An die Grenze kommen - existentielle Erfahrungen und stumme Geschichten

Das Allmachtsparadigma überschreiten: Wandlung als Grund-Form unseres Lebens

Die Ausgrenzung existentieller Erfahrungen in unserer Gesellschaft

»Herr der Lage« zu sein, alles in der Hand zu haben und zu kontrollieren ist eine Grundtendenz unserer modernen Industriegesellschaft, die sich in dem Maße verstärkt, wie die Auswirkungen unseres Handelns uns weltweit zu entgleiten drohen. Doch dieser »Herr der Lage« ist kein einzelner, der zur Rechenschaft gezogen werden könnte, sondern eine gigantische gesellschaftlich-wirtschaftliche Superstruktur, die sich selbst dem Zugriff entzieht. Die Machttendenzen steigern sich zunehmend zu einem All-Machtswahn,[1] der in letzter Konsequenz in Ver-Nichtung umschlägt, indem das Leben selbst zu-nichte wird. Die Ohnmacht der Macht kommt in den Blick, doch dieser Blick ist wiederum getrübt durch die Vorstellung und Geschichten zur Macht.
Die Allmachtsmuster unserer Gesellschaft haben deshalb einen hohen Preis: Sie schränken das Lebendige ein, reduzieren die Lebensbewegung allgemein auf funktionale und lineare Muster, die als handhabbare erscheinen. So müssen auch existentielle Erfahrungen ausgegrenzt, die Konfrontation mit Geburt und Gebären, mit Sterben und Tod, mit Endlichkeit und Vergänglichkeit ihrer Bedeutung enthoben werden. Aus demselben Grund wurde in diesem Jahrhundert auch die Trennung der verschiedenen Lebensbereiche verschärft und zementiert. [2] Diese Entwicklung setzte unter anderem ein, als die Familie durch die Industrialisierung im 19. Jahrhundert ihre Funktion als Produktions- und Versorgungsgemeinschaft verlor. Der Berufsbereich wurde von der familialen Gemeinschaft abgetrennt, das Leben »halbiert«. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bekamen die einzelnen Lebensbereiche immer stärker den Charakter von Ghettos: familiäre Ghettos in Großstädten durch riesige Siedlungen, oft weit vom Arbeitsort entfernt, mit erschreckender Anonymität und sozialer Gleichförmigkeit, Arbeitsplatzghettos, abgespalten von jeder Art alltäglichen Lebens, Ghettos für Kranke und Sterbende. Die Reduktion der Familie auf die Kernfamilie, die immer stärker zur Klein- bis Einkind-Familie wurde, führte zudem zur Ghettoisierung auch der alten Menschen.
Diese Abtrennung und schließlich Ghettoisierung der Lebensbereiche und Menschengruppen hatte einen wesentlichen Kontaktverlust mit dem Lebenskontinuum zur Folge, das Aufgehobensein in einem umfassenden Ganzen, aber auch Erfahrung eigener Begrenztheit und Vergänglichkeit bedeutete. Es entstanden in diesem Zusammenhang neue Rituale des Verwaltens und Kontrollierens. Prozesse wurden zu Abläufen umgedeutet, wie sich gerade am Beispiel der Geburt besonders deutlich zeigen läßt. Die programmierte Geburt ist nur eines der sichtbarsten Kennzeichen dieser Tendenz.[3]
So entsteht ein schmerzhafter Widerspruch auch im Lebenszusammenhang der Frau. In der Folge der familialen Entwicklung wurde sie immer mehr zur alleinigen emotionalen Versorgerin der Familie. Ihr obliegt die »Lebensarbeit« und die Betreuung der Kinder. Die Arbeit im Haushalt ist zwar einfacher geworden, die Schaffung des Lebensraumes für die Kinder hingegen komplexer. Frauen müssen vor allem die immer weiter auseinanderliegenden Lebensbereiche überbrücken - diejenigen der Kinder und des Mannes und haben die in diesen anderen »Welten« entstehenden Defizite der Familienmitglieder auszugleichen.[4] Ihnen ist die Verbindung zu den Ghettos wie etwa Krankenhaus und Altersheim überbürdet, und sie sind verantwortlich für die Bildung sozialer Netze.
Was lassen sich daraus für Schlüsse ziehen? Frauen bewegen sich am Rand der durch das Allmachtsparadigma geformten Lebensgestaltung. Ihnen ist es auferlegt, eine letzte - oft illusionäre -oder gar nur organisatorische Verbindung zwischen den getrennten Bereichen herzustellen. Das Lebenskontinuum zu wahren gelingt ihnen jedoch kaum, weder für sich noch für die Familie. Doch sind gerade Frauen selbst immer wieder sehr unmittelbar mit existentiellen Situationen konfrontiert: zunächst durch das Erleben ihrer Körperlichkeit, die im Zusammenhang mit dem Fruchtbarkeitszyklus, mit Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit tiefgreifende Veränderungen erfährt. Die Erfahrungen im Geburtsbereich konfrontieren Frauen unmittelbar mit der Endlichkeit und Un-Berechenbarkeit des Lebens überhaupt. Frauen sind eingefaßt in den Prozeß des »Stirb und Werde«, der sich auf die eigene Person und auf das Kind, das getragen und geboren wird, das gestillt und gepflegt werden will, bezieht. Frauen erleben dadurch intensiv, was es bedeutet, »an die Grenze zu kommen«, verletzbar zu sein, das Leben nicht in der Hand zu haben.
In unserer vom Allmachtswahn beherrschten Gesellschaft gibt es jedoch kaum Raum, noch weniger eine Sprache für solche Erfahrungen,[5] und da es keinen Resonanzraum für sie gibt, besteht die begreifliche - Tendenz, sie zu verdrängen. Existentielle Erfahrungen werden von der Gesellschaft selbst entwertet, und so kommen Frauen dazu, schmerzliche Erfahrungen in diesem Bereich sich als »Fehler« oder »Schuld« anzulasten und beglückenden Erfahrungen nicht zu trauen, ihnen nicht den gemäßen Raum zu geben, ja ihn sich entwenden zu lassen, oft ohne es zu merken. Sie bringen sich also nicht nur um Schmerz und Trauer, sondern auch um ekstatische Erfahrungen - um Grenzerlebnisse überhaupt, die ihnen aus ihrer weiblichen Existenz zuwachsen könnten.

Schwellen und Übergänge gestalten

Wir haben das Leben selber nicht »in der Hand«, auch wenn wir uns verschiedene bemächtigende Geschichten erzählen mögen. Das Wagnis des Lebens bedeutet vielmehr, uns seiner Bewegung hinzugeben und sie gleichzeitig zu gestalten. Das ist ein unaufhebbares Paradox. So ist jede ausgebildete Lebensgestalt immer eine vorläufige, sich wandelnde und ist gleichzeitig in der ganzheitlichen Bewegung des Lebenskontinuums aufgehoben. Dadurch bringt uns jede Wandlung auch in Berührung mit einem »Stirb und Werde«. In diesein Sinn möchte ich jetzt dem Allmachtsparadigma das Wandlungsparadigma gegenüberstellen und seine Bedeutung für das Leben der Frau weiter entfalten.
Die Grunddynamik von Wandlung läßt sich auf folgende Weise charakterisieren:[6] Immer wieder bilden wir in unserem Leben eine neue Form und damit auch eine neue Identität aus, etwa im Übergang zum Erwachsenenalter oder zur Mutterschaft, mit dem Beginn einer neuen Liebesbeziehung, beim Aufgeben der Berufstätigkeit im Alter, aber auch im Laufe individueller Krisen. Die neue Form wird uns gewohnt und vertraut, bietet Sicherheit. Sie ist es, die uns oft lange am Alten festhalten läßt, selbst wenn damit auch schmerzliche und einschränkende Erfahrungen verbunden sind. Und doch bilden innere und äußere Notwendigkeiten, Unruhe und Unzufriedenheit mit dem Bisherigen den Anstoß, die vertraute Form wieder aufzulösen. Wir nehmen Abschied von ihr, nehmen das Risiko auf uns, das damit verbunden ist - das Risiko, unsere Sicherheit aufzugeben. Die Grenzen, die wir ausgebildet haben, verschwimmen. Damit kommen wir in eine Phase des Übergangs, in der die alte Form nicht mehr ist, eine neue sich noch nicht gebildet hat. Wir nähern uns dem Zustand des Ungeformten, setzen uns Unsicherheit aus, sind uns selber fremd und unbekannt. Dies mag mit Angst verbunden sein, aber auch mit Neugier und Entdeckerlust. Verdrängte Geschichten kommen an die Oberfläche, es findet jedoch auch ein intensiver Kontakt zu den eigenen Tiefenschichten statt, der »vergessene Schätze« zum Vorschein bringt, kreative Möglichkeiten freisetzt. Es ist eine Inkubationszeit, eine »Schwangerschaft«. Ein neues Selbst ist im Entstehen begriffen.[7] Diese Übergangsphase ist gekennzeichnet durch die Einheit von gestalten und geschehen lassen.
Nicht nur Schwangerschaft, auch die Geburt ist ein adäquates Symbol für diesen Prozeß, da eine Geburt die Dynamik von »Stirb und Werde« auf eine kurze Zeitspanne zusammendrängt, ob wir sie aus der Sicht der gebärenden Frau oder des zur Welt kommenden Kindes betrachten. Die Frau stirbt als diejenige, die sie war, um als Mutter geboren zu werden. Das Ungeborene wird vom Fötus zum Kind. Viele Frauen erleben die Zeit kurz vor der Geburt als Todeszone.[8] Sie empfinden die Angst vor dem Unbekannten und die Sehnsucht nach dem Neuen, dem Kind. So stellt sich auch das Werden eines neuen Selbst oft als Geburt eines Kindes dar: Wir werden geboren, und wir gebären uns selbst, sind uns selbst Mutter und Kind in einem. Als ich mich vor einigen Jahren in einer wichtigen Übergangsphase befand, spürte und sah ich in einer Meditation im Raum zwischen meiner Brust und meinen Armen ein neugeborenes Kind liegen. Seine Augen waren geschlossen, als zögere es noch auf der Schwelle zum neuen Leben. Als ich dieses Kind zu zeichnen versuchte, glich es meinem Sohn kurz nach der Geburt und war gleichzeitig auch Bild für das neue Selbst in mir, das am Entstehen war.
Eine Geburt - symbolisch oder real - ist immer auch eine Grenzerfahrung. Wieder wähle ich ein Geburtserlebnis von mir, um das deutlich werden zu lassen: Als meine Tochter - mein erstes Kind geboren war und sie plötzlich auf meinem Bauch lag, hatte ich das Gefühl - oder eher die Vision - daß sich der ganze Raum um mich herum einmal um seine Achse drehte. Das Geschehen war unfaßbar, sprengte mein raumzeitliches Wahrnehmen. Es war ein Grenzerlebnis, das mich aus all meinen gewohnten Kategorien hinauswarf. Als meine Freundin ihren Sohn auf dem Bauch hielt, einige Sekunden nach der Geburt, sagte sie immer wieder, wie entrückt: »Ich glaube es nicht ... nein, ich glaube es ja nicht ...« Der ekstatische Ausdruck auf meinem Gesicht, der mich auf Fotos so seltsam berührt hatte und den ich auf dem Gesicht meiner Freundin wiedererkannte, zeigte dieses »An-die-Grenze-Kommen«, die Grenzzone, in der sich Tod und Leben berühren, den Augenblick, in dem wir bei uns selber sind und uns doch fremd, über uns hinausgelangen und alte Grenzen sprengen.
Die leibliche Geburt ist jedoch wiederum auch Bild jeder Geburt, das heißt jeder Wandlung. Die Dynamik ist vielleicht leiser, dauert über längere Zeit und ist nicht so eindeutig wahrnehmbar. Doch die Grundfigur ist dieselbe. Die leibliche Geburt erschließt zudem eine weitere Dimension: Das Werden einer neuen Form, eines neuen Selbst braucht eine liebevolle Begrüßung wie das neugeborene Kind und ein Vertrautwerden mit ihm. So entstand in mir nach dem Bild des Neugeborenen ein anderes, das mich an meine erste Be£eLnung mit meiner Tochter unmittelbar nach der Geburt erinnerte: Ein Mädchen lag auf meinem nackten Bauch, den kleinen Kopf zwischen meinen großen Brüsten. Ich spürte seine Wärme, seine ersten sich entfaltenden Bewegungen. Dem neu geborenen Selbst Raum zu geben ist eine »mütterliche« Zuwendung, die seine lebendige Form sich entfalten läßt.
Freilich erzähle ich hier zur Wandlung auch eine Geschichte - meine Geschichte - mit der ich versuche, eine Perspektive anzudeuten, in welcher das Werden eines neuen Selbst organismisch das Entstehen einer lebendigen Form und gleichzeitig eines neuen Zugangs zu unserem eigenen Pulsieren darstellt.
Jedes Neue in uns ist jedoch nicht etwas radikal anderes, sondern gleichzeitig eine Variante früherer Grundmuster aus unserem Lebenskontinuum. Ich möchte dies anhand eines Beispiels verdeutlichen: Im Mutterleib lernt das Kind das Bewegungsmuster des Schwimmens. Mit ihm - nur in veränderter Form - »schwimmt« es in einer ungeheuren Drehbewegung aus dem Mutterleib hinaus und erkundet unmittelbar nach der Geburt das neue Element Luft mit den aus dem Element Wasser vertrauten Bewegungen, lernt sie mit der Zeit dem neu erschlossenen Raum anpassen. Robben und Kriechen, schließlich auch Gehen sind immer eine jeweils neue Gestalt und gleichzeitig eine Umgestaltung des Urmusters »Schwimmen«. [9]
Das weibliche Lebenskontinuum bietet Bilder und Erfahrungen an, die helfen, ein vertieftes Verständnis von Wandlung zu gewinnen. Wenn wir den Prozeß, der zur Menarche und viel später zur Menopause führt, oder die Menstruation als Zyklus betrachten, handelt es sich um eine Figur von Wandlung. Dasselbe gilt von der leiblichen Schwangerschaft und Geburt. So begegnen wir als Frauen immer wieder demselben Grundmuster von Wandlung, nur in verschiedenen Formen. Wir können dies als Herausforderung für die Gestaltung unseres Lebens annehmen und uns davon inspirieren lassen. Zwar kann der Menstruationszyklus als Störung erlebt, die Menopause als Makel interpretiert, die Schwangerschaft als notwendige Begleiterscheinung aufgefaßt und die Geburt auf einen Ablauf reduziert werden, der mit der Entbindung endet. Das sind von der Gesellschaft angebotene Erfahrungsmuster, in entsprechenden Praktiken konkretisiert. Umgekehrt besteht die Möglichkeit, sie als Figuren von Wandlung ganzheitlich zu vollziehen. Frauen können von ihrem Menstruationszyklus, von ihrer Schwangerschaft, Geburt und von der Menopause lernen, was es bedeutet, Formen zu bilden und aufzulösen, Altes sterben zu lassen und Neues zu gebären. Das ist eine Chance und keine Gegebenheit.
Zugleich gestalten wir unsere Übergangszeiten immer auf individuelle Weise. Wir sehen vielleicht, wie wir sie zu überspringen versuchen, sie lange hinauszögern, überstürzen oder in Angst geraten. Die eigenen Übergangsmuster zu erspüren bietet die Möglichkeit, sorgfältiger mit dem Prozeß von Wandlung umzugehen, eine reifere Lebensgestaltung zu finden und auch den letzten Übergang einzuüben: das Sterben. Sterben lernen wir, indem wir leben lernen, denn Leben bedeutet Gestaltwandel. Die großen Erfahrungen sind einander verwandt: Geburt - Gebären - Liebesvereinigung - Sterben. jede dieser Erfahrungen ist eine Grenz-Erfahrung, in der sich personales Erleben mit archalsch-vitalen und geistigkosmischen Dimensionen verbindet, und jede bedeutet Wandlung, vollzieht den Prozeß von »Stirb und Werde«. Die fundamentalen Prozesse unseres Lebens sind miteinander verwandt und machen seine lebendige Gestalt aus: das je individuell geformte Kontinuum unseres Lebens. Um die Gestaltung von Übergängen - ob es sich um überpersönliche Wendezeiten oder persönliche Krisen handelt - nochmals zu konkretisieren, möchte ich die folgenden Fragen als Impulse zum Erspüren eigener Übergangsmuster geben: Versuchen Sie einmal zu visualisieren, welche Figur Ihre Gestaltung von Wandlung hat. Sie können sich dazu auch einige Hilfsfragen stellen:

Bisherige Gestalt:

- Verlassen Sie eine gewonnene Gestalt sehr schnell wieder, weil Sie Unruhe, Langeweile spüren?
- Dürfen Sie an einer eingeübten Gestalt Freude empfinden, oder gilt das Geformte wenig?
- Halten Sie sehr lange an einer gewohnten Gestalt fest? Vielleicht auch dann, wenn Sie spüren, daß Sie loslassen müßten? Können Sie spüren, was Sie dazu bewegt, am Gewohnten und Eingeübten festzuhalten? Wie halten Sie das Alte fest?

Auflösung, Abschied:

- Wie formen Sie die Auflösung einer Gestalt? Welche Gefühle tauchen dabei auf (Angst, Neugierde, Hilflosigkeit)? Und welche Geschichten erzählen Sie sich dazu?
- Erleben Sie diese Phase als sehr schwierig oder inspirierend? Als sehr langwierig oder schnell, gar überstürzt?
- Wie erleben Sie den Übergang vom Gewohnten zur Auflösung?

Übergang, wenig Form:

- Wie erleben Sie die Phase, in der das Bisherige sich aufgelöst hat und das Neue noch nicht greifbar ist (zu überspringen versuchen, passiv werden, sich gelähmt fühlen, erregt sein usw.)?
- Welche Beziehung haben Sie dazu, etwas in sich wachsen zu lassen, mit dem Neuen schwanger zu sein? Wie gestalten Sie Ihre Inkubationszeit?

Neuformung:

- Wie formen Sie eine neue Gestalt? Was bedeutet für Sie »Einübung«?
So können wir vielleicht einen Zugang dazu finden, wie wir selber Übergänge gestalten. Dies zu ergründen ist vor allem dann wichtig, wenn wir in einer Übergangsphase sind, die wir schwer bewältigen können.

Organismische Grundmuster von Wandlung

Für viele Frauen stellen Geburtsträume eine Möglichkeit dar, den Bezug zum eigenen Selbst, das Werden einer neuen Form zu begreifen. Nicht nur Frauen im Bereich des Gebärens, sondern auch ältere Frauen haben intensive Geburtsträume. Sehr oft häufen sie sich gerade während der Wechseljahre oder in einer Lebenskrise. Eine Frau im Alter von achtundfünzig Jahren hatte nach einer tiefgehenden Partnerschaftskrise, die ihr einen neuen Zugang zu sich selbst ermöglichte, den folgenden Traum:
»Ich bin am Gebären und befinde mich in einem großen, hellen Zimmer, in dem nur ein Bett steht. Ich kann mich frei bewegen, weiß aber, daß ich mich jederzeit auch hinlegen darf, betreut von meiner Hebammen-Freundin und von meinem Mann - beide mir unbekannte Gestalten. Ich sage zu den beiden: >Ist es nicht wunderbar, daß ich sechsundzwanzig Jahre nach der Geburt meiner Tochter nochmals eine Geburt erleben darf - zu Hause und nicht in der Klinik?< Plötzlich erblicke ich an einer Wand ein großes Geviert, auf dessen rot-blau zerfließendem Hintergrund ein Tierkreis gemalt ist. Wir stellen uns alle drei davor und rätseln, in welchem Zeichen wohl das Kind zur Welt kommen werde. Plötzlich sehe ich, wie sich der rotblaue Grund an einer Stelle rechts unten aufzuwölben beginnt. Die Farben dehnen sich aus und bekommen Glanzlichter. Die Stelle erscheint vollkommen plastisch, wie von einem kräftigen Herzschlag durchpulst. Ich betrachte fasziniert, wie der Fleck Leben gewinnt. Ich zeige darauf und sage mit Bestimmtheit: Genau da wird sich das Kind manifestieren.«
Dieser Traum bringt das Wesentliche mit aufregender Deutlichkeit zum Ausdruck: Das »Kind«, das werdende Selbst ist pulsierende Lebendigkeit. Oder anders ausgedrückt: Es wird dort in Erscheinung treten, wo der Kontakt mit dem Puls des Lebens geschieht. Doch nicht das Bild pulsierender Zellen allein ist von Bedeutung, sondern ebenso die dem Traum innewohnende erregende Atmosphäre, die mit innerer Klarheit und Bestimmtheit verbunden ist. Sie ist Ausdruck des organismischen Zustandes der Träumenden und gleichzeitig eine inspirierende Kraft für sie.
Initialträume können von da her verstanden werden als bildhafte und organismische »Sprache« für ein werdendes Selbst, ob es sich nun um Träume über Geburt, Sterben oder andere existentielle Erfahrungen handelt. Träume sind jedoch auch Hilfsquellen im eigenen Wandlungsprozeß, nicht nur deren Ausdruck. Mit dem folgenden Beispiel möchte ich diesen Aspekt weiter ausführen.
Eine Frau, die einige Monate zuvor ein Kind durch eine Totgeburt verloren hatte, träumte den folgenden Traum: »Ich war am Gebären. Ich preßte mit aller Kraft. Aber es nützte alles nichts. Das Kind rührte sich nicht. Da sagte ich zu mir: >Du mußt jetzt entspannen, gehen lassen.< Und ich ließ alles los. Da spürte ich einen kleinen Rutsch in mir - das Kind war tiefer hinuntergekommen. Da begann ich wieder mit allen Kräften zu pressen. Wieder rührte sich das Kind nicht. Da entspannte ich erneut und ließ einfach los. Siehe da, das Kind rutschte wieder weiter. Nochmals versuchte ich zu pressen, aber es half nicht. Als ich zum drittenmal losließ, kam das Kind zur Welt. Ich sah es herauskommen, aber es wurde gleich größer und war ein etwa sechs Jahre altes Kind. Es glich meiner Tochter, aber auch mir selbst.«
Durch die Totgeburt hatte diese Frau schmerzlich erfahren, daß es Bereiche gibt, denen sie einfach ausgesetzt ist. Sie war mit ihrem vertrauten Muster, »es« schon machen zu können, an eine Grenze gekommen. Solange sie im Traum versuchte, aktiv zu sein, kam ihr neues Selbst nicht zum Vorschein. Der Traum zeigte ihr, daß sie dieses Muster loslassen mußte, damit das »Neue« zur Welt kommen konnte. Während sie den Traum erzählte, sah ich, daß sie körperlich-emotional das vollzog, wovon sie sprach: Ihre kontrollierende Spannung verminderte sich. Sie befand sich in einer Haltung gelösten und gleichzeitig aufmerksamen Wartens. Der Traum mit seinem Bild gab ihr eine klare organismische Anweisung, wie sie ihr altes, in der Herkunftsfamilie eingeübtes Muster des Kontrollierens und Machens, das mit Versteifung einherging, aufzulösen vermochte. Sie erkannte dabei, daß wache Aufmerksamkeit ihrer inneren Bewegung gegenüber und Geschehenlassen eine Einheit bilden können und keine Gegensätze darstellen müssen.
Die Schicht in ihr selbst, auf die sie mit dem sechsjährigen Kind verwiesen wurde, war ihr zunächst nicht zugänglich. Als ich sie fragte, was ihr denn selbst in diesem Alter wichtig gewesen sei, kam sie auf die beglückende Atmosphäre, die mit ihrem Eintritt in die Steiner-Schule zusammenhing. Sie erinnerte sich an intensive Naturerlebnisse, an ihre Kreativität damals. Der bevorstehende Schuleintritt ihrer Tochter berührte diese Schicht in ihr wieder. Als ich sie bat, mit der geschilderten Atmosphäre in Kontakt zu bleiben, spürte sie sich weit werden, Wärme aufsteigen und sich ausbreiten. Die Atmung vertiefte sich ... Die Geburt ihres Sohnes war zugleich ein Sterben gewesen, eine schmerzliche existentielle Erfahrung. Während des Trauerprozesses begann auch der kontrollierende Aspekt ihres alten Selbst zu sterben und gab Raum für eine lebendigere Möglichkeit, mit sich und bei sich zu sein. Später stellte sich heraus, daß der Traum nicht nur den endgültigen Abschied von ihrem toten Kind bedeutet hatte, sondern ebenso den Beginn neuen leiblichen Lebens: Einige Tage später geschah die Empfängnis des Kindes, mit dem die Frau jetzt schwanger ist. Es wird bald zur Welt kommen.
Damit wird eine weitere Dimension sichtbar: Immer wieder lösen wir eine Form auf sterben - und bilden eine neue, gebären uns und werden geboren, beides in einem. Manchmal ist damit auch leibliche Schwangerschaft und Geburt verbunden, gehen diese beiden Ebenen ineinander über. Jede Wendezeit, jede Krise oder auch ein therapeutischer Prozeß stellt ein »kleines Sterben« dar. Jede dieser Wandlungen ist jedoch gleichzeitig auch ein Einüben unseres »großen Sterbens«. So wird Wandlung zu einer Chance für die Gestaltung des eigenen Lebens und für diejenige des großen Sterbens am Ende unseres Lebens.[10]
Wenn jede Wandlung, jedes Vollziehen von Übergängen ein »Stirb und Werde« und damit eine Einübung in das große Sterben bedeutet, so bildet die je eigene Geburt - unser erstes »Stirb und Werde« - ein Grundmuster für das Gestalten von Übergängen aus. Wenn wir es zu erspüren vermögen, können wir lernen, Übergänge anders zu gestalten.[11]
Ein Mann, dessen Geburt lang und zäh gewesen war, hatte die größte Mühe, sich in Übergangszeiten zu entscheiden. Er zögerte alles so lange hinaus, bis von außen her eine Entscheidung fiel - genau so, wie seine Geburt von außen mit der Zange beendet worden war. Ein anderer Mann sprach in einem Workshop davon, daß er stets ein würgendes Gefühl im Hals verspüre, wenn er seine Gefühle zum Ausdruck bringen wolle. Als ich sah, wie er seinen Hals verkrampfte, fuhr es mir durch den Kopf: Das könnte ein uraltes Muster sein. Es stellte sich heraus, daß er bei der Geburt die Nabelschnur um den Hals gehabt hatte und beinahe erstickt wäre. Da erhob sich eine Teilnehmerin, die Hebamme war. Sie nahm kurz entschlossen ein Tuch, legte es um den Hals des Mannes, drehte seinen Kopf, bis das Tuch ihn zu würgen begann und mimte so präzise die traumatische Geburt. »Genau das ist es«, sagte der Mann anschließend und atmete erstmals ganz tief durch. Dadurch wurde es möglich, mit dem »Würgemuster« zu arbeiten, mit dem er sich jeden persönlichen Ausdruck leibhaft abgeschnitten hatte.
Wenn die eigene Geburt ein Grundmuster für Wandlung darstellt, so kommen wir in jeder Wandlung, in jeder individuellen Krise und in Wendezeiten mit diesem Muster in Kontakt, aufgrund dessen wir unsere Übergänge gestalten. Im Leben der Frau können etwa die Wechseljahre oder das Gebären eine Herausforderung zur Umgestaltung des individuellen Übergangsmusters sein.
Ich möchte nun ein Beispiel für den Zusammenhang zwischen der eigenen Geburt und dem eigenen Gebären geben: Eine Frau, die selbst durch Kaiserschnitt geboren worden war, erlebte ihre erste Geburt so: »Während der Preßwehen hatte ich plötzlich das Gefühl, nicht weiterzukommen. Ich war wie vor einer Wand. Ich preßte und hatte gleichzeitig den Eindruck, alles was ich tue, nütze nichts. Die Hebamme sagte: >Es kommt.< Aber die Aussage hatte nichts mit mir zu tun. Ich preßte gehorsam. Plötzlich lag das Kind auf meinem Bauch. Zwischen meinen Anstrengungen und der Geburt gab es in meinem Gefühl keine Verbindung.« In der auf diese Geburt folgenden therapeutischen Arbeit erlebte die Frau in tiefer Regression ihre eigene Geburt: Sie empfand sich wie vor einer Wand, strampelte und kämpfte vergebens. »Plötzlich hatte ich das Gefühl, die Welt drehe sich um mich - und ich war draußen.« Die Ähnlichkeit zwischen ihrer eigenen Geburt und derjenigen ihres Kindes war für sie selbst augenfällig. Zudem erkannte sie darin das Muster, mit dem sie auch die anderen Übergänge gelebt hatte: vergebliches Bewirken - Wand - jähe Wendung mit einem tiefen Orientierungsverlust und einem Gefühl völliger Ohnmacht. Es gab keinen erlebbaren Anteil ihres eigenen Gestaltens.
Als die Frau kurze Zeit später wieder schwanger wurde, träumte sie mehrmals, wie sie preßte und dabei die Bewegung des Kindes bis zum Damm und sein Geborenwerden genau spürte. Als die Geburt dann kam, erlebte sie den Prozeß so, wie sie ihn geträumt hatte: Sie spürte jede Phase ihrer Geburt, erlebte die »Todeszone« kurz vor dem Durchtritt des kindlichen Kopfes und war präsent, als das Kind kam. Sie war dabei mit ihrer eigenen Stärke, ihrer Möglichkeit »mitzutun«, in Kontakt gekommen. Im Zusammenhang mit der Therapie, die in der letzten Phase konkrete Geburtsvorbereitung gewesen war, konnte sie lernen, ein anderes Muster für Übergänge, für Wandlung auszubilden, in dem sie nicht mehr »Opfer« sondern auch Mit-Täterin war: »Ich hatte das Gefühl, daß es meine Geburt war«, sagte sie später über diese zweite Geburt.
Wandlung ist also immer ein leibhafter, ein organisinischer Prozeß. Doch bringen wir auch entsprechende - ebenfalls leibhafte Muster mit, aufgrund derer wir Übergänge gestalten. Träume bringen uns nicht nur mit diesen Mustern in Kontakt, sondern helfen auch mit, sie aufzulösen. Therapeutische Methoden können uns überdies mit unserem Urmuster für Übergang - mit der Geburt - in Berührung bringen und ebenfalls dazu beitragen, neue Übergangsformen herauszubilden.

»Das Kind« in mir

Im Laufe unseres Lebens haben wir nicht nur einen, sondern viele Körper, allein in der Embryonalzeit sind es über fünfhundert. Wir haben einen kindlichen Körper, einen jugendlichen, den Körper eines jungen Erwachsenen ... Es handelt sich dabei zunächst um die Ebene des biologischen Körpers, der uns mitgegeben ist, dessen Entwicklung einem organismischen Programm entspricht. Doch ebenso verkörpern wir uns als Kinder unserer Familie und Gesellschaft, haben also auch einen sozialen Körper. Aus den Erfahrungen der Kindheit formen wir die Grundmuster unserer Verkörperung, die wir auch in unser Erwachsenenalter mitnehmen. Unsere Entwicklung, die wir zunächst als einen chronologischen Ablauf fassen können, ist nicht nur eine zeitliche Dynamik. Vielmehr tragen wir die Verkörperung entsprechender Lebensphasen noch immer als Schichten unseres Selbst in uns weiter. Wir können uns auch als Erwachsene »kindlich«, »jugendlich« oder gar »fetal« fühlen. Allerdings gibt es Menschen, die sich krampfhaft an ihre erwachsene Existenz klammern und alle kindlichen Aspekte von sich weisen. Und es gibt Menschen, die sich erwachsen geben und sich kindlich, ja kleinkindlich, fühlen, Menschen, die in Kindlichkeit steckengeblieben sind.
Unsere Entwicklung stellt ein Wachstum von einer Form zur nächsten dar. Bei vielen Menschen wurde diese Formbildung in irgendeiner Weise in bestimmten Phasen beeinträchtigt. Dadurch wird es schwierig, eine lebendige erwachsene Form herauszubilden, die einen schöpferischen Kontakt mit den anderen, kindlichen Schichten des Selbst zuläßt. Mit allen Schichten sind immer auch Geschichten verbunden, die - oft unbewußt - mit der entsprechenden Form einhergehen, etwa: »Nur kein Kind sein, dann bist du ausgeliefert und hilflos.« - »Nur als hilfloses Kind kannst du von anderen etwas bekommen.« - »Nur keine Frau werden - das ist für die anderen viel zu gefährlich.« Es ist jedoch klar, daß »Kindsein« in jeder dieser Geschichten eine Verkörperung darstellt, sei es das resigniert-eingesunkene, das trotzig-verdichtete, das stolz sich versteifende Kind. Daraus läßt sich etwas für uns sehr Wichtiges ableiten: Das Kind, das ich war, ist nicht einfach eine Vergangenheit, sondern ein in der Tiefe meines Organismus bereitliegendes Muster, das an die Oberfläche kommen kann. Wir verkörpern also das Kind in uns auf eine je individuelle Weise.
Viele Menschen haben eine negative Beziehung »zu dem Kind, das sie waren«. »Ich will mit diesem Kind nichts mehr zu tun haben«, sagen sie vielleicht, »ich bin froh, daß ich erwachsen bin.« Oder: »Ich will es vergessen, ich kann es nicht ausstehen!« Dieses »Kind« ist jedoch nicht Vergangenheit, es ist ein ständig wieder auftauchendes Bild mit einer zugehörigen Geschichte, die wir uns immer wieder erzählen. Es ist organismisch noch ein Teil der eigenen Gestalt, die wir immer wieder als Muster verkörpern. Wir formen das »linkische Mädchen«, das »dicke, unförmige Kind«, das »böse Kind« in uns. Das Muster kommt - oft unbewußt - in bestimmten Situationen wieder an die Oberfläche oder kann durch Imagination und entsprechende Übungen spürbar gemacht werden. Auch eigene Kinderfotos können diesen Prozeß unterstützen.
Eine ältere Frau brachte mir eine Fotographie aus ihrer Säuglingszeit, die ein kräftiges und frohes Baby zeigte. »Findest du das Bild auch so schlimm?«, fragte sie mich. Ich schaute sie völlig verständnislos an: »Schlimm??«, fragte ich. »Ja, siehst du, meine Mutter fand es immer gräßlich. Sie rief jedesmal aus, wenn sie es sah, und legte es gleich wieder entsetzt weg.« Ich sagte zu ihr: »Schau dir das Bild jetzt an! laß dir Zeit. Nimm einfach wahr, was du siehst.« Nach einer längeren Pause: »Es ist doch gar kein häßliches Baby! Es ist ein herziges Kind mit seinen Pausbacken.« Das war ein erster Schritt, um der eigenen Wahrnehmung zu trauen und eine neue Beziehung zum von der Mutter und damit auch von ihr selbst abgelehnten «Kind« zu finden und damit zu einem neuen Aspekt ihrer selbst. In der gleichen Zeit träumte sie, daß sie ein Kindlein in Eis und Schnee gefunden habe. Es war vor Kälte erstarrt. Sie nahm es unter ihre Kleider und wärmte es auf, bis es sich zu bewegen begann. Sie trug es nach Hause ... Der Traum war also eingebettet in einen Prozeß, in dem die Frau begann, ihre Erstarrung, die sie aus einer lieblosen Kindheit mitgebracht hatte, aufzulösen, indem sie buchstäblich »auftaute«.
Der Kontakt mit dem kleinen Kind in uns kann jedoch auch einen »vergessenen Schatz«, eine Kostbarkeit zutage fördern, die uns neue Möglichkeiten für unsere Lebensgestalt erschließt. Dabei bleibt das Geschlecht des Kindes vielleicht ohne große Bedeutung oder stellt gerade den wesentlichen Aspekt dar. In diesem Zusammenhang zeichnete eine jüngere Frau zwei Bilder von sich. Das eine stellte ein kleines Mädchen, eine »lustige Bohne« dar, das andere das Mädchen im Übergang zum Erwachsenwerden sittsam auf einem Stuhl sitzend. Unter das zweite Bild schrieb sie: »Seht nur! Ich bin die tüchtige, strahlende B. Körperliches Befinden: angespannt und gestelzt, Beine aneinandergepreßt, Füße nur halb auf dem Boden, Fersen abgehoben, Hände fassen einander, flache Atmung, Zwerchfell hoch, Brustbein vorgestellt, Härte zwischen Schulterblättern, Tendenz zu hohlem Kreuz, Hals eingebogen, Kopf nach vorn gestreckt, Gesicht in >strahlendem< Lächeln fixiert. Gefühle: geteilt in stolz und unsicher, bewunderungssüchtig, >Ich bin einsame Spitze< und >wie lange halte ich das noch aus, bis man's merkt?< Umwelt: Mutter, Vater, Lehrer, Pfarrer, Publikum.« Zum ersten Bild, das die »lustige Bohne« darstellte, schrieb sie: »Guete Tag! Körperliches Befinden: angenehm, nackte Füße auf dem warmen Grasboden, Arme und Beine frei, leichter Körper in leichter Kleidung, Sonne im Gesicht, neugierige Augen, struppiges Haar. Gefühl: lebenslustig. Umwelt: Wasser, Gras, Luft, Sonne, Tiere, die Welt, Kinder, die mit mir spielen wollen.«
Welches war der Zeitpunkt gewesen, in dem die »lustige Bohne« zum sittsamen Mädchen wurde? »Mit zwölf jahren«, antwortete die Frau. Und weshalb war es so wichtig, zu diesem »tüchtigen« Mädchen zu werden? Sie sagte darauf: »Ich durfte nicht zur Kirchweih oder sonst mit den anderen gehen. Zuerst durfte ich nicht, und später hatte ich keine Ahnung, wie ich es überhaupt anstellen sollte, mich einem Burschen zu nähern. Ich wurde nur rot und begann zu schwitzen. Dafür wurde ich ehrgeizig. Oh! Das war der Ausweg. Für meine Leistungen bekam ich Lob, Bewunderung. Das hob mich hinweg über die Tatsache, daß ich nie einen Freund hatte. Im Schulzimmer war ich überlegen. So konnte ich lange meinen Schmerz und meine Sehnsucht zudecken.«
Hier wird die mangelnde Vorbereitung des Mädchens auf den Umbruch der Pubertät, noch zusätzlich umstellt mit Tabus, deutlich. Solange sie ein Kind war, durfte sie lebendig sein, doch als die Lebendigkeit den Bereich des Erotischen und Sexuellen mit eingeschlossen hätte, mußte sie erstarren. Ich regte die Frau an, die »lustige Bohne« zu verkörpern. Da sagte sie: »Ich bin unbeschwert. Ich weiß nicht, was als nächstes passiert. Ich habe Lust, etwas zu machen. Ich schaue raus in die Welt. Ich bin neugierig.« Darauf sagte ich: »Dies ist ein Schatz, den dir dieses Kind gibt. Versuche zu spüren, wie es ist, wenn du ihn annimmst.« »Ich spüre ein Kribbeln am ganzen Körper. Der Kopf wird zusehends leichter. Die Füße setze ich fest auf.« Ich antwortete ihr darauf: »Es ist eindrücklich, wie sichtbar wird, ob eine Form nährt oder nicht. Sobald sie nährt, wird der Körper lebendig.« Für die junge Frau ging es nicht darum, einfach die »lustige Bohne« zu verkörpern, sondern darum, eine erwachsene Form zu finden, in die sie die Lebendigkeit des kleinen Mädchens integrieren konnte.
Das »Kind« in mir ist eine Schicht meines Selbst, die entdeckt, angenommen, oft weiter entfaltet oder umgeformt werden will. Eine wichtige Bild-Ebene betrifft demnach auch das »Wachsen des Kindes«. Sie zeigt an, daß wir dem Kind in uns, das früher in seinem Wachstum hin zur erwachsenen Gestalt beeinträchtigt gewesen war, l»etzt dieses Wachstum ermöglich.en können. Auch dafür möchte ich ein Beispiel geben. Es handelt sich um einen Ausschnitt aus der Arbeit mit einer Klientin in einer Wochenendgruppe, welcher einen neuen Zugang zu ihrer eigenen Lebendigkeit, zum Kind in ihr ausdrückt.
Sie malte ein Bild ihrer Lebensdynamik. Es zeigte Figuren auf einem Halmabrett, die nur auf Schnittpunkten stehen durften. »Mit etwa vier Jahren konnte ich nicht mehr die lustige, umherrollende Kugel sein. Ich mußte mit aufs Brett. Beim Zeichnen bekam ich Lust, mich mitten ins Feld zu stellen. Als ich die Zeichnung nachher bei der Besprechung meiner Kollegin zeigte, mußte ich Blätter hineinzeichnen - etwas Lebendiges.« Das Bild zeigt die zwanghaft starre Struktur des familiären Systems, aber auch ihre eigene leibhafte Starre und Schematisierung, die im Auflösen begriffen war. Als wir mit dem Bild des Halmabrettes arbeiteten, ließ ich Gaby auf einem solchen Schnittpunkt stehen. Neben und hinter ihr stellte ich noch andere Teilnehmer als Figuren auf. Ich ließ sie von einem Schnittpunkt zum andern gehen. Gaby scherte nach einer Weile aus und begann, sich zu bewegen. Plötzlich stockte sie. »Ich möchte gern über das Raster hinwegspringen, doch ...«, da begann sie zu weinen. »Ich möchte springen und habe Angst, ins Leere zu fallen.« Und sie schluchzte weiter. Ich vermutete, daß nie jemand sie aufgefangen hatte. »Hast du jemals in jemandes Arme springen können?« fragte ich. »Eben nicht«, sagte sie. »Möchtest du?« fragte ich. »Ja«, sagte sie plötzlich fest und entschlossen. »Ich dachte das auch. Jemand müßte mich auffangen.« Ich forderte Gaby auf, sich jemanden auszuwählen, und sie nahm sich einen sehr kräftigen Teilnehmer. Sie stellte sich auf ein Sofa und sprang ihm mehrmals wie ein Kind in die Arme. Er fing Gaby auf und trug sie. - Dann sagte sie: »Ich möchte mich nach hinten fallen lassen.« Derselbe Mann fing sie von hinten auf, ließ sie immer noch ein bißchen weiter fallen. Dann äußerte sie den Wunsch, sich auch nach vorne fallen zu lassen. Ich stellte mich vor sie hin, und wir schubsten Gaby hin und her, bis sie genug hatte. Im Fallen begann sie, eine neue Form - die des Vertrauens - einzuüben. In der Folge setzte sie zu Hause diese »Übung« fort, weil sie erkannte, daß sie dadurch ihren Lernprozeß vertiefen konnte. So war es ihr möglich, Kontakt zu ihrem lustigen Kind zu bekommen und ihr inneres Kind wachsen zu lassen.
Damit kommt jedoch eine weitere wichtige Perspektive in den Blick: Ich bin das »Kind in mir« und ich bin zugleich seine »Mutter«. Es handelt sich also auch um eine Beziehungsqualität, darum, eine liebevolle Beziehung zu diesem Kind in sich zu formen.
Es gibt eine Übung, die ich manchmal als Hilfe einsetze: Werden Sie ruhig, und entspannen Sie sich. Stellen Sie vor Ihrem inneren Auge eine Leinwand auf und lassen Sie darauf das Kind erscheinen, das Sie waren. Schauen Sie es an und spüren Sie, welche Gefühle Sie zu ihm haben, welche Wörter und Sätze Ihnen in den Sinn kommen. - Treten Sie nun näher zum Kind, Sie als erwachsene Person. Nehmen Sie Kontakt zu Ihrer Mitte auf. Nehmen Sie sich Zeit dazu. Lassen Sie jetzt aus Ihrer Mitte heraus heilende Worte oder Gesten aufsteigen, die dem Kind vor Ihnen helfen können. Gehen Sie jetzt noch näher zu diesem Kind und sagen Sie ihm, was innerlich in Ihnen aufsteigt, oder tun Sie innerlich, was Sie fühlen, das es braucht. Bleiben Sie eine Weile mit dem Kind und spüren Sie die Resonanz in sich. Dann verabschieden Sie sich von ihm und kehren zurück.
Eine Frau Mitte Vierzig, die schon eine Weile dabei war, sich mit dem Kind in ihr auseinanderzusetzen, sagte nach dieser Übung: »Ich sah plötzlich, wie traurig das Mädchen vor mir war, wie allein. Und daß es aus Verzweiflung so »unmöglich« war. Da hatte ich den Wunsch, es zu umarmen. Ich tat es und spürte dabei, wie es weich wurde und sich an mich schmiegte. Als ich mich verabschiedete, wurde es wieder traurig. Aber ich sagte ihm, daß ich es lieb habe und wieder in die Arme nehmen würde.« Während die Frau dies erzählte, sah ich sie selber weich werden. Tränen standen in ihren Augen. Ich bat sie, einfach da zu bleiben und das wirken zu lassen. Lange Zeit saß sie still, während die Tränen flossen. Dann legte sie die Arme um sich, als ob sie ein Baby wiegen würde. Wir sagten nichts mehr, und sie ging bewegt fort. Als sie eine Woche später wiederkam, sagte sie zu mir: »Weißt du, ich habe mich oft abends so gehalten, um die Wärme zu spüren ... ja, die Wärme für das Kind in mir. Die Wärme für mich. Es ist mir, als fange ich an, mich mit dem Kind in mir zu versöhnen. Und ich habe den Eindruck, daß es zu wachsen beginnt.« Dabei zeigte sie auf ihren Leib. »Ich bin erfüllt von dieser Wärme. Nur muß ich mich immer wieder halten, damit ich die Wärme nicht wieder verliere.«
Das ist ein bewegendes Beispiel dafür, wie eine Frau eine liebevollere Beziehung zu sich zu formen beginnt, angeregt durch eine Imagination, die ihr zeigte, wie sie diese Form lernen konnte. Und sie spürte selbst, daß sie diese leibhaft einüben mußte.
Die Entstehung eines neuen Selbst kann auch auf andere Weise sichtbar werden. Ein Mann, der schon jahrelang in Therapie kam, machte während eines Workshops eine Zeichnung, die er erschüttert in die Gruppe brachte. Er wollte sprechen und geriet ins Stocken. Da zeigte er uns das Blatt, auf das er geschrieben hatte: »Dieses Kind hat keine Sprache. Es kann nur versuchen, seine Sehnsucht zu zeichnen.« Das Bild zeigt einen Vater, umgeben von Büchern, der seine Lebensweisheiten ebenfalls aus einem Buch seinem Sohn doziert. Der Sohn jedoch hat keinen Boden, keine Umwelt. Er steht in einem totalen Vakuum, sprach- und weltlos. Die Not ist un-sagbar. Und doch gilt seine Sehnsucht dem unerreichbaren Vater, den er so dringend bräuchte. Ein Teilnehmer aus der Gruppe, der eben seinen kleinen Sohn verloren hatte, kam auf ihn zu und nahm ihn in die Arme. Paul begann heftig zu weinen. Durch die Zuneigung eines Mannes, der seinen Vater darstellte, fand er in der Erschütterung und im Schmerz eine neue anteilnehmende Beziehung zu sich selbst, zum verlorenen Bub in sich. Am Tag darauf zeichnete er ein Bild, das den Vater und ihn selbst in freundschaftlicher Umarmung zeigt. Es drückt nicht nur eine neue mögliche Beziehung zum leiblichen Vater aus, sondern auch zu dem Bub in sich, dem er nun selber ein liebevoller Vater zu sein vermochte.
Im selben Workshop machte ein anderer Mann ebenfalls eine Zeichnung und sagte dazu: »Ich wollte eigentlich mich selber zeichnen. Während des Zeichnens merkte ich plötzlich, daß ich ja meinen Vater zeichnete. Ich erschrak, weil mir deutlich wurde: >Du bist ja dein Vater!<« Die Zeichnung war im Zusammenhang mit einer intensiven Auseinandersetzung mit ihm entstanden. Er fuhr fort: »Dann mußte ich plötzlich noch eine Figur zeichnen. Sie wird noch nicht deutlich, ist erst in Umrissen da. Aber es ist mir klar: Das bin jetzt ich. Ich bin im Entstehen begriffen.«
Diese Beispiele zeigen, wie vielschichtig der Prozeß von Wandlung ist, der zum Formen eines neuen »Selbst« führt. Innere Bilder und Zeichnungen helfen, ihn für uns selber begreifbar zu machen.