wir, daß sie von anderen in bezug auf uns gebraucht wird, und wir tun nichts dazu, das abzuwehren. Es ist uns klar, daß wir uns von denen, die dieses Buch herausgeben, fragen lassen müssen: Ist das nicht Feigheit? Wir glauben das eigentlich nicht, wir denken eher, hier bestehe ein Unterschied zwischen den Generationen.
Eins aber verstehen wir gut, gerade auch in den Lebensberichten auf den folgenden Seiten, nämlich die Not mit und die Angst vor einer weitgehend verständnislosen Kirche. Gemeint ist die Institution, nicht die Kirche als Gemeinschaft von Menschen, die gemeinsam unterwegs sind, herausgerufen aus alten Bindungen und einem engen Rollenverständnis, unterwegs zu einem Miteinander, in dem die Verschiedenheiten zwar nicht eingeebnet, aber nicht mehr mit Macht gekoppelt sind. Weil wir wissen, wie weit wir davon noch entfernt sind, schreiben wir dieses Vorwort. Denen, die jünger sind als wir, wünschen wir, daß sie mit einer neuen Form von Unbefangenheit zu ihren Beziehungen stehen können. Wir wünschen ihnen die innere und äußere Freiheit, in selbstgestalteten, vielfältigen Beziehungen zu leben. Wir Frauen brauchen heute noch viel zuviel Kraft, um eigene Wege gehen zu lernen. Wir und die Welt könnten diese Kräfte für Besseres als für Schuldgefühle, Schleichwege, Selbstzerfleischung und Bekenntniszwang brauchen.
In Amerika gibt es eine starke Bewegung von Frauen, lesbischen und »Hetero«Frauen, die kühn von sich sagen: »Wir sind Kirche. «
Wir brauchen nicht darauf zu warten, daß uns diejenigen, die heute das Sagen in den Kirchen haben (und das sind mehrheitlich Männer), uns das bestätigen. Wir sind Kirche. In dieser Kirche wollen wir nicht nur die Erfahrungen von Unterdrückung und Diskriminierung miteinander teilen, sondern auch die von Stärke, von »power« und Freude. Wir wollen leben als die, die wir sind. Wenn wir das gemeinsam, solidarisch tun, wird es hoffentlich einmal kein schmerz- und krampfhaftes »coming-out« mehr brauchen, kein Bekenntnis: »Ja, ich bin eine lesbische Frau, ich bin eine Frau, für die die Beziehung zu Frauen an erster Stelle steht.« Lesben sollten sich nicht verteidigen müssen, ihr Leben in Freiheit sollte für sich selbst sprechen dürfen.
Wir sind überzeugt, daß dieses Buch ein wesentlicher Schritt auf dem Wege dorthin ist. Es kann dazu beitragen, den Worten »Frauenliebe« und »Lesbe« etwas von ihrem Schrecken zu nehmen. Wir wünschen denen, die das Jahr 2025 noch erleben werden (vergleiche den Schluß dieses Buches), daß sie dann wirklich in einer Gemeinschaft der Liebe und der Gegenseitigkeit leben können, und für den Weg viel Mut und Freude am Leben.
Marga Bührig und Else Kähler