Das Heldenlied von Prudence Crandalls Schule war Teil einer Woge des Aufruhrs gegen die Sklaverei. 1831 hatte der Sklave Nat Turner in Virginia eine Sklavenrevolte angeführt, die eine Welle von Repressionsmaßnahmen im ganzen Süden nach sich zog. Im selben Jahr gründete William Lloyd Garrison in Boston sein abolitionistisches Wochenblatt The Liberator mit den kompromißlosen Eröffnungsworten: »Ich werde unmißverständlich sprechen, ich werde mich nicht entschuldigen, ich werde keinen Zentimeter zurückweichen - und ich werde gehört werden!« Die ersten Gesellschaften gegen die Sklaverei bildeten sich, und die »Untergrundbahn« (Underground Railway), jenes weitverzweigte Netz versierter »Reiseleiter« und geheimer »Bahnhöfe«, das entflohenen Sklaven in befreites Gebiet verhalf, machte sich einen Namen und kam in Fahrt.
Tausende Männer und Frauen wurden in die Arbeit einbezogen. Unter diesen Frauen befanden sich die ersten bewußten Feministinnen, die hier in die Schule des Kampfes für die Befreiung der Sklaven gingen und in dessen Verlauf ihren eigenen Kampf für die Gleichheit eröffnen sollten. Die aboli-tionistische Bewegung war der erste Ort, wo Frauen lernten, sich zu organisieren, öffentliche Versammlungen abzuhalten, Petitionskampagnen durchzuführen. Als Abolitionistinnen eroberten sie sich das Recht, öffentliche Reden zu halten, und begannen, systematische Gedanken über ihren eigenen Platz in der Gesellschaft und ihre eigenen Grundrechte zu entwickeln. Ein Vierteljahrhundert lang gaben sich beide Bewegungen, die für die Befreiung der Sklaven und die für die Befreiung der Frauen, gegenseitig Nahrung und Kraft.
Die frühesten Keimformen von Frauenorganisationen waren die kirchlichen Nähkreise gewesen, die initiiert wurden, um Geld für missionarische und wohltätige Zwecke zu sammeln. Elizabeth Buffum Chace berichtete, daß die Gesellschaft zur Förderung der Frauenbildung (Female Improvement Society) von Smithfield (Rhode Island) sich in den 1820er Jahren jede Woche traf, um »nützliche Bücher« laut vorzulesen und eigene Werke der Teilnehmerinnen anzuhören.[1] Später gingen die Frauen weiter; Lucy Stone schrieb 1840 an ihren Bruder: »Neulich ist in unserer literarischen Gesellschaft beschlossen worden, die Frauen sollten sich in die Politik einmischen, zum Kongreß gehen usw. usw. Was hältst Du davon?«[2]
Freie Negerinnen im Norden und Westen, die sich nach außen hin zu ähnlichen Zwecken trafen, hatten nebenbei noch andere Gründe. Es gab in den 30er Jahren in Philadelphia, Boston, New York und anderen Städten des Ostens literarische Gesellschaften von farbigen Frauen, aber der starke Antrieb, Bildung für ihre Kinder durchzusetzen, führte auch zur Gründung solcher Organisationen wie der Ladies Education Society in Ohio, »die zur Einrichtung von Schulen für Farbige zu jener Zeit vermutlich mehr beitrug als irgendeine andere organisierte Gruppe.«[3]
Als sich 1833 in Philadelphia die führenden Abolitionisten zur Gründung der Amerikanischen Antisklaverei-Gesellschaft (American Anti-Slavery Society) versammelten, durften ein paar Frauen dabeisein und sogar vom Zuhörerraum aus sprechen, aber der Gesellschaft beitreten oder ihre Grundsatzerklärung unterzeichnen durften sie nicht. Als sich die Versammlung vertagte, trafen sich etwa zwanzig Frauen, um ihre eigene Organisation zu gründen, die Philadelphia Female Anti-Slavery Society. Sie waren zwar kühn, hielten sich aber noch an die Gepflogenheiten. Für ihre ersten Schritte auf so unbekannten Pfaden baten sie einen freien Neger, den Vorsitz über ihre erste Versammlung zu übernehmen. Innerhalb weniger Jahre organisierten sich in New York, Boston und vielen anderen Städten Neuenglands immer mehr Frauen mit denselben Zielen, und 1837 konnte sich in New York die erste National Female Anti-Slavery Society mit einundachtzig Delegierten aus zwölf Bundesstaaten versammeln. Weit davon entfernt, für den Vorsitz die Hilfe eines Mannes anzunehmen, ließ eine der Delegierten den Abolitionisten Theodore Weld wissen:
»Sagen Sie Mr. Weld,... daß die Frauen, als sie sich trafen, festgestellt haben, daß sie selber Köpfe hatten und ihre Angelegenheiten ohne seine Führung abwickeln konnten. Die Frauen aus Boston und Philadelphia waren in diesen Dingen selber so versiert, daß die Vorstellung, einen Mr. Weld als Autorität dafür vor die Nase gesetzt zu bekommen, was wie und wie nicht zu tun sei, sie tödlich beleidigt hat.«[4]
Von Anfang an bewiesen die Frauen großen Mut; da sie altehrwürdige Konventionen über Bord warfen, erregten sie die besondere Wut der Verfechter der Sklaverei, von denen es auch im Norden viele gab, und gewaltsame Ausschreitungen des Mobs waren nichts Ungewöhnliches. 1835 stürmte dieser Mob ein Gebäude in Boston, wo Garrison vor der dortigen Female Anti-Slavery Society eine Rede halten sollte, und raste die Treppe hinauf zur Tür des Raums, in dem die Frauen sich versammelt hatten. Garrison wurde durch eine Hintertür gezerrt (und später an einem Seil durch die Straßen geschleift), und der Bürgermeister kam persönlich und bat die Frauen inständig, den Raum zu verlassen, um Handgreiflichkeiten zu vermeiden. Angeführt von Maria Weston Chapman nahm jede weiße Lady eine farbige »Schwester« bei der Hand, und so gingen sie zu zweit ruhig die Treppe hinunter und aus dem Gebäude, »die baumwollen behandschuhten Hände haltend und die Augen eifrig damit beschäftigt, die ehrbaren Anführer des Mobs zu identifizieren.«[5]
Selbst kleine Versammlungen in Privathäusern wurden davon nicht verschont. Bei einer solchen Gelegenheit hatten die Frauen erfahren, daß Gewaltakte geplant waren, und Mrs. Chapman persönlich warnte alle Mitglieder der Gesellschaft vor der drohenden Gefahr:
»Sie besuchte auch eine Handwerkersfrau, die, als Mrs. Chapman eintrat, gerade das eine ihrer beiden Zimmer fegte. Als sie erfuhr, daß es aller Wahrscheinlichkeit nach zu Gewalttätigkeiten kommen würde und daß sie gewarnt wurde, damit sie fernbleiben könne, wenn sie das für richtiger hielte, lehnte sie sich auf ihren Besen und überlegte eine Weile. Ihre Antwort war dann: >lch habe mir oft gewünscht und darum gebeten, daß ich etwas für die Sklaven tun könnte, und mir scheint, dies ist genau der Moment und genau der Weg. Sie werden mich bei der Versammlung sehen und bis dahin werde ich bei meiner Arbeit inständig beten.<«[6]
Nach einer anderen Versammlung schrieb die englische Schriftstellerin Harriet Martineau: »Ich legte gerade oben mein Tuch um, als Mrs. Chapman mit dem Hut in der Hand zu mir kam und sagte, >Sie wissen, wir werden heute wieder vom Mob bedroht, aber ich selber lasse mich davon nicht sehr beeindrucken. Es darf uns nicht überraschen, aber meine Hoffnungen sind stärker als meine Furcht...<.«[7]
Die Frauen, die an den Aktivitäten der »Untergrundbahn« beteiligt waren, gingen durch die allerhärteste Schule. Sie mußten zu jeder Stunde, oft mitten in der Nacht, daraufgefaßt sein, Flüchtlinge in ihre Wohnung aufzunehmen, sie mit Essen und Pflege zu versorgen, sie in einem Keller oder in einer Dachstube oder in einem Geheimzimmer versteckt zu halten, während ein Trupp des Sheriffs draußen an die Tür hämmerte oder sogar das Haus durchsuchte. Wenn Ehemann oder Vater nicht da waren und akute Gefahr bestand, stiegen sie auch selbst auf den Fahrersitz und fuhren einen Wagen voll »Fracht« zu einem sicheren Bahnhof der Linie mit der Endstation Freiheit. Deshalb überrascht es nicht, daß so viele Abolitionistinnen für größere Rechte der Frauen aktiv wurden. Pionierinnen waren die Schwestern Grimke, die als erste für das Recht kämpften - und es auch durchsetzten -, öffentlich vor jeder Art von Publikum zu sprechen, und die damit den Weg ebneten für die lange Reihe berühmter Rednerinnen in der Antisklaverei-Sache: Lucy Stone, Lucretia Mott, Abby Kelley Foster, Frances Harper, Ernestine Rose, Sojourner Truth, Susan Anthony und viele andere. Seit den Tagen Anne Hutchinsons hatten die Frauen in der Öffentlichkeit geschwiegen. Von den größeren religiösen Sekten räumten allein die Quäker Frauen eine Stimme in kirchlichen Angelegenheiten ein, ließen sie in der Gemeindeversammlung reden und ernannten sie zu Geistlichen. Die anderen protestantischen Kirchen hielten es noch immer mit der Lehre des heiligen Paulus, die auch gegen Anne Hutchinson aufgeboten worden war: »Ein Weib lerne in der Stille mit aller Untertänigkeit. Einem Weibe aber gestatte ich nicht, daß sie lehre, auch nicht, daß sie des Mannes Herr sei, sondern stille sei.« Und weiter: »...lasset eure Weiber schweigen in der Gemeinde, denn es soll ihnen nicht zugelassen werden, daß sie reden.«[8] Die Kirchen folgten damit lediglich dem herrschenden Gesellschaftsmuster, das verfügte, das Reden von Frauen in der Öffentlichkeit sei unziemlich. Nur die kleineren Sekten gestatteten Frauen eine aktive Rolle, und dafür mußten diese herausragende Fähigkeiten nachweisen.[9]
Die erste Frau, die diese Mauer des Schweigens durchbrach, war Frances Wright, deren kometenhafte Karriere als Vortragsreisende während der Jahre 1828 und 1829 trotz großen Erfolgs auch immer mit einem zweifelhaften Ruf behaftet blieb. Sie war nicht unmittelbar Wegbereiterin für andere Frauen, denn sie trat zu früh - wenn auch nur um ein paar Jahre - auf die Bühne und verließ sie allzu schnell wieder.
Einen anderen kurzlebigen Versuch unternahm eine schwarze Frau, Maria W. Stewart, die zwischen 1831 und 1833 einige Male in Boston sprach. Ohne Bildung aber tief religiös, war sie erklärte Abolitionistin und drängte eifrig auf bessere Bildungschancen für Mädchen.[10] Ihre Bemühungen, von der Rednertribüne aus ihr Volk zur Erneuerung zu führen, wurden allerdings nicht freundlich aufgenommen. In einer Abschiedsansprache an ihre Bostoner Freunde gab sie sich geschlagen: »Ich finde, es hat keinen Zweck für mich als Individuum, weiterhin zu versuchen, den Leuten meiner Hautfarbe in dieser Stadt nützlich sein zu wollen... Ich habe mich in den Augen vieler verächtlich gemacht.«[11]
Mrs. Stewart rief ihre Zuhörer bei ihren Ansprachen nicht nur zu rechtschaffenerem Leben auf, sondern trat auch für die Sklaven ein und verteidigte energisch ihr Recht, dies als Frau zu tun, mit Worten, die zum ersten Mal Argumente anklingen ließen, die von den Schwestern Grimke ein paar Jahre später benutzt werden sollten:
»Und wenn ich nun eine Frau bin? Ist nicht der Gott der alten Zeit derselbe wie der Gott unserer modernen Tage? Hat er nicht Deborah erhoben, Mutter und Richterin in Israel zu sein? Hat nicht Königin Esther das Leben der Juden gerettet? Und Maria Magdalena als erste die Auferstehung Christi von den Toten verkündet?... Wenn solche Frauen, wie sie hier beschrieben werden, einst gelebt haben, wundert euch nicht, meine Brüder und Freunde, wenn Gott in dieser ereignisreichen Zeit eure eigenen Frauen erheben sollte, damit sie sich öffentlich wie privat bemühen, denen beizustehen, die dem starken Strom des Vorurteils Einhalt zu gebieten suchen, der sich gegenwärtig so reichlich gegen uns ergießt... Und wenn solche Frauen, wie sie hier beschrieben werden, gerade aus unserer dunklen Rasse aufstünden? Und das ist nicht unmöglich, denn nicht die Farbe der Haut macht den Mann oder die Frau aus, sondern der in der Seele ausgebildete Charakter.«[12]
Den Weg dafür, daß Frauen öffentlich sprechen konnten, und damit die Möglichkeit, eine große Zahl von Leuten zu erreichen, öffneten erst die Schwestern Sarah und Angelina Grimke, deren Erfolg das Ergebnis einer inzwischen rasch anwachsenden Tendenz der gesellschaftlichen Entwicklung war. Wo immer die Schwestern Grimke hinführten, folgten bald immer mehr andere Frauen nach.[13]
Sarah und Angelina stammten aus einer Sklavenhalterfamilie in Süd-Carolina. Seit frühester Jugend hatten sie die Sklaverei und alles, was damit zusammenhing, verabscheut. Sie konnten ihre Augen nicht davor verschließen und damit leben. Zuerst die ältere und schlichtere Sarah und später die schöne Angelina zogen nach Philadelphia und wurden Quäkerinnen. Aber sie kamen zu dem Schluß, daß Flucht ihr Gewissen nicht beschwichtigen konnte, und suchten jahrelang mühsam nach einem Weg, der verhaßten Institution einen Schlag zu versetzen.
1836 freundeten sie sich mit Abolitionisten an, auf deren Einfluß hin Angelina ihren »Appell an die Christlichen Frauen des Südens« zu schreiben begann, worin sie diese drängte, Stellung für die Sklaven zu beziehen. Etwa zur selben Zeit lud die Amerikanische Antisklaverei-Gesellschaft die Schwestern ein, auf kleinen Salontreffen von Frauen in New York zu sprechen. Sie fanden überwältigenden Zuspruch. Zum ersten Treffen erschienen über dreihundert Frauen, und es mußte in die Vorhalle einer kleinen Kirche verlegt werden. Die Schwestern gaben derart beredte Beschreibungen aus erster Hand über die Sklaverei und weckten damit so viel Interesse, daß die nächste Versammlung von vornherein in einer Kirche anberaumt wurde, damit alle bequem untergebracht werden konnten, die zuhören wollten. Ein Mann hatte sich eingeschlichen und wurde prompt hinauskomplimentiert. Aber es kamen noch mehr, zuerst einzeln, dann zu zweit oder zu dritt, und bevor noch jemand so recht wußte, was geschah, sprachen die Schwestern Grimke bereits vor einem riesigen gemischten Publikum. Von New York aus wurden sie nach Neuengland eingeladen, wo die örtlichen, häufig aus Frauen bestehenden Antisklaverei-Gesellschaften in zahlreichen kleinen Städten Treffen organisierten und wo in Boston riesige Versammlungen stattfanden.
Inzwischen brach eine stürmische Kontroverse los. Die hauptsächliche Opposition kam von den Kirchen. Die mächtigste gegen die Schwestern gerittene Attacke, in der ihre Namen allerdings nicht erwähnt wurden, war ein Hirtenbrief des Rates der Congregationalistischen Geistlichen von Massachusetts, damals die größte Konfession dieses Bundesstaates, in dem ihr Verhalten als unfraulich und unchristlich angegriffen wurde: »Wir ersuchen Sie, Ihr Augenmerk auf die Gefahren zu richten, die dem weiblichen Charakter durch weitverbreitete und andauernde Schande drohen. Die den Frauen angemessenen Pflichten und ihr Einfluß sind im Neuen Testament eindeutig aufgeführt. Jene Pflichten und jener Einfluß liegen in der Zurückhaltung und im Privaten, sind aber gleichwohl die Quellen gewaltiger Macht. Wenn der milde, untertänige und besänftigende Einfluß in vollem Umfang iuf die Härte der männlichen Meinung ausgeübt wird, spürt die Gesellschaft seine Wirkungen tausendfach. Die Macht der Frau ist ihre Abhängigkeit, die ihr aus dem Bewußtsein ihrer Schwäche, die Gott ihr zu ihrem Schutze gegeben hat, zufließt.
Wir schätzen die bescheidene Andacht der Frau hoch, die die Sache der Religion im Hause und außerhalb voranbringt, in Sonntagsschulen, wenn sie religiöse Zweifler zum Pastoren bringt, damit er sie instruiere,und bei all den dazugehörigen Bemühungen, die die bescheidene Sittsamkeit ihres Geschlechts ausmachen... Aber wenn sie den Platz und die Hallung des Mannes als öffentlich auftretende Reformerin einnimmt,... begibt sie sich der Macht, welche Gott ihr zu ihrem Schutz anheimgegeben hat, und ihr Charakter wird unnatürlich. Wenn die Rebe, deren Stärke und Schönheit darin besteht, sich an das Gitterwerk zu schmiegen und ihre Traube zur Hälfte im Verborgenen zu halten, sich einbildet, die Unabhängigkeit und überragende Gestalt der Ulme anzunehmen, wird sie nicht nur aufhören, Früchte zu tragen, sondern in Schimpf und Schande in den Staub sinken.«[14]
Solche Angriffe forderten einen hohen Tribut von beiden Frauen. Bei jedem Schritt auf ihrem Weg, den ihr Gewissen ihnen vorschrieb, gerieten sie in Konflikt mit den Traditionen von Sitte und Anstand, in denen die Frauen des neunzehnten Jahrhunderts aufgezogen worden waren. Keine Frau, die in ihrem Verlangen nach Freiheit und Selbstverwirklichung aus diesen Fesseln hinausgetreten war, litt mehr unter Zweifel und Selbstkritik als die Schwestern Grimke. Angelina, die die bessere Rednerin von beiden war und die gesamte Last der öffentlichen Auftritte trug (einmal sprach sie sechs Abende hintereinander im Bostoner Opernhaus und ihre Stimme drang bis zu den obersten Rängen), brach tatsächlich im Mai 1838 vor Überanstrengung zusammen und hielt jahrelang überhaupt keine Reden mehr.[15] Aber trotz ihres tiefen Leids machten sie auch wichtige Erfahrungen im Zusammenstoß mit ihren Gegnern. Sie begannen, auf ihre Kritiker zu antworten, wobei sie zwischen den beiden Themen Sklaverei und Stellung der Frau eine Verbindung herstellten, Angelina in ihren Reden und Sarah in einer Reihe von Artikeln im New England Spectator über den »Bereich der Frau« (The Province of Women), die im folgenden Jahr als Broschüre mit dem Titel The Equality of the Sexes and the Condition of Women herauskamen und weit verbreitet wurden.
In diesen Artikeln trat Sarah Grimke frontal den Attacken des Hirtenbriefs entgegen. Sie wies jede biblische Rechtfertigung für die niedere Stellung der Frau kategorisch zurück. Als frühe Exponentin der theologischen Kritik behauptete sie, daß die Heilige Schrift nicht göttlichen Ursprungs sei und deshalb notwendigerweise die agrikultureile und patriarchalische Gesellschaft widerspiegele, die sie hervorgebracht hatte.
Sie erkannte Evas Verantwortung für die Erbsünde zwar an, aber nur, um sie geschickt gegen deren Anwälte zu wenden:
»Daß Adam sich dem Vorschlag seiner Frau so bereitwillig fügte, schmeckt nicht eben sehr nach jener Überlegenheit der geistigen Stärke, die Männer sich anmaßen. Selbst wenn man einräumt, daß Eva die größere Sünderin ist, scheint mir, daß der Mann sich zufriedengeben sollte mit der Herrschaft, die er beinah sechstausend Jahre lang beansprucht und ausgeübt hat, und daß er mehr wahren Adel bewiese, wenn er sich bemühte, die Gefallenen aufzurichten und die Schwachen zu stärken, als wenn er die Frau weiterhin in Unterwerfung hält.«[16]
Einigermaßen schroff fügte sie hinzu: »Ich bitte nicht um Vorteile für mein Geschlecht. Ich gebe unseren Anspruch auf Gleichheit nicht auf. Alles, worum ich unsere Brüder bitte, ist, daß sie ihren Fuß von unserem Nacken nehmen und gestatten, daß wir aufrecht auf dem Boden stehen, den zu besetzen Gott uns vorgesehen hat.«[17] Sarah Grimke sah die Frage nach der Gleichheit für Frauen in erster Linie nicht als Gegenstand abstrakter Gerechtigkeit, sondern als Möglichkeit für die Frauen, eine drängende Aufgabe in Angriff zu nehmen: »In Anbetracht der großen moralischen Reformen des Tages und der Rolle, die die Frauen darin zu übernehmen verpflichtet sind, werden sie, anstatt sich mit der lästigen, weil unnötigen Frage danach herumzuschlagen, wieweit sie gehen dürfen, ohne jene Grenzen des Anstands zu überschreiten, welche die männlichen von den weiblichen Pflichten trennen, sich nur die Frage stellen: >Herrgott, was willst Du, daß ich tue?< Sie werden in die Lage kommen, die schlichte Wahrheit zu erkennen, daß Gott zwischen Mann und Frau als moralischen Wesen keinen Unterschied gemacht hat... Für mich ist vollständig klar, daß, was immer für das Handeln eines Mannes moralisch richtig ist, auch für das Handeln einer Frau moralisch richtig ist.[18] Fs wird gesagt, die Frau habe im stillen Gebet eine mächtige Waffe; sie hat sie, ich erkenne das an, gemeinsam mit dem Mann: aber die Frau, die aufrichtig für die Hrneuerung dieser schuldigen Welt betet, begleitet ihre Gebete mit ihrer Arbeil. Eine Freundin von mir bemerkte einmal: >Ich saß in meinem Zimmer, über das F.lend der Sklaven weinend und meine Gebete um die Befreiung von der Knechtschaft gen Himmel richtend, als mir plötzlich inmitten meiner Meditation klar wurde, daß meine Tränen, wenn ihnen nicht Taten folgten, niemals die Ketten eines Sklaven schmelzen würden. Ich mußte aufbrechen und etwas tun.< Jetzt ist sie aktive Abolitionfstin - ihre Gebete und ihre Taten gehen Hand in Hand.«[19]
Das Eintreten der beiden Schwestern Grimke für die Rechte der Frauen löste im Lager der Abolitionisten gemischte Reaktionen aus. Einige ihrer unverbrüchlichsten Freunde wie zum Beispiel John Greenleaf Whittier und Theodore Weld (der bald darauf Angelina heiratete) ersuchten sie dringlich, die Frauenrechtsfrage fallenzulassen, damit ihr Engagement gegen die Sklaverei nicht Schaden nehme. Aber Angelina blieb standhaft:
» Wir können die Abschaffung der Sklaverei nicht mit all unserer Macht vorantreiben, solange wir nicht für uns den Stein des Anstoßes aus dem Weg geräumt haben... Ihr könnt Euch darauf verlassen, wenn auch unsere Auseinandersetzung mit dieser Frage den Anschein erwecken mag, wir kämen vom Wege ab, es ist nicht so. ES IST NICHT SO: wir müssen sie aufgreifen und zwar jetzt... Warum, meine lieben Brüder, könnt Ihr nicht den gründlich angelegten Plan des Klerus gegen unser öffentliches Auftreten erkennen?... Wenn wir dieses Jahr auf das Recht verzichten, öffentlich zu sprechen, werden wir nächstes Jahr auf das Petitionsrecht verzichten müssen, im darauffolgenden Jahr auf das Recht zu schreiben und so weiter. Was kann dann eine Frau noch tun für einen Sklaven, wenn sie selber die Füße eines Mannes im Nacken hat und zum Schweigen verdammt ist?«[20]
Bei den Frauen jedoch trafen ihre Worte auf offene Ohren. Die schöne und begabte Maria Weston Chapman, die der Dichter Lowell »die aufgezogene Triebfeder der Bewegung gegen die Sklaverei« genannt hatte, schrieb als Erwiderung auf den Hirtenbrief eine übermütige Satire mit dem Titel »Zeiten, die des Mannes Seele auf die Probe stellen«, und signierte sie mit »Die Herren der Schöpfung«:
»Verwirrung ergreift uns und alles verkehrt sich,
Die Frauen springen aus >ihrer Sphäre<,
Und statt als Fixsterne stille zu stehn,
Schießen sie gleich Kometen daher,
Die Welt aufhetzend!
Wirbeln durch den Raum auf unberechenbarer Bahn,
In irrer Wirrnis und sinnloser Jagd.
Vergeblich berechnen unsere Weisen
Ihre Rückkehr in die ziemliche Kreisbahn;
Aulblitzend werden sie sichtbar und schießen weiter,
Sind nicht >zu halten noch zu fesseln<:
Bewegen sich frei in ihrer selbstgewählten Elipse,
Die >Herren der Schöpfung< fürchten den Untergang.
Sie maßen sich an, für sich selbst zu sprechen.
Und nützen Feder und Zunge;
Zänkische Kobolde besteigen das Pult
Und - oh Graus und Schrecken! - sprechen zum Mann!
Im Namen der Sprachlosen sprechen sie uns an.«[21]
Angelina selbst schrieb an eine befreundete Quäkerin, Jane Smith: »Wir stellen fest, daß viele unserer Schwestern in Neuengland bereit sind, unsere merkwürdigen neuen Lehren aufzunehmen, denn sie fühlen, daß unser ganzes Geschlecht die Emanzipation von der Knechtschaft der öffentlichen Meinung braucht. Was hältst Du von Frauen, die zwei, vier, sechs und acht Meilen zu Fuß gehen, um bei unseren Versammlungen dabeizusein?«[22] Es war keineswegs bloße Ruhelosigkeit oder Frustration, was die Frauen zu solchen winterlichen Fußmärschen bewegte; es war, mit Angelinas Worten, das Wissen, »daß wir Abolitionistinnen die Welt vom Kopf auf die Füße stellen«. Ein dramatisches Ereignis waren an drei verschiedenen Tagen des Februar 1838 die Anhörungen vor einem Ausschuß des Parlaments von Massachusetts bezüglich der Petitionen gegen die Sklaverei. Henry B. Stanton hatte halb im Scherz vorgeschlagen, daß Angelina Grimke für die Abolitionisten sprechen sollte, und sie hatte nach ihrer üblichen Gewissenserforschung eingewilligt. Über den Moment, als sie sich zum Sprechen erhob, die erste Frau, die jemals einen derartigen Auftritt vor einer gesetzgebenden Körperschaft gewagt hatte, gestand sie später:
»Ich war nahe daran, unter dem großen Druck meiner Gefühle zu verzagen, mein Herz ist beinah in mir gestorben. Die Ungewöhnlichkeit dieser Szene, das Gewicht der Verantwortung, die unaufhörliche Gewissensprüfung, der ich mich fast eine Woche lang unterzogen hatte - alles das riß mich zu Boden. Fast wäre ich verzweifelt, aber unser Herr und Meister lieh mir seinen Arm, damit ich mich auf ihn stützte, und in großer Schwäche, die Glieder unter mir zitterten, stand ich auf und sprach fast zwei Stunden lang... Viele unserer lieben Abolitionisten-Freunde rangen im Geiste und mit ernstem Gebet für mich, und M. Chapmans >Gott gebe dir Kraft, meine Schwester!<, bevor ich mich erhob, wurde zur Stärkung meines verzagenden Gemüts.«[23]
Unter den anwesenden abolitionistischen Freunden befand sich Lydia Maria Child, eine erfolgreiche Schriftstellerin, die ihre Karriere der Abschaffung der Sklaverei gewidmet hatte; sie schrieb darüber:
»Die Bostoncr Parlamentsmitglieder ließen nichts unversucht, um zu verhindern, daß sie (Angelina) auch am zweiten Tag zur Anhörung kam. Unter anderem führten sie an, daß so viele Leute von der Neugier angezogen würden, daß die Galerien zusammenzustürzen drohten, obwohl sie in Wirklichkeit bemerkenswert stabil gebaut sind. Ein Mitglied aus Salem, das sie bereits rutschen wähnte, schlug geistreicherweise vor, >ein Ausschuß solle beauftragt werden, die Grundfesten des State House von Massachusetts dahingehend zu überprüfen, ob es einem zweiten Vortrag von Miss Grimke gewachsen sei!<.«[24]
Wenn Angelina an Theodore Weld schrieb, daß Frauen ihr Petitionsrecht aufs Spiel setzten, wenn sie in anderen Fragen nachgaben, so war das durchaus keine Ausgeburt müßiger Phantasie. Das Petitionsrecht für Frauen stand damals im Kongreß aus demselben Grund unter Beschuß, der den beiden Schwestern die klerikale Schelte für ihre öffentlichen Reden eingetragen hatte; beide Rechte wurden energisch zugunsten der Sklaven ausgeübt.
1834 hatte die Amerikanische Antisklaverei-Gesellschaft eine Petitionskampagne gestartet, die sich lawinenartig zu einem Ausmaß vergrößerte, das Kongreßabgeordnete aus den Südstaaten ernsthaft beunruhigte. Das Repräsentantenhaus versuchte, sich gegen die Flut zu stemmen, und erließ eine Verordnung, die Pinckney Gag Rule, welche die Vorlage jener Petitionen verbot.
Die erste Stimme aus dem Zuhörerraum des Repräsentantenhauses gegen diese Verletzung der Grundrechte erhob John Quincy Adams, ehemals Präsident der Vereinigten Staaten, jetzt Abgeordneter aus Plymouth (Massachusetts). Der siebzigjährige Adams, der sich während der letzten Phase seiner bewunderungswürdigen Karriere den Titel »Old Man Eloquent« (der wortgewaltige Alte) verdient hatte, verteidigte zunächst nur das Recht seiner eigenen Wähler auf Petitionen an den Kongreß. Als aber seine Stellungnahme bekannt wurde, gingen Petitionen gegen die Sklaverei aus dem gesamten Norden bei ihm ein. Ein großer Teil kam aus den Antisklavcrei-Gesellschaften der Frauen, die den besonderen Zorn der Abgeordneten aus den Südstaaten auf sich zogen, und so bezog sich Adams auch auf das Recht und die Schicklichkeit, daß Frauen Petitionen unterschreiben und Unterschriften für sie sammeln konnten.[25]
Daß Adams die Frauen verteidigte, war durch die Kritik des Kongreßabgeordneten Howard aus Maryland ausgelöst worden; der Südstaatler hatte darin erklärt,
»er habe es immer bedauert, wenn dem Hause von Frauen unterschriebene Petitionen, die sich um politische Angelegenheiten drehten, vorgelegt würden. Er dachte, daß diese Frauen genügend Raum für die Ausübung ihres Einflusses hätten, wenn sie ihren Pflichten gegenüber ihren Vätern, Ehemännern oder Kindern nachkämen, für gute Laune im heimischen Kreis sorgten und über ihn den Glanz der gesellschaftlichen Tugenden breiteten, anstatt in die heftigen Kämpfe des politischen Lebens zu stürmen. Lr fühlte sich bekümmert ob dieser Abkehr von ihrer eigentlichen Sphäre, in welcher doch reichlich Platz für die Ausübung größter Wohltätigkeit und Philanthropie wäre, weil er es als entehrend nicht nur für ihren eigenen besonderen Bereich, sondern für den Nationalcharakter insgesamt empfände, und dies gebe ihm das Recht, seiner Meinung Ausdruck zu verleihen.«[26]
Es schien alles in allem Abigail Adams' Sohn gut anzustehen, in der darüber entfesselten Kontroverse Partei für die Frauen zu ergreifen, und er tat das in einer Reihe von Reden zwischen dem 26. und 30. Juni, in denen er dem Repräsentantenhaus an historischen Reflexionen über die Rolle der Frauen während der Revolutionskämpfe und an seiner eigenen Meinung darüber, daß amerikanische Frauen sich in immer mehr Sphären bewegten, nichts ersparte:
»Woraus folgt, daß Frauen zu nichts anderem zu gebrauchen sind als für die Sorge um das häusliche Leben, für das Kindergebären und die Zubereitung des Essens für die Familie, daß sie all ihre Zeit dem häuslichen Kreise aufopfern sollen?... Die bloße Abkehr der Frau von den Pflichten ihres häuslichen Kreises ist weit entfernt, ihr zur Schande zu gereichen, vielmehr ist sie eine Tugend höchsten Ranges, wenn sie in der Reinheit des Motivs mit angemessenen Mitteln und zu einem guten Zweck geschieht.« Als Entgegnung auf Howards Argument, daß Frauen deshalb kein Petitionsrecht hätten, weil ihnen das Wahlrecht fehlte, ging Adams so weit zu fragen: »Ist es wirklich so klar, daß sie ein Recht wie dieses letztere nicht haben?«[27] Hinter Adams' Zähigkeit in dieser Frage und hinter den Bemühungen einer kleinen Gruppe von Kongreßabgeordneten, die sich zur Unterstützung seines Kampfs für das Recht auf Petitionsfreiheit zusammengetan hatten, lag eine weitere lange Geschichte - die einer Unterschriftenkampagne. Die daran beteiligten Frauen machten einen großen Sprung nach vorn. Sie engagierten sich nicht nur in einer politischen Tat, diesmal noch für andere, sondern sie sicherten sich damit auch ein Recht, das sie später in eigenem Interesse benutzen sollten. Sie bildeten die erste Abteilung einer Armee einfacher Frauen an der Basis, die länger als ein dreiviertel Jahrhundert den Kampf für die Gleichheit führen sollten. Jede durchschnittliche Hausfrau, Mutter oder Tochter brauchte denselben Mut, wie ihn die Schwestern Grimke bewiesen hatten, damit sie die Grenzen des Anstands übertreten, die bösen und höhnischen Blicke oder die offenen Befehle des Männervolkes ignorieren und zu ihrer ersten öffentlichen Versammlung gehen, an Türen klopfen und um Unterschriften für ein unpopuläres Anliegen bitten konnte. Sie mußte nicht nur ohne die Begleitung von Ehemann oder Bruder gehen, sie stieß gewöhnlich auch auf Feindseligkeit, wenn nicht gar ausgesprochene Beleidigungen wegen ihres unfraulichen Verhaltens.
Die Frauen, die die ersten wagemutigen Schritte unternahmen, kamen aus den verschiedensten Lebenssituationen. Selbst eine so couragierte Frau wie Lydia Maria Child, die bei ihrer Arbeit von ihrem Mann unterstützt wurde,
fand es schwierig: »Mein Mann und ich sind mit der hassenswertesten aller Aufgaben beschäftigt, dem Unterschriftensammeln für Petitionen. Wir sind zu dem Schluß gekommen, daß diese Arbeit in dieser Stadt (Northampton, Massachusetts) gründlicher getan werden muß als bisher geschehen. Aber >Oh Herr, mein Gottk«[28] Andere standen noch größeren Problemen gegenüber: »Die Geschichte der Fortschritte, die sie von Tür zu Tür machten, und der Hindernisse, auf die sie trafen, wirkt gleichzeitig rührend, komisch und erbaulich. Junge Frauen, deren Arbeit auf die öffentliche Meinung angewiesen war, vertraten den Freiheitsanspruch der Sklaven gegenüber Leuten, deren bloßes Wort ihnen ihre eigenen Subsistenzmittel zugestehen oder verweigern konnte.«[29]
Heute enthalten unzählige Ordner im Nationalarchiv von Washington Zeugnisse dieser namenlosen und herzzerreißenden Arbeit. Die Petitionen sind vergilbt und dünn, zusammengeklebt, Seite auf Seite, übersät mit Tintenklecksen, mit kratzigen Federn unterzeichnet, ab und zu sind Stellen ausgestrichen, weil eine aus Angst vor einem so kühnen Akt sich doch noch anders besonnen hatte. Manchen ist ein gedruckter Text vorangestellt, andere sind mit sorgfältiger, gestelzter Schrift oder in hastigen Krakeln kopiert. Sie ersuchen den Kongreß um Stellungnahmen gegen die Aufnahme weiterer Sklavenstaaten in die Union - Florida, Arkansas, Texas -, gegen die Sklaverei im District of Columbia, gegen den zwischenstaatlichen Sklavenhandel, für die vollständige Abschaffung der Sklaverei. Sie tragen die Namen von Frauengesellschaften gegen die Sklaverei aus Staaten von Neuengland bis Ohio. Eine berühmte Petition lautet:
»Die unterzeichneten Frauen sind zuliefst überzeugt von der Sündhaftigkeit der Sklaverei und in hohem Maße betrübt über ihre Verbreitung in einem Teil unseres Landes, über den der Kongreß die ausschließliche Rechtshoheit für jedweden Fall innehat, und ersuchen mit allem Ernst das Hohe Haus mit dieser Petition, im District of Columbia die Sklaverei sofort abzuschaffen und jedes menschliche Wesen, das den Fuß auf seinen Boden setzt, für frei zu erklären. Wir kündigen mit allem Respekt ebenfalls an, daß wir beabsichtigen, diese Petition dem Hohen Haus jedes Jahr erneut vorzulegen, damit sie mindestens >ein Zeichen von uns< sei, daß wir für die heilige Sache der menschlichen Freiheit >gelan haben, was wir konnten<.«[30]
In der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts arbeiteten Frauen in über hundert verschiedenen Berufen in der Industrie.[31] Zunächst wurden einige dieser Arbeiten, Herstellung von Tuch, Kleidung und Hüten und das Nähen von Schuhen, weiterhin zu Haus getan, wo Frauen sie zuvor als Hausfrauen verrichtet hatten.
Seit der Erfindung der »Spinning Jenny«, der Feinspinnmaschine und des dampfgetriebenen Webstuhls schrumpfte die Heimarbeit jedoch. Dank der unersättlichen Nachfrage nach Männern für die Landwirtschaft und ihrer Abwanderung nach Westen waren Frauen in den Textilfabriken ständig gesucht, aber die Arbeitsplatzangebote in den Fabriken konnten mit der Zahl der durch die Mechanisierung auf die Straße gesetzten Arbeiter nicht Schritt halten. Ohne eine Ausbildung, für die es eine wirtschaftliche Nachfrage gab - mit Ausnahme von ein paar Nähkenntnissen -, sahen sich viele Frauen in der Bekleidungsindustrie, die noch großenteils als Heimarbeit organisiert war, in verzweifelter Konkurrenz gegeneinander. Das waren nicht die einzigen Faktoren, die den geringen Verdienst in diesem Bereich bedingten. Die Vorstellung von ihrer Minderwertigkeit schloß Frauen von einer Ausbildung für spezialisiertere Arbeiten und davon, in andere Berufe vorzudringen, aus; sie verhinderte auch, daß sie für gleiche Arbeit die gleiche Bezahlung wie die Männer bekamen. So schrieb der Boston Courier bereits 1829:
»Sitte und lange Gewohnheit haben die Türen vieler Arbeitsplätze vor dem Fleiß und der Ausdauer der Frau versperrt. Ihr wurde beigebracht, soviele Berufe für männlich und einzig für Männer geschaffen zu halten, daß - da sie aus falscher Rücksicht auf die Meinung der Welt von zahlreichen Arbeiten ausgeschlossen ist, die ihrer körperlichen Beschaffenheit auf das Glücklichste angemessen wären - durch den Wettbewerb um die wenigen ihr offengebliebenen Arbeitsplätze der Wert ihrer Arbeit derart gering geschätzt wird, daß er unter das Existenzminimum sank und nicht länger geeignet ist, ein bequemes Auskommen zu bieten und noch viel weniger die nötigen Sicherungen gegen Alter und Krankheiten oder die alltägliche, unvorhersehbare Bedrohung durch Todesfälle.«[32]
Eine andere Zeitung schätzte 1833, daß Frauen nur ein Viertel des Männerlohns verdienten, wieder eine andere veranschlagte, daß drei Viertel der Arbeiterinnen in Philadelphia »für eine ganze Woche von dreizehn- bis vierzehnstündigen Arbeitstagen nicht so viel verdienten wie ein Geselle derselben Branche für einen einzigen Zehnstundentag.«[33] Sarah Grimke schrieb 1837, daß die herrschende Vorstellung von der weiblichen Minderwertigkeit
»mit erschreckender Wirkung auf den arbeitenden Klassen lastet und in der Tat auf allen, die gezwungen sind, entweder durch geistige oder durch körperliche Verausgabung ihren Lebensunterhalt zu verdienen - ich spiele an auf den ungleichen Wert, welcher der Zeit und Arbeit von Männern und Frauen zugemessen wird. Dieses, so weiß ich, ist der Fall in Internaten und anderen Schulen, mit denen ich Bekanntschaft gemacht habe, und es gilt für jeden Beruf, an dem unterschiedslos beide Geschlechter beschäftigt sind. So erhält zum Beispiel in der Schneiderbranche ein Mann für die Herstellung einer Weste oder einer Hose zwei- bis dreimal so viel wie eine Frau, obwohl die Arbeit von beiden gleich gut gemacht worden sein kann. An Arbeitsplätzen, die Frauen besonders vorbehalten sind, bemißt man ihre Zeit auf die Hälfte des Wertes der Arbeitszeit der Männer. Eine Frau, die als Wäscherin außer Hauses arbeitet, arbeitet ebenso hart wie ein Holzfäller oder ein Kohlenlader, kommt aber im allgemeinen auf nicht mehr als die Hälfte seines Lohnes für einen Arbeitstag.«[34] Das hatte zur Folge, daß 1833 Heimarbeiterinnen einen durchschnittlichen Wochenlohn von 1,25 Dollar hatten, oder noch weniger. Eine kinderlose Frau konnte vielleicht auf durchschnittlich 58,50 Dollar im Jahr kommen, eine mit kleinen Kindern und der Sorge für sie belastete Frau kam auf nicht mehr als durchschnittlich 36,40 Dollar im Jahr.[35] Eine zeitgenössische Schätzung setzte drei Jahre später den durchschnittlichen Tageslohn einer Frau auf weniger als 37 1/2 Cent an, wobei Tausende lediglich 25 Cent am Tag verdienten.[36]
Unter diesen Frauen, die in Slumwohnungen lebten und unter Bedingungen arbeiteten, die denen der späteren »Schwitzbuden« gleichkamen, regte sich zuerst das Bedürfnis nach Kontakt untereinander und nach gemeinsamer Aktion für die Verbesserung ihrer Verhältnisse. Aus ihrer Zusammengehörigkeit entstanden in den 1830er Jahren einige kurzlebige Organisationen wie die von Lavinia Waight und Louise Mitchell angeführte United Tailoresses Society (Schneiderinnen) in New York, die Lady Shoe Binders (Schuhnäherinnen) von Lynn in Massachusetts und weitere in Baltimore und Philadelphia. Ihre Ansätze, sich zu verbünden und die Arbeit zu verweigern, hatten wenig Erfolg. Die Frauen waren nicht nur unerfahren und bei der Arbeit voneinander isoliert, sie fanden auch kaum Unterstützung bei den Männern ihrer Branche, deren Haltung wesentlich bestimmt war von der Angst, diese Frauen mit ihren niedrigen Löhnen könnten ihnen ihre eigenen Löhne streitig machen.
Wenn es auch mit Bezahlung und Arbeitsbedingungen in den Baumwoll-und Wollfabriken etwas besser bestellt war, so war doch der Unterschied nur relativ. Der typische Fabrikarbeitstag dauerte von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang und manchmal sogar bis nach dem Anzünden der Lichter. Die Stundenzahl belief sich auf zwölfeinhalb bis sechzehn am Tag. In Paterson (New Jersey) hatten Frauen und Kinder um 4.30 Uhr morgens bei der Arbeit zu sein und, mit einer Pause für Frühstück und Mittagessen, so lange zu arbeiten, wie sie konnten, bis im Jahr 1835 ein Streik den Arbeitstag auf zwölf Stunden verkürzte.[37]
Die Frauenlöhne, die bei gleicher Arbeit immer niedriger lagen als die der Männer, betrugen zwischen einem und drei Dollar in der Woche, wovon noch 1,50 oder 1,75 Dollar für die Unterbringung in firmeneigenen oder -gemieteten Arbeiterwohnheimen bezahlt werden mußten.[38] Viele Arbeiterinnen waren junge Mädchen, die vor zu Hause ausgezogen waren und zum ersten Mal eigenen baren Lohn verdienten, und anfangs erschien er ihnen sehr hoch. Aber ihre Zufriedenheit ließ bald nach, vor allem nach der Depression in der Mitte der dreißiger Jahre, als Lohnkürzungen und Arbeitsbeschleunigungen zunahmen.
Den ersten bekannten Frauenstreik machten 1824 Fabrikarbeiterinnen in Pawtucket (Rhode Island), wo sie sich dem Streik der Arbeiter gegen eine Kürzung des Lohns und die Verlängerung des Arbeitstages anschlössen. (Die zweihundert beteiligten Frauen und Mädchen hielten ihre Streikversammlungen getrennt von den Männern ab.) Der erste Streik, den Frauen allein trugen, fand vier Jahre später in Dover (New Hampshire) statt. In Lowell warf 1834 eine unbekannte junge Frau, die gerade entlassen worden war, als verabredetes Zeichen für die anderen Mädchen im Hof ihren Hut in die Luft, worauf jene ihre Webstühle verließen. Eine von ihnen stieg dann auf die städtische Pumpe und hielt »eine flammende Mary-Wollstonecraft-Rede über die Rechte der Frauen und die Ungerechtigkeit der Geldaristokratie^ was einen mächtigen Eindruck auf ihre Zuhörerinnen machte, und sie beschlossen, ihr Interesse durchzusetzen, und wenn sie dabei sterben müßten.«[39]
Zwei Jahre später marschierten die Streikenden wieder durch Lowell und sangen dabei eine Parodie auf ein altes Lied, »Ich kann keine Nonne sein«: »Oh ist das nicht schade, so ein hübsches Mädchen wie ich Soll in die Fabrik geschickt werden, vor Gram vergehn und sterben? Oh ich kann keine Sklavin sein, Ich will keine Sklavin sein, Denn ich bin so gern frei, Daß ich Sklavin nicht sein kann.«[40]
Immer wieder gingen die Frauen nach diesem Muster vor, in Manchester und Taunton, in Paterson und Pittsburgh und anderswo: Aufgebracht über Lohnkürzungen oder Gerüchte über Antreibereien verließen sie die Fabrik, machten einen Umzug oder eine Kundgebung, hörten Reden an, verabschiedeten vielleicht eine Resolution - und kehrten schließlich nach ein paar Tagen oder Stunden an ihre Arbeit zurück, während die Anführerinnen oftmals auf die schwarze Liste gesetzt wurden.
Man kann das Auf und Ab, die Zaghaftigkeit, die von einem kühneren Funken Feuer fing, den Niedergang der Begeisterung, das Angewiesensein auf die Erfahrungen der Männer, endlich das Straucheln und den Zusammenbruch sehr gut verfolgen, wenn man die Seiten eines Tagebuchs liest, das ein Bürger von Chicopee (Massachusetts) im Jahr 1834 geführt hat: »Zweiter Mai - große Arbeitsniederlegung bei den Mädchen... nach der Frühstückspause Umzug um den Platz herum mit einem bemalten Vorhang als Banner vorneweg, sechzehn die Zahl. Sie kamen bald zurück mit Mr.—, da waren sie schon vierundvierzig. Sie marschierten eine Weile herum und zerstreuten sich dann wieder. Nach dem Mittagessen sammelten sie sich wieder zu zweiundvierzig und marschierten zum Cabot unter der Führung von Mr. —. Sie marschierten durch die Straßen und taten sich selbst keinen guten Dienst. Die Herren Mill und Dwight sind unterwegs aus Boston.
Vierter Mai - die Mädchen legen die Arbeit nieder. Sie hatten gestern Nacht eine Versammlung beim Cabot, und Hosea Kenny hat eine gute Rede gehalten. Heute morgen kamen sie nach dem Frühstück heraus und marschierten zu zweiundzwanzig um den Platz ... Sic marschierten zum Cabot, aber es half nichts. Fünfter Mai - die Mädchen legen die Arbeit heute nicht nieder. Sechster Mai - die Mädchen haben in gewissem Maß ihre Erregung überwunden.«[41] Die Geschichte aus Chicopee zeigt das Grundproblem der Frauen: Abgesehen davon, daß sie den Herrn Mills und Dwight (den Chefmanagern des Betriebs) einen solchen Schreck eingejagt hatten, daß diese sofort aus Boston herbeieilten, waren sie zu schwach, um irgendwelche Ergebnisse zu erzielen.
Auch wenn ihre Militanz größer und tragfähiger war als die der frühen Arbeitsniederlegungen in Neuengland, konnten sie nichts Dauerhaftes erreichen, wie die von 1834 bis 1848 anhaltende Streikserie für die Verkürzung des Arbeitstages in den Alleghany-Betrieben bei Pittsburgh zeigt, die Teil einer breiten Agitation für den Zehnstundentag war. Zwei Streiks 1845 und 1848 waren militant bis zur Anwendung von Gewalt: Bei beiden Gelegenheiten waren die Frauen bei den angreifenden Kolonnen, die, mit Schlagstöcken und Steinen bewaffnet, tatsächlich die massiven Holztore der Fabrik einrissen, sie »einnahmen« und die Webstühle zum Stillstand brachten. Sie setzten zwar die ersehnte Arbeitszeitverkürzung durch, aber nur um den Preis einer Kürzung des Lohns.[42]
Das einzige Heilmittel gegen solche sporadische Wirkungslosigkeit war Organisierung. Die Antisklavereibewegung war ein Vorbild, frühe, wenn auch kurzlebige Organisationsansätze der Arbeiter bildeten einen weiteren Ansporn. Einer Gruppe von Arbeiterinnen aus den Textilfabriken von Lowell blieb der Beweis vorbehalten, daß Frauen eine stabile Organisation (auch wenn sie nur relativ kurze Zeit überdauerte) aufbauen, eine intellektuell leistungsfähige und mutige Führung herausbilden und eine systematische Kampagne durchführen können, die Spuren hinterläßt. Das alles waren die Errungenschaften der Female Labor Reform Association von Lowell, die von 1845 bis 1846 von Sarah Bagley geführt wurde, der ersten bekannten Gewerkschaftlerin des Landes.
Eine Zeit hatte der Mythos geherrscht, die Fabriken in Lowell seien etwas Besonderes. Die Betriebshallen und die Unterkünfte, in denen die Arbeiterinnen untergebracht waren, waren von den Fabrikbesitzern nach Modellplänen gebaut worden, und sie brüsteten sich damit, daß ihre »Mädchen«, wie man sie damals allgemein nannte, intelligenter und feiner waren, daß sie gebildeter waren, besser untergebracht und versorgt wurden und daß sie glücklicher wären als anderswo. Der Glaube an das Interesse der Mädchen für Bildung und Literatur wurde genährt von Fortbildungszirkeln und einer Zeitung, die sich Lowell Offering nannte und von zwei ehemaligen Fabrikarbeiterinnen herausgegeben wurde; sie brachte Beiträge der Mädchen und wurde bis nach Großbritannien bekannt und gepriesen. Die Tatsachen sahen anders aus und kamen allmählich ans Licht. Die Löhne lagen bei zwei Dollar pro Woche plus Unterkunft. Die jungen Frauen schliefen manchmal zu sechst in einem Raum und zu zweit in einem Bett. In Phasen wirtschaftlicher Rezession drohten ihnen dieselben Lohnkürzungen und Arbeits Verschärfungen wie Textilarbeitern allerorten. Die Lowell Offering diente immer mehr der Rechtfertigung der Unternehmer und hatte den Zweck, die Fiktion über das »Fabrikmädchenleben« in Lowell aufrechtzuerhalten, damit immer neue billige und gefügige Arbeiterinnen aus der Zahl der Töchter der Farmer Neuenglands rekrutiert werden konnten. Die Lowell Female Labor Reform Association hatte sich als Tochterorganisation der Workingmen's Association von New York im Verlauf derselben Aufstände organisiert, die in Pennsylvania zu Gewaltakten geführt hatten, aber mit anderem Ergebnis. An einem Dezemberabend des Jahres 1844 trafen sich fünf Mädchen aus der Fabrik, um zu planen, wie sie den Zehnstundentag durchsetzen könnten. Als Motto wählten sie »Try Again«, im März 1845 hatten sie bereits 600 Mitglieder und Sarah Bagley wurde ihre Präsidentin.[43]
Miss Bagley war in New Hampshire geboren. Sie kam nach einem erfolglosen Ausstand des Jahres 1836 nach Lowell, machte zunächst bei den Fortbildungszirkeln mit und schrieb sogar ein Stück über die »Freuden des Fabriklebens«. Dieses Leben belehrte sie allerdings eines Besseren; sie lernte auch, daß Frauen unter den gegebenen Bedingungen mit einem Streik in der Fabrik nichts zu gewinnen hätten und sich deshalb auf andere Methoden besinnen mußten, um ihr Los zu verbessern.
Weitgehend unter ihrer Führung begann die Female Labor Reform Association auch in anderen Fabrikstädten aufzutreten: in Manchester, Waltham, Dover, Nashua, Fall River. Sie schrieb Artikel, hielt Reden, sorgte dafür, daß die Gruppen untereinander in Kontakt blieben und arbeitete 15 Monate mit an der als Organ der New England Workingmen's Association erscheinenden Wochenzeitung Voice oflndustry.[44]
Hier sagte sie in Artikeln, Leitartikeln und Briefen ihre Meinung, und sie schrieb eine andere Sprache als die, mit der man sich in der Presse jener Zeit an Frauen wandte. Sie beschreibt sich selbst als
»Fabrikarbeiterin mit gewöhnlicher Schulbildung aus Neuengland .. . lange, lange und noch immer Dulderin innerhalb einer schwerfälligen, aber dennoch mächtigen Masse... Was uns an editorischem Geschick, an rhetorischer und historischer Forschung fehlt, seid sicher, wir werden es durch Beherztheit ausgleichen. Unser Herz, ja unser ganzes Herz ist erfüllt von der Sache der Unterdrückten - der Millionen Niedergetretenen in aller Welt.«[45]
Als die Textilunternehmer versuchten, Arbeiterinnen wegen ihrer Mitgliedschaft in der Female Labor Reform Association auf schwarze Listen zu setzen, donnerte sie ihnen entgegen:
»Was! Uns, nachdem wir dreizehn Stunden lang gearbeitet haben, das armselige Privileg verbieten, unzufrieden zu sein - zu sagen, unser Los ist ein hartes Los! Ein zu Unrecht verfolgtes Mädchen absichtlich rauswerfen, wie unseres Wissens Männer verfolgt wurden, weil sie ihre ehrliche politische Überzeugung freimütig zum Ausdruck brachten! Wir werden den Namen von demjenigen herausfinden, dem wir diese Tat verdanken, wir werden dafür sorgen, daß er mit jedem Wind stinkt, von allen Seiten des Kompasses her. Sein Name soll ein Schimpfwort unter Arbeitern werden, er soll in den Straßen aller Städte dieser großen Republik ausgezischt werden, denn unser Name ist Legion, auch wenn unsere Unterdrückung groß ist.«[46]
Unzählige andere Frauen, alle Fabrikarbeiterinnen, arbeiteten mit Miss Bagley zusammen: Huldah Stone, Mehibatel Eastman, Mary Emerson, Eliza Hemingway, Hannah Tarlton. Mit Geschick und harter Arbeit erzwangen sie den Respekt der Männer, die die Arbeiterbewegung Neuenglands anführten. Sie fuhren als Delegierte zu Arbeiterkongressen, und 1846 wurden drei von ihnen zusammen mit fünf Männern Leiter der New England Labor Reform League.
Die Lowell Female Labor Reform Association schaffte es, die Energien ihrer Mitglieder weg von unfruchtbaren Streiks und hin zu wirksameren Taktiken zu lenken. Als einer der größeren Betriebe in Lowell versuchte, das Pensum einer Arbeiterin von drei auf vier Webstühle zu erhöhen und gleichzeitig den Stücklohn um einen Cent zu verringern, schwor der Verein in einer Versammlung, eine solche Erhöhung so lange nicht hinzunehmen, wie sie nicht mit einer Erhöhung der Bezahlung gekoppelt würde. Fast alle Webereiarbeiterinnen unterschrieben eine Erklärung in diesem Sinn und standen dazu; die versuchte Arbeitsverschärfung wurde widerrufen.[47]
Noch bedeutender war die Teilnahme des Vereins an der Kampagne für eine an das Parlament von Massachusetts gerichtete Petition für die gesetzliche Verankerung des Zehnstundentages. Die Frauen verursachten beim Herumgeben und Unterzeichnen der Petition ein derartiges Aufsehen, daß der vom Parlament schließlich eingesetzte Ausschuß, der die Zustände in den Fabriken untersuchen sollte, acht Webereiarbeiter als Zeugen benannte, von denen sechs Frauen waren.[48] Mit einer verschleierten Drohung stellte der Ausschuß fest, daß, »da die Petition ja größtenteils von Frauen gemacht worden ist, es nötig sein wird, daß sie sie gut verteidigen, sonst werden wir gezwungen sein, sie beiseitezulegen.«[49]
Jede Hoffnung, die die Gesetzgeber gehabt haben mochten, daß Konventionen des Anstands oder der Furcht, den Arbeitsplatz zu verlieren, die Frauen etwa davon abgehalten hätten, ihre Aussagen zu machen, zerschlug sich schnell. Als am 13. Februar 1845 die Anhörungen eröffnet wurden, waren Miss Bagley und ihre Verbündeten zur Stelle - selbstbewußt und beredsam. Sie nahmen kein Blatt vor den Mund. Der Ausschuß - es war der erste, der je eine staatliche Untersuchung über Arbeitsbedingungen durchführte -bekam einiges zu hören. Eliza Hemingway, die als erfahrene Wollweberin einen ungewöhnlich hohen Lohn erhielt, verdiente monatlich zwischen 16 und 23 Dollar zusätzlich zu den Unterbringungskosten, aber sie arbeitete in einem Raum mit mehr als 150 Leuten, wo den ganzen Winter lang morgens und abends 293 kleine und 61 große Lampen brannten und die Luft verpesteten. Manchmal wurde dreißig Frauen an einem einzigen Tag schlecht von dem Rauch. Eine Miss Judith Payne hatte eines von sieben Arbeitsjahren durch Krankheit eingebüßt; obwohl sie eine hochqualifizierte Arbeiterin war, kam sie in der Woche nur auf durchschnittlich 2,93 Dollar neben den Unterbringungskosten. Eine andere hatte nach Abzug des Logis nur einen Dollar und 62 Cent pro Woche. Andere Frauen sagten Ähnliches aus. Eine einzige Frau trat zur Entlastung der Fabrikbesitzer auf.[50] Zwischen den spröden Zeilen der Zeugenaussagen, wie sie ins Protokoll aufgenommen wurden, liegt vieles, das längst als Selbstverständlichkeit bei parlamentarischen Anhörungen gilt: daß die Aussagen gut präpariert waren (es erstaunt, wie sorgfältig die Lampen gezählt wurden!) und daß die Zeuginnen unter solchen Umständen zwei Tage lang auftraten, eine alarmierende, aber vielleicht vielversprechende Neuheit.
Nachdem der Ausschuß sowohl die Arbeiterinnen als auch die Vertreter der Unternehmer gehört hatte und weitere Beweise wünschte, reisten die Mitglieder nach Lowell; sie waren unter anderem bezaubert von den Blumenrabatten außerhalb der Fabriken und erstellten in gehöriger Zeit einen Bericht, der von der gesetzlichen Verankerung des Zehnstundentages abriet. Sie untermauerten ihre Meinung mit Argumenten wie: »Die Arbeit ist dem Kapital gleichrangig und kontrolliert dieses tatsächlich«. Sie stellten fest, daß man von den »intelligenten und tugendhaften Männern und Frauen«, die mit ihren Petitionen vor ihnen aufgetreten waren, erwarten könne, daß sie selbst für sich sorgten![51]
Der Verein mit dem Motto »Try Again« gab nicht so schnell auf. Auch wenn seine Mitglieder selbst kein Wahlrecht hatten, hatte er doch seine Finger im Spiel, als der Zeitungsverleger William Schouler aus Lowell, der während der Anhörungen Vorsitzender des Ausschusses gewesen war, seine Wiederwahl in das Parlament von Massachusetts verlor, und der Verein rechnete sich diese Tat in einer Resolution öffentlich als Verdienst an: »Beschlossen, daß die Mitglieder dieses Vereins den Wählern von Lowell ihre dankbare Anerkennung bekunden, dafür daß diese William Schouler in das Dunkel zurückgeschickt haben, das er so rechtschaffen verdient hat wegen seiner unfeinen und ungerechten Behandlung der Delegierten dieses Vereins vor dem Parlamentsausschuß, an den die Eingaben bezüglich einer Verringerung der Arbeitszeit gemacht wurden und dessen Vorsitzender er war.«[52]
Schouler übte Vergeltung. Als er entdeckt hatte, daß das Privatleben eines der Arbeiterführer von Massachusetts, John Cluer, nicht ganz untadelig war und daß er von derselben Tribüne herab gesprochen hatte wie Miss Bagley, schaffte er es mit hochmodernen Verleumdungstaktiken, sowohl Miss Bagley als auch ihren Verein zu diskreditieren.
Es gab noch andere Gründe, warum sich weder die Organisation noch Miss Bagleys Karriere lange hielten. Zusammen mit der übrigen Arbeiterbewegung Neuenglands erlagen sie den damals gängigen utopistischen Theorien. Miss Bagley, die während der Anhörungen ausgesagt hatte, die Fabrik hätte ihre Gesundheit angegriffen, begab sich auf ein neues Gebiet für Pioniertaten und wurde erste weibliche Telegraphistin, eine Stellung, die sie für kurze Zeit in Lowell innegehabt zu haben scheint.[53]
Frauen, die allein und ohne Hilfe waren, war es nicht vergönnt, ihre eigenen Arbeiterorganisationen aufzubauen, obwohl sie es bis nach der Jahrhundertwende wiederholt versuchten. Es fehlte ihnen das Geld, denn ihr Verdienst war überall gleich niedrig, und es fehlte ihnen die Zeit. (Noch heute hat die Lohnarbeiterin trotz Staubsaugern, Waschmaschinen und »schneller« Küche aufgrund der gesellschaftlichen Gepflogenheiten immer noch mehr Haushalts- und Familienpflichten als der Hausherr, auch wenn sich das langsam ändert; in einer Welt ohne solche arbeitssparenden Geräte und ohne Zehnstundentag hatte sie noch weniger Zeit für sich.) Aber wenn die Frauenrechtsbewegung gleiche Bezahlung und Arbeitszeitverkürzung nicht ausklammern soll, die allein es den Arbeiterinnen ermöglichen würde, die Vorzüge von Bildung und voller Staatsbürgerschaft zu genießen, müssen die Webereiarbeiterinnen aus Lowell als Pionierinnen in derselben Sache angesehen werden, für die sich die Schwestern Grimke und Emma Willard einsetzten.