Dem eigenen In-der-Welt-Sein Gestalt geben
Liebe als umfassende Lebensbewegung
In unserer Gesellschaft ist der Begriff »Liebe« schwierig und verdächtig geworden. Die überlieferten Geschichten haben uns gelehrt, Liebe müsse selbstlos sein, bedeute, dem anderen zu dienen, sich selbst zu verleugnen, zu tun, was andere verlangen. Neuere Geschichten lehren uns, daß wir möglichst individualistisch sein sollten, ohne Kompromisse unseren eigenen Weg gehen müßten. Das Glaubensbekenntnis der Gestalttherapie drückt dies sehr pointiert aus:
Ich tu, was ich tu, und du tust, was du tust.
Ich bin nicht auf dieser Welt, um nach deinen Erwartungen zu leben,
und du bist nicht auf dieser Welt, um nach den meinen zu leben.
Du bist du, und ich bin ich,
und wenn wir uns zufällig finden - wunderbar.
Wenn nicht, kann man auch nichts machen.[1]
Menschen haben nicht nur ein tiefes Bedürfnis, geliebt zu werden, sondern ebenso zu lieben. »Liebe ist die Erfahrung, lebendig zu sein.« [2] Ohne Leben gibt es keine Liebe. Als lebendige Menschen sind wir fähig, das Leben zu lieben - das Leben in uns und um uns. Doch gerade die »Selbstliebe« wurde jahrhundertelang als Egoismus diskriminiert. In dem Maß, in dem »Nächstenliebe« das eigene Selbst ausschloß, schränkte sie auch die Liebe zum Leben, zum Lebendigen ein und wurde lebensfeindlich. Umgekehrt hat die »Ich-Kosmetik« unseres Jahrhunderts den Bezug zum Leben ebenso verzerrt. Selbstliebe heißt jedoch, das Leben auch in uns selbst zu lieben.
Die Liebeserfahrung in der Beziehung mit den Bezugspersonen meist Mutter und Vater - legt den Grund dazu, wie ein Kind sich selbst als liebenswert erfährt, und damit auch, welche Liebesbeziehung es zu sich selbst zu formen vermag. Sich selbst zu lieben bedeutet, im Kontakt mit dem eigenen inneren Pulsieren zu sein und ihm zu vertrauen. Ohne Fürsorge für uns selbst, ohne Interesse an uns selbst und ohne Intimität mit uns selbst verpassen wir Wesentliches von dem, was Liebe bedeutet; es sei denn, wir betrachteten Liebe nur als eine Idee, als ein Gefühl, eine geistig-seelische Qualität ohne Verbindung zu unserem Organismus, doch: »Love is a cellular radiance, an organismic pulsation, a tissue fluid, a sweetness. It is an inner vital response, an impulse, a wave of the goodness of our organ life.«[3]
Lebendig sein heißt auch zu wachsen, sich von Form zu Form weiterzuentwickeln und zu wandeln. Doch wenn Lebendigkeit eine organismische Qualität ist, die wir auch als »Liebe« bezeichnen können, so bedeutet sie nicht nur Selbstliebe, sondern Liebe zum Lebendigen überhaupt. Oder anders gesagt: Liebe ist das Bedürfnis zu leben, lebendig zu sein und für andere Sorge zu tragen.
Wenn es darum geht, Leben formen zu helfen, so betrifft dies das eigene innere Wachstum, aber ebenso dasjenige anderer Menschen, ja das alles Lebendigen überhaupt. Alfred Adler hat vor etwa sechzig Jahren das Gemeinschaftsgefühl als ein »Einig sein mit dem All«[4] beschrieben. Für ihn war klar, daß Leben unteilbar ist ebenso wie die Liebe, die mit Leben aufs engste verbunden ist. Leben bedeutet immer Leben, das wir gestalten, für das wir besorgt sind. Leben zu fördern ist jedoch auch ein Engagement für die Zukunft, für Leben, das werden wird.
Selbstgestaltung: unsere kindliche Liebesgeschichte
Von Geburt an formen wir allmählich leibhaft unsere Gestalt. Wir bilden unsere Beziehung zum Grund des Daseins aus, die gleichzeitig ein Vertrauen in die tragende Kraft des eigenen Organismus bedeutet. Wir richten uns auf in die Vertikale, formen unseren Stand, unsere Stellung-Nahme in der Welt, gewinnen Perspektive und Überblick, bilden Autonomie als Polarität von Begrenzung und Entgrenzung aus. Wir gestalten unser Ausgreifen in die Welt und die Art und Weise, wie wir uns zu uns selbst zurücknehmen. Wir entwickeln einen Bezug zu unserem organismischen Pulsieren, bauen Erregung auf und lösen sie wieder. Wir schaffen uns Innenraum, eine innere, lebendige Welt, und lernen, mit Nähe und Distanz umzugehen.
Wir formen auf diese Weise im Laufe unserer Kindheit unser je eigenes In-der-Welt-Sein als paradoxe Einheit von Individualität und Verbundenheit. Die Lebensgestalt, die wir als Kinder ausbilden, ist unser inneres Bewegungsgesetz,[5] dem wir unbewußt folgen. Als erwachsene Menschen haben wir die Möglichkeit, dieses Bewegungsgesetz umzugestalten, sei es durch äußere Anstöße oder innere Krisen und Wendezeiten, die unsere bisherige Lebensgestalt in Frage stellen. Immer betreffen solche Umgestaltungen die Weise, wie wir in der Welt stehen, Bezug auf sie nehmen und in ihr handeln.
Die menschliche Selbstgestaltung geschieht jedoch immer im Raum von Beziehung. Entscheidend ist, wie die primären Bezugspersonen und die weitere Umgebung den formenden Prozeß des Kindes unterstützen, ermutigen und fördern. Entsprechend seiner Entwicklung braucht das Kind auch immer wieder eine neue Qualität von Beziehung. Von seiten der Erwachsenen geht es also nicht nur darum, eine liebevolle Beziehung zu verwirklichen, sondern die Art des Bezogenseins auf kindliche Bedürfnisse auszurichten und zu wandeln:[6]
Nach seiner Geburt ist das Menschenkind völlig auf seine Bezugspersonen angewiesen. Im Vergleich zu den höheren Säugetieren ist es eine physiologische Frühgeburt, es müßte also bei der Geburt bereits aufrecht stehen, gehen und über Anfänge des Sprechens und Denkens verfügen. In den ersten neun Lebensmonaten lebt es aber gleichsam »embryonal« und braucht die menschlichen Beziehungen als »sozialen Uterus«.[7] Es ist deshalb auch weniger durch ein artgemäßes Programm vorgeprägt, sondern wird zu einem Zeitpunkt seiner Entwicklung geboren, in dem es höchst beeindruckbar ist und alle wesentlichen Impulse für sein Wachstum der aus den menschlichen Beziehungen bestehenden »Gebärmutter« verdankt. Durch diese Offenheit und Beeindruckbarkeit ist dem Menschen die Möglichkeit gegeben, ein eigen-artiges, ein individuelles Wesen zu werden. Dies ist Chance und Gefährdung zugleich.
Das Kind, das aus der Einheit mit der mütterlichen Gebärmutter kommt, braucht also zunächst die Beziehungsform der Fürsorge, des Geborgen- und Aufgehobenseins. Wenn es anfängt, sich aufzurichten und gehen zu lernen, benötigt es Bei-Stand für seinen unsicheren Organismus, bis es gelernt hat, einen eigenen Stand auszubilden. Wenn das Kind beginnt, eigenständig zu werden, braucht es nicht mehr in erster Linie Fürsorge, sondern Anteilnahme an seiner werdenden Autonomie, ein achtsames Begleiten und Unterstützen in seinen Versuchen, sich abzugrenzen, auf sich selbst zurückzuziehen und wieder Verbindung aufzunehmen. Sein Nein will respektiert werden, und dennoch braucht es auch Begrenzung durch die Erwachsenen. Nur so wird es fähig, sich den Rhythmus von Begrenzung und Entgrenzung einzuverleiben. Anteilnahme bedeutet eine Beziehung zwischen zwei für sich bestehenden Menschen. Austausch - ein anderer Aspekt dieses Beziehungsmodus - respektiert auch den Innenraum des Kindes mit seinen »Geheimnissen«, sein Bedürfnis nach Spiel-Raum und Experimentieren. Das Kind braucht das freudige Interesse an seinen Entdeckungen, an neuerworbenem Können, an seiner Zulänglichkeit im wörtlichen Sinn. Das Kind beginnt auch, Perspektiven zu entwickeln, sich auf Vergangenheit und Zukunft zu beziehen. Es will wissen, wie es ist, »groß« und erwachsen zu sein.
Im Laufe seiner Entwicklung braucht das Kind also Anteilnahme an den verschiedensten Stadien seines Wachstumsprozesses, in dem es immer neue Formen seines In-der-Welt-Seins hinzugewinnt. In der Pubertät beginnt der jugendliche Mensch schließlich, seine geschlechtliche Gestalt, seine neue Beziehung zum andern Geschlecht herauszubilden, und will in dieser neuen Gestalt angenommen und begleitet werden.
Wenn Eltern fähig sind, die verschiedenen, sich wandelnden Beziehungsformen zu ihren Kindern leibhaft zu gestalten, helfen sie dem Kind dabei, eine eigene erwachsene Gestalt zu finden. Ursprünglich waren wir alle im Mutterleib von einer Welt schützend umfangen, als Erwachsene tragen wir eine Welt in uns, die unsere eigene innere Welt ist. Wir können diese Welt anderen Menschen mitteilen und eine intime Beziehung zu anderen Menschen - vor allem in einer Partnerschaft - gestalten. Wir sind bei uns selbst »zu Hause« und gleichzeitig auf den anderen Menschen angewiesen. Wir können diese Beziehungsform auch als paradoxe Einheit von Eigenständigkeit und Abhängigkeit oder von Individualität und Verbundenheit bezeichnen.
Wir formen also unsere Gestalt als Kinder im Beziehungsraum von Familie und Gesellschaft, um uns selbst wieder für den formenden Prozeß der nächsten Generation zu engagieren - ob wir eigene Kinder haben oder nicht.
Ich möchte das bisher Gesagte noch unter einem anderen Gesichtspunkt beleuchten: Wir haben viele Körper, etwa denjenigen des Embryos und Fötus, des Babys, des Kleinkindes, eines größeren Kindes, und wandeln uns in einen erwachsenen Körper usw. Im Laufe unserer Entwicklung formen wir verschiedene Beziehungsstadien oder »Beziehungskörper«. Zu Beginn ist es derjenige von Nähe, Abhängigkeit und Urvertrauen, dann wandelt er sich zur Form von Getrenntsein, Unabhängigkeit und Austausch, geht über zu einer leidenschaftlicheren Form, die mit dem pubertären Erwachen von Sexualität verbunden ist. Zuletzt gelingt es uns vielleicht, eine reife Gestalt zu finden, eine Möglichkeit, bei uns selbst und gleichzeitig mit dem anderen zu sein, uns an einem gemeinschaftlichen Leben zu beteiligen und uns dafür einzusetzen.
Unsere kindliche Entwicklung kann also als unsere Liebesgeschichte verstanden werden. Dabei kommt es nicht nur darauf an, wie wir geliebt wurden, sondern auch, wie wir zu lieben gelernt haben.[8] Wir können Kinder - und damit auch die eigene Kindheit nur begreifen, wenn wir das tiefe Bedürfnis des Kindes zu lieben, sein vitales Interesse für seine Eltern und andere Bezugspersonen ernst nehmen. Es gibt immer wieder jene zarten und innigen Momente, in denen die Liebe der Kinder als Ausdruck ihrer Lebendigkeit sichtbar wird. Es gibt deshalb nicht nur die Geschichte, in der sich das Kind als ungeliebt, als mißbraucht erlebt, sondern auch diejenige, in der seine Liebe nicht angenommen, übersehen, entwertet, verlacht oder an die Öffentlichkeit gezerrt wird. Und es gibt jene Eltern, die so sehr darauf bedacht sind, ihrem Kind »alles« zu geben, daß das Bedürfnis des Kindes, seine Liebe auf seine Art zu leben und zu zeigen, keinen Raum hat. Das Zärtlichkeitsbedürfnis des Kindes bedeutet nicht nur, Zärtlichkeit zu bekommen, sondern auch Zärtlichkeit zu schenken. Es will beispielsweise nicht nur gestreichelt sein, sondern auch selbst streicheln.
Oft entsteht in Kindern das Gefühl, die eigene Liebe sei nicht in Ordnung, lächerlich oder lästig. Eine jüngere Frau erzählte, daß ihre Mutter sie wenig beachtet und kaum geliebt habe. Und wie hat diese Frau selbst ihre Mutter geliebt? Sie sagte dazu: »Ich habe immer versucht, mich nützlich zu machen. Wenn meine Mutter Hilfe brauchte, bin ich eingesprungen. Immer hoffte ich, sie würde es bemerken, doch es war für sie selbstverständlich. Sie sagte kaum je ein Wort. Um meine Geschwister hat sie sich gesorgt, denn mein Bruder war ständig krank, und meine Schwester hatte immer Mühe in der Schule.« Das Erleben für sie war: Ich habe ständig durch Arbeiten um meine Mutter - und auch um den Vater - geworben, doch es nützte nichts. Diese Frau hatte den Eindruck, etwas an ihrer Liebe sei nicht gut genug: »Ich liebe jemanden, mache Anstrengungen und gebe auf«, sagt sie von ihren gegenwärtigen Beziehungen. Ob die Frau ihre Mutter geliebt hat? »Ja, ich habe sie sehr gern gehabt aber es war eben nicht das Richtige.« Ich versuchte zusammen mit ihr die Verkörperung ihrer Liebe zur Mutter zu erspüren. Als sie das Muster auflöste, richtete sie sich auf, atmete tief und schaute mich lange an. Dann sagte sie leise: »Ich bin warm. Ich liebe. Es ist gut so. Es ist meine Liebe. Der Wert der eigenen Liebe besteht in sich.«
Als Kinder bilden wir allmählich eine Form aus, die unser erwachsenes In-der-Welt-Sein bestimmt und unser Bewegungsgesetz genannt werden kann. Wie wir zu uns selbst und zu anderen Beziehung gestalten, hängt mit unserer kindlichen Liebesgeschichte zusammen. Doch die Beziehungsvielfalt unseres Lebens fordert uns auch heraus, uns immer wieder neu in Beziehungen zu verkörpern, sei es in den wechselnden Phasen der Partnerschaft, als Eltern heranwachsender Kinder, als Partner und Eltern zugleich, sei es in unserer weiteren sozialen Umgebung oder im Berufsleben. Beziehungsformen wechseln nicht nur im Laufe der Zeit, sondern bestehen auch nebeneinander und stellen dadurch einen eigentlichen »Beziehungstanz« dar.
Auch die Zugehörigkeit zum einen oder anderen Geschlecht bestimmt die Art und Weise mit, wie wir etwa Eigenständigkeit, Autonomie und Aggression in der Kindheit formen lernen und unsere Liebesgeschichte ausbilden. Im folgenden möchte ich einige wichtige Aspekte unseres In-der-Welt-Seins angehen und vor allem die geschlechtsspezifischen »Schattierungen« herausarbeiten, die mit ihm verbunden sind.
Einverleibtes Urvertrauen
Hunger und Sättigung
Das Kind im Mutterleib lebt schwerelos in einer es völlig umfangenden Welt und über die Nabelschnur in einer ständigen pulsierenden Verbindung mit dem mütterlichen Organismus. Nach der Geburt pulst die Nabelschnur langsam aus, während sich der Blutkreislauf des Kindes dramatisch umstellt und sich die Lungen erstmals entfalten. Die Abnabelung bedeutet, daß eines der grundlegendsten Muster unseres Lebens in Kraft tritt: die Lungenatmung. So erlebt das neugeborene Kind das Ende der bisherigen Existenzform in der ununterbrochenen Verbindung mit einer lebensspendenden Quelle.[9] Ein neues Muster formt sich durch das Stillen: Hunger-Erfüllung-Sattheit - Hunger ...[10] Dieses organismische Muster ist jedoch ein ganzheitliches, das eine Grundlage für »Hunger« und »Sattsein« auf den verschiedensten Ebenen unseres Daseins bildet. Der »Mund-Brust-Kontakt« als Grundmuster ist eingebettet in ein differenziertes Beziehungskontinuum, in dem sich das Kind diesen Rhythmus von Verbindung und Trennung einverleiben lernt.
Wenn dieser Rhythmus als Trink- und Beziehungsrhythmus gestört ist, bildet das Kind entsprechend beeinträchtigende Muster aus: Es zieht sich zusammen oder versteift sich, identifiziert sich krampfhaft mit seinem Getrenntsein auf Kosten möglicher Verbindung oder bildet ein Muster des »Ungestilltseins« heraus, der Sehnsucht nach Verbundensein. Ich brauche nichts, ich kann es allein, ist eine zugehörige Geschichte mit dem Hintergrund: Wenn ich bedürftig bin, bin ich ausgeliefert. Eine andere Geschichte lautet: Meine Sehnsucht ist übergroß, mein Hunger unstillbar - ich darf mich ihm gar nicht aussetzen. Das Sehnsuchtsmuster ist letztlich nicht mehr auf Erfüllung ausgerichtet, sondern macht sich selbständig, ist eine Verkörperung, die Erfüllung gar nicht mehr zulassen kann. Das Sehnsuchtsmuster ist eine »Verewigung des Hungers«. Dies zeigt sich vor allem darin, daß Sättigung gar nicht als solche erlebt wird: Ich habe Angst davor, daß du weggehst. Dann ist wieder alles vorbei. Diese Äußerung zeigt, daß gar kein Vertrauen in einen Rhythmus da ist. Es gibt kein »nächstes Mal«, keine Kontinuität im Wechsel. Getrenntsein und Verbundensein sind deshalb oft isolierte Zustände, die nichts miteinander zu tun haben. Die Rhythmen von Hunger und Sättigung, von Nähe und Getrenntsein wären jedoch miteinander verbunden.
Trennung und Verbindung bekommen im Laufe der Kindheit die verschiedensten Gestaltungsaspekte: in dem Maß, wie das Kind sich selbst als eigenen Organismus erfährt, beginnt es, Verbindung bewußt zu gestalten, etwa in Form von Austausch und Zärtlichkeit. Es lernt, sein Nein, seine Abgrenzung auszubilden und sie wieder aufzulösen. Es bekommt ein Gespür für seinen Innenraum, begibt sich in eigene, von ihm selbst gestaltete Räume Höhlen, Hütten, Zimmerecken - und bildet Geheimnisse, die es für sich behält oder preisgibt.
Im Jugendalter beginnt sich ein weiteres Verbindungs-Trennungsmuster auszubilden:[11] der sexuelle Kontakt mit dem anderen Geschlecht. Er beruht auf der vorübergehenden pulsierenden Verbindung der Genitalien. Auch hier können frühere Erfahrungen den Wechsel von sexuellem Hunger und Erfüllung beeinträchtigen und entsprechende Konflikte hervorrufen. Doch sexuelle Störungen haben auch einen anderen Hintergrund, denjenigen unserer Überflußgesellschaft, in der alle Bedürfnisse - auch die Sexualität maximalisiert und konsumiert werden müssen: »Wir werden nicht einen Mangel an Befriedigungsmitteln, an Gütern haben, sondern an Bedürfnissen; nicht die Ressourcen sind begrenzt, sondern die Wünsche.«[12]
Wenn wir die menschliche Entwicklung überschauen, ergibt sich die folgende Dynamik: Wir beginnen unsere Existenz damit, daß wir in einer Welt leben, völlig umfangen von ihr. Dann folgen die Trennungs-Verbindungsrhythmen. Im Laufe unserer Kindheit beginnen wir jedoch auch, eine Welt in uns zu formen, bis wir als erwachsene Menschen eine Welt in uns tragen, die wir anderen Menschen mitteilen können. Diese gegenseitige Teilhabe ist ein wesentliches Element menschlicher Beziehungen.[13]
Der »Grund« unseres Daseins
Das Gestalten menschlicher Beziehung läßt sich nochmals von einer anderen Seite her verstehen: Das Kind lebt zunächst in einer Welt, die es gänzlich umfängt und eine gewisse Einförmigkeit aufweist. Durch die Geburt gerät diese Welt in Bewegung. Sie verengt sich mit dramatischem Druck, gibt wieder Raum frei, verengt sich von neuem und schiebt das Kind in einen engen Tunnel. Es wird dabei erstmals hautnah berührt, stimuliert und massiert und rutscht Zentimeter um Zentimeter durch den Geburtskanal, bis sein Kopf und anschließend sein Körper geboren werden. Plötzlich wird der Raum weit und unendlich: »Unfaßbarer, unbegreiflicher Augenblick, Augenblick der Geburt, in dem das Kind die Mutter verläßt ... Seht, es treibt an den Strand. Noch tragen es die Wellen. Stoßen es etwas höher den Strand hinauf. Setzen es schließlich ab.
Nun ist es frei. Und verwirrt von seiner Freiheit...«[14]
In hautnahem Kontakt mit der Mutter beginnt das Neugeborene sich zu »ent-falten«. Es findet im neuen Weltraum seinen Halt durch das Berührt- und Getragensein. Der für das Kind unendliche Welt-Raum ist gegründet im leibhaften Beziehungs-Raum, den zunächst die körperliche Präsenz der Mutter gewährt. Gibt es diese nicht, so wird die Unbegrenztheit der Welt, der das Neugeborene ausgesetzt ist, zum Ab-grund. Der »soziale Uterus« ermöglicht es dem Kind also, Vertrauen in den »Grund« des Daseins zu finden, und schließlich, sich selbst zu be-gründen.
Getragensein ist also ein qualitatives Erleben. Ausdrücke wie »ich fühle mich aufgehoben, getragen« geben die Ganzheitlichkeit dieser Erfahrungen wieder. Sie zeigen jedoch noch ein Weiteres: Getragensein wird zu einer einverleibten Erfahrung. Ihr Fehlen zeigt eindrücklich, worum es geht. Eine junge Frau, die erstes Aufgehobensein hatte entbehren müssen, sagte zu mir, sie fühle sich wie eine umherirrende Sternschnuppe im All. Ein anderes Mal äußerte sie: »Manchmal habe ich den Eindruck, ich könnte durch die Maschen der Schöpfung hindurchfallen.« Ein Mann fand für sein Existenzgefühl das Bild eines kleinen grünen Pflänzleins in einer Pechlandschaft. Dies sind alles Bilder, welche die Grundlosigkeit des eigenen Daseins, die Verlorenheit und Einsamkeit zum Ausdruck bringen. Es gibt jedoch für die einzelnen Menschen nicht nur die beiden Extreme Verlorenheit und Vertrauen, sondern ein Spektrum von Möglichkeiten, bei denen das Vertrauen in den Grund des Daseins intensiver oder anfälliger ist, was sich auf das Gestalten von Beziehungen auswirkt.
Doch was ist organismisch gesehen dieser »Grund«, in den wir unter günstigen Bedingungen Vertrauen gewinnen, jenes Urvertrauen,[15] das wir als eine Qualität unserer Existenz wahrnehmen? Es ist eine Wahrnehmung der tragenden, lebendigen Kraft unseres eigenen Organismus. Ein Traum, den ich vor einiger Zeit hatte, mag diese schwer zu beschreibende Qualität bildhaftatmosphärisch zum Ausdruck bringen:
»Ich stand allein auf einem Felsen und schaute hinunter ins Tal, in dessen Tiefe auch ein See lag. Ich spürte Lust, vom Felsen zu springen, hatte jedoch Angst vor der Gewalt des Fallens. Dennoch entschloß ich mich, setzte zum Sprung an - mit angehaltenem Atem. Doch der erwartete Sturz blieb aus: Ich schwebte und >flog< langsam nieder. Die Luft hatte die Qualität einer feinen, durchsichtigen Flüssigkeit, die mich auf- und niedertrug. Ich schwebte leicht in die Höhe zu den Wolken hinauf und mit ausgebreiteten Armen, die Brust der Tiefe zugewendet, wieder nieder. Immer wieder. Das ganze hatte für mich eine fließende, ruhige und zugleich spielerische Qualität. Darüber wurde es langsam Nacht. Während ich weiter der Tiefe zu und wieder hinaufschwebte, sah ich unter mir tausende farbige Lichter, die ein reiches Muster bildeten, das mich an lichtdurchflossene Glasfenster in Kirchen erinnerte. Immer wieder schwebte ich auf die Farbenlichter unter mir zu. Meine Brust weitete sich, und ein wachsendes Entzücken, eine selige Erregung erfaßte mich. Dann erwachte ich. - Ich fühlte mich neu, sehr zart und lebendig. Die >flüssige Luft< war mein eigenes Protoplasma, in dem ich entsprechend der pulsierenden Bewegung des Organismus auf- und niederschwebte.«
Der Traum bedeutete das Ende einer langen Phase der Niedergeschlagenheit, die auf einen schweren Unfall meiner kleinen Tochter gefolgt war. Dabei war ich auch meiner eigenen Verlassenheit im Spital in den Monaten nach meiner Geburt und später in vielen Kinderheimaufenthalten nochmals begegnet. Nun hatte ich tiefer als je zuvor den »Grund meines Daseins« erspürt und mich mit der Lebendigkeit meines pulsierenden, mein Leben »tragenden« Organismus gefunden.
Aufgehobensein wird durch die Urerfahrung des kleinen Kindes schließlich zu einer eigenen ganzheitlich-organismischen Qualität. Sie wird erlebbar als Vertrauen in sich selbst, als Erfülltsein von sich selbst und zugleich auch als Grundvertrauen in die Existenz, in die universale Lebensbewegung.
»Einverleibte Beziehung« ist Einheit der Beziehung zu sich selber und zu anderen. Urvertrauen ist der »Grund« unseres Bezogenseins. Wenn Kinder sich gefährdet oder überfordert fühlen, wollen sie dahin zurückkehren und sich dieses Grundes wieder versichern. Sie möchten auf den Arm genommen werden, sich einkuscheln. Wir nennen dieses Verlangen »Regression«.[16] Wieder klein sein wollen bedeutet, jenes Getragensein nochmals zu erfahren, das dem eigenen Organismus den Kontakt mit diesem Beziehungsgrund wieder ermöglicht und verstärkt, wenn er sich unter dem Druck einer Situation verringert hat. Zu kurz gekommene Kinder können auf diese Weise auch einen organismischen Lernprozeß nachholen, der ihnen früher verwehrt war. Ähnliches gilt auch für den therapeutischen Prozeß mit erwachsenen Menschen, die diesen »Beziehungsgrund« in sich nicht leibhaft auszubilden vermochten.
Es gibt noch eine andere Möglichkeit, zu diesem »Grund« zurückzufinden. Wenn mein fünfjähriger Sohn nachts zu mir kommt und sich an mich kuschelt, spüre ich, wie er mit seinem ganzen organismischen Sein in vertraute Babymuster zurückkehrt. Sein Mund macht sogar manchmal wieder jene Saugbewegungen, die ich aus der Zeit des Stillens von ihm kenne. Bei kleineren Kindern ist diese Rückkehr deutlicher spürbar, doch kehren wir alle mehr oder weniger ausgeprägt wenigstens im Schlaf in diesen »Grund« zurück.
Die Erfahrung des Getragen- und Aufgehobenseins ermöglicht es jedoch auch, sich fallenlassen zu können. Jene Frau, die Angst hatte, sie könnte durch die Maschen der Schöpfung hindurchfallen, empfand es als lebensbedrohend, sich fallenzulassen. Sehr viele Menschen in unserer Kultur reißen sich zusammen und meiden all jene Zustände, welche etwas von der Qualität des Fallens haben. Sie können nicht ruhen, haben Mühe mit dem Schlafen oder mit dem Übergang zwischen Wachen und Schlafen und mit tiefen Beziehungen zu anderen Menschen. Auch »to fall in love« ist gefährlich, wenn Beziehungen die Qualität eines tragenden Grundes nie oder nur wenig aufwiesen.[17] Angst vor Nähe ist sehr oft Angst vor der Grundlosigkeit, welchen Namen wir ihr auch geben mögen. Sie ist nicht für alle Menschen gleich groß, doch wir berühren fast alle immer wieder einmal diese Grund-Angst. Es mag hilfreich sein, sie als das zu erkennen, was sie ist. Nicht jede Angst vor Nähe hat allerdings mit dieser Angst vor dem Grundlosen zu tun.
Und noch etwas ist für erwachsene Beziehungen - auch für diejenige zwischen Frau und Mann - bedeutsam: Wir bilden zwar eine erwachsene Beziehungsform heraus, doch gleichzeitig tragen wir in unserem Organismus auch alle früheren Beziehungsstufen als Möglichkeiten mit. Eine lebendige Beziehung zu leben bedeutet, im Miteinandersein den Kontakt zu den verschiedenen Schichten des Selbst aufnehmen, ihn bei sich selbst und beim anderen zulassen zu können. Es geht nicht nur darum, sich »In die Liebe fallenzulassen«, sondern auch darum, sich in der Liebe fallenzulassen, und zwar wechselweise. Das kann spielerisch, zärtlich oder eine ernste Versenkung sein. Es geht zunächst nicht darum, eigene Defizite aufzuholen, sondern darum, andere Schichten an die Oberfläche kommen zu lassen. Darf ich das verspielte kleine Mädchen, der kleine Bub sein? Darf ich dir in die Arme springen? In deinem Schoß liegen? Darf ich in deinem Bauch sein? An deiner Brust liegen? Kannst du mir Vater und Mutter sein? Bruder und Schwester? ... Ich meine dies nicht als Ausschließlichkeit, die immer den anderen - und sich selbst - auf bestimmte Muster festlegt oder vom anderen Heilung erwartet. Ich meine es vielmehr als eine Form der Intimität, in der es möglich wird, einander das weite Spektrum des eigenen Selbst zu zeigen und anzuvertrauen.
Manchmal gelingt diese Rückhaltlosigkeit, dieses schöpferische Anklingenlassen der verschiedenen Ebenen erst nach langer Zeit, manchmal auch eher in den ersten Jahren der Liebe, wenn die Kreativität in der Beziehung noch lebendig ist, die Rollen weniger festgelegt, tiefe Wunden aus der eigenen Geschichte noch nicht vom anderen berührt und verletzt sind. Ich habe selbst diese Möglichkeit mit einem Mann in meinem Leben über eine längere Zeit erleben dürfen und dadurch Zugang zu mir bisher unbekannten Aspekten meines Selbst gefunden und mich mit solchen, die ich für illegitim hielt, versöhnen gelernt. Vor allem habe ich begriffen, daß das »Eintauchen in den Beziehungsgrund« nicht ein wehrloses Versinken, sondern Aufgehobensein bedeutet und einen Aspekt des Beziehungsspektrums darstellt, in dem wir uns bewegen können.
Eine jüngere Frau erzählte mir, wie sie mit ihrem Freund diesen »Beziehungsgrund« erlebte: »Ich begann die Beziehung zu meinem Freund mit dem Entschluß, endlich eine >erwachsene Frau< zu sein. Ich identifizierte mich vor allem mit der sexuellen Leidenschaft, die ich erstmals so intensiv erlebte. Mit der Zeit waren wir nicht mehr nur leidenschaftlich, sondern oft auch verspielt, experimentierten mit unseren sexuellen Möglichkeiten. Dazwischen erzählten wir einander stundenlang von unserem Leben, unseren Gefühlen, berieten einander in bezug auf bestimmte Lebenssituationen. So wurden wir langsam vertrauter miteinander. Wir spürten, wo unsere Verletzlichkeiten waren. Da erlebten wir eines Tages etwas für uns sehr Wichtiges. Wir waren in ein Thermalbad zum Baden gegangen. Dort waren wir fast allein und spielten im Wasser miteinander. Dann hielten wir uns eng umschlungen und wiegten uns hin und her, auf und ab. Mein Freund streichelte mich sanft, trug mich. Ich ließ mich plötzlich fallen, war eins mit dem Wiegen, machte Saugbewegungen, saugte das Wasser von seiner Haut, kuschelte meinen nassen Kopf an seine Brust, während mir die Tränen hinunterliefen. Er wischte mir mit der Zunge die Tränen, das Wasser weg. Ich lachte und weinte gleichzeitig ... Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis wir in die >Wirklichkeit< zurückkehrten. Wir berührten das, was wir erlebt hatten, nicht mit Worten. Doch es war eine neue Innigkeit zwischen uns, die uns neue Formen von Nähe ermöglichte und unsere Angst vor Distanz beiderseits verminderte. Wir können nahe sein und einander auch wieder loslassen.«
Auch andere Erfahrungsebenen können so zum Tragen kommen. Eine jüngere Frau sagte nach ihrer ersten Schwangerschaft: »Erst als ich einen dicken Bauch bekam, spürte ich überhaupt, wie schön es ist, einen Bauch zu haben. Nach dem ersten Leeregefühl unmittelbar nach der Geburt begann ich, meinen Bauch ernster zu nehmen, liebkoste ihn oft. Und erstaunlicherweise - oder doch nicht! - begann sich mein Mann öfter in meinen Schoß zu legen. Er streichelte meinen Bauch auch, obwohl kein Kindlein mehr darin war. Er selber hatte eigentlich seinen Bauch immer gemocht, und ich hatte ihn dafür oft belächelt. Einmal, als ich so mit meinem Bauch >meditierte<, hatte ich das Gefühl, schwanger zu sein. Und gleichzeitig war ich das Kind im Bauch. Ich spürte beides in völliger Gleichzeitigkeit und Einheit. Es war ein überwältigender Augenblick. Ich war tragend und getragen zugleich, war Mutter und Kind in einem. Ich war meine eigene Mutter für das Kind in mir und das Kind meiner Mutter, die ich war ... Und mir war, als sei ich irgendwie angekommen, zu Hause, auf dem Grund bei mir - und gleichzeitig bei meinem Mann.«
Beziehungen vertiefen sich, wenn dieser »Grund,< immer wieder einmal berührt wird. Es gibt auch Beziehungsphasen, in denen der Kontakt zu diesem Grund spürbarer und intensiver ist. Manche Paare leben auch eine Zeitlang fast ausschließlich in einer »symbiotischen Beziehung«, um damit eigenen früheren Mangel auszugleichen. Das mag not-wendend sein. Oft ist allerdings dann der Übergang in eine andere Beziehungsform, die einen größeren Wechsel von Nähe und Distanz beinhaltet, schwierig und schmerzhaft. Tiefgehende Defizite können jedoch durch eine Partnerschaft nicht ausgeglichen werden. Hier braucht es einen heilenden Beziehungsraum, den eine Partnerschaft, die einen spektralen Beziehungsraum mit verschiedenen Ebenen darstellt, nicht bieten kann. Eine echte Chance - auch für die Partnerschaft - besteht jedoch darin, das Spektrum der eigenen Beziehung auszuweiten und zu vertiefen bis zum »Beziehungs-Grund« im Miteinandersein zwischen Partnern, mit Kindern, mit nahestehenden Menschen überhaupt. Es gibt in uns nicht nur ein Breitenspektrum, in dem wir lernen, Nuancen eines Gefühls - etwa von Freude oder Wut zu formen. Es gibt ebenfalls ein »Tiefenspektrum«, das die Schichten unseres Selbst bis hin zum Beziehungsgrund umfaßt und das auch in erwachsenen Beziehungen »ins Spiel« gebracht werden kann.
Leibhafter Dialog
Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, daß wir schon von Geburt an beginnen, uns in Beziehungen und durch Beziehungen zu formen. Dies ist ein ganzheitlicher Prozeß, der deshalb immer auch als leibhafter Dialog zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen verstanden werden kann. Dabei nimmt das Kind die Intentionalität oder Qualität des Kontaktes auf. Es spürt etwa, ob die Mutter oder der Vater sich ihm als ganze Person zuwendet oder sich im Kontakt versteift, zusammenzieht, abgewandt bleibt, depressiv oder besitzergreifend ist. Dann vermag das Kind keine eigene lebendige Form zu entwickeln, versteift seinen Organismus gegen die Berührung, vermag keine Grenzen auszubilden, zieht sich zusammen oder ist wie gelähmt. Die Schwingung von Mutter und Vater zum Kind beeinflußt weitgehend, wie das Kind die Beziehung zu den Menschen und zu sich selber, zum eigenen Pulsieren formt. Unsere weiche, ungeschützte Vorderseite ist besonders empfänglich für die Schwingung des anderen, und wenn keine Zu-neigung da ist, bildet es einen starken, die Lebendigkeit einschränkenden Schutz gegen die Welt aus, oder es wird so verletzlich, daß es deshalb die Menschen von sich fernhält. Es wird zudem meist eine Form ausbilden, in der es auch sich selbst gegenüber nicht liebevoll zu sein vermag.
Ein wichtiger und intensiver Bereich unserer Beziehungsgestalt ist Berührung. Doch gerade unsere Gesellschaft ist sehr berührungsarm. Wir geben uns knapp die Hand - nur Frauen dürfen einander allenfalls umarmen. Kinder waren lange Zeit sehr schnell für Zärtlichkeiten »zu groß«, und Babys wurden allzuschnell in Kinderzimmer weggelegt. Hautnähe reduzierte sich oft auf »funktionales Berühren«. Zudem galten - und gelten - Berührung und Zärtlichkeit als »unmännlich«. Frauen haben, auch vor allem im Zusammenhang mit den Kindern oder untereinander, einen gewissen Narren-Freiraum, der ihnen etwas mehr an Hautnähe ermöglicht.
Ein kleines Kind ist fundamental auf Berührung angewiesen. Je inniger die Beziehung zwischen Mutter oder Vater und Kind ist, desto reicher und differenzierter ist dieses Spektrum an Hautkontakt, vom Stillen über Tragen und Pflegen bis zu verspielten Zärtlichkeiten. Gerade das Stillen selbst initliert eine Fülle von Berührungsmustern: saugen, im Arm liegen, hochgehoben und wieder an die Brust genommen werden, später auch spielen mit den Brustwarzen usw. Berühren und Tragen in den verschiedensten Formen regen den kindlichen Organismus an und vertiefen den Austausch zwischen dem Kind und seiner Bezugsperson. Meist sind es die Mütter, die in der Beziehung mit ihrem Säugling neue Dimensionen von Berührung und Zärtlichkeit erleben. Die Zärtlichkeit des Babykörpers, sein Duft, seine Bewegungen, der alle Sinne beanspruchende intensive Kontakt mit dem Kind dieses Erleben vermag in der Mutter, manchmal auch bei Vätern, gleichsam neue Sinne wachzurufen. Gerade wenn die Partnerschaft arm an Hautnähe und Zärtlichkeit war, ziehen sich Mütter auf die Nähe mit ihren Kindern zurück. Mütter größer werdender Kinder erleben das Seltenwerden verspielter und zärtlicher Nähe oft als schmerzlich.
Liebevolle Berührung ist ein lebendigkeitspendender Aspekt des leibhaften Dialogs mit dem Kind, Lieb-losigkeit eine ebenso leibhafte Beeinträchtigung. Dazu sagte eine Frau, deren Körper - ihr selbst unbegreiflich - bei jeder Berührung zusammenfuhr: »Der Körper meiner Mutter war so kalt, daß ich immer erschrak, und ihre Hände waren hart, wenn sie mich anfaßte. Ich verstehe jetzt, warum ich immer das Gefühl hatte, ein Ding, ein Gegenstand zu sein, und mich auch selbst so behandle.« So bilden sich entsprechende Muster im Zusammenhang mit Berührung aus. Menschen empfinden Berührung nur als Druck, als Bedrohung, als unangenehm, oder sie können nur berühren, ohne sich berühren zu lassen, oder wollen nur angerührt werden, ohne selber geben zu können. Sie können kein Spektrum an Berührung ausbilden und pflegen und »hantieren« ohne Zärtlichkeit, greifen zu, ohne leise berühren zu können, oder lernen nicht richtig anzufassen, berühren nur »wie ein Hauch«. Oder Berührung wird sogleich erotisiert, ist nur im Zusammenhang mit Sexualität möglich.
Alle diese Unvermögen und Einengungen werden in der Beziehung Erwachsener bedeutsam und führen oft zu schmerzhaften Beziehungsproblemen. Sie stehen im Zusammenhang damit, welche Qualitäten von Berührung ein Mensch in seiner Kindheit erlebte und wie das Berührungskontinuum durch die Kindheit hindurch Gestalt fand. Die unterschiedliche Sozialisation von Mädchen und Buben auch im Hinblick auf Zärtlichkeit und Nähe eröffnet sehr häufig eine Kluft in der Begegnung zwischen Frau und Mann.
Immer wieder erlebe ich in der Therapie, welch tiefe Bedeutung der »mitschwingende« Körperdialog für unsere Entwicklung hat. Einmal hielt ich eine Frau im Arm, Brust gegen Brust. Sie empfand dabei ein tiefes Bedürfnis nach mütterlicher Nähe und weinte, als sie meine Berührung spürte. Mit der Zeit wurde sie ruhiger. Der Rhythmus ihres Atems, den ich direkt an meiner Brust wahrnahm, vertiefte sich. Ich hatte den Eindruck, daß wir beide von einer auf- und niedergehenden Welle getragen waren. Es war eine wortlose, selbstverständliche Einheit. Dabei bemerkte ich, daß wir im selben Rhythmus atmeten. Irgendwann begann die Frau sich zu bewegen, sich zu räkeln, zu strecken und schließlich lachend umherzukugeln. Dann kuschelte sie sich wieder an, entfernte sich, kam wieder und saß zuletzt still mit geschlossenen Augen da, in ihre eigene Atmung versunken. Nach einer längeren Zeit sagte sie, indem sie die Augen weit öffnete und mich anlachte: »Du hast mich atmen gelehrt. Ich hatte sonst immer ein Durcheinander mit meinem Atem. Mit deinem Atem konnte ich den meinen finden. Ich konnte mich sogar wegbewegen, und er war immer noch da, ist es noch.« In dieser Erfahrung kam die fundamentale Bedeutung unseres leibhaften Dialogs eindrücklich zum Tragen.
Das liebende Mitschwingen, Zu-Neigung und die Abgrenzung der eigenen Gestalt sind die Basis dessen, wie wir Beziehung leben können. Eine Frau, die ich in einer Übung in einer Gruppe bat, einfach dazustehen und dann langsam ihre Hände aufzutun, spürte, wie sie fast ohnmächtig wurde, als sie ihre Hände zu öffnen begann. Sie hatte gelernt, mit geschlossenen Fäusten in der Welt zu stehen und »sich zu behaupten«. Wenn sie die geballten Fäuste auflöste, begann sie, in sich zusammenzusacken: »Ich verliere dabei allen Halt«, sagte sie. ich bat sie, die Haltung des Zusammensackens zu verstärken und anschließend wieder aufzulösen. Nach der Übung stand sie aufrecht da. Als sie aus dieser Haltung heraus ihre Hände öffnete, nahm sie wahr, wie sich ihre Brust weitete und die Atmung sich vertiefte: »Mein innerer Raum wird größer, meine Brust beweglich und doch stark.« Ich bat sie, Augenkontakt mit mir aufzunehmen, wenn sie dazu bereit sei. Gleich wollte sie ihre Brust wieder versteifen. Als sie diesem Impuls nachging, entstand ein Trotzmuster mit dem Satz: »Du kriegst mich nicht!« Der Abschied von diesem Muster ermöglichte es ihr, still vor mir zu stehen, mich anzuschauen. Ihre Erfahrung faßte sie später in die folgenden Worte: »Wenn ich mich trotzig versteife, spüre ich nur mich. Du kannst mir nichts anhaben, aber ich habe auch keine Verbindung zu dir. Wenn ich in mich zusammensacke, sehe ich nur dich, aber du bist dann übermächtig. Vorhin jedoch war eine Verbindung mit dir. Ich spürte meine Atembewegung. Doch sie war gleichzeitig wie eine Bewegung zwischen uns.« Damit formulierte die Frau die paradoxe Einheit von Individualität und Verbundenheit, die Beziehung ermöglicht, ohne sich an den anderen zu verlieren oder sich nur gegen ihn abzugrenzen.