Wege zu einer lebendigen Identität als Frau - überkommene Geschichten und neue Perspektiven

Der Körper als Objekt oder: Ich bin ein lebendiger Prozeß

Wenn wir vom »Körper« sprechen, glauben wir meist, auf sicherem Boden zu stehen. Wir meinen zu wissen, wovon wir reden. Schließlich hat ja jeder Mensch einen Körper. Und auch die Wissenschaft bewegt sich auf solidem Terrain. Ist das wirklich so? Oder beginnen hier bereits Geschichten, die wir gewohnt sind, uns zu erzählen?

»Ich habe einen Körper« - überkommene Geschichten und ihre Bedeutung

Bereits in der Antike wurde der Körper als »Sarg der Seele« aufgefaßt, und erst die Befreiung vom »Gefängnis Körper« konnte der Seele zu voller Entfaltung verhelfen. Damit erfassen wir eine »Körpergeschichte«, ja ein Grundmuster oder Paradigma, das lange welterwirkte und den Körper als lästige und hemmende Fessel beschreibt. Vor allem die jüdisch-christliche Tradition akzentuiert das Verhältnis von Körper und Seele als eine wertende Oben-Unten-Geschichte. Alles Instinkthafte wird als »tierisch« diffamiert, die »Natur« muß überwunden werden, um zum »Geistigen« zu gelangen. Durch diese Spaltung wurde ein Kampfmuster eingeführt, das für das einzelne Individuum aber auch für die ganze Kultur bestimmend wurde. Asketisches, bis zur Selbstkasteiung gehendes Leben und »Hinabstilisierung« des Fleischlichen zu Laster und Ausschweifung sind die Kehrseiten desselben Phänomens, das etwa in den mittelalterlichen - mit genußvoller Phantasie gemalten - Höllendarstellungen zum Ausdruck kommt, neben denen sich die Darstellungen der himmlischen Freuden oft seltsam blaß und langweilig ausnehmen. Der Mensch erlebte sich als ein zwischen Himmel und Hölle, zwischen Körperlichkeit und Geistigkeit zerrissenes Wesen. Der Körper mit seinen Trieben - wobei vor allem Sexualität gemeint war - erschien wie ein wildes Tier, das in Bann gehalten werden mußte. Diese Spannung konnte vermindert werden, indem der »sündige Teil« des Menschen auf das »Weib« projiziert wurde, auf die den Mann verführende Eva. So wurde es möglich, den Kampf aus dem eigenen Inneren nach außen zu verlegen, wie die Kirchengeschichte uns eindrücklich zeigt. Dabei wurde allerdings die Frau in dieselbe Spaltung hineingerissen. Sie war Eva oder Maria, Heilige oder Hure. So entstand eine pointierte männliche Spalt-Geschichte über Frauen, die ihnen die eigene Zerrissenheit aufbürdete und bei Menschen beiderlei Geschlechts bis heute nachwirkt.[1] Diese aufspaltende Geschichte läßt sich freilich auch umkehren, indem der Körper als das Natürliche verherrlicht wird. Nicht mehr der Geist ist das Bedeutsame, sondern das Untere, die »Erde«, die »Natur«. Hierbei handelt es sich allerdings um dieselbe Geschichte, nur mit anderen Vorzeichen.
Eine andere Variante besteht darin, »lch« und »Körper« aufzuspalten. Alan Watts, der fernöstlichem Denken verpflichtete englische Philosoph, stellte diese Geschichte folgendermaßen dar:
»Die meisten Menschen im Westen lokalisieren ihr Ego in ihrem Kopf. Du befindest dich irgendwo zwischen deinen Augen und deinen Ohren, und alles übrige baumelt an diesem Bezugspunkt! Dies ist anders in anderen Kulturen. Wenn Japaner oder Chinesen ihr eigenes Zentrum lokalisieren wollen, zeigen sie auf ihre Herzgegend. Einige Menschen empfinden ihr Ich auch im Sonnengeflecht. Aber wir im Westen empfinden uns selbst im allgemeinen mitten in unserem Kopf, als ob unter der Schädeldecke ein winziges Kontrollzentrum eingerichtet wäre. Wir haben wahrhaftig die Vorstellung, wir seien ein winzig kleines Menschlein, das mitten in unserem Kopf sitzt, mit Kopfhörern, um die Meldungen von den Ohren aufnehmen zu können, vor einem Fernsehschirm, der die Meldungen der Augen vermittelt, umgarnt mit Elektroden, die Empfindungen von der Haut heranleiten, und über ein Schaltpult mit Knöpfen, Zeigern und Hebeln gebeugt, mittels derer der Körper mehr oder weniger unter Kontrolle gehalten werden kann. Das Ich-Menschlein ist nicht mein Körper, denn ich bin ja Herr über die Handlungen des Körpers, die ich als willkürlich ansehe. Gewiß, die sogenannten unwillkürlichen Aktivitäten des Körpers stoßen mir zu, und ich werde von ihnen getrieben, aber bis zu einem gewissen Grad kann ich meinen Körper beherrschen. Dies ist, glaube ich, die im Westen übliche Auffassung vom Selbst.«[2]
Wir identifizieren uns in unserer Kultur vor allem mit der »Steuerungszentrale«, mit dem »Kopf«, an den der Körper angehängt ist.
Auf diese Weise entstehen dann auch Entgegensetzungen wie Kopf und Herz oder Kopf und Bauch. Auch in unseren überkommenen Geschichten werden der »Steuerungszentrale« Kontrolle und Macht zugeschrieben: »Das Ich neigt dazu, den übrigen Organismus so zu betrachten wie der Chauffeur seinen Wagen.«[3]
Unsere Körpergeschichten können also - aufgrund des überkommenen Spalt-Modells verschieden akzentuiert sein. Sie lassen sich in »Kerngeschichten« kristallisieren, die etwa lauten könnten: Der Körper ist das Untere, das durch den Geist in Schach gehalten und kontrolliert werden muß. - Er ist das Triebhafte, das mich zu überfallen droht. - Mein Körper ist Natur, die ich ausleben muß. - Mein Körper ist mein Besitz. Er muß funktionieren. - Ich kann meinem Körper nicht trauen, er ist mein Feind. - Ich darf meinen Kopf nicht verlieren, sonst bin ich ausgeliefert. - Nur was aus dem Bauch kommt, ist wahr. Der Kopf ist bedeutungslos.

Die Verkörperung unserer Beziehung zum Körper

Wenn wir uns bisher mit unseren kulturellen Spalt-Geschichten befaßt haben, die wir auch als Individuen mit uns tragen, so können wir davon ausgehen, daß es sich dabei um leibhafte Geschichten handelt: Wir verkörpern unsere Geschichte über den Körper - so paradox dies auch klingen mag. Wir verkörpern unsere Abspaltung vom Körper, wir verkörpern seine Unterdrückung, wir verkörpern das Kampfmuster zwischen »Ich« und »Körper«, sein statisches Objektsein, wenn es uns auch nie absolut gelingt.
Im folgenden möchte ich versuchen, die Verkörperung überkommener Geschichten anhand von Beispielen darzustellen. Sie stellen eine Verbindung von kulturellen, gesellschaftlichen und familiären Erfahrungen dar und bringen eine individuelle Antwort zum Ausdruck. Gleichzeitig sollen Perspektiven angedeutet werden, die sich durch die Auflösung bisheriger Geschichten ergeben können.
In einem ersten Beispiel geht es um eine in unserer Kultur übliche Geschichte der Herrschaft über den eigenen Körper. Sie wurde in einer bestimmten familiären Situation aufgebaut und als subjektiv beste Möglichkeit zum Überleben »gewählt«. Ein etwa fünfundvierzigjähriger Mann kam zu mir und erzählte mir seine »Herrschaftsgeschichte«:
»Ich habe meinen Körper immer abgehärtet, habe stets in eiskaltem Wasser gebadet, viel Sport getrieben und bin immer über die Grenzen meiner Erschöpfung hinausgegangen. Eigentlich gab es gar keine Grenzen mehr. >Weitergehen!< befahl ich mir stets - und es ging. Mein Wille war stärker als mein Körper. - Es war eine unendliche Genugtuung dabei, meinen Körper immer wieder zu besiegen. Ich machte die verrücktesten Dinge, aber der Sieg war mir gewiß. Ich erledigte die Arbeit von mindestens zwei Leuten. Ja - und dann hatte ich diesen Herzinfarkt... jetzt ist alles anders! Mein Körper hat mich hinterrücks angefallen. Er hat mich verraten. Ich habe immer wieder denselben verrückten Gedanken: Ich möchte meinen Körper für seinen Ungehorsam bestrafen. Doch ich bin an ihn gekettet. Ich bin von ihm abhängig - und das ertrage ich nicht. Wenn ich wenigstens tot wäre - dann müßte ich diese Niederlage nicht erleben.«
In dieser Geschichte wird das Kampfmuster auf Leben und Tod erschütternd sichtbar. Der Mann sieht seine Geschichte vom »Sieg des Willens« widerlegt. Die Geschichte kehrt sich um: Der Körper ist Sieger über seinen Willen. Noch hat der Mann den Kampf nicht aufgegeben. Er sinnt auf Rache. Er kann aus der Erfahrung, daß er und sein Körper miteinander verbunden sind, noch keine neue Geschichte formen.
Den Hintergrund dieser Geschichte bildet eine traumatische Kindheitserfahrung: Der Vater war ein passionierter Bergsteiger gewesen. Einmal nahm er seinen zehnjährigen Buben mit auf eine Bergtour. An einer schwierigen Stelle tat der Vater einen Fehltritt und stürzte vor den Augen des Sohnes in die Tiefe. Da der junge seinen Vater sehr bewundert und geliebt hatte, wollte er ihm nacheifern. »Nach dem Tod meines Vaters fühlte ich mich schuldig. Immer sagte ich mir: >Wenn ich stärker gewesen wäre, hätte ich ihn retten können.< Das stimmte natürlich nicht, aber ich schwor mir, möglichst bald groß und stark zu werden. Mein Vater hatte mir immer gesagt: >Du mußt deinen Körper abrichten wie einen gut dressierten Hund, dann kann dir nichts geschehen.< Irgendwie glaube ich das immer noch, obwohl mein Vater zu Tode gestürzt ist und ich krank geworden bin ... Mein Vater war ein Held - und ich habe nur eine jämmerliche Krankheit...«
Schon als kleiner Junge hatte dieser Mann die Geschichte seines Vaters über den Körper in sich aufgenommen und verkörpert. Nach dem Tod intensivierte er sie noch, einerseits um das Bild des Vaters aufrechtzuerhalten, andererseits hatte er damit angesichts des furchtbaren Verlustes einen Ausweg gefunden. Erst als er im Laufe der Therapie lernte, die Verkörperung seines Unterdrückungsmusters aufzulösen, kam er mit seinem Schmerz und seiner Todesangst in Berührung und mit dem tiefen Schock, der mit dem Todessturz des Vaters verbunden war. Eine lange Phase des Aufbäumens, Haderns, aber auch der Trauer und des Abschieds vom Vater setzte ein. Doch dann ging es auch um die Dimension des Schicksals, die mit seiner Körpergeschichte eng verbunden war. Allmählich gelang es dem Mann, das Kampfmuster mit seinem Körper aufzulösen und die Ent-Täuschung zu wagen. In der Unterdrückung seines Körpers glaubte der Mann unbewußt, über die Endlichkeit herrschen zu können. Jetzt aber erlebte er sich als endlich und vergänglich, als verletzbar, und es wurde ihm deutlich, daß er seine Geschichte auch als Machtmuster eingesetzt hatte. Im Lösen dieser Muster begann er, seinen Körper anders wahrzunehmen, spürte allmählich die pulsierende Bewegung, die er als seine eigene Lebendigkeit erfuhr. Am Ende sagte er einmal: »Ich wußte immer so genau, was mein Körper war, nämlich ein Gegenstand, über den ich Macht hatte. Jetzt ist es anders. Da bin ich. Und >lch~ - das ist ein Ganzes, eine Art Regenbogen , in dem Körperliches, Seelisches und Geistiges Färbungen dar stellen. Ja, ich bin ein Regenbogen«, sagte er lachend.
Während der Arbeit mit diesem Mann kam ich in intensiven Kontakt mit eigenen Geschichten. Ich dachte an meine Mutter, die eine sehr beherrschte Frau gewesen und stolz darauf war, wie gut sie auch furchtbare körperliche Schmerzen ertragen konnte. Als sie nach meiner Geburt dem Tode nahe war, sagte ihr mein Vater, daß die Ärzte sie aufgegeben hätten. Diese Nachricht stürzte sie in einen so tiefen Abgrund daß sie mir das Versprechen abnahm, ihr nie zu sagen, wenn sie wieder dem Tode nahe sein würde. Ich habe dieses Versprechen gehalten, als ich erfuhr, daß sie Krebs hatte. Es berührte mich, daß diese so beherrschte Frau die Begegnung mit dem Tod nicht auszuhalten vermochte. Als ihre Krankheit fortgeschritten war und die Kraft zur Aufrechterhaltung der Muster nachließ, sah ich, daß meine Mutter verstanden hatte - und sie mußte keinen »beherrschten Tod« sterben.
Damals erinnerte ich mich auch, wie meine Mutter ihre eigene Ärztin schilderte, die meine Geburt betreut hatte. Diese Frau war als Deutsche Lazarettärztin gewesen, eine aufgrund dieser Erfahrungen gegen sich und ihre Patientinnen harte und unerbittliche Frau. Bewundernd erzählte meine Mutter von deren Tod: Als sie spürte, daß sie sterben müsse, preßte sie ihre Zähne fest aufeinander. Sie wollte nicht, daß ihr der Kiefer im Sterben herunterfalle. Und so starb sie. Mit entschlossen zusammengebissenen Zähnen, die sich auch im Tode nicht lösten.
Bei dieser Erzählung über die Frau, die selbst den Tod besiegen könne, erfaßte mich schon als Kind jedesmal ein Grauen. Ich wollte das niemals, und doch haftete dem »Willen« ein schillernder Glanz an. Ich entwickelte eine Geschichte, die hieß: »Ich bin unbeherrscht und muß mich durch meinen Willen beherrschen.« So formte ich ein Kampfmuster zwischen »mich zusammenreißen« und »die Beherrschung verlieren« und hatte in meiner Jugend lange eine Haßliebe zum »Willen«.
Doch lebte noch eine andere Geschichte in mir, die mir mein Vater - ein sehr sinnenfreudiger Mann - vermittelt hatte. Er genoß das Leben, liebte es und pflegte seinen Körper sorgfältig bis ins hohe Alter. So war mein Körper nie allein mein Untertan, den ich zu beherrschen hatte, sondern auch meine Freundin, der ich vertraute. Freilich pendelte ich früher oft hin und her zwischen Beherrschung und Befreundung mit meinem Körper - aber ein zu Bekämpfendes war er mir nie. Als ich dann Kinder bekam, erlebte ich, wie tief mein Vertrauen in meine »Körper-Freundin« geworden war. Das Körpererleben, das zum Lebenskontinuum der Frau gehört, hat mich deshalb auch hellhörig für die spaltenden, kämpferischen und machtbesetzten Körpermuster unserer Kultur und Gesellschaft in ihren individuellen Verkörperungen gemacht. Und ich habe gelernt, daß ihre Auflösung den Kontakt mit der Endlichkeit und Verletzlichkeit, aber auch mit der eigenen Lebendigkeit und Kraft bringt.
Doch gerade der Kontakt mit dem eigenen Pulsieren kann auch beunruhigend, ja angsterregend sein. So kam eine Frau zu mir, die als jüngstes Kind der Familie den anderen zeigen wollte, daß sie »auch jemand« sei. Sie versteifte sich, bis sie ihren Körper kaum mehr spüren konnte. Einmal machte ich mit ihr eine ganze Stunde lang nur Atemübungen im Liegen und legte meine Hände auf ihren Körper, um ihr zu helfen, ihre innere Bewegung wahrzunehmen und zu vertiefen. Am Ende der Stunde sagte sie zu mir: »jetzt spüre ich mich wieder. Es ist mir, als sei ich ganz geworden, eins von oben bis unten, als sei ich luftig und doch fest.« Als sie wiederkam, sagte sie, sie habe sich einige Tage lebendiger gefühlt, ohne ihre üblichen Ängste. Ich bat sie nun, sich hinzustellen und das Muster ihres »Starkseins« zu erspüren. Sie vermochte es jedoch nicht aufzulösen. Um ihr weiterzuhelfen, machte ich eine Körperübung mit ihr. Nach der Übung stand sie da, die Füße parallel, die Knie nicht ganz durchgestreckt. Die Beine vibrierten. Ich fragte sie, wie sie sich dabei fühle. »Es ist mir unangenehm. Ich fühle mich schwach, weil meine Beine zittern. Ich möchte dieses Zittern anhalten. Mit durchgedrückten Knien stehe ich fester. Dann bin ich stark.« Ich bat sie, die Knie wieder zu versteifen, dann wieder zu lösen, langsam hin und her. Anschließend äußerte sie: »Ich spüre mich intensiver, wenn die Knie locker sind, aber es ist mir fremd. Das bin gar nicht ich. Ich weiß nicht, was ich mit mir anfangen soll.«
Das ist eine für diese Situation typische Erfahrung. Die Frau hatte sich mit ihrem versteiften Stand identifiziert. Dazu gehört eine entsprechende Geschichte: »Stärke bedeutet Unbeweglichkeit. Beweglichkeit ist Ausdruck von Schwäche.« So mußte sie zunächst ihre Lebendigkeit als Schwäche verstehen und ihr deshalb mißtrauen. Das Auflösen des Musters brachte ihr eine neue Selbstwahrnehmung. Doch dieses Neue erschien ihr - wie den meisten Menschen - zunächst als etwas Fremdes und Künstliches, als etwas nicht zu ihr Gehörendes, das sie überfiel und etwas mit ihr machte. Sie erzählte sich also zu dieser Erfahrung noch die alte Geschichte: »Ich muß stark und unbeweglich sein, und jetzt hat sich in meinem Körper etwas selbständig gemacht und sich aus meiner Kontrolle begeben.«
Es brauchte eine gewisse Zeit, bis die Frau diese Geschichte aufzulösen vermochte. Sie lernte langsam, wie sie ein Spektrum von mehr Spannung zu weniger Spannung gestalten konnte. Sie erlebte sich dadurch nicht mehr als »Überfallene«, sondern als Geformte und Formende zugleich. Und sie erfuhr den inneren pulsierenden Rhythmus als ihre eigene Kraft, als eine Bewegung, die sie selber war. Damit schwand auch das Mißtrauen gegen ihren Körper. Sie mußte sich nicht länger im Gegensatz zu ihm sehen.
Es ist ein aufregendes, zunächst auch beängstigendes und befremdendes Erlebnis, mit der eigenen Lebendigkeit und Bewegung in Kontakt zu kommen. Ich erinnere mich an einen Mann, der gewohnt war, sich gegen seine Bewegung zu versteifen. Ich machte mit ihm verschiedene Übungen. Als er anschließend dastand, begann er am ganzen Körper zu vibrieren. Er vibrierte so stark, daß er seinen Stand verlor und dann versuchte, dieses Vibrieren zum Stillstand zu bringen , indem er sich erneut ganz versteifte. Ich regte ihn daraufhin an, ganz langsam etwas mehr Spannung in seinen Körper zu bringen, ohne wieder ins alte Extrem zu gehen. »jetzt ist es gut«, sagte er unvermittelt, »so kann ich die Bewegung zulassen und doch fest stehen.« Er hatte damit erstmals eine Balance zwischen Formlosigkeit und Verhärtung gefunden.
Wie wir unseren Körper verkörpern und ihn in Beziehung oder Abgrenzung zum »anderen« Seele, Geist, Gefühle - setzen, bestimmt auch unsere Identität und welche Geschichten wir uns dazu erzählen. - Wir können versuchen, unseren Körper und damit auch unsere Lebendigkeit zu kontrollieren und weitgehend einzuschränken. Wir mögen uns damit vor dem Versacken oder vor dem Übermannt-werden (!) durch unsere Erregung schützen. Es ist auf jeden Fall eine Geschichte von Gegensätzen und Spaltungen, oft verbunden mit einem Kampfoder Spaltmuster. Diese Geschichten lassen sich in dem Satz zusammenfassen: »Ich habe einen Körper.« Versuchen Sie einmal, sich diesen Satz zu sagen und dabei zu spüren, wie Sie ihn verkörpern. Viele Menschen merken, wie sie sich dabei zusammenziehen, versteifen oder verhärten. Sie können jetzt versuchen, sich den Satz zu sagen: »Ich bin mein Körper.« Die Resonanz wird sehr verschieden sein. Geschichten tauchen auf, die eine Identifikation mit dem eigenen Körper gar nicht zulassen. »Der Körper ist Materie«, sagen Sie vielleicht oder: »Der Körper ist die niedrigste Stufe des Menschseins«. Vielleicht spüren Sie aber auch, daß der Begriff »Körper« hier ungeeignet ist, weil er von den trennenden und statischen Vorstellungen besetzt ist. An diesem Punkt wird klar, daß auch unsere Sprache von den kulturellen Spaltgeschichten geprägt ist. Wir können deshalb nur versuchen, uns auch sprachlich an eine mögliche neue Geschichte heranzutasten.[4]
Der Mensch ist ein ganzheitliches Wesen, setze ich jetzt als anthropologische Aussage vor eine weitere mögliche Formulierung. Ich kann dafür den Begriff »Form« oder »Gestalt« setzen, also: »Ich bin eine Gestalt oder Form.« Hier entfallen die Aufspaltungen. Verdeutlichend möchte ich sagen: »Ich bin eine lebendige Form«, und das bedeutet »verlangsamte Bewegung«.[5]
Damit haben wir eine ganzheitlich-dynamische Geschichte. Ich kann nun dafür das Wort »Prozeß« einsetzen. Ein Prozeß läßt sich niemals besitzen oder zu einer statischen Größe verfestigen, ohne daß wir ihn zerstören. Vielleicht sind wir zunächst bereit, dem Satz zuzustimmen: »Ich bin einem Prozeß.« Hier läßt sich nach altgewohntem Trennungsmuster das Ich immer noch heraushalten. Darum schlage ich die folgende Formulierung vor: »Ich bin ein lebendiger Prozeß.« Hier enden die überkommenen Geschichten mit ihren Spaltungen und Objektivierungen, mit ihren Bemächtigungen.
Versuchen Sie, sich innerlich diesen Satz zu sagen: »Ich bin ein lebendiger Prozeß, eine lebendige Form«. Dabei können Sie Ihre innere Resonanz, die Verkörperung dieses Satzes, erspüren.
Der Satz, dem der Aspekt der Ganzheitlichkeit zugrunde liegt, stellt zudem eine Beziehungsqualität dar, denn jedes Lebendige bildet eine Gestalt für sich und ist gleichzeitig Teil eines größeren Ganzen. Wenn wir eine Gestalt stören, stören wir das Ganze, wie wir aus dem Umgang mit der Natur schmerzlich lernen. Auch eine eigene Erfahrung mag diesen Zusammenhang verdeutlichen:
Als ich eines Abends im Bett lag und mich meditierend auf meinen Körper einstellte, spürte ich zunächst meinen Herzschlag intensiver als sonst. Ich nahm die pulsierende Bewegung wahr, die sich allmählich auf meinen ganzen Körper ausbreitete. Ich staunte über dieses intensive, lebendige Pulsieren, das in meinem Körper war. Und ich bemerkte die Geschichte, die in meinem Körper auftauchen wollte: »Es ist die Bewegung in meinem Körper«, so, als gäbe es einen Behälter, in dem etwas stattfindet, getrennt von mir. »Diese Bewegung ist mein Körper«, sagte ich mir. Dabei wurde die Bewegung nochmals stärker. Sie war mir unheimlich, und wieder wollte ich mich von ihr trennen, indem ich mich unwillkürlich etwas zusammenzog. Als ich dann das Zusammenziehen verstärkte und anschließend wieder langsam löste, ging das Klopfen in eine wellenartige, strömende Bewegung über. Ich lag da, und ich war sie selbst, diese Bewegung. Schließlich empfand ich die Wellen als Teil eines großen Rhythmus, dem ich angehörte. So lag ich lange und schlief dann ein.
Die Frage, was »Lebendigkeit« bedeute, ist bisher noch offengeblieben. Ich möchte deshalb jetzt versuchen, den Aspekt von Lebendigkeit darzustellen:[6] Die Bewegung alles Lebendigen folgt einem Grundrhythmus von Expansion und Kontraktion, von Aus und Ein, Auf und Ab. Diesem Rhythmus begegnen wir schon auf der zellularen Ebene. Jede Zelle zieht sich zusammen und dehnt sich wieder aus. Dasselbe Bewegungsmuster von Kontraktion und Expansion findet sich auch auf den komplexeren Ebenen der organismischen Struktur, etwa in der Bewegung des Verdauungstraktes, in der Herztätigkeit, in der Atmung et cetera. Unsere ganzheitliche Lebensgestalt zeigt diesen Rhythmus. Es ist der Rhythmus des Pulsierens, der, wenn er in kurzen Abständen erfolgt, zum Strömen wird. Wichtig für uns ist, wie wir mit unserem Pulsieren in Kontakt sind. Wie die bisherigen Beispiele deutlich machen, erleben wir die Erfahrung unserer Lebendigkeit sehr verschieden - als stärkend, beängstigend, überflutend, überwältigend. Und damit sind immer auch entsprechende Geschichten verbunden. Ich möchte dazu ein Beispiel geben:
In einem Workshop machte ich mit den Teilnehmern eine Beckenübung, deren Dynamik mit dem Atem verbunden war. Eine Teilnehmerin sagte anschließend: »Ich kann Bewegung und Atem nicht miteinander verbinden. Die Bewegungen sind wie gemacht.«
Sie erlebte die Bewegungen nicht als von innen kommend, sondern als von außen »aufgesetzt«. Sie malte ein Bild und sagte dazu: »Innen spürte ich ein lebendiges Feuer. Es ist mit dem Atem verbunden. Aber es kommt nicht nach außen. Deshalb ist der Außenbereich kühl und blau.« Im Zusammenhang mit ihrem Bild kamen der Frau Erinnerungen aus ihrer Kindheit in den Sinn: »Ich war ein liebes, braves Kind. Meine Mutter mußte viel an Sitzungen teilnehmen. Da nahm sie mich immer mit. Ich sehe mich zwischen den Tischbeinen liegen - ganz ruhig, bewegungslos. Mir ist deutlich geworden, daß ich all meine inneren Impulse zurückgehalten habe, bis ich keine mehr spürte.« Sie hatte also gelernt, sich »stillzulegen«, ihr lebendiges Pulsieren auf ein Minimum zu verringern. Im Laufe des Gespräches sagte die junge Frau: »Früher hätte ich es umgekehrt gezeichnet: Hände und Füße und den Kopf heiß - im Innern nichts. Ich habe mich ständig bewegt, Ballett gemacht et cetera, und hatte das Gefühl, dadurch lebendig zu sein.« Es wurde jedoch deutlich, daß sie diese Bewegungen »gemacht« hatte, in einer mechanischen Perfektion. Sie entstammten nicht ihrem inneren, pulsierenden Rhythmus. Jetzt hatte eine Wandlung begonnen: Sie kam in Kontakt mit ihrem inneren Feuer, ihrer Lebendigkeit und nahm dadurch das Aufgesetzte erlernter Bewegungen wahr. Noch war es ihr nicht möglich, das Lebendige über den ganzen Körper auszubreiten, doch sie begann, ihr Feuer zu spüren.
Die Geschichte »Ich bin ein lebendiger Prozeß« hat eine weitere Dimension. Mit der Grundbewegung des Pulsierens formen wir alle Ebenen unserer Gestalt, vom zellularen Pulsieren über Erregung und Sammlung bis hin zur Gestaltung unseres Lebensflusses in ständigem »Stirb und Werde«, in Begrenzung und Entgrenzung. Oder noch allgemeiner gesprochen: Individualität und Verbundenheit sind Pole menschlicher Gestaltung: »jeder Organismus durchläuft bestimmte Stadien. Das Leben gerät von einem Stadium universalen Einsseins über ein Stadium der Expansion in ein Stadium, in dem Grenzen zur Bewahrung von Energie errichtet werden, und von da aus in ein Stadium, in dem Grenzen wieder eingerissen werden und die Energie wieder in das universale Sammelbecken zurückfließt. Dies ist der Tod, symbolisch oder real. Unsere Selbsterkenntnis schafft Grenzen, die uns definieren. Sie sind der Behälter für unsere Energie. Aber wenn wir handeln oder die Welt an uns handelt, reißen wir diese Grenzen nieder und dehnen den Bereich unseres Daseins aus. Bis zum tatsächlichen Tod reißen wir immer wieder Grenzen ein und errichten neue.«[7]
Der lebendige Rhythmus bestimmt auch die leibhafte Gestaltung unseres Lebenskontinuums, in dem wir uns Form geben, sie wieder auflösen und neue Form bilden, angefangen bei der Gestaltung unseres Alltags bis hin zu den großen Wendezeiten unseres Lebens. Dieser Grundrhythmus ist ein universaler, der uns mit dem großen Ganzen - wie wir es auch nennen wollen - verbindet. »Ich empfinde das Universum als etwas unaufhörlich Schwingendes, als schimmerndes Erregungsfeld.«[8] Schon seit der Antike wird die »Beschwingtheit« des Kosmos in der Gestalt des Klanges wahrgenommen, etwa im Bild von Helios' Sonnenwagen, der über das Firmament zieht. Kepler verstand die »harmonia mundi« als Sphärenmusik, das heißt als Schwingungsfeld, das die ausgewogene Gestalt des Kosmos ausmacht. Das griechische Wort »Kosmos« heißt nichts anderes als »Ordnung« und »Schönheit«.
Schönheit kann als lebendige Ordnung oder als lebendige Form verstanden werden.
Wir können auch in uns selber das Verbundensein mit der universellen Energie erleben, beispielsweise wenn wir unseren Atem fließen lassen und das Pulsieren wie eine große Welle empfinden, die durch uns hindurchgeht. in den Bewegungen des chinesischen Tai Chi erlebe ich, wie der Raum zwischen meinen Händen und Beinen lebendig ist, als sei er Teil meiner Leiblichkeit oder ich selber Teil des schwingenden Raumes. Ich bewege mich leichtfüßig und bin dennoch mit der Erde verbunden. Ich werde weit, nehme auf und ströme aus. Halte ich inne, spüre ich ein Strömen bis in die Fingerspitzen, das nicht mehr »ich selber« ist und in dem ich mich paradoxerweise dennoch ganzheitlich spüre. Die moderne Physik bestätigt solche Erfahrungen, indem sie zeigen kann, daß zwischen Materie und Energie kein scharfer Unterschied, sondern ein fließender Übergang herrscht.
Mit der eigenen Lebendigkeit in Beziehung zu sein bedeutet auch, mit der eigenen Vergänglichkeit in Kontakt zu kommen. Wir erleben das Auflösen einer Form oft als ein kleines Sterben, als Loslassen einer Identität, die Sicherheit bedeutete, ob es nun das Beherrschen unseres Körpers, dessen Funktionalisierung oder die Distanzierung vom Körper ist, so, als gehöre er gar nicht zu mir.
Wir können unser Pulsieren jedoch auch einschränken. Im Laufe unserer Entwicklung haben wir die Fähigkeit gewonnen, uns zusammenzuziehen, um ein »Nein« zu formen, um uns abzugrenzen und gegen die Welt zu verdichten. Ist die entsprechende Situation vorbei, lösen wir das »Nein-Muster« wieder auf. Unsere Gesellschaft mißbraucht jedoch diese grundlegenden Fähigkeiten, Grenzen zu bilden und aufzulösen. Wenn eine bedrohende Situation eine große Intensität hat, ungebührlich lange anhält oder sich ständig wiederholt, können die in ihr gebildeten Muster nicht mehr ganz aufgelöst werden und werden chronisch. So entstehen Körpermuster, welche den Rhythmus des Pulsierens dauernd beeinträchtigen. Die geschilderten Beispiele haben das zum Ausdruck gebracht und gleichzeitig deutlich gemacht, wie die Auflösung der fixierenden Muster den Zugang zur eigenen Lebendigkeit und damit eine andere Selbst- und Weltwahrnehmung wieder ermöglicht.

Macht und Ohnmacht in den verkörperten männlich-weiblichen Geschichten oder:
Das Wagnis des Unbekannten

Der Verrat am Lebendigen: »männliche« Machtmuster

Es wurde bisher deutlich, daß viele unserer überkommenen Geschichten Spalt- und Kampfmuster hervorbringen, welche die lebendige Form des Menschen beeinträchtigen. Einschränkende Muster sind jedoch auch Machtmuster. Macht ist nicht von vornherein etwas Negatives. Im Französischen bedeutet das Wort »pouvoir« zugleich »Macht« und »Können«, ebenso wie das griechische Wort »dynamis«. Wenn es die Aufgabe des Menschen ist, zulänglich auch im wörtlichen Sinn - zu werden, so braucht er Macht im Sinne von Können und muß lernen, die Dinge anzugehen (vgl. lateinisch »adgredi«), das heißt aggressiv zu sein. Ausgreifen in die Welt ist durch unsere aufrechte Haltung gegeben, die uns Horizont gewinnen läßt und die Hände freigibt. Ohne diese grundlegende »Lebensmächtigkeit« wäre der Mensch gar nicht fähig zu überleben, sich selbst und sein Leben zu gestalten.
Menschliches Leben bedeutet also, sich selbst Form zu geben und die Welt zu gestalten, wirkmächtig zu sein. Lebens- und Wirkmächtigkeit schließen jedoch die Erfahrung von Ohnmacht und Ausgesetztsein als ihren anderen Pol mit ein. Der Austausch mit der Umwelt bedeutet Begrenzung, Einschränkung und Bereicherung. In unserer Gesellschaft besteht seit langem die Tendenz, den einen Pol, nämlich die Macht, zu verabsolutieren. Das geschieht leibhaft, indem ein Mensch sich verengt, versteift, zusammenzieht und in dieser Art von Verkörperung verharrt. Dadurch erlebt er - als Kompensation des Ohnmachtsgefühls - ein Gefühl von Macht. Was Stanley Keleman dazu sagt, ist eine Übersetzung von Alfred Adlers Lehre in die Körpersprache: »Wenn wir uns einengen und unser Pulsieren verringern, stören wir unsere Selbstgestaltung. Wir bilden uns ein, wir hätten die Zeit angehalten und eine unverrückbare Wirklichkeit geschaffen. Wir glauben uns in dieser unverrückbaren Lage sicher. Und wir glauben, wir seien gerettet - wir hätten die Unsterblichkeit im Griff.«[9]
Dieses Im-Griff-Haben, das Schaffen eines Unverrückbaren, nannte Alfred Adler »Gottesähnlichkeitsstreben«, Horst-Eberhard Richter »Gotteskomplex«[10] Doch Leben heißt in Bewegung sein, ist lebendige Form. Die Erfahrung von Unsicherheit, Vergänglichkeit und Sterblichkeit gehört zu ihm. All-Macht jedoch bedeutet in letzter Konsequenz Bewegungslosigkeit. Damit schlägt sie um in Ver-Nichtung. Vernichtung aber bedeutet Selbstzerstörung und Weltzerstörung!
Zunächst ist die Verkörperung von »Macht über das Lebendige« im beschriebenen Sinn eine Tendenz, die überall - bei Mann und Frau - zu finden ist und eine Kompensation von Bedrohung darstellt:
Eine Frau, die während des Krieges in Deutschland Kind war, den überforderndsten Situationen ausgesetzt wurde und zu Hause die in ihrem Gefühl lebensbedrohende Aggression des Vaters gegen die Mutter erlebte, sagte von sich: »Ich spürte einen Augenblick lang Angst und Panik, dann zog ich mich zu etwas wie einem viereckigen Klotz zusammen, der kein Gefühl mehr hatte jedoch handeln konnte.« Im Rückzug auf eine verhärtete Schrumpfform versuchte diese Frau, aus ihrer Ohnmacht heraus, der Aggression um sie herum eine Macht entgegenzusetzen, damit sie überleben konnte.
Eine andere Frau, deren Mutter oft in psychoseähnliche Zustände kam, schilderte ihr Muster so: »Wenn meine Mutter schrie, machte ich mich ganz schmal und zog mich nach oben. So konnte ich mich überlegen fühlen und auf die anderen hinunterschauen.«
Machtmuster und deren Verkörperung stehen jedoch auch in Verbindung mit den Vorstellungen von »weiblich« und »männlich« in unserer Kultur, mit der Verkörperung des sozialen Geschlechts.
Ein Mann, der nach einer Körperübung in ein spontanes Vibrieren kam, sagte: »Das ist unangenehm. Ich möchte es stoppen, Knie wieder steif machen, unter meine Kontrolle bringen. Ich fühle mich so schwach unmännlich.« Hier wird die weit verbreitete Identifikation von Schwäche mit weiblich, das heißt unmännlich, besonders deutlich sichtbar, wobei - und das ist noch entscheidender Lebendigkeit und Schwäche miteinander verwechselt werden.
Eine Frau sagte von sich: »Als Kind war ich nicht wie ein Mädchen, ich war wie ein Bub. Mein Vater hätte gern als zweites Kind einen Sohn gehabt. Ich war sein Bub - nein, eigentlich kein Bub, eher ein Mann. Ein >Kerl<. Ich zeigte keine Angst. Ich versteifte mich, um meiner Gefühle Herr zu werden.« Hier wird die Härte, die Versteifung eindeutig dem Männlichen zugeordnet, hinter dem die Ohnmacht die Frau wurde als Kind oft ohn-mächtig - lauerte. Groß geworden ist diese Frau jedoch auch mit der Forderung Hitlers: »Ich will eine Jugend so hart wie Kruppstahl.«
Was bedeutet nun »männlich« aufgrund der bisherigen Überlegungen? Männlich sein heißt immer als kulturelle Chiffre verstanden -, sich zum Objekt eigener Be-Herrschung zu machen, >Herr seiner selbst« zu sein. Diese Formulierung läßt sich ins Absurde steigern: »Ich mache mich zu meinem Objekt und Untertan, um Herr meiner selbst zu sein.« Und noch formelhafter: »Ich entmächtige mich, um mächtig zu sein.« So wird das Spaltmuster, das dieser Geschichte zugrunde liegt, offensichtlich, indem es einen mächtigen und einen bemächtigten Teil gibt. Ins Extrem gesteigert, wird es selbstzerstörerisch. Horst-Eberhard Richter war einer der ersten Männer, der auf die krankmachende und selbstzerstörerische männliche Lebensweise in unserer Gesellschaft hinwies. Walter Hollstein kam in jüngster Zeit zu folgendem Fazit:
»Die Gesamtbilanz physischer und psychischer Gesundheit ist für Männer ungünstiger, als es die übelsten Phantasien erwarten ließen ... Mit Ausnahme der Unterleibskrankheiten führen Männer auf makabre~Weise alle Krankheitsstatistiken an ... Am eindrücklichsten beschreibt die Sozialmedizin den kausalen Zusammenhang von Maskulinität und kardiovaskulären Erkrankungen ... Eingesperrt in ihren Männlichkeitspanzer sind diese Männer nicht mehr in der Lage, jene entstressenden Verhaltensweisen zu leben, die sie wieder ins Gleichgewicht bringen könnten.« [11]
Hier kommt der Umschlag von Beherrschung oder Bemächtigung seiner selbst in Ohnmacht und Zerstörung, die dem männlichen Muster innewohnt, besonders deutlich zum Ausdruck. Der »Männlichkeitspanzer« ist in seinem Extrem ebenfalls eine Verkörperung des »Gotteskomplexes«. Emanzipation des Mannes bekommt an dieser Stelle einen leibhaften Sinn: die Auflösung des Männlichkeitspanzers, die einen erneuten oder intensiveren Zugang zum Lebendigen ermöglichen würde, allerdings mit aller Verunsicherung, welche diese Auflösung mit sich brächte. Die Wahl zwischen dem Verharren im überkommenen Männlichkeitspanzer und einer leibhaften Emanzipation erscheint Hollstein als eine Wahl auf Leben und Tod:

»Für den Mann von heute gibt es nur eine Alternative: Seine Veränderung als Garantie für eine tragfähige Zukunft oder seinen Untergang - kollektiv in der ökologischen oder atomaren Katastrophe, individuell in zunehmender Unzufriedenheit, Streß, Krankheit und frühzeitigem Tod. Insofern ist männliche Veränderung gleichbedeutend mit Leben.«[12]

In diesen Worten kommt der Zusammenhang zwischen Selbstzerstörung und Weltzerstörung unbarmherzig in den Blick. Er wird nachvollziehbar, wenn wir uns die überlieferten Verkörperungen näher anschauen, die mit »Beherrschung« verbunden sind. In Italien, nahe der Schweizer Grenze, habe ich ein Denkmal gesehen, das einen Mann in »heldischer« Haltung darstellt. Es bringt die Verkörperung dieses Heldentums in überdeutlicher Weise zum Ausdruck, die für mich fast wie eine Karikatur erscheint: Der Mann zieht den Oberkörper aus dem Unterleib heraus, die Brust ist dabei aufgebläht, während der Bauch eingezogen und verhärtet ist. Der Stand ist breitbeinig, die Knie sind extrem nach hinten durchgedrückt. Die Arme greifen versteift aus, der eine, um die Fahne zu halten.
Wenn wir versuchen, diese Haltung nachzubilden, können wir folgendes erleben: Die aufgerichtete Haltung gibt viel Horizont. Ich erlebe mich als groß, als »Herr der Lage«. Dabei muß ich jedoch meinen Nacken versteifen, so daß ich über das Naheliegende hinausblicke, es über-schaue. Meine Augen werden starr. Paradox gesagt: Ich überschaue, was ich nicht wahrnehmen kann. Ich habe keine Beziehung zu dem, was ich überblicke. Durch die Versteifung des Halses trenne ich den Kopf vom übrigen Körper. Der aufgeblähte Brustkorb gibt mir das Gefühl von viel Raum im Innern, der jedoch starr und ohne Leben ist. Meine Brust empfinde ich wie einen Schild gegen die Welt. Ich schirme mich von ihr ab, habe keine Verbindung mit ihr. Meinen Bauch ziehe ich ein und versteife ihn. Dabei nehme ich eine weitere Funktion dieser Haltung wahr: Ich mache mich groß und schneide mich von allen existentiellen Gefühlen wie Angst, Liebe, Lust und Schmerz ab. Ich kann mein Leben wagen, ohne einen Bezug zu diesem Leben zu haben. Ich habe überhaupt jede Verbindung mit dem Lebendigen verloren, es ist mir ohne Bedeutung, und zwar das Leben in mir und um mich. Was ich in dieser Haltung auch nicht wahrnehmen kann, ist mein unstabiler Stand, da ich das Gegenteil zu machen glaube: Ich halte Versteifung für Standhaftigkeit.
Der bemächtigende Aspekt in dieser Verkörperung drückt sich also im Aufblähen, im Sichgrößer-Machen sowie im breitbeinig versteiften Stand, in der Einschränkung des Atems, im Einziehen des Bauches, im Abtrennen des Kopfes vom Rumpf und des Oberkörpers vom Unterleib, kurz im Einschränken des lebendigen Flusses aus.
»Das ist doch vorbei«, können wir uns sagen. »Es gibt keine Helden mehr.« Dies ist wohl richtig. Die beschriebene Verkörperung zeigt jedoch auch Aspekte, die sich erhalten haben. Die uniforme, militärische Haltung, -wie sie jeder Mann in der Schweiz lernen muß, ist noch immer auf Spaltmuster ausgerichtet, hat den Kontaktverlust mit den eigenen Gefühlen und mit dem Leben zum Ziel. Was das heißen kann, demonstrierte mir eine Momentaufnahme aus einer militärischen Übung, die als Foto in einer Schweizer Zeitung abgebildet war. Sie zeigt eine Reihe von Soldaten in der bekannten militärischen Haltung, bewegungslos dastehend. Einer der Soldaten liegt auf dem Boden. Er ist ohnmächtig (!) geworden und vornüber gefallen. Doch keiner seiner Kameraden wagt es, ihm zu Hilfe zu kommen...
Eine Frage drängt sich angesichts der bisherigen Überlegungen auf: Wer ist Befehlshaber, wer ist Untertan, wer Herrscher und wer Opfer? Von der entsprechenden Verkörperung ausgehend, kann jeder immer auch beides zugleich sein. Der Beherrschende hinterläßt zumindest ein Opfer: sich selbst. Die Haltung des Eroberers zeigte jedoch auch die Unverbundenheit nicht nur mit dem eigenen Leben, sondern mit dem Leben überhaupt. Doch diese Art von Macht blieb in unserer Geschichte nicht nur ein verkörpertes Muster, sondern wurde vom Mann gleichzeitig in einer gesellschaftlichen Superstruktur veräußert, deren Opfer er nun ebenfalls geworden ist, weil sie auf ihn zurückschlägt: »Mit der Erfindung der Technik hat sich der Mann sukzessive selbst entmännlicht.«[13]
Die Haltung des Kriegers, des Eroberers wurde immer mehr zu derjenigen des Gestreßten, Gehetzten und in den Zwängen der Industrie und Wirtschaft Gefangenen. Erhalten hat sich dabei jedoch die Abspaltung vom Lebendigen.
Ich möchte nun den Blick zurücklenken auf den individuellen Bereich. Wie sieht es in unserem Alltag mit den überkommenen männlichen und weiblichen Geschichten und ihrer Verkörperung aus?
Männer, die in die Therapie kommen oder ihre Gedanken, Gefühle und Perspektiven öffentlich machen, haben meist schon begonnen, die überkommene männliche Geschichte in Frage zu stellen, aber sie leiden dennoch oft daran, dem innerlich vorgestellten Bild von Männlichkeit nicht entsprechen oder sich von ihm nicht lösen zu können. Das folgende Beispiel mag dies verdeutlichen:
Ein Mann äußerte, daß er sich meist als weiblich empfinde. Er zeigte eine Tendenz zu einer in sich zusammensackenden Körperdynamik, die er für sich mit »weiblich« identifizierte. Er erzählte sich die Geschichte: »Ich bin weiblich und möchte männlich sein, zupackend, ja knallhart.« Ich bat ihn, den Mann seiner Sehnsucht, sein inneres Bild zu verkörpern. Er richtete sich auf, indem er auf dieselbe Weise, wie dies bei der heldischen Haltung des Kriegerdenkmals der Fall war, seinen Oberkörper aus dem Unterleib heraushob, seine Brust aufblähte, den Nacken versteifte und den Kopf hob. Auch seinen Stand formte er auf die gleiche Weise. »So müßte ich sein«, sagte er - und sackte wieder zusammen.
Jetzt wurden die beiden Extreme des einen Kontinuums nachvollziehbar, das eine als »weiblich« und minderwertig, das andere als »männlich« und erstrebenswert erlebt. Es wird dabei auch deutlich, daß beide Extreme den lebendigen Fluß des Mannes einschränkten, nur auf je verschiedene Weise. Daß die Erfahrungen, die diesen Mann zu seinem Bewegungsgesetz brachten, sehr vielschichtig waren und nicht im Gegensatz männlich-weiblich aufgingen, wurde im Laufe der Therapie deutlich. Zunächst zeigte sich jedoch, daß er seine Form mit der gängigen kulturellen Geschichte über das soziale Geschlecht verband.
Es gibt also keine natürlicherweise weiblichen oder männlichen Grundmuster, sondern solche, die mit dem einen oder anderen Geschlecht identifiziert werden, etwa: Wenn ich mich aufblähe, bin ich männlich. Eine solche Geschichte können sich Mann und Frau erzählen, nur ist sie im einen Fall meist das Begehrte, im anderen das Illegitime oder trotzig Entgegengestellte. Umgekehrt werden in der Kindheit durch die entsprechende Sozialisation bestimmte Geschichten und zugehörige Muster einverleibt und erhalten die Färbung von männlich oder weiblich.

Bemächtigende Muster und ihre mögliche Auflösung

Wenn die männliche Geschichte es nahelegte, sich mit dem Aspekt der Beherrschung und damit der Selbstbemächtigung zu identifizieren, so erfahren sich Frauen seit jeher als Objekt männlicher Wertung. Sie haben gelernt, sich selbst, aber auch den Mann mit den Augen der männlichen Gesellschaft zu sehen, zu interpretieren und zu werten. Sie bekamen früher auch genaue Anweisungen dafür, wie sie sich zu halten und zu betragen hatten. Sie sollten beispielsweise ihr Haupt demütig senken und nur sprechen, wenn sie gefragt wurden. Sie durften nicht laut lachen, mußten kleine, zierliche Schritte machen, ihre Glieder züchtig an den Körper ziehen, die Hände verstecken. Und sie wurden in den höheren Schichten lange Zeit in Korsetts eingeschnürt. Solche Haltungen gingen, wenn sie von Kindheit an eingeübt wurden, in Fleisch und Blut über. Sie wurden zur Verkörperung der eigenen Identität. Ihre Funktion besteht darin, die eigene innere Bewegung einzuschränken, Lebendigkeit zu beschneiden und erotische Qualitäten zu unterdrücken. Dabei geht es nicht nur um Gefühle, sondern auch um das Gestalten einer konkret-leibhaften Dynamik. Wenn wir bewußt eine solche Haltung einnehmen, können wir erleben, wie wir den Gesichtshorizont schmälern, wie wir vielleicht die Brust zwischen den hochgezogenen Schultern einsinken lassen, die Arme an die Rippen pressen und damit den Atem weiter einengen, wie wir uns am Ausgreifen hindern, unseren Oberkörper hochziehen und damit den Kontakt mit dem Boden verringern usw. Damit sind jene Themen verkörpert, um die es in der überkommenen Auffassung von Weiblichkeit geht: Beschränkung des Horizonts, Verminderung der Geschlechtlichkeit, Einengung des inneren Raumes, sich schmal machen, Unterdrückung von Aggression im Sinne von Zupacken und Ausgreifen, Enteignung. Doch nie erlebten sich alle Frauen identisch mit dieser auferlegten Form. So entstand oft ein quälendes Konfliktmuster, wie es etwa im berühmten Gedicht >Am Turme< aus dem 19. Jahrhundert von Annette von Droste-Hülshoff zum Ausdruck kommt. Die erste Strophe lautet:

Ich steh auf hohem Balkone am Turm,
Umstrichen vom schreienden Stare,
Und laß gleich einer Mänade den Sturm
Mir wühlen im flatternden Haare;
O wilder Geselle, o toller Fant,
Ich möchte dich kräftig umschlingen,
Und, Sehne an Sehne, zwei Schritte vom Rand
Auf Tod und Leben dann ringen.

Die letzte Strophe hingegen drückt die verlangte weibliche Form aus:

Wär ich ein Jäger auf freier Flur,
Ein Stück nur von einem Soldaten,
Wär ich ein Mann doch mindestens nur,
So würde der Himmel mir raten;
Nun muß ich sitzen so fein und klar,
Gleich einem artigen Kinde,
Und darf nur heimlich lösen mein Haar
Und lassen es flattern im Winde.

Und wovon könnte eine Frau heute träumen? Diese Frage stellte ich mir aufgrund dieses Gedichtes. Die alten Mythen sind zerschlagen. Wenige Frauen möchten Held, Soldat, Jäger, Kämpfer im beschriebenen Sinne sein. Der Bankrott überkommener männlicher Muster ist allzu deutlich geworden. Obwohl es immer noch legitimerweise darum geht, Positionen in der männlich bestimmten Welt von Politik und Wirtschaft zu gewinnen, sind Frauen hellhörig dafür geworden, daß sie diese Positionen nicht auch mit männlichen Verkörperungen erfüllen wollen, um nicht einer sublimen Überbewertung des Männlichen anheimzufallen. Umgekehrt bringt die Weiterführung traditioneller weiblicher Muster wieder eine Verdächtigung legitimer Macht, die deshalb von Frauen nur heimlich ausgeübt werden darf. Noch immer sind wir also auf der Suche nach neuen möglichen Verkörperungen, und zwar im Raum beider Geschlechter.[14] Das alte Konfliktmuster - hier traditionelle Weiblichkeit, dort Impulse, die dem »Männlichen« überschrieben werden - tragen Frauen auch heute noch oft auf den verschiedensten Ebenen in sich aus. Exemplarisch hat dies wieder Annette von Droste-Hülshoff zum Ausdruck gebracht. Der Anfang der dritten Strophe im Gedicht >Das Spiegelbild< lautet:

Zu deiner Stirne Herrscherthron,
Wo die Gedanken leisten Fron
Wie Knechte, würd ich schüchtern blicken ...

Die Stirn, Sitz des Geistigen, wird mit Bildern des Herrschaftlichen ausgestattet und bringt eine Dynamik des Bemächtigens ins Spiel. Zu dieser Geistigkeit blickt das Ich hinauf, und zwar »schüchtern«, gleichsam wie ein kleines Mädchen. Der Herrscherthron wird hinaufstilisiert, und die Bewunderung bewirkt zugleich das Schrumpfen der Bewundernden. So entsteht ein anderes Spaltmuster.
Geht es im vorangehenden Gedicht um den Konflikt zwischen Vitalität, Lebenslust und der gesellschaftlichen Norm der Gesittung, so hier um denjenigen zwischen intellektueller Potenz und der dem Mädchen zugestandenen Rolle. Die Enteignung findet statt, indem menschliche Qualitäten dem Männlichen zugeschrieben werden. Auch diese Enteignung ist in der Konsequenz eine verkörperte. Es gibt also einerseits die Imitation männlicher Verkörperung, andererseits eine Geschichte, mit der ich mir erzähle, Aspekte von mir seien männlich und daher illegitim. Dies ist keine Verkörperung des Männlichen, sondern eines Konfliktmusters. Eine Frau, die diesem Muster in sich nachspürte, erlebte, wie sie dabei die Brust einfallen ließ, die Schultern nach oben zog, den Kopf nach hinten abknickte. Sie stauchte sich, in sich zusammen, fühlte sich dabei verengt, atemlos und ohne Innenraum. »Mein Kopf hat nichts mehr mit mir zu tun«, sagte sie, »er denkt unabhängig von mir selbst.«
Bei all diesen inneren Konflikten von Frauen darf nicht übersehen werden, wie schnell die Gesellschaft bereit ist, eine Frau als »männlich« abzustempeln, wenn sie sich in männliche Bereiche vorwagt, wenn sie tatkräftig und eigenständig ist und sich den weiblichen Rollenverschreibungen widersetzt. Die Situation erweist sich also nochmals als komplexer. Falls eine Frau nicht mehr alten weiblichen Rollenvorstellungen zuzuordnen ist, muß sie »männlich« sein, damit die Illegitimität ihrer Verkörperung und ihres Handelns festzumachen ist. Auch im Raum der Psychologie wurde - und wird - der Kampf der Frau um einen angemessenen Platz sehr schnell als »Überkompensation«, als »männlicher Protest« (Alfred Adler) identifiziert oder als Ausdruck des »Penisneides« (Sigmund Freud) diagnostiziert und denunziert. Wo die Grenze zwischen einer emanzipatorischen, aus überkommenen Normen zu einer persönlichen Lebensgestaltung sich befreienden Form und einer Überkompensation liegt, ist nicht so schnell auszumachen. Und zwar vor allem deshalb nicht, weil sich diejenigen, die selbst im System der gesellschaftlichen Bestimmung von »weiblich« und »männlich« gefangen sind, den Blick auf mögliche neue und lebendigere Verkörperungen verstellen.
Es ist also immer noch fraglich, wie Frauen mit dem als männlich Verstandenen und wie Männer mit dem als weiblich Definierten in sich umgehen sollen. Die Tragik der »Muttersöhne«,[15] wie sie Pilgrim beschrieben hat, beruht vor allem darauf, daß sie sich mit dem als minderwertig erlebten Weiblichen in sich identifiziert fühlen und es mit oft gigantischen Überkompensationen auszulöschen suchen, während andere Männer sich als »Softys« prononziert »weiblich« geben und sich dabei mit der Abwertung all dessen, was männlich sein könnte, verbünden. So entstehen wiederum nur Spaltmuster und keine neuen Perspektiven für eine Identität als Mann oder Frau.
Als Beispiel dafür, wie Wertungen von »männlich« und »weiblich« bereits in der Kindheit entstehen, möchte ich die Erinnerung einer über sechzigjährigen Frau anführen:
Als sie noch ein Kind war, mußte ihr Bruder - wie es damals für Kleinkinder üblich war wieder ein Mädchenkleid anziehen, und zwar dann, wenn er auch als älterer Bub in die Hosen gemacht hatte. Sie schämte sich dann immer für ihren Bruder. Die Botschaft, die darin lag, wurde deutlich: Ein Mädchen zu sein ist eine Strafe - etwas Minderwertiges. Diese Botschaft ging an das Mädchen und den betroffenen Knaben. Doch nicht die Beleidigung für das Mädchen war für diese Frau ausschlaggebend, sondern die Identifikation mit dem gedemütigten Bruder. Die Demütigung des Mädchenseins wurde zunächst nicht deutlich. Dafür gab es keine Identität, keine Stellung-Nahme. Das ist der vielsagende Kern dieser Geschichte. Der betroffene Knabe mag sich geschworen haben, sich möglichst schnell auf »männliche« Weise zusammenzunehmen, ein »ganzer Mann« zu werden und nichts »Weibliches«, das mit Schwäche gleichgesetzt werden könnte, mehr zu zeigen. Das Mädchen hingegen mochte sich schwören, einen Mann niemals auf Schwächen anzusprechen - ein Beziehungsmuster, das für viele Frauen auch heute noch ein übliches und selbstverständliches ist.
Zur Verdeutlichung dieser Zusammenhänge noch ein anderes Beispiel: Eine lesbische Frau sagte in der Therapie zu mir: »Daheim in unserem Tal lernte ich, was Frauenlos und was weiblich sei, und zwar: unförmig und unbeweglich werden, Krampfadern haben, jammern und langsam verkommen. Die Männer waren stark und schön. Ihnen stand die Welt offen. Ich habe mich schon früh mit meinem Bruder gemessen, mit ihm rivalisiert. Ich sah mich nicht als Mädchen, sondern als Bub. Ja, und so wurde ich eine Lesbe. Aber eigentlich bin ich das gar nicht. Ich rivalisierte nur mit meinem Bruder, wer die besseren Frauen haben konnte.«
Es geht also wieder darum, die inneren Geschichten zu hören, in ihrer Tragweite wahrzunehmen und den mit ihnen verbundenen Verkörperungen nachzuspüren, um vielleicht eine neue Form und eine persönliche Geschichte entwerfen zu können. Dazu ist die Einsicht in den eigenen formbildenden Prozeß als Frau nötig: Wenn ich mich als vom männlichen Blick her gesehene Frau verkörpere, dann mache ich mich als Frau selber zum Objekt. Nur bedeutet die männliche Geschichte, sich vor allem mit dem Aspekt der Bemächtigung, die weibliche, sich mit dem Bemächtigtsein zu identifizieren. Oder noch anders formuliert: Wie es in der männlichen Geschichte einen Bemächtigten gibt - zunächst den Mann selber - so gibt es in der weiblichen eine Bemächtigende, die an sich selbst vollzieht, was sie im Leben an Bemächtigung und Versehrung erfahren hat. Frau und Mann delegieren im Kontext der kulturellen Muster je einen Aspekt ihrer Geschichte und Formgebung an den anderen. Das ist die geheime Verrechnung, in der beide zueinander stehen. Nur wenn der Mann den Ohnmächtigen in sich entdeckt - nicht im Sinne eines Mitleid heischenden Opfers - kann er den versehrenden Aspekt seiner Verkörperung erkennen. Und nur wenn die Frau erlebt, daß sie nicht nur die von außen Unterdrückte ist, sondern daß sie sich diese Unterdrückung auch einverleibt hat, kann sie es als ihre Verkörperung verstehen und damit vielleicht auch aufzulösen beginnen. Emanzipation wäre dann für beide Geschlechter die Loslösung aus »verunlebendigenden« Mustern.
Damit ist auch die mögliche Chance einer neuen Beziehung zwischen den Geschlechtern angesprochen. Daß ich eine Frau oder ein Mann bin, ist etwas anderes als die Muster, die ich forme und zu denen ich mir die Geschichte von »männlich« und »weiblich« erzähle. Oft identifizieren wir uns mit diesen Mustern, ohne den Preis zu spüren, den wir dafür bezahlen. Oder wir ärgern uns über sie und versuchen, sie mit neuen Ideen und Handlungsweisen zu überspringen. Wir müssen also bei der eigenen Verkörperung anfangen und versuchen, dieser nachzuspüren, ohne das dabei Entdeckte zu werten. Die Frage lautet: »Wie forme ich >weiblich< oder >männlich< sein? Was für Geschichten erzähle ich mir dazu?«
Ich möchte nun das Beispiel jenes Mannes weiterführen, der sich aus seiner zusammengesackten Form in eine aufgeblasene begab und wieder zusammensackte. Ich bat ihn, das Muster des Zusammensackens zu verstärken und anschließend langsam aufzulösen, ohne in die überkompensatorische Form zu gehen. Als er dies versuchte, stand er nach der Auflösung seines Musters lange Zeit schweigend und aufrecht da, ohne sich dabei zu versteifen. Dann sagte er: »Es ist ganz einfach. Ich stehe gut da. Ich fühle mich stark. Und ich muß gar nichts weiter dazu tun.« Dann schwieg er wieder und sagte schließlich: »Es ist ungewohnt, mit lockeren Knien dazustehen. Ich bin etwas unsicher.« Ich schlug ihm vor, sich ein wenig mehr Spannung zu geben. Er tat es und sagte: »jetzt ist es gut. So kann ich nach außen bestehen. Ich fühle mich jetzt auch als Mann seltsam! Es geht ohne den ganzen Krampf.« Und dann formulierte er, was er durch die Übung gelernt hatte: »Ich muß mich nicht aufblasen, um ein Mann zu sein. Aber ich kann variieren. Ich kann spüren, wieviel Spannung ich in einer Situation brauche, um mich zu stellen.«
Dieser Mann hatte einen neuen Ansatz gefunden, seine Identität als Mann zu formen, ohne in ein Macht-Ohnmacht-Muster zu geraten. Den Hintergrund zu diesem Erleben bildete eine sehr schmerzliche Kindheitsgeschichte. Als der Mann sein männliches Sehnsuchtsbild zeichnete, fragte ich ihn: »Hast du dich während der Arbeit (im Beruf als Therapeut) als schwach erlebt?« - »Nein«, sagte er, »Ich habe alles rundherum vergessen. Ich war einfach beim Prozeß.« - »Hättest du etwas anders machen wollen?« - »In dem, was mir wichtig war, hat es gestimmt. « Er überlegte: »Doch sonst habe ich manchmal das Gefühl, ich könnte mehr wagen, wenn ich mir besser trauen würde.« An diesem Punkt fielen die Kategorien plötzlich weg. »Wenn ich nicht >weiblich< oder >männlich< sage, habe ich das Gefühl, daß das, was ich möchte, für mich auch erreichbar ist ... «, und er richtete sich unwillkürlich auf. »Was ist denn unerreichbar?« Er schwieg und wurde traurig: »Der Vater.«
Es zeigt sich, daß »männlich« und »weiblich« hier nur Chiffren sind, die immer tiefer in den Sog der eigenen Muster führen. Der Mann in diesem Beispiel war in seine Geschichte von »männlich/weiblich« verstrickt. Dahinter kam der Schmerz um den Vater zum Vorschein. Einige Zeit vorher hatte er mir erzählt: »Ich war schon immer
Mutters Sohn gewesen. Sie hatte mich in Besitz genommen. Sie bremste mich, wenn ich Bubenspiele machen oder mich gar gegen Gleichaltrige wehren wollte. Sie ist schuld, daß ich kein richtiger Mann bin. Mein Vater war schwach und unbedeutend.« Der Mann erlebte, wie sehr seine Interpretation des Weiblichen mit der verachteten und gleichzeitig als übermächtig erlebten Mutter und mit der Verachtung für den Vater, den er mit den Augen der
Mutter sah, zusammenhing. Männlich war das von der Mutter Bekämpfte, das Anrüchige und Faszinierende, das ihn dazu brachte, sich an Rollenklischees zu orientieren. Dahinter kam eine unglückliche Beziehung zwischen den Eltern zum Vorschein: eine Frau, die ihre eigenen Möglichkeiten nicht hatte verwirklichen dürfen und zuletzt einen gesellschaftlich unterlegenen und darum von ihr mißachteten Mann geheiratet hatte und darüber bitter
geworden war.
Indem dieser Mann nun eine neue leibhafte Gestalt ertastete, fand er auch eine neue Geschichte für sich, in der er um den vermißten und verpaßten Vater weinen durfte und von da her andere Formen der Beziehung zum Mannsein aufspüren konnte. Er mußte nicht länger die Geschichte seiner Eltern verkörpern und den Vater, wie auch sich selber, durch die - aus Not - verachtenden Augen der Mutter sehen. Dieses »Sehen« ist wiederum nicht nur eine
Idee oder Vorstellung, sondern ein leibhaftes Sehen, das zum zusammensackenden und sich aufblähenden Körpermuster führte. Die andere Seite der »Geschichte« war die verstrickte Beziehung zu seiner Mutter, in der er sich schwach, mit einer »Aggressionskugel« im Bauch spürte, die dem Mißbrauchtwerden als Partnerersatz galt und immer deutlicher zum Ausdruck kam. Schließlich ging es darum, daß der Sohn eine leibhafte Form fand, in der er genügend »Standfestigkeit«, hatte, um die Verantwortung für die Beziehung seiner Eltern diesen innerlich zurückzugeben.
Es ergibt sich also ein komplexes Netz von Verkörperungen und Gegen-Verkörperungen. Doch die Auflösung der alten Muster setzt neue, unerwartete und kreative Möglichkeiten frei, wie gerade das letzte Beispiel gezeigt hat. Neben allen nötigen gesellschaftlichen Veränderungen bleibt die Aufgabe, sich individuell auf das Wagnis einer »verkörperten Emanzipation« einzulassen.
Auch das Beispiel einer fünfundvierzigjährigen Frau, die zu mir in Therapie kam, zeigt dies deutlich. Im Laufe einer Therapiestunde sagte sie zu mir: »Immer, wenn ich mich durchsetzen möchte, fühle ich, wie ich kleiner und schwächer werde. Ich schrumpfe zusammen.« - »Was sagst du innerlich zu dir?«, frage ich sie. »Hör doch auf, du bist ja nur ein Mädchen!, sagt eine Stimme in mir - obwohl ich doch längst kein Mädchen mehr bin.« - »Wer hat denn so zu dir gesprochen?« - »Es waren mein Vater und später auch meine älteren Brüder.« Ich sehe den Schmerz auf dem Gesicht von Beatrice. Ich schlage ihr vor, aufzustehen und sich ihren Vater vorzustellen. Beatrice spürt, wie sie wieder zusammenzusacken beginnt. Ich gebe ihr eine Struktur, damit sie spüren kann, wie sie zum kleinen Mädchen wird. Beatrice verstärkt ihr Zusammensacken langsam in drei Stufen, um diese Form dann ebenso langsam wieder aufzulösen. Sie beschreibt, wie sie mit einem ersten Impuls den Brustkorb einzieht und die Schultern nach vorn und oben drückt und dann in der Mitte einsackt, während sie den Kopf leicht zur Seite neigt. Dann zieht sie den Bauch nach oben, verkrampft ihn und hebt die Zehen vom Boden. »Die Augen werden groß, aber ich kann gar nicht mehr richtig sehen«, sagt sie.
Ich lasse Beatrice sagen: »ja Vater, ich bin nur ein kleines Mädchen.« Blitzschnell richtet sie sich auf, zieht von der Mitte her ihren Oberkörper nach oben, verhärtet die Schulterpartie, drückt, indem sie den Nacken versteift, den Kopf nach hinten, preßt die Zunge an den Gaumen, während sie gleichzeitig die Knie durchdrückt und dann die Gesäßmuskulatur anspannt und mit den Zehen zu krallen beginnt. »Bilde dir nur ja nichts ein«, sagt sie. Sichtbar ist, daß sie ihre Beschämung hinter der stolzen Attitüde versteckt. Ich bitte Beatrice, das ganze Kontinuum von der Kleinmädchenhaltung bis zum Stolz langsam, stufenweise verstärkend nochmals »durchzuspielen«. Es wird sichtbar, wie Beatrice im Formen des Stolzes das Weinen, das kommen will, hinunterwürgt, indem sie den Hals versteift. Ich bitte Beatrice, die Form um eine Stufe zu lösen. »jetzt spüre ich Wut«, sagt sie, »mir wird heiß.« Ich bitte sie, bei dieser Wut zu bleiben, sie einfach zu spüren und nach einer Weile eine weitere Stufe ihres Musters zu lösen. »jetzt tut es weh«, sagt Beatrice und beginnt zu weinen. Ich ermutige sie, das Weinen zuzulassen, ohne sich dabei aufzulösen. Nachdem die Trauer und der Schmerz über die Mißachtung durch den Vater zum Ausdruck gekommen sind, gebe ich die Anregung, die letzte Stufe des Stolzes zu lösen und dann so zu bleiben.
Beatrice atmet tief. »Ich werde von innen herauf ganz warm«, sagt sie. »Schau deinen Vater an«, schlage ich vor. Beatrice steht lange da. »Ich bin eine Frau«, sagt sie leise. »Sag es nochmals«, bitte ich sie nach einer Weile. Sie sagt die Worte wieder, einfach und fest. »Es wird noch wärmer. Ich spüre ein Kribbeln in den Füßen. Es fließt etwas aufwärts. - Ich muß atmen. Es ist wie ein Fluß durch mich hindurch. Fast zuviel.« - »Gib dir ein klein wenig mehr Form, damit du es aushalten kannst«, sage ich. Beatrice schweigt lange. Sie atmet tief und regelmäßig. Ihre Haut wirkt durchblutet, im Gesicht sind ihre Lebendigkeit, ihr Erregtsein sichtbar. »Ich spüre, daß ich stehe. Sicher stehe. Ich fühle mich stark und weich. Klingt ganz komisch für mich ... « Dann sagt sie unvermittelt: »Ich bin eine Frau, Vater, und nicht dein Mädchen! Ich gehöre mir selber. Es ist aufregend, eine Frau zu sein.« Beatrice setzt sich und bleibt still. Zum Schluß sagt sie: »Ich spüre etwas in mir. Aber ich kann es noch nicht in Worte fassen, etwas Kostbares ... Vielleicht bin ich das selber.«
Die geschilderte Stunde ist nur ein Ausschnitt aus einem langen Prozeß, der ein eindrucksvolles Beispiel für das Unterwegssein zu einer persönlichen Form als Frau ist. Nach dieser Stunde erzählte Beatrice, sie müsse ganz neu gehen lernen. »Ich habe mehr Gewicht«, sagte sie, »und ich bin aufrechter und irgendwie unmittelbarer. Aber manchmal bin ich auch beunruhigt, weil meine Reaktionen mir nicht vertraut sind.« Es zeigte sich, wie schwierig es ist, eine persönliche Form zu leben. Gegen Ende der Therapie sagte sie zu mir: »Ich wußte früher genau, was eine Frau ist, und vor allem, wie ich als Frau zu sein habe. Jetzt weiß ich es nicht mehr so genau. Ich bin eine Frau. Ich kann erspüren, wer ich bin. Ich kann vieles aufnehmen, was über Weiblichkeit gesagt wird, wenn ich spüre, daß es mich stärkt. Doch die Grenzen sind ins Fließen gekommen. Ich fühle mich manchmal fraumännlich, dann mannfraulich. Schwer auszudrücken!«
Das Beispiel zeigt, wie das Formen eines neuen Bezugs zu sich selber die alten Geschichten und Kategorien aufzulösen beginnt und die Sprache oft keine Muster anbietet, um eine neue, werdende Gestalt auszudrücken, es sei denn in paradoxen Formulierungen, wie sie am Ende des geschilderten Prozesses auftauchen.
»Mannfraulich« oder »fraumännlich« meint hier nicht die Auflösung des Geschlechtlichen, sondern seine Er-Füllung im wörtlichen Sinn. Erfülltsein von sich selber ist eine organismische Qualität von Lebendigsein und Erregung, wie sie Beatrice in unserem Beispiel spürte. Diese Erfüllung läßt bisherige Grenzen ins Fließen kommen und bietet Raum für das Einbeziehen des »Schattengeschlechts«[16] Voraussetzung dafür ist jedoch, die Muster von Bemächtigung und Bemächtigtsein allmählich auflösen zu können.

Die Ohn-Macht von Beziehungen

Bei der Betrachtung männlicher Muster komme ich als Frau in eine widersprüchliche Situation. Ich versuche zunächst, die unterdrückenden und enteignenden Geschichten mit ihren Verkörperungen darzustellen, die unsere weibliche Geschichte ausmachen. Der Mann hat in diesen Geschichten die übermächtige, überwertige und bestimmende Position. Wir pflegen diese Geschichten mit dem Begriff »Patriarchat« zu belegen. Es gibt eine gesellschaftliche Geschichte der männlichen Macht und Überwertigkeit, die im Vergleich zur weiblichen eine vorteilhaftere, mit weniger Schmälerungen verbundene Geschichte war. Der Mann zeigte sich als »Herr der Lage«. Diese Geschichte war und ist nicht nur individuell, sondern auch politisch-wirtschaftlich anfechtbar.
Als Therapeutin erfahre ich jedoch, wie versehrend und einschränkend auch die männlichen Muster sein können und auch von den betreffenden Männern oft als solche erlebt werden zumindest von denen, die sich auf einen therapeutischen Prozeß einlassen. Ich begleite solche Prozesse mit der gleich-gültigen (wörtlich!) Aufmerksamkeit, die ich jedem menschlichen Selbstgestaltungsprozeß entgegenbringe. Doch die »Frau in mir« ist oft sehr betroffen, die Frau mit ihrer weiblichen Geschichte, die »den Mann« als den Übermächtigen, Bevorzugten in der Geschichte des Patriarchats verstand. Einschränkung, »Verunlebendigung« werden deutlich als Preis der männlichen verkörperten Geschichte. Die Kategorien werden relativ. Unter dem Aspekt der Lebendigkeit und schöpferischen Selbstgestaltung hat es der Mann nicht besser als die Frau, denn es gibt keine bessere oder schlechtere »Verunlebendigung«! Wie soll ich mit dieser Erfahrung umgehen, die ich als Therapeutin deutlicher und klarer erlebe als in einer eigenen Liebesbeziehung? Es bieten sich hierzu überkommene Geschichten an: »Der Mann hat es auch nicht besser als die Frau« (mit dem Unterton der Überheblichkeit oder der Schadenfreude). »Der Mann ist zu bedauern - frau muß ihm helfen.« Solche Geschichten würden den therapeutischen Prozeß verunmöglichen. Ich würde die »weibliche Geschichte« an einem Mann austragen. Das ist die eine Seite. Was mache ich als Frau aus diesen Erfahrungen, die ich im Raum einer - wenn auch therapeutischen - Beziehung gemacht habe? Ich muß meine Geschichte als Frau unserer Gesellschaft nicht zurücknehmen. Aber es verändert meine Sicht der männlichen Geschichte, an deren versehrender Dynamik ich nicht mehr vorbeisehen kann.[17]
»Der Mann« bezahlt einen hohen Preis für seine Geschichte, und der individuelle Mann erscheint nicht nur als ihr Urheber, sondern auch als ihr Opfer. Dadurch kann ich mein Muster der Verherrlichung und des Neides auflösen. Meine Anliegen als Frau dieser Erkenntnis wegen aufzugeben wäre allerdings eine alte Geschichte. Ich kann und will dem Mann nicht »helfen«, weder in der Therapie noch in einer eigenen Liebesbeziehung. Es fällt mir nicht schwer, einen Mann in der Therapie in seinem Prozeß zu begleiten, wenn es um diese männlichen Muster geht - nur von diesen spreche ich jetzt und nicht von Therapie allgemein. Aber was bedeutet diese Erkenntnis für die Beziehung zum Mann überhaupt?
Es gibt zunächst einen ersten Schritt, den Männer von sich aus tun müssen - und auch zu tun beginnen: ihr eigenes Leiden, ihren Preis erkennen und auch zur Sprache bringen, öffentlich und privat. Wir Frauen können das nicht für die Männer tun. Wir können sie auch nicht aus ihrem Leiden »erlösen«, so wenig wie Männer den Frauen ihre Emanzipation abnehmen konnten und können. Als Frauen würden wir in die alte Rolle der weiblich-mütterlichen Trösterin zurückfallen, die den Mann wieder für sein männliches Leben aufrüstet. Männer würden in den väterlich-patriarchalen Gestus verfallen, mit dem sie den Frauen gönnerhaft den Weg zeigen würden. Damit wäre wieder eine Chance vertan. Männer müssen ihre Emanzipation selber vollziehen. Sie brauchen dafür vor allem die anderen Männer, was oft ein schwieriger Schritt zu sein scheint. Als Therapeutin kann ich einen Mann begleiten und vielleicht meinen eigenen Prozeß mitteilen. Ist dies auch ein Modell für die Liebesbeziehung zu einem Mann?
Zunächst läßt sich daraus lernen, daß Frauen wachsam mit der Versuchung umgehen müssen, in überkommene Beziehungsmuster zu fallen, die vielleicht nur die Funktion haben, die Ohnmacht des Partners und damit die eigene Beziehungs-Ohnmacht nicht ertragen zu müssen. Liebe aber ist ohne Macht. Das ist wohl die erste Lektion, die beide Geschlechter zu lernen haben. Der Mann ist dabei, die alte patriarchale Liebesmacht zu verlieren. Doch sie ist zu kostspielig, denn wer den anderen Körper zum Besitz macht, hat keinen lebendigen Austausch mit ihm, und wer als In-Besitz-Genommene eine Beziehung eingeht, lebt in einer »Objekt-Beziehung«. Oder noch anders: Wer den Körper des anderen aus dem Person-Ganzen isoliert und funktionalisiert, bleibt selber als Person einsam, und Intimität ist nicht möglich. Gleichzeitig denunziert er auch die eigene Körperlichkeit und macht sie zur Funktion des eigenen Ichs, genau wie die Frau ihren Körper zum abgespaltenen Objekt macht. Dieses »Machen« ist jedoch ein Muster, dem wir als Frau und Mann zunächst ausgeliefert waren oder noch sind. Das trifft zu, auch wenn das männliche Muster ein Machtmuster ist und dies ist einer der inneren Widersprüche unserer Kulturgeschichte.
Zudem sind Frauen dabei, ihre geheime Macht, die sie aus ihrer unterwürfigen Position schöpfen, in Frage zu stellen. Wo dies geschieht, wird Raum frei. Ein Raum, in dem zunächst jeder auf sich gestellt ist, mit seiner Geschichte konfrontiert, herausgefordert zu seiner Emanzipation. Wir können einander die Erfahrungen mitteilen, Anteil nehmen, aber wir können einander nichts abnehmen. Wir müssen die Beunruhigung des anderen aushalten, aber auch die Beunruhigung durch den anderen, durch seinen Prozeß. Unser Gemeinsames ist es, unterwegs zu sein mit der Hoffnung, bei uns selbst und beim anderen anzukommen, ihm neu zu begegnen, ohne die alten, uns auch schützenden Muster. Dies ist das Wagnis des Unbekannten.

Organminderwertigkeit Frau oder: Ich bin die Frau, die ich bin

Der weibliche Körper als Funktion und Objekt

Den Körper zum Objekt, zum Besitz zu machen, sich von ihm zu distanzieren ihn zu beherrschen - dies sind verkörperte Geschichten unserer Kultur und Gesellschaft. Sie gelten zunächst für beide Geschlechter, mit unterschiedlichen Akzenten. Doch Frauen haben noch eine andere spezifische Geschichte gelernt. Sie kommt heute gerade darin zum Ausdruck, daß viele Frauen sich wehren, auf ihren Körper und seine Dynamik verwiesen zu werden. Schnell kommt der Verdacht auf, der überkommenen Geschichte entsprechend auf das Körperliche reduziert zu sein.
Lange Zeit wurde die Frau auf ihre - zugleich minder bewertete biologische Funktion eingeschränkt, und diese wurde ihr gleichzeitig als ihre einzig wahre Bestimmung zugeschrieben. Die Frau sollte sich mit dieser völlig identifizieren. Das ist eine der typischen Double-bind-Situationen, in welche Frauen in unserer Gesellschaft hineingebunden waren. Das Bedürfnis, die anderen, bisher verschlossenen und verweigerten Bereiche zu ergründen und zu leben, war - und ist - groß. Es sind jene Bereiche, die als »männlich« definiert waren und von den Frauen zunächst als männliche erobert wurden. Doch erst wenn sie von Frauen selbstverständlich als die ihren erlebt werden, ist die alte Geschichte aufgelöst.
Zu dieser Auflösung gehört jedoch noch ein weiterer Aspekt: die Spaltung zwischen »Körper« und »Geist« aufzuheben. Die Abwehrstellung gegen den eigenen Körper fixiert - wenn auch unter anderen Vorzeichen - nur wieder die alte männliche Geschichte vom minderen Wert des Körperlichen. Umgekehrt muß sich die Suche nach einer neuen körperlichen Identität der Frau gegen die alten funktionalisierenden und reduzierenden Geschichten abgrenzen. Das ist eine oft heikle Gratwanderung! Die »neue Mütterlichkeit«[18] beispielsweise steht immer wieder im Verdacht, einen Köder darzustellen, der die alte Funktionalisierung des Körperlichen und die mit ihm verbundenen Zwänge nur schmackhafter zubereitet.
Die Schwierigkeiten, die sich beim Entwerfen einer Perspektive ergeben, in welche neue Körper-Geschichten eingebracht werden können, sind groß. Frauen sind dabei, die alten Geschichten aufzuarbeiten. Buchtitel wie >Krankheit Frau< oder >Die Brust, das enteignete Organ< zeugen davon. [19] Eines der wichtigsten Stichwörter auf dieser »Spurensuche« ist wohl dasjenige der Enteignung. Die männliche Geschichte machte den weiblichen Körper zum Objekt und Besitz, aber nicht im Sinne der Selbstbeherrschung wie in der männlichen Geschichte, sondern im Sinne des Beherrscht- und In-Besitzgenommen-Werdens durch den Mann. Diese Dynamik betrifft beispielsweise die Wertung des Körperlichen überhaupt, der Schönheit, der Sexualität, den Bereich des Gebärens und des Alterns.
In diesem Prozeß sind Frauen für die Gestaltung von Partnerschaft darauf angewiesen, daß auch Männer ihre eigene Körpergeschichte sowie diejenige über die Frau in Frage zu stellen beginnen.[20] So läßt sich vielleicht auch eine neue Liebes-Geschichte entwerfen - eine liebevollere und intimere. Auch die Geschichten, die Frauen über den Mann gelernt haben, bestimmen, wie sie sich Männern - vor allem dem Partner - gegenüber verkörpern. Die Auflösung alter Geschichten mit ihren Mustern bringt meist tiefe Verunsicherung, die durch die »Rückfixierung~< des anderen in ein altes Muster nochmals verstärkt wird. Deshalb ist der Prozeß einer Neugestaltung von Beziehung ein so zerbrechlicher.

Der Verrat durch den Körper

Die biologischen Grundgegebenheiten verweisen die Frau stärker auf den eigenen Körper, auf körperliches Geschehen als den Mann. Die Menstruation bindet die Frau in einen zyklischen Ablauf ein, das Gebären in extreme körperliche Veränderungen, die Menopause entläßt die Frau aus dem Fruchtbarkeitszyklus. Die damit verbundenen überkommenen Geschichten sind solche des Ausgesetztseins in diese körperliche Dynamik.[21] Entweder war eine Frau verheiratet und hatte über einen langen Zeitraum ein Kind nach dem anderen, oder sie blieb unverheiratet und dadurch in die Pflichten der Herkunftsfamilie eingebunden. War sie katholisch, hatte sie zudem die Möglichkeit, Nonne zu werden. Eine Wahl jedoch, sich dem Gebärzyklus auszusetzen oder nicht, gab es kaum. Die meisten Frauen hatten eine große Zahl von Kindern, von denen viele wieder starben.[22] Die Frauen selbst waren durch das Gebären gefährdet. Sie starben zum Teil während der Geburt selbst oder im Kindbett. Die vielen Schwangerschaften und Geburten zehrten ihre Kräfte auf. Oft befanden sie sich zehn oder noch mehr Jahre in einem hormonellen Sonderzustand, da sich Schwangerschaft, Gebären und erneute Schwangerschaft fast lückenlos abwechselten. Wenn sie aus diesem Kreislauf herauskamen, waren sie oft erschöpft, ausgelaugt und alt. Es bestand keine Möglichkeit, ein neues, zweites Leben zu beginnen. Vor allem in den unteren Schichten war dieses Leben zudem von harter Alltagsarbeit, oft auch von Geldverdienen begleitet. Frauen leisteten Heimarbeit, gingen als Taglöhnerinnen oder später in die Fabrik arbeiten. Die Kinder - vor allem die Mädchen - verrichteten einen großen Teil der häuslichen Arbeit.
Als Beispiele sind mir die Schicksale meiner beiden Großmütter noch gegenwärtig. Meine Großmutter väterlicherseits, Mitte des 19. Jahrhunderts geboren, brachte dreizehn Kinder zur Welt. Acht dieser Kinder überlebten. Mein Großvater war Bahnangestellter. Von einem Kollegen lernte er, wie man Weinfässer unbemerkt anzapfen konnte, und verfiel dem Alkohol. Er verlor seine Stellung, wurde lungenkrank und starb. So mußte meine Großmutter ihre Kinder allein durchbringen. Sie arbeitete als Taglöhnerin und lebte mit ihrer Familie in schwärzester Armut. Tagsüber schloß sie die jüngeren Kinder in der ungeheizten Wohnung ein - für das Heizen reichte das Geld nicht. Ein Stück hartes Brot war alles, was die Kinder in ihrer Abwesenheit zu essen hatten. Zu viert schliefen sie in einem Bett. Es gab ein Paar Holzschuhe für drei Kinder, auch sonst nicht genug Kleider zum Anziehen, vor allem im Winter. Auf jede erdenkliche Weise mußten die Kinder mitverdienen. Die größeren unterstützten später mit ihrem Verdienst die jüngeren Geschwister. Meine Großmutter war, wie es heißt, eine sehr energische und tapfere Frau, die ihre Kinder ohne Klagen durchbrachte. Noch heute hängt das Bild dieser winzigen, alterslos erscheinenden Frau in unserem Wohnzimmer, jener Frau, die mit vierzehn Jahren ihre Großmutter verloren hatte - von den Eltern fehlte jede Spur - und mit ihrem Bruder von der Innerschweiz ins Bernbiet ausgewandert war, um dort in der Fabrik zu arbeiten. Ich hatte ein Bild starker Frauen, die trotz ihres schweren Schicksals nicht unterzukriegen waren. Meine andere Großmutter hatte ebenfalls dreizehn Kinder, drei waren früh gestorben. Und auch ihr Mann vertrank sein Geld über sein Elend und die mit der Kinderzahl wachsende Armut. Ihr Leben erschien als Opferdasein. Geschlagen von ihrem Mann, ständig wieder schwanger, wurde sie nach damaliger katholischer Eheauffassung zum Beischlaf gezwungen, mußte in der Fabrik arbeiten und die Kinder schließlich allein durchbringen. Da sie sich von ihrem Mann trennte, war sie auf die Hilfe ihrer Kinder angewiesen.
Meine Mutter mußte als ältestes Kind schon mit sechs Jahren härteste Arbeit verrichten, die Schule auf eine Sondererlaubnis ihrer Gemeinde hin mit zwölf Jahren verlassen, als Verdingkind und später als Zimmermädchen arbeiten. Sie mußte lange Zeit ihren ganzen Verdienst nach Hause schicken. Erst mit über vierzig Jahren bekam sie mich als einziges Kind und litt jahrelang an den Folgen der lebensgefährlichen Geburt. Vorher hatte sie ihre ganzen Kräfte auf das Durchbringen ihrer Familie ausgerichtet. Keines der Mädchen ihrer Familie durfte einen Beruf erlernen, das war den Buben vorbehalten. Als das letzte Kind aus dem Hause ging, war die Großmutter eine gebrochene Frau - ein Opfer ihres Mutterseins. Meine Mutter erzählte oft, daß sie ihre Mutter nachts immer noch beim Arbeiten antraf putzen, nähen, stricken und flicken - und um fünf Uhr morgens war sie schon wieder auf den Beinen. Dabei muß man bedenken, daß diese Frau die meiste Zeit schwanger gewesen war ...
Diese Geschichten stehen für viele andere, die sich zu Beginn unseres Jahrhunderts in unserem Kulturkreis in den unteren Bevölkerungsschichten abspielten. Sie stehen aber auch für unzählige Frauen- und Familienschicksale der Dritten Welt noch heute, im letzten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts. Ich frage mich, wie all diese Frauen das schafften - und es heute noch tun. Sie hatten oder haben keine Möglichkeit, ihr Leben selbst zu gestalten und eine gewisse Lebensqualität zu erreichen.
Unsere Chance hier und heute ist es, daß wir diese Geschichten in Frage stellen können, vor allem diejenige von der Minderwertigkeit der Frau. Diese Minderwertigkeit war eng mit der Körpergeschichte verbunden, einer Geschichte des Ausgeliefertseins an den eigenen Körper, weil sie ihn nicht als ihr Eigentum, sondern als dasjenige des Mannes und als »Vollstrecker« ihres Schicksals erlebte. Die meisten dieser Frauen warteten ängstlich auf das Ende des nächsten Monatszyklus, der ihr weiteres Schicksal besiegelte. Und eine nächste Schwangerschaft brachte oft keinen Schonraum, war kaum eine Quelle der Freude und des Stolzes, sondern brachte neue Beschwerlichkeit, Behinderung in der Arbeit und bald auch einen neuen Esser in der Familie. Die Menopause war eine Erlösung aus dem oft als Verhängnis erlebten Fruchtbarkeitszyklus, brachte aber meist keine neue Perspektive mehr. So entwickelten sich Geschichten, in denen Frausein gleichgesetzt war mit Muttersein, mit Ausgeliefertsein, mit einem Leben über die Grenzen der eigenen Kräfte hinaus, ausgenommen in den oberen Schichten.[23]
Diese Geschichten wurden von den Müttern an ihre Töchter weitergegeben - von Generation zu Generation. Durch die Geburtenkontrolle hat sich vieles verändert. Doch wir dürfen nicht vergessen, daß noch unsere Großmütter oder gar unsere Mütter diese Geschichten verkörperten oder gerade begannen, sie in Frage zu stellen. Auch heute haben sich junge Frauen häufig mit Leidensbotschaften aus den letzten Generationen für ihr Frausein, für Schwangerschaft und Geburt auseinanderzusetzen und nehmen sie vorerst oft in ihre eigene Gestaltung dieser Lebensbereiche mit.
Dazu ein Beispiel: »Ich will nichts mit meinem Körper zu tun haben«, sagte eine dreiunddreißigjährige Frau, »man komme mir bloß nicht mit den Freuden der Schwangerschaft. Das ist nur eine verkappte Versklavung der Frau an den Körper. Endlich haben wir die Befreiung von dieser Sklaverei an die »Funktion Körper« erreicht und schon beginnen diese idiotischen Frauen, die Sklaverei wieder aufzubauen und dazu noch zu verherrlichen. Nein, da mache ich nicht mit!« Ich kann diese Geschichte nicht einfach abtun. Scharfsichtig und sensibilisiert von ihrer eigenen Geschichte her, erfaßt Susanne, wie schnell die alte Geschichte in neuem Gewand Auferstehung feiert und wie schnell wir wieder bei der alten Funktionalisierung des Leiblichen landen. »Da wird den Frauen ihre alte Rolle nur schmackhafter zubereitet - raffiniert, ich muß schon sagen«, erklärte Susanne bitter, »vom Leiden zur Glorifizierung des als Freude verkleideten Leidens!«
Damit beschreibt diese Frau eine mögliche alte - neue Geschichte. Doch auch sie selbst formuliert einen Gegensatz, der im Grunde eine in sich zusammenhängende Geschichte darstellt: Sie stellt eine funktionalisierte Körperlichkeit, vor allem manifest in Schwangerschaft und Geburt, dem Nicht-Körpersein entgegen. Die Verneinung des Körperlichen erscheint als Ausweg aus der funktionalisierten, enteigneten Körperlichkeit. Und doch hatte diese Frau mich als Therapeutin ausgesucht, obwohl sie wußte, daß ich zwei Kinder habe. »Du bist wenigstens nicht nur ein Körperhuhn«, sagte sie einmal. »Ich weiß ja, daß du auch denken kannst. Ich wollte auch nicht eine Frau, die sowieso mit mir einverstanden ist. Aber ich verstehe nicht, weshalb du in die Falle gegangen bist.« Susanne wollte die Abgrenzung, wollte die Auseinandersetzung, die sie mit ihrer Mutter nie haben konnte: »Die wäre gleich zusammengebrochen.« Mich mußte sie also nicht schonen, und sie tat es auch nicht.
Ich erlebte den konstruktiven Teil, der in ihren Angriffen lag. Gleichzeitig blieb ich bei dem, was mein Körpersein für mich war. Mit der Zeit fand sie ihren Zugang zur eigenen Leiblichkeit. Sie empfand ihr Denken oft als Qual. Und wir erkundeten, wie sie ihr Denken verkörperte. »Ich drücke meine Zunge, ja meinen Hals gegen den Kopf und zerquetsche dabei mein Gehirn«, äußerte sie. Als sie dieses Muster zu lösen begann, fand sie heraus, daß sie »mit dem ganzen Körper denke«. Von da her wuchs ihr Vertrauen in ihre Leiblichkeit: »Der Körper ist nicht nur zum Schwangersein da, sondern auch zum Denken - das beruhigt mich«, sagte sie. »Ich verstehe dich vielleicht jetzt besser. Man verkörpert sein Denken und auch das Schwangersein. Das muß kein Widerspruch sein. Der Gegensatz ist nicht Denken und Körper. Ich habe vielmehr die Freiheit, wie ich mich verkörpern will. Ich mache es anders als du. Aber der Gegensatz ist für mich nicht mehr Versklavung und Freiheit, sondern versklavende Verkörperung und freie Verkörperung, lebendige, wie du es nennst. Aber ich glaube nicht, daß ich Kinder haben will.« - Dieser Prozeß hat auch in mir vieles geklärt.
Immer wieder begegne ich - auch heute noch - Frauen in der Therapie, die überkommene Körper-Geschichten gerade im Hinblick auf Schwangerschaft und Geburt mit sich tragen. »Sobald du schwanger bist, ist es aus mit der Selbständigkeit.« - »Schwangerwerden ist wie eine Falle, die für immer zuschnappt.« - »Mit der Schwangerschaft beginnt die körperliche Verunstaltung.« Dies sind solche Botschaften, die jedoch oft nicht verbal oder zumindest nicht eindeutig faßbar vermittelt wurden und überdies meist noch überlagert waren vom Impuls, die eigenen Töchter in die Mutterschaft zu manövrieren. So ergab sich für viele Töchter eine Doppelbotschaft, die ich etwa so ausdrücken könnte: »Werde bald schwanger, es ist deine Bestimmung - aber es ist eine lebenslängliche Gefangenschaft.« Kein Wunder, daß eine große Ambivalenz die Schwangerschaft solcher Frauen überschattete oder noch überschattet. Die Angst vor dem Verlust der Autonomie ist im Vordergrund und löst andererseits Schuldgefühle über die mangelnde Freude in bezug auf den eigenen Zustand aus. »Bin ich denn so egoistisch, wie meine Mutter sagt, daß ich immer daran denke, wieviel ich aufgeben muß, wenn das Kind kommt?« fragte mich eine jüngere Frau verzweifelt während ihrer ersten Schwangerschaft. Daß es sich dabei nicht nur um Geschichten, sondern um gesellschaftliche Realitäten handelt, macht das Problem noch schwieriger.
Durch die Schwangerschaft kommen nicht nur überlieferte Geschichten an die Oberfläche, sondern ebenso mitgebrachte weibliche Körper-Geschichten. »Ich spürte mich nie, wollte von meinem Körper nichts wissen«, sagte eine fünfunddreißigjährige Frau, als sie hochschwanger war, »und jetzt macht er sich so bemerkbar. Ich will diesen dicken Bauch und die aufdringlichen Bewegungen nicht, ich will schlank und beweglich sein. Und ich will nicht ständig an meinen Körper erinnert werden!« Sie erlebte ihren Bauch als ein Monstrum, das sie zu überwältigen drohte. Lange konnte sie so tun, als sei sie nicht schwanger, jetzt aber fühlte sie sich »überführt«. Die Lebendigkeit des Kindes war eine fremde, die in krassem Gegensatz zu ihrem Körperempfinden stand, das eine No-body-Wahrnehmung war. Erst als sie durch Atemübungen und durch Berührung mehr Zugang zu ihrer eigenen Lebendigkeit fand, erlebte sie ihren Bauch und die Kindsbewegungen nicht mehr als etwas Feindliches.
Mit ihrer intensiveren Selbstwahrnehmung vermochte sie die Bewegung und das Wachsen des Kindes in ihr eigenes Lebendigsein aufzunehmen und fühlte sich dem »anderen« nicht mehr so hilflos ausgeliefert. »Ich spüre meine eigene innere Bewegung. Sie geht bis zum Bauch hin und verbindet sich mit dem Strampeln des Kindes. Es ist eine Bewegung, und gleichzeitig sind wir zwei.« - Hier spielen zwei Geschichten zusammen, zunächst die Spaltung »hier bin ich dort ist mein Körper« und eine Vorstellung von Weiblichkeit, die mit einem bestimmten Körperideal verbunden war, das die männliche Gesellschaft vermittelt. Gerade deshalb halten Frauen manchmal an der erworbenen körperlichen Identität fest. Sie wollen beispielsweise »in Form« sein und haben mühe, die Auflösung dieser Form zuzulassen.
So tragen auch heutige Frauen meist noch die von ihren Müttern »vererbten« Geschichten mit sich, selbst da, wo sie diese ablehnen, sie bekämpfen oder belächeln. Trotz des dramatischen Wandels. Innerhalb von zwei bis drei Generationen bleiben tiefe Spuren. Äußere Veränderung vollzieht sich schneller als ganzheitliche - und damit auch leibhafte Umgestaltung. Doch auf diesem Hintergrund werden auch neue Begegnungen von Töchtern und Müttern möglich. Einige alte Frauen haben mir erzählt, daß sie ihre eigene Emanzipation zusammen mit ihren Töchtern oder gar durch deren Anstiften vollzogen hatten. Eine solche Mutter ist etwa Rosalia Wenger, die Verfasserin des Buches >Rosalia G. - ein Leben<.

Der verdächtige Körper

Die Geschichte der weiblichen Organminderwertigkeit begann früher schon mit der Geburt: »Nur ein Mädchen!«. Der Vater war enttäuscht, die Frau fühlte sich als Versagerin, weil sie ihrem Mann keinen Sohn hatte schenken können. Dem kleinen Mädchen aber haftete ein Makel an, der nie wiedergutzumachen war: Sein So-Sein als Mädchen war »falsch«, war ein organischer Defekt. Diese Ausgangslage prägte noch das Selbstverständnis vieler Frauen, die heute in unserer Kultur der mittleren und älteren Generation angehören und sie prägt noch immer das Selbstverständnis der meisten Mädchen und Frauen in anderen Kulturen. Die Geschichte ging durch die Kindheit hindurch weiter: Das Mädchen lernte sein Minderwertigsein am Beispiel der Mutter und anderer Frauen und durch die Wertungen, die ihm entgegengebracht wurden. Alfred Adler hat als einer der ersten diese Zusammenhänge durchschaut und zum Ausdruck gebracht:[24]
»Es wird vielfach übersehen, daß dem Mädchen seit seiner Kindheit die ganze Welt mit einem Vorurteil in den Ohren liegt, das nur geeignet ist, den Glauben an seinen Wert, sein Selbstvertrauen zu erschüttern und seine Hoffnung, je etwas Tüchtiges zu leisten, zu untergraben. Wenn es darin nichts als nur bestärkt wird, wenn es sieht, wie Frauen nur untergeordnete Rollen zugewiesen sind, dann ist es begreiflich, wenn es den Mut verliert, nicht mehr recht zugreifen will und schließlich vor den Aufgaben des Lebens zurückschreckt. Dann freilich ist es untauglich und unbrauchbar. Wenn wir aber einem Menschen gegenübertreten und ihm den Respekt einzuflößen verstehen, der der Stimme der Gesamtheit zukommt, und wenn wir ihm alle Hoffnung absprechen, daß er es zu etwas bringen könne, wenn wir auf diese Weise seinen Mut untergraben und dann finden, daß er nichts leistet, dann dürfen wir nicht sagen, daß wir recht gehabt haben, sondern müssen eingestehen, daß wir das ganze Unglück verschuldet haben.«
»Organminderwertigkeit Frau« heißt also zunächst, nicht mit den richtigen - männlichen Organen ausgestattet zu sein und die Konsequenzen dieses »Geburtsfehlers« zu tragen, einer Sozialisation anheimzufallen, mit der das Minderwertigkeitsgefühl einverleibt wurde. Konnte ein Mädchen seinen Körper bejahen, der es so an die mindere Seite des Lebens verraten hatte? Und war es einer Mutter möglich, die Körperlichkeit ihrer Tochter zu bejahen? Schon das kleine Mädchen erfuhr, daß sein Körper bei der Mutter weniger Beachtung fand als derjenige des Bruders. Der Vater, der das Mädchen hätte bestätigen können, war abwesend.[25] Zudem behandelte er seinen Körper als ein Objekt, wie es ihm seine männliche Geschichte nahelegte und die sich auch in den zahllosen Inzesthandlungen manifestiert, auch heute noch.
Der Verdacht der eigenen Körperlichkeit gegenüber wurde zudem dadurch verstärkt, daß Kinder nie den entblößten Körper ihrer Eltern sehen durften. Eine fünfzigjährige Frau äußerte in diesem Zusammenhang: »Ich habe meine Mutter nie nackt gesehen. Ganz selten erblickte ich sie in ihrem rosaroten Korsett, das ihre üppige Figur zusammenhielt. Die Beine waren blau geädert. Ich hatte immer das Gefühl, unter diesem Korsett müsse sich etwas Schreckliches verbergen. Und ich empfand einen geheimen Ekel vor ihren Oberschenkeln und dem Schlimmen, das da verborgen war und keinen Namen hatte.« Diese Empfindungen spiegeln wohl die Gefühle der Mutter ihrem eigenen Körper gegenüber wider, und die Unmöglichkeit, den Körper der Mutter zu sehen, steigerte diese Abneigung noch. Die Frau fuhr fort: »Als ich im Teenageralter war und weibliche Formen annahm, bekam ich immer mehr Schwierigkeiten mit meinem Körper. >jetzt wirst du wie deine Mutter<, sagte ich mir.« Während ihres Erwachsenwerdens identifizierte sie sich immer stärker mit dem Körper ihrer Mutter und lehnte sich selber ab. Ich bat sie dann, in ihrer Vorstellung ein Bild ihres nackten Körpers entstehen zu lassen, was für diese Frau nicht einfach war. Sie empfand dabei zunächst Ekel. Als sie ihn nach einer Weile aufzulösen vermochte, sagte sie: »Ich begann plötzlich eine Wärme und ein Prickeln im Becken zu spüren. Ich war bei mir und nicht mehr beim Bild. Ich spürte mich atmen, und mein Atem ging bis in den Bauch. Ich spürte ihn auch in meiner Scham, innen in der Vagina und dann auch in den Oberschenkeln. Es war erschreckend und schön zugleich. Mir fuhr durch den Kopf: >Nein, nicht auch das noch! jetzt fängt das noch an zu leben!< Doch allmählich konnte ich es zulassen. Dann sah ich auch das Bild wieder. Ich sah es und spürte mich gleichzeitig. Es war eine Frau, einfach eine Frau wie viele, mit etwas breiten Hüften. Mir wurde klar, daß ich eine Frau bin. Und es war schön. Ich wollte ja nie eine Frau sein. Jetzt weiß ich: Frau das war meine Mutter. Nicht meine wirkliche Mutter, sondern eben diejenige, die ich mit meinen Kleinmädchenaugen sah und nicht sehen durfte.« Diese Frau hatte sich selbst mit dem Blick des kleinen Mädchens angeschaut. Oder noch anders: Sie hatte den Blick ihrer Mutter verkörpert, mit dem diese sich selber angeschaut hatte und ihn so auf sich selbst gewendet. Als sie begann, sich von innen zu erspüren, konnte sie ein anderes Bild von sich sehen, sich eine andere Geschichte über sich erzählen und damit eine neue Beziehung zu sich als Frau formen. Die alte Geschichte hatte geheißen: »Eine Frau ist etwas Ekelerregendes. Ich will keine Frau sein. Und das Verhängnis ist, daß ich es bin und immer mehr werde.« Die neue Geschichte hieß: »Ich bin eine Frau unter anderen Frauen. Und ich bin die Frau, die ich bin. Und ich kann mich dabei spüren.«
Der Körper, der tabu ist, strahlt schon sein »Verbotensein« aus. Das bezieht sich nicht nur auf die Sexualität, sondern auf die weibliche oder männliche Körperlichkeit überhaupt. Eine andere Frau sagte dazu: »Ich stellte mir immer vor, der Körper meiner Mutter sei etwas Schreckliches, und ich wollte mich selber nicht anschauen. Ich dachte, >dann wirst du es sehen<. Mit der Zeit sah ich, daß andere Frauen meines Alters ganz normal aussahen. Aber ich hatte das Gefühl, ich selbst sei körperlich nicht normal. Nein, es war eigentlich nicht ein Gedanke, eher ein Gefühl tief unten, das ich trotz aller emanzipierter Gedanken nicht loswurde. Als meine Mutter sehr krank wurde, sah ich erstmals ihren Körper. Ich war tief betroffen.
Ihre Glieder waren von marmorner Blässe. Die blauen Äderchen schimmerten durch. Die Schamhaare waren ganz weiß. Ich hatte nie gewußt, daß Schamhaare auch weiß werden. Der Körper meiner Mutter hatte etwas Schönes, obwohl er alt war, und ich empfand eine tiefe Zärtlichkeit für diesen Körper. >Hätte ich dich doch früher sehen dürfen<, dachte ich ... In diese Zärtlichkeit und Trauer schmolz etwas ein, das ich lange mit mir herumgetragen hatte. Es war die lieblose, verdächtigende Geschichte meinem eigenen Körper gegenüber gewesen.«
In diese Geschichten ist ein altes Schicksal von Frauen verwoben. Viele von ihnen hatten eine tiefe Versehrung ihres Körpers erfahren. Eine sechzigjährige Frau aus einem ländlichen Gebiet formulierte das sehr scharfzüngig: »Ich sehe diese Frauen noch vor mir. Da saßen sie und redeten. Alle aus der Form gegangen. Aufgedunsen und fettleibig. Zerstörte Körper. Und sie redeten, klagten über ihre Krankheiten ...« Sie selber war auffallend dünn und hatte sich geschworen, nie »so eine« zu werden. Wir haben heute andere Möglichkeiten. Wir treiben Sport, haben keine oder wenige Kinder, wir können für unseren Körper meist Sorge tragen. Aber wir haben die alten Geschichten in Fleisch und Blut. Und wenn wir uns kämpfend, spottend oder in verzweifelter Hast von ihnen absetzen, holen sie uns ein. Es bleibt zumindest der ursprüngliche lauernde Blick auf unseren Körper, eine oft unbewußte Absage an ihn. Das gilt nicht nur für Frauen über vierzig, sondern auch heute noch oft für sehr junge Frauen. Aber sie schweigen meist darüber, weil man solche Gefühle ja nicht mehr haben darf. Eine sechsundzwanzigjährige Frau gestand mir: »Ich kann mich nicht im Spiegel anschauen, schon gar nicht nackt. Da bekomme ich gleich Zustände. Nicht nur, daß ich mich häßlich fühle, sondern ich glaube, keine normale Frau zu sein. Ich habe Angst, irgend etwas an mir zu entdecken, was mir das beweist. Ich mißtraue meinem Körper.«
Sie können sich in diesem Zusammenhang die Frage stellen, welche Geschichten Sie über Ihre weibliche Körperlichkeit mit sich tragen. »Ich bin eine Frau« bedeutet auch, eine individuell gefärbte Körpergeschichte zu verkörpern. Hassen Sie die dazugehörigen Botschaften und Bilder in sich aufsteigen, soweit es Ihnen im Augenblick möglich ist. Und vielleicht können Sie spüren, daß unter den belastenden Geschichten auch »nährende« sind, die sich entfalten wollen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch auf einen weiteren, mir wichtig erscheinenden Aspekt hinweisen: je offener heute neue Perspektiven auch öffentlich formuliert werden, um so mehr werden alte Geschichten mit den zugehörigen Gefühlen von einigen Frauen als illegitim empfunden und verdrängt. Man darf sie nicht haben - und hat sie doch! Selbst in der Therapie kommen sie nur zögernd an die Oberfläche. Der öffentliche Entwurf neuer Geschichten läßt die alten zwar verstummen, oft jedoch nicht verschwinden. Wir können aber alte Geschichten nicht »überreden«, sondern müssen sie auflösen, sonst verkörpern wir sie weiter, ohne dessen gewahr zu werden, und die neuen Entwürfe verwandeln sich wieder in eine Norm. »Ich müßte doch endlich ...« ist in jedem Fall eine einengende Verkörperung.
Wir befinden uns heute also in einer seltsam widersprüchlichen Situation. Wir tragen noch viele »stumme Geschichten« mit uns, Geschichten, die noch nie hatten zur Sprache kommen dürfen und die sehr oft die eigene weibliche Körperlichkeit betreffen. Und gleichzeitig haben wir »verstummte Geschichten«, solche, über die wir »hinausgewachsen sein sollten«. Das erste, was wir zu lernen haben, ist, uns auf die Wahrnehmung unserer verkörperten Geschichten ohne Wertung einzulassen. Nur dann eröffnen sich uns auch neue Perspektiven, die nicht wieder zum Ideal, zur Norm, Zum »Muß« erstarren.
»Ich bin die Frau, die ich bin« heißt vor allem, sich selbst mit seiner Geschichte - auch mit der je eigenen Körper-Geschichte - anzunehmen, ohne sich für diese Geschichte nochmals entwerten zu müssen. Sonst wird das Minderwertigkeitsgefühl gleichsam potenziert. Erst auf der Basis wohlwollender Akzeptanz kann dem Satz eine weitere Bedeutungsebene zuwachsen: »Ich bin voll-wertig als Frau und als die Frau, die ich bin.«

Weiblichkeit als Fremd-Körper oder: Mein Körper als Inspirations-Quelle

Die weiblichen Geschichten unserer Kultur und Gesellschaft legen es Frauen nahe, den Körper als Objekt und Besitz des Mannes zu verstehen, sich in Entwertung ihrer Person mit diesem Körper als einer Funktion zu identifizieren und sich damit gleichzeitig von ihm zu entfremden. Dies hat das letzte Kapitel gezeigt. Frauen müssen deshalb lernen, sich den eigenen Körper wieder anzueignen, eine neue Beziehung zu ihm zu formen und aus dem Erleben und Erspüren der weiblichen Körperlichkeit neue Perspektiven zu entwerfen, die es erlauben, eine jeweils persönliche Geschichte zu erschaffen und damit auch zu verkörpern.

»Nun hast du es halt auch« - alte und neue Geschichten zur Menstruation

Um einen solchen Prozeß der Selbstgestaltung darzustellen, wähle ich zunächst exemplarisch die Erfahrungen mit der Menstruation, um daran alte Geschichten darzustellen und einen möglichen Weg zu einer persönlichen Beziehung zum eigenen Monatszyklus aufzuzeigen.[26]
Es war für mich immer erschütternd, wie viele Frauen der heute mittleren und älteren Generation bedrückende Erlebnisse mit ihrer Menarche verbinden. Die Botschaften der selbst gedemütigten und an ihrer Körperlichkeit leidenden Mütter wirkten destruktiv darauf, wie die Töchter ihre Beziehung zur Menstruation gestalteten.[27] Sätze wie: »jetzt hast du das halt auch«, oder: »Das hast du jetzt jeden Monat« drücken die Namenlosigkeit des Geschehens aus, aber auch die damit verbundenen Erfahrungen und daraus entstandenen Geschichten: »jetzt wirst du eine Frau (und das ist ein schlimmes Schicksal voller Leiden).« Es gibt so etwas wie eine Enttäuschung, daß die eigene Tochter auch »vom Schicksal Frau« eingeholt wird. Sie hätte es doch besser bleiben lassen. Viele Mütter beginnen die werdende Geschlechtlichkeit ihrer Töchter beim Eintreten der Menstruation zu negieren.
Heute leben Generationen von Frauen nebeneinander, und die einen identifizierten sich noch mit den überkommenen Frauengeschichten, andere hörten sie noch von ihren Müttern, und viele begannen, diese Geschichten in Frage zu stellen. Sie machten sich auf, eine neue Identität als Frau zu suchen. Die Töchter dieser Frauen wiederum spüren zwar noch oft die Beschränkungen ihrer Mütter, haben heute jedoch andere Möglichkeiten, mit ihrer Körperlichkeit umzugehen.
Auch wenn es neue Perspektiven und neue Geschichten für den Umgang mit der Menstruation gibt, spüren Frauen häufig einen inneren Konflikt zwischen diesen neuen Geschichten, die sie gutheißen, und ihrer eigenen Realität: »Ich sollte ja meine Menstruation genießen, aber ich schaffe es einfach nicht. Ich fühle mich so daneben.« Hier wird die neue Geschichte zum »Soll« und auf diese Weise mit einer alten Geschichte verknüpft: »Geh nicht davon aus, was du erlebst, sondern davon, was dir gesagt wird, das du erleben sollst.« Das Ergebnis sind neue Minderwertigkeitsgefühle - oder alte, wie man will. Das - verkörperte - Gefühl des Ungenügens bleibt, auch in diesem Bereich.
Es gibt heute zahlreiche Frauen, die bemüht sind, eine neue Beziehung zu ihrer Menstruation zu finden. So sagte mir eine achtundzwanzigjährige Frau: »Ich nehme manchmal keine Tampons, sondern Binden, damit ich das Fließen meines Blutes spüren kann. Ich mag es, wenn das Blut fließt. So lernte ich, daß die Mens verschiedene Stadien hat. Zuerst die braunen Spuren, dann das rote Blut, dann die dicken Klumpen der Gebärmutterschleimhaut und das Auströpfeln am Ende. Ich finde das spannend.« Ich selber kann das heute nachempfinden, als Jugendliche habe ich jedoch erfahren, was viele Frauen zum Ausdruck bringen: »Ich bekam nie genug, Binden von meiner Mutter. Ich sollte sparen. Wenn aber meine Hosen blutig waren, schimpfte sie mit mir. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Manchmal wusch ich meine Hosen selber aus, aber dann wurde die Mutter auch böse, weil ich sie ja nie ganz sauber brachte ... Es war demütigend. Ich war mit meinen Bauchkrämpfen schon genügend bestraft - und dann noch das!« So äußerte sich eine heute vierzigjährige Frau.
Die alte Geschichte zeigt die Menstruation als das, was »man hat«, als ein demütigendes Verhängnis, eben als Makel. Eine neue Geschichte könnte sein, daß Menstruation etwas Eigenes ist, etwas von mir, ein spannender Teil meiner selbst. Wir formen auch unsere Beziehung zur Menstruation leibhaft. Sie selbst ist etwas Gegebenes. Wie wir mit ihr umgehen, kann unser Persönliches werden. Sie ist jedoch wiederum nur ein Ausschnitt aus dem ganzen monatlichen Zyklus. Frauen sind vor der Blutung oft gereizt, niedergeschlagen. Manche empfinden eine innere Unruhe, die sie in Arbeitswut umsetzen. Der Bauch ist gespannt, man fühlt sich schwerer, die Brüste oder der Rücken schmerzen. Die den Frauen zugeschriebene Launenhaftigkeit, ihre Unberechenbarkeit und Haltlosigkeit lassen sich hier bestätigen. Dagegen steht der Anspruch unserer Gesellschaft, reibungslos zu funktionieren.
Es gibt auch andere mögliche Geschichten: Eine Freundin von mir, Mutter eines Sohnes und einer Tochter, sagte mir letzthin: »Bei Buben ist das alles viel diffuser. Bei Mädchen und Frauen ist eine Struktur da. Sie wissen, womit ihre Stimmungsschwankungen zusammenhängen. Sie können sich in ihrem Zyklus wiedererkennen.« Bezogensein auf diesen Zyklus ist etwas Gegebenes. Wir können es als Ausgeliefertsein oder als Geborgenheit erleben - um nur zwei Extreme zu nennen.
Die Geschichte des Ausgeliefertseins und des Kampfes dagegen führt häufig zu Menstruationsstörungen. Aber auch diese Geschichte gilt es anzunehmen, bevor wir sie umformen können. Nur so können wir lernen, die Sprache unseres Körpers liebevoll zu erspüren. Dieses Erleben formulierte eine Frau Mitte Dreißig so: »In der ersten Zeit nach der Menstruation empfinde ich mich als leicht, unbeschwert, auch als ein bißchen neutral. Dann spüre ich den Eisprung. Ein Ziehen und leichte Kontraktionen. Ich bekomme mehr sexuelle Lust. Mit der Zeit verdichtet sich etwas im Bauch. Die Gebärmutter wird schwerer. Das Ziehen in den Brüsten beginnt. Schleim kommt aus der Vagina. Dann die Unruhe, und die Gebärmutter drückt nach unten. Seit den Geburten spüre ich das im Beckenboden deutlich. Einige Tage vor der Mens geht viel Wasser weg. Ich werde träger. Und empfindlicher. Ich warte auf etwas - manchmal realisiere ich erst dann, daß jetzt gleich die Mens kommt. Dann gibt es eine Spannung, die ich trotz Müdigkeit abreagieren muß, meist räume ich alles auf. >Es, muß noch gemacht sein. Wenn die Mens kommt, spüre ich zwar die Kontraktionen, aber ich bin trotzdem müde und entspannt. Ich bin nicht ganz bei mir, möchte mich einfach hinlegen und in meiner Schlaffheit dahinschwimmen, ohne feste Gedanken, ohne Pflichten. Ich bin etwas konturlos. Am dritten oder vierten Tag nehme ich wieder Form an ... Lange habe ich das als lästig empfunden, als etwas, das mir angetan wird. Jetzt finde ich es spannend, mich von Phase zu Phase zu erleben und Möglichkeiten zu finden, mit mir umzugehen. Ich kann mein Leben nicht immer danach einrichten, aber ich versuche es, werde erfinderisch. Ich fühle mich aufgehoben in dem Zyklus, der mich >macht< und den ich mitgestalte.«
Diese Schilderung zeigt wiederum verschiedene Ebenen: Zunächst geht es darum, die eigene körperlich-emotionale Bewegung zu erspüren, anzunehmen und den Rhythmus mitzugestalten. Das ist ein Lernprozeß. Erst wenn wir den eigenen Zyklus entdecken, können wir ihn mitgestalten.
Vielleicht ist jedoch der Zugang zu diesem Erspüren durch die Geschichten erschwert, die wir uns erzählen und verkörpern. Wichtig ist wiederum, diese Geschichten wahrzunehmen. So sagte eine Frau in der Therapie sehr ungehalten: »Immer diese Mens, jeden Monat dasselbe! Und es ist so unangenehm. Ich fühle mich durch meinen Körper einfach gestört.« Der Kern dieser Geschichte war: »Ich hasse die Eigenmächtigkeit meines Körpers.« Und die Frau entwickelte daraus ein Kampfmuster, das nicht nur die Menstruation betraf, sondern die Erfahrung ihrer Körperlichkeit überhaupt. Die Geschichte verdichtete sich jedoch besonders in der Menstruation, denn sie war begleitet von Kopf- und Rückenschmerzen in den Tagen zuvor und von heftigen Bauchkrämpfen in den ersten Tagen der Blutung. Die Symptome wurden immer heftiger. »Ich will nicht!«, sagte sie sich jeweils, wenn »es« wieder begann. Sie hatte schon als Kind gelernt, daß man alle körperlichen Dinge »in Schach« halten müsse. Man durfte nicht krank sein, keine Schwäche zeigen, nicht zimperlich sein. Und mit diesen Maßstäben, die vor allem vom Vater gesetzt worden waren, hatte sie sich identifiziert.
»lch konnte seine Sympathie gewinnen, wenn ich nicht so war >wie die anderen Weiber<. Ich war also nicht ein Mädchen wie alle anderen. Ich war eigentlich der Sohn, den der Vater sich erträumt hatte. Als ich dann die erste Mens bekam, war ich wie vor den Kopf geschlagen. Ich hatte etwas, das mich mit den anderen Frauen verband..., dieses lästige Zeug. Und ich hatte solche Schmerzen, daß ich zu Hause bleiben mußte. Zuerst habe ich die Zähne zusammengebissen und bin trotzdem zur Schule gegangen es half nichts. Ich wankte wieder nach Hause. Und ich vergesse den enttäuschten, verachtungsvollen Blick meines Vaters nie.«
Diese Geschichte brach förmlich aus der Frau heraus. Mit Tränen der Wut sagte sie: »Die Mens ist schuld, daß ich die Liebe meines Vaters verloren habe. Ja, von diesem Tag an war er einfach anders zu mir. Ich war jetzt eben >auch so eine<. Das Bündnis mit ihm war aus. Und ich war allein.« Sie ballte die Fäuste und schrie: »Ich hasse dieses Blut, diese Schmerzen. Ich will nicht! Sag mir bloß nicht, ich soll noch Freude daran haben.« - Ich bat die Frau, bei dieser Wut zu bleiben, ohne sich in ihr zu verlieren. Sie schrie ihre ganze Wut gegen »diese Mens« hinaus. Dann sagte sie zu mir: »Es tut gut, daß du dir das angehört hast. Die anderen Frauen haben mir immer den Mund gestopft mit Sätzen wie: >Das gehört halt dazu<, oder: >Du mußt eben eine positive Einstellung dazu finden<. Zum Teufel damit! Ich will das sagen dürfen. Und ich glaube denen kein Wort. Die reden sich das ein. Oder sie sind dumme Weiber, saudumme!« Das Wichtigste war jetzt, daß ich zuhörte und ihre Gefühle akzeptierte.
Ein paar Wochen später fragte sie mich provozierend: »Findest du die Mens etwa auch angenehm? Bist du auch eine von denen? So saudumm wie die?« - »Ja, meistens mag ich meine Mens, und manchmal ist sie mir auch im Weg«, antwortete ich. »Siehst du«, sagte sie triumphierend, »auch du empfindest sie als lästig!« »Manchmal«, antwortete ich. Darauf schwieg sie lange und schien nachzudenken. »Und dein Ziel ist natürlich, sie immer zu akzeptieren?« fragte sie dann wieder mit Wut in der Stimme. »Nein, ich versuche zu akzeptieren, was ich jeweils empfinde.« Die Frau hätte gern aus mir eine Verbündete oder ein »saudummes Weib« gemacht. Ich paßte in keine der Kategorien, und das ärgerte sie. Aber gleichzeitig war es auch ein Wendepunkt. Sie war auf sich zurückgestellt.
In der nächsten Stunde flammte ihre Wut nochmals auf. Dann löste sie sich auf, und der große Schmerz und ihre Enttäuschung über den Vater kamen zum Vorschein. Erstmals weinte sie heftig. Nun kam sie direkt in Kontakt mit den Erfahrungen in der Beziehung zu ihrem Vater, aus denen sie ihre Geschichte gebildet hatte. Die trotzig-wütende Verkrampfung ließ nach, auch im Zusammenhang mit der Körperarbeit, in die sie nun einwilligte. Die Krämpfe waren nicht mehr so heftig. Einmal aber sagte sie verzweifelt: »Du hast mir etwas weggenommen. Meine Wut und die Schmerzen, mit denen ich meinen Protest zeigen konnte. Es war das einzige, was ich hatte.« Und sie wurde eine Zeitlang depressiv. Doch der nun folgende Prozeß gipfelte in den Worten: »Die Mens kann ja nichts dafür. Vater, warum hast du mich nicht mehr geliebt? Ich bin doch ein Mädchen und nicht ein Bub!« Die Frau hatte erlebt, wie der Vater die Mutter verachtete und demütigte. Sie aber hatte einen Platz bei ihm gehabt, wenn auch oft mit Schuldgefühlen. »Aber eigentlich mußte ich ihm versprechen, kein Mädchen zu sein und keine Frau zu werden. Und dieses Versprechen konnte ich nicht halten... Es war ja auch nicht zu halten, Teufel noch mal!«
Daß der Vater sich mit der Distanzierung von der Tochter vielleicht auch gegen auftauchende sexuelle Gefühle gewehrt hat, wurde im Laufe der Zeit ebenfalls deutlich. Und die Mutter? »Sie hat einfach gelitten, war depressiv. Und sie hat mir damit gezeigt, was es heißt, eine Frau zu sein: leiden und hinnehmen und dabei noch schmerzlich lächeln. >Es ist einfach so, was willst du<, sagte sie mehrmals zu mir, >du mußt das Beste daraus machen<. Und was hat sie gemacht? Sie hat resigniert.« Das war es. Gegen diese Resignation hatte die junge Frau so verzweifelt angekämpft.
Die Geschichte, die sie sich erzählt hatte, kann in die folgenden Worte gefaßt werden: »Entweder ich kämpfe gegen mein Frausein oder ich resigniere.« Als wir nun dazu kamen, diese Resignation körperlich zu erspüren und aufzulösen, ließ die Verkrampfung im Bauch noch mehr nach, und gleichzeitig richtete die Frau sich dabei auf. Sie entdeckte, daß sie eine standfeste Frau sein konnte, daß die Wärme in ihrem Bauch und das Wahrnehmen der inneren Bewegung sie nicht schwach zu machen brauchte. Sie lernte, daß es ein ganzes Spektrum gab, in dem sie sich bewegen konnte, und daß sie ihren körperlichen Empfindungen nicht einfach hilflos ausgeliefert war. »Ich bin nicht einmal stark und dann wieder schwach, sondern einmal stärker und einmal schwächer. Damit kann ich auch umgehen«, sagte sie gegen Ende der Therapie. Sie empfand die Mens nicht mehr global als Störung. Einmal erklärte sie lachend: »Das ganze ist wie umgedreht: Die Tage um die Mens herum geben mir die Legitimation, nicht immer auf Draht zu sein. Ich gebe mir mit der Mens das Recht zum Innehalten. Und ich beginne, es mir auch sonst herauszunehmen - ohne Grund.« Das war nun eine andere Geschichte, die sie sich erzählen und auch verkörpern konnte. Die Auseinandersetzung mit ihrer Menstruation hatte ihr dabei geholfen.
Eine neue, stärkende Perspektive zu entwerfen bedeutet nicht, daß wir alle dieselbe Geschichte erzählen müssen. Die Frau im letzten Beispiel fand eine für sie heilende und konstruktive Möglichkeit, den Menstruationszyklus zu gestalten. Der Schluß zeigt jedoch noch einen anderen wichtigen Aspekt: Nicht nur die Menstruation ist ein Lernprozeß. Sie kann auch - wie andere Körpererfahrungen exemplarisch eine Neugestaltung des Lebens in Gang setzen. Diese Frau verstand es, die Erfahrung des Innehalten-Müssens so zu verkörpern, daß es zu einem Bestandteil ihrer selbst wurde. Das gilt nun freilich nicht nur für die Menstruation, sondern auch für andere Aspekte im Leben der Frau, etwa für Schwangerschaft, Geburt oder Menopause.
Es wird deutlich - so hoffe ich -, daß es ganz verschiedene neue und persönliche Geschichten gibt. Das Gemeinsame ist, daß sie nicht mehr fixierend, abspaltend, einseitig sein müssen, sondern ein flexibles Spektrum zulassen, das Selbstwahrnehmung und Lebendigkeit fördert. Sie sind kreativ und heilend - oft gegen die gesellschaftlichen Normen. Dazu gehört auch das Umsetzen in Verhaltensweisen, wie eine andere Frau es für sich ausdrückte: »Ich gestatte es mir, das Arbeitstempo zurückzuschrauben, wenn es nötig ist. Ich muß meine Unpäßlichkeit nicht mehr krampfhaft überspielen. Und ich nenne sie auch beim Namen, selbst wenn meine Kollegen und Kolleginnen >betupft< sind oder peinlich berührt. Seither sprechen auch andere offener >darüber<. Und ich genieße es auch, wenn ich Elan habe. Ich muß nicht immer gleich sein. Ich bin keine Maschine. Ich bin ein Mensch, eine Frau.«
Anhand dieser Beispiele wird deutlich, wie ernstgenommene körperliche Erfahrungen Frauen auch dazu bewegen, sich den leistungsbezogenen Gesellschaftsmustern gegenüber kritisch und abgrenzend zu verhalten. Allerdings droht diese Gesellschaft auch wieder mit Ausschluß, wenn ihr Funktionieren in Frage gestellt wird. Schwangere Frauen und stillende Mütter wissen davon zu erzählen.

Das weibliche Lebenskontinuum als rhythmische Bewegung

Die Erfahrungen mit der eigenen Körperlichkeit als Frau sind vielfältig und facettenreich, wenn wir die einzelnen Aspekte, aber auch den ganzen Lebenszusammenhang überblicken. Wiederum klingen bei vielen Frauen die überkommenen Geschichten an, die bereits zur Sprache gekommen sind. Es zeigt sich jedoch auch, wie sich die verschiedenen Nuancen ineinander verflechten und schmerzhafte Widersprüche erzeugen. Einerseits erleben Frauen sich als »Opfer« ihres Körpers, der einfach etwas »mit ihnen macht«. Anderseits erscheint dieser Körper selbst als reduziert auf bloße Funktion, und Frauen behandeln ihn selbst gemäß dieser Geschichte als Objekt, versehren ihn und lassen ihn versehren, oft ohne es zu merken. Gleichzeitig erleben Frauen auch ihre ganze Identität auf dieses körperliche Geschehen und seine Folgen fixiert und kämpfen dagegen an, setzen sich von ihrem Körper ab und bringen sich dadurch wieder um einen Teil ihrer selbst. - Ich möchte im folgenden versuchen, eine mögliche heilende Perspektive in bezug auf das leibhafte Lebenskontinuum zu formulieren.
Eine wichtige Grunderfahrung von Frauen bezieht sich auf den Fruchtbarkeitszyklus als ganzen, der in sich eine rhythmische Gestalt ist. Die erste Menstruation oder Menarche ist eines der wichtigsten Zeichen, daß das Mädchen sich zur erwachsenen Frau hin entwickelt. Der Menstruationszyklus begleitet die Frau dann bis zu den Wechseljahren, bis zur Menopause. Doch gehen zwischen Anfang und Ende Jahre der Vorbereitung voraus, Zeiten der allmählichen körperlich-emotionalen Umgestaltung. Der rhythmische Menstruationszyklus ist selbst nicht ein auf ein paar Tage beschränktes Geschehen, sondern eine uns unablässig begleitende Dynamik, die jede Frau mehr oder weniger deutlich wahrnimmt. Biologisches Programm, Zusammenhang mit dem kosmischen Mondzyklus und individuelle Gestaltung greifen ineinander. [28] Nach einer Befruchtung weicht der Menstruationszyklus dem spezifischen generativen Zyklus von der Schwangerschaft bis zur Geburt und bis zum Ende der Stillphase.
Mit der Geburt kommen außer dem Kind vier »Elemente« aus dem weiblichen Körper, die in anderen Kulturen oft rituell gefeiert werden: [29] Fruchtwasser und Fruchtblase, Nabelschnur, Blut und Mutterkuchen. Schon vor der Geburt fängt meist eine andere Quelle zu fließen an: die Milch, meist nur eine gläserne Flüssigkeit, aber doch eine Vorbotin, ein Zeichen für die Vorbereitung des Körpers. Nach der Geburt beginnt sich diese Quelle zu erschließen und fließt in rhythmischem Austausch mit den Bedürfnissen des Kindes, ist also leibhafter Ausdruck von Beziehung zwischen Mutter und Kind. In den ersten Wochen nach der Geburt fließt zudem das Blut der Lochien.
Erst wenn eine Mutter nicht mehr voll stillt, tritt meist die Menstruation wieder ein, wodurch das Stillen auch eine die Fruchtbarkeit regulierende Funktion haben kann. Die meisten Frauen erzählen, daß erst mit dem endgültigen Abstillen auch die dem Menstruationszyklus zugehörigen Körperwahrnehmungen wieder auftreten. Zudem dauert es für die meisten Frauen etwa drei Jahre, bis sie nach einer Geburt wieder »ganz sie selber« sind. Der Fruchtbarkeitszyklus als ganzheitliche rhythmische Gestalt verstanden, ermöglicht Frauen auch, Sexualität nicht nur als etwas Punktuelles, sondern auch als Ausdruck der lebenschaffenden, also generativen Potenz zu verstehen.[30] Das heißt nicht, daß Sexualität zu konkreter Fruchtbarkeit führen muß - das wäre eine alte, funktionale Geschichte - sondern daß Sexualität in einen Zusammenhang eingebettet ist, an dem wir teilhaben, auch wenn wir nicht alle seine Aspekte individuell durchleben.
Menstruationszyklus und generativer Zyklus sind in den umfassenden Fruchtbarkeitszyklus eingebettet, der von der Vorpubertät bis zum Abschluß der Wechseljahre reicht. Die Kindheit, die viel länger ist als bei den vergleichbaren höheren Säugetieren, bietet einen Freiraum, in dem sich die menschliche Individualität entwickeln kann. Erst seit etwa gut fünfzig Jahren ist es Frauen vergönnt, nochmals eine oft noch Jahrzehnte umfassende Lebensphase nach dem Beenden des körperlichen Fruchtbarkeitszyklus zu gestalten. Diese Möglichkeit kann das Lebensverständnis von Frauen ebenfalls verändern, da ihr Leben nicht mehr nur mit dem Vollzug dieses Zyklus zusammenfällt.[31] Wir leben und gestalten als Frauen nicht nur einen Zyklus, sondern mehrere aufeinanderfolgende und ineinandergreifende, die vom gesamten Fruchtbarkeitszyklus umfaßt sind. Gleichzeitig entsteht in unserem Jahrhundert eine neue, übergreifende Lebensgestalt, in welcher der zyklische Körperrhythmus eine vorübergehende Form darstellt, die dann in eine neue mit eigenem Wert und eigener Dynamik übergeht. Wir können deshalb das weibliche Lebenskontinuum als eine vielschichtige und reiche rhythmische Bewegung verstehen. Wir sind diese Bewegung, und wir formen sie gleichzeitig. Ich möchte dies nochmals verdeutlichen:
Die Wahrnehmung der eigenen Körperlichkeit in all ihren Dimensionen vermag die Körperidentität zu stärken. Uns ist jedoch die Fähigkeit, auf unseren Körper zu hören, auf ihn zu achten, weitgehend abhanden gekommen - und zwar nicht nur den Frauen. Die starke körperliche Dynamik der Frau bietet jedoch eine Herausforderung und Chance, diese Fähigkeit wieder einzuüben. Und ich sehe dies als eine Perspektive für mögliche neue Geschichten, die Frauen erfinden können. Diese wiedererworbene Fähigkeit öffnet auch den Zugang zu der Erfahrung, daß es sich nicht um ein »rein körperliches«, sondern um ein ganzheitliches Erleben handelt. Nicht nur mein Körper menstruiert, ist schwanger, gebiert usw. Ich bin es selbst, aber nicht, indem ein »Ich« dem Körper ausgesetzt ist, sondern indem ich die körperliche Dynamik erlebe, ihren Gesetzen folge und sie gleichzeitig forme.
Fähigkeit zur Wahrnehmung der »Körpersprache«, Erfahrung der Ganzheitlichkeit unserer leibhaften Dynamik und Einheit von Formen und Geformtwerden sehe ich als wichtige Perspektiven für neue Geschichten. Wenn wir den umgreifenden Rhythmus unseres Körpers ins Auge fassen, zeigt er uns nochmals deutlich, daß »Körper« nichts Statisches, sondern eine Bewegung ist. Wir selber sind ein rhythmischer Prozeß. Gerade der weibliche Lebenszusammenhang läßt dies für uns konkret werden. Umgekehrt verweisen die körperlichen Erfahrungen als Frau wieder auf die umfassende und ganzheitliche Lebensbewegung. Die Dynamik unserer Körperlichkeit und die umfassende Lebensdynamik sind eins. Es ist unser ganzheitlicher Rhythmus, und wir sind zugleich Teil des umfassenden Rhythmus des Lebendigen. Persönliche und überpersönliche Ebene verbinden sich.[32]
Die bisher formulierten Perspektiven sind dem Mann nicht unzugänglich. Wir haben jedoch als Frauen die Chance, unsere unmittelbare körperliche Dynamik, die der männlichen nicht vergleichbar ist, als Lernprozeß zu verwenden, wenn wir sie nicht mehr funktionalisieren, abspalten oder bekämpfen. So können wir vielleicht auch unser Leben eher als einen Rhythmus verstehen, das Vorübergehende von Lebensaufgaben auch im Berufsbereich eher akzeptieren, als es Männern gemeinhin möglich ist.

Die Quellen des weiblichen Körpers

Es gibt noch weitere wesentliche Aspekte, in denen sich weibliches und männliches Erleben unterscheiden. Der weibliche Körper hat fließende Quellen, die sich erschließen: das im Mondrhythmus fließende Blut, die Lochien und die nährende Milch für das Kind. Das ist ein anderes Erleben als der jähe und plötzliche Fluß des Samens. Wir können dieses Fließen als ein Mysterium unseres Körpers erleben, aber auch als »peinliche Äußerung unserer Natur«. Viele Frauen sind von Ängsten geplagt, auf ihren Kleidern könnten Blutflecken erscheinen, ein unwillkommener Geruch könnte auftauchen, oder die Milch könnte ihre Spuren auf Blusen hinterlassen. Eine dienstfertige Industrie bietet Gegenmittel an, und doch kann dieses Fließen auch eine Bedeutung haben, verbindet uns mit den uns verborgenen Bewegungen in unserem Körper. Jeder Monatszyklus beschließt sich mit einem Ausfließen des Blutes. Und unser Körper vermag Nährendes zu erschaffen, das aus uns als nährende Quelle kommt. Über unser Fließen können wir einen Bezug zu unseren inneren Quellen, zum Nahrungschaffenden und zur »weisen Wunde«[33] bekommen.
Aus dem eigenen Körper kommt auch das Kind, das nicht »ich« ist. Ein Neues nimmt Form an, genährt von der eigenen Substanz, und ist doch ein »anderes«, das die leibhafte Beziehung, aus der menschliches Leben wird, erleben läßt. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an eine Situation während meiner zweiten Geburt. Die Hebamme sagte mir, der Kopf werde sichtbar, und unwillkürlich tastete ich in meine Vagina hinein. Ich erschrak. Es war ein tiefes, kreatürliches Erschrecken. Was ich da spürte, war ein Fremdes, etwas, das ich nicht wie meine Vagina als Teil von mir wahrnahm. Ich tastete und war nicht gleichzeitig das Ertastete. Vielleicht nur für eine Sekunde war da Entsetzen, das keine Sprache fand. Und auch jetzt kann ich das Erleben nur um-schreiben. Ein Schlag gegen mein bewährtes »Ich-Selbst«. War ich das mit einem Fremden in mir? Oder war ich das Ich-Selbst mit diesem Fremden zusammen? Wer war ich denn überhaupt, daß so etwas geschehen konnte? Die Ungeheuerlichkeit dieses anderen ... Ich nahm dies wohl so wahr, weil es unvorbereitet geschah, bevor ich mir eine Geschichte dazu erzählen konnte. Und genau diesen sprachlosen Augenblick kann ich so nicht wiedergeben, weil ich ihn immer schon in der Form einer Geschichte erzähle. Da war aber ein Moment lang keine Geschichte, da war ein staunendes Erschrecken ...
Durch Schwangerschaft und Geburt, durch die Nähe zum Neugeborenen wiederholt die Frau auf einer anderen Ebene das, was sie als Kind zu Beginn ihres Lebens erfahren hat. Dies hat wohl auch Auswirkungen auf die Beziehung zwischen Mann und Frau. Der Mann mag in der Beziehung zur Frau das eigene frühe Kindsein in verwandelter Form wiederfinden. Er »kehrt zurück«, während es der Frau in einer Art Spiegelung wieder begegnet. - Freilich kann auch der Mann symbolisch Weiblich-Mütterliches der eigenen geliebten Frau gegenüber verkörpern, die Frau Männlich-Väterliches. Dies vermag eine kreative Spannung und Erfüllung in der Beziehung zwischen den Geschlechtern zu erschaffen, ein Verlangen nach der Eigen-Art des anderen, die zu empfangen und als geschlechtliche »Schatten-Möglichkeit« der eigenen Identität zu integrieren es gilt. Dann kann die eigene leibhaft-geschlechtliche Dynamik ausgespielt werden, ohne ein wertendes Gefälle zu erzeugen.
Durch die Quellen unseres Körpers, die nach außen fließen, durch das Gebären eines Kindes oder schon durch die leibhafte Möglichkeit dazu - haben wir als Frauen einen Zugang zum Inneren unseres Körpers. Es gibt eine unmittelbare Verbindung, ein »Tor« nach innen, und wir können uns leibhaft so weit auftun, daß ein Neues aus uns kommen kann. Das ergibt ein anderes Körpererleben als das männliche. Frauen müssen sich weniger mit den Grenzen ihres Körpers identifizieren. Wenn es uns gelingt, diese Dynamik auszuloten, werden grundlegende Unterschiede in den organismischen Erlebensformen deutlich. Sie können als neue Perspektive dienen, ohne die alten, wertend trennenden Geschichten mit ihrer Polarität von aktiv-passiv damit zu verbinden. Wenn wir die Verschiedenheit der organismischen Erfahrung zulassen, erkunden und als Kontinuum verstehen, können wir vielleicht auch eine neue Liebes-Geschichte gestalten, in der eine Einheit von kreativer Spannung und Integration des »anderen« als Schattengeschlecht möglich wird.

Eindimensionale Sexualität oder: Ich bin geschlechtlich

Geschlechtlich sein als pulsierende Bewegung

Die überkommene Geschichte besagt, daß der Körper etwas für sich ist. Er ist unser Besitz, den wir »haben«, eine statische Größe, die sich »feststellen« läßt. Zugleich verbindet sich damit auch eine Wertung, die bedeutet, daß der Körper das »Untere« oder gar das »Niedrige« ist. Diese mitgebrachten Geschichten beziehen sich ebenso auf die Sexualität. Oft ist der Körper selbst das »Untere«, weil mit ihm Sexualität verbunden ist. Sie steckt den Körper gleichsam mit dem Sexuellen an und verdient deshalb Mißtrauen. Es sind alte Geschichten, die für viele junge Frauen keine Bedeutung mehr haben, während sie für die mittlere und ältere Generation oft noch Gültigkeit haben. Viele dieser Frauen mußten noch in Unterhosen baden, durften sich weder anschauen noch betasten, hielten Onanie wie vorehelichen Geschlechtsverkehr für Sünde...[34] Viele von ihnen brachen aus diesen Geschichten aus, empörten sich später gar über sie und merkten dennoch, »daß etwas davon noch haften geblieben war.« Andere lebten und leben eine freie Sexualität, gestatten sich Abenteuer.
Doch die Liberalisierung der Sexualität führt oft zu sexuellen Erlebnissen, die ebensolche Spaltmuster sind wie die alten tabuisierenden Geschichten. Damit meine ich nicht, daß ein sexueller Kontakt von vornherein etwas Abgespaltenes ist. Er kann sehr wohl in einem ganzheitlichen Sinn erfüllend sein, für beide Beteiligten beglückend. Das Spaltmuster entsteht nicht unbedingt dadurch, daß sexuelles Erleben und länger dauernde Beziehung voneinander getrennt sind, sondern zunächst durch die Abtrennung der Sexualität von der eigenen Person. Ebenso wie wir sagen, ich habe einen Körper, pflegen wir Sexualität zu haben. Auch hier gibt es einen Besitzer oder eine Besitzerin von Sexualität. Jemand hat vielleicht eine starke oder eine schwache Sexualität. Es ist ein Ich da, welches einen Behälter mit Sexualität hat, der sich irgendwo unten in seinem Körper befindet.
Ich überzeichne diese Geschichte, um ihre »Habhaftigkelt« deutlich zu machen. Anders ist es, wenn ich sage: »Ich bin geschlechtlich«. Wir pflegen ja auch meist davon zu sprechen, welches Geschlecht jemand hat. Wenn ich jedoch geschlechtlich bin, dann ist Geschlechtlichkeit ein Bestandteil meiner Person, etwas, das sie durchformt und sich nicht herausdestillieren läßt. Sie ist deshalb nicht einmal ein Teil von mir, sondern eine »Färbung« meiner selbst, die in allem mitschwingt. Zu dieser Geschlechtlichkeit gehört auch, sexuell zu sein. »Sexuell sein« heißt wiederum nicht nur »sexuelle Gefühle empfinden«, sondern, umfassender, sich als sexuell erleben.
Als ich mich einmal vor Jahren längere Zeit in einem therapeutischen Ausbildungsseminar befand und viel Zeit für mich hatte, wurde mir dies erstmals deutlich. Ich saß im Freien auf einer Bank in der Sonne, um mich herum schmolz der Schnee. Überall tropfte das Wasser von glitzernden Schneerändern, und unter der Schneedecke sammelten sich glucksende Bäche. Ich spürte die Wärme der Vorfrühlingssonne auf meiner Haut und atmete tief. Ich sah, hörte und roch sie. Ich fühlte mich ruhig, war einfach da. Da begann ich eine leise zitternde Bewegung in mir selber wahrzunehmen. Mit der Zeit verstärkte sie sich, wurde zu einem starken Pulsieren und Pochen, das mich fast überwältigte, und schließlich zu einem Strömen, das mit intensiver und gleichzeitig sanfter Wärme verbunden war. Ich gab mich diesem Strömen hin, das sich über meinen ganzen Körper ausbreitete und die verschiedensten Schattierungen annahm. Ich spürte eine schmelzende, zärtliche Bewegung in meiner Brust, ein Gefühl von warmer Fülle im Bauch und ein erotisches Prickeln, das langsam aus meinem Beckenboden aufstieg. Alle Nuancen meiner Wahrnehmung flossen schließlich ineinander und waren nur die eine pulsierende Bewegung, die ich selber war: erotisch, zärtlich, sanft und intensiv zugleich, leidenschaftlich und voller Ruhe in einem.
Die eigene pulsierende Lebendigkeit hat viele Schattierungen und ist doch die eine Bewegung, der wir uns anvertrauen oder verschließen. So sind Erotik und sexuelle Empfindungen eine Qualität im Spektrum der pulsierenden Bewegung, die wir selber sind.
In der Entwicklung des Kindes ist dieser Kontakt mit dem eigenen Lebendigsein deshalb auch die Grundlage für das eigene Geschlechtlichsein, gespeist aus der Liebe der Eltern, ihrer Freude an ihm. Die Lust des Babys ist eine noch unspezifische. Sie hat viel zu tun mit den vielfältigen Berührungen, die ihm zuteil werden. Es gibt zärtliche, verspielte, kosende, zweckgerichtete, mißbrauchende oder auch ablehnende Berührungen, auf die das Kind in einem leibhaften Dialog antwortet. Es lernt, ob es sich der Berührung anvertrauen kann, vor ihr zurückzucken, sich versteifen oder verhärten muß oder es lebt in ungestillter Sehnsucht nach liebevollem Berührtwerden. Es lernt daraus, wie es mit sich selbst in Berührung sein kann. Es nimmt also die Qualitäten der erfahrenen Berührungen leibhaft in sich auf. Dabei ist es nicht nur entscheidend, ob sie liebevoll sind, sondern auch, ob das Kind eine Vielfalt, ein Spektrum an Berührungen erlebt.[35]
Viele Menschen haben in ihrer Familie wenig an Berührung erfahren. Ein Mann äußerte dazu: »Bei uns gab es keine Zärtlichkeiten. Wir berührten einander überhaupt kaum, auch die Eltern taten es vor uns Kindern nicht. Die Eltern liebten uns zwar, aber es war eine karge, auf die Bewältigung des Alltags ausgerichtete Atmosphäre. Das Bedürfnis meiner Frau nach Nähe und Streicheln ist mir fremd. Ich bin da einfach hilflos.«
Auch aufgedrängte Berührungen führen zu einer Abwehr von körperlicher Nähe. Hinter den Schwierigkeiten, Berührung anzunehmen und zu geben, stehen viele verschiedene Geschichten. Eine dieser Geschichten ist die Bedeutungslosigkeit oder Abwertung des Körperlichen, die sich jedoch nicht nur auf Zärtlichkeit bezieht, sondern auch auf den kindlichen Ausdruck der Freude und Lust am eigenen Körper, der mit Mißbilligung bestraft wird. Doch gerade diese Lust ist besonders wichtig. Kinder lieben es, nackt zu sein. Sie strampeln, entdecken ihren Körper, später tollen sie herum, betasten sich, erkunden alles, was ihr Körper ist und was aus ihm herauskommt und die Empfindungen, die mit ihm verbunden sind. Sie wollen gestreichelt, gekitzelt, gepackt sein, wollen schmusen und kämpfen, sich im Sand wälzen, im Schlamm graben, den Boden unter den nackten Füßen spüren, im Bad planschen ... Sie entdecken nicht nur ihren Körper, sondern auch die Umwelt durch ihren Körper und den Körper in der Berührung mit dieser Umwelt.
Dieses ganze Spektrum hat auch heute noch nicht den ihm zustehenden Raum. Dies wurde mir besonders augenfällig, als ich vor Jahren erstmals jenen Privatkindergarten besuchte, in den ich meine Kinder schicken wollte. In einem Zimmer sah ich eine Gruppe nackter Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren, die auf Bergen von Matratzen herumbalgten und mit großem Geschick aus der Höhe in den federnden Grund sprangen. Darin war so viel Lust, so viel an Vertrautheit mit dem eigenen Körper und seinen Möglichkeiten, so viel an hautnahem Kontakt. Wenn meine Kinder dann im Sommer auf einen Spielplatz kamen, warfen sie gleich alle ihre Kleider von sich und begannen lustvoll die schönsten Wasser- und Sandspiele zu spielen. Das wirkte ansteckend, doch viele Mütter zerrten mit vorwurfsvollem Blick auf mich ihre wohlgekleideten Kinder weg ... Wir sind eben noch immer eine Gesellschaft in Tuch-Fühlung. Und so können wir nicht lernen, daß wir leibhaft und geschlechtlich sind.
In einer mit dem Leiblichen befreundeten Gesellschaft müßte es auch keine ritualisierte sexuelle Aufklärung geben, deren Peinlichkeit noch vor drei und mehr Jahrzehnten sprichwörtlich war. Heute ist Aufklärung häufig vor allem sachlich, einseitig, informationsorientiert und führt damit die alten Spalttendenzen mit anderen Vorzeichen weiter. Aufklärung könnte jedoch ein Beziehungskontinuum sein, in dem die Kinder von klein auf einen Spielraum für ihre körperlichen Entdeckungen hätten und mit der Körperlichkeit ihrer Eltern in naher Verbindung lebten, allerdings ohne daß diese in eine inzestuöse Atmosphäre ausschlägt. Auch hier entfaltet sich ein reiches Spektrum, wenn die Eltern selber ihre Leibhaftigkeit zu leben vermögen. Kinder lieben in einer solch leibfreundlichen Welt ihren eigenen Körper und haben auch einen freundlichen Bezug zu dem der Eltern. Er ist den Kindern aus dem Erleben der Nähe und der Erlaubnis, ihn sehen zu dürfen, vertraut. Dadurch bekommt auch der eigene Körper eine neue Bedeutung, und die eigene Geschlechtlichkeit wird als Perspektive konkret. »Papa hat ein großes Schnäbi. Es ist viel größer als meines, schau! Und einmal habe ich dann eines wie Papa.« Oder meine siebenjährige Tochter erklärt mir: »Meine Brüstlein sind schon ein bißchen dicker geworden, sieh mal!« Und sie hilft mit ihrer Hand ein wenig nach, um einen kleinen Hügel zu formen. »Einmal habe ich dann Brüste wie du, so große, schau, es kommt schon ein Tropfen Milch, sicher!« Auch das andere Geschlecht wird vertraut. Die Kinder erleben die Menstruation der Mutter, vielleicht auch Schwangerschaft, Geburt und Stillen. Sie spielen selber, sie seien schwanger, stopfen sich Puppen in die Kleider und gebären ... Kinder wachsen so Schritt für Schritt in ihre leibhafte Geschlechtlichkeit hinein, erleben sie als erregendes Abenteuer, als Befreundung mit ihrem Körper und nicht in erster Linie als Rollenverschreibung.

Verkörperte Sprachlosigkeit

Lange Zeit blieb der körperliche Bereich des Geschlechts mehrheitlich sprachlos. Zwar gab es immer die sachlichen Ausdrücke wie »Penis« und »Vagina«, aber das war ein unfamilläres Vokabular. Den männlichen Genitallen wurden viel eher Namen gegeben, auch im Bereich der kindlichen Welt, während die des Mädchens namenlos blieben. Das bedeutete: Der Knabe hatte »etwas«, wo beim Mädchen »nichts« war. Dies ist die Botschaft, die schon kleinen Mädchen vermittelt wurde. Eltern fanden früher auch kaum eine adäquate Sprache für sexuelle Aufklärung. Der moderne Sprung in die medizinisch-versachlichende Sprache ist ebenfalls nur eine Scheinlösung, da dadurch der Raum der Beziehung gerade für Jugendliche fehlt. Die Sprachlosigkeit des sexuellen Bereichs war jedoch eine deutliche Sprache - um es paradox auszudrücken. Sie vermittelte ein Tabu. Kinder wurden zudem an ihren Genitallen kaum berührt - höchstens beim Wickeln im Säuglingsalter oder mechanisch beim Waschen oder aber in Inzesthandlungen. Dabei lernten sie früh, ihre Genitalien weder zu betrachten noch zu betasten. Die alten katholischen Beichtspiegel legen davon Zeugnis ab.[36]
Das Tabu in bezug auf das eigene Geschlechtsorgan ist jedoch nicht einfach eine moralische Vorstellung, sondern ebenso ein körperhaftes Muster. Eine fünfzigjährige Frau, die streng katholisch erzogen worden war, erlebte dies in der Therapie sehr deutlich: »Wir mußten in meiner Kindheit auch in der Badewanne noch Unterhosen anhaben. Wenn ich meine Scheide mit dem Waschlappen etwas länger rieb, fuhr meine Mutter dazwischen. Noch heute spüre ich, wie ich irgendwie automatisch zurückzucke, wenn ich meine Scheide berühre, obwohl ich das Ganze doch längst überwunden habe.« Als wir mit diesem Muster arbeiteten, spürte die Frau, wie sich ihre Vagina verengte, den Bauch einzog und dann die Schultern anhob, als erwarte sie, ausgescholten zu werden. Als die Frau, die große sexuelle Schwierigkeiten hatte, das Muster aufzulösen wagte, spurte sie eine intensive Wärme im Bereich ihrer Vagina. Sie erschrak und sagte: »Genau das durfte nicht sein. Oh, ich verstehe, dieses Zurückzucken galt nicht der Berührung. Ich lernte, meine sexuellen Gefühle wegzuklemmen.« Das Tabu ist also buchstäblich in Fleisch und Blut übergegangen.
Was tut ein Mädchen, wenn es beim Betasten seines Genitals oder gar beim Doktorspielen überrascht und anschließend ausgescholten oder gar bestraft wih? Dehübble Schrecken bezieht sich nicht nur auf diese Situation. Er wird vielmehr verbunden mit dem Auftauchen von Gefühlen des Kitzels, der Erregung, sexueller Empfindungen. »Sobald ich >solche Gefühle< in mir auftauchen spürte, packte mich der Schrecken. Ich zog mich zusammen, um sie wegzumachen.« - »Als wir fünf oder sechs Jahre alt waren, berührten meine Freundin und ich einander. Und wir waren der Überzeugung, deswegen in die Hölle zu kommen. Daß ich es dennoch nicht lassen konnte, gab mir ein Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgehebruhns an diese Empfindungen. Es war schlimm, daß in meinem Körper solche wunderbar angenehmen Empfindungen waren, von denen ich wußte, daß sie Sünde bedeuteten. Sie stiegen hoch, übermannten mich. Und anschließend versteifte ich mich, damit sie nie, nie mehr auftauchen sollten. Noch in meiner Ehe fühlte ich mich nach jedem Zusammensein mit meinem Mann völlig verkrampft. Obwohl »es jetzt ja erlaubt war.«
Die Verbote und Tabus waren oft so bestimmend, daß Kinder nicht wahrnahmen, was sie nicht sehen sollten, etwa den schwangeren Bauch der Mutter. Eine vierzigjährige Frau, die in einer ländlich-katholischen Umgebung aufgewachsen war, erzählte, daß sie furchtbar erschrocken sei, als ihre Brüste zu wachsen begannen. Sie hatte den Eindruck, eine gefährliche Geschwulst zu haben, und geriet in Panik. Sie habe in all den Jahren nicht einmal wahrnehmen dürfen, daß Frauen Brüste haben.
Kinder und Jugendliche müssen solche Tabus heute nicht mehr verkörpern. Dennoch ist die Beziehung zur eigenen Geschlechtlichkeit je nach Herkunft sehr unterschiedlich. Noch immer ist es für manche - zum Teil auch junge - Frauen unmöglich, den Bereich der Vagina zu erkunden [37] Sie dürfen sich zwar »äußerlich« berühren, sich anschauen, lassen aber die Finger von ihrem Innenraum oder betrachten ihre Vagina kaum je im Spiegel. Hier gibt es bei vielen immer noch die alte Verkörperung: »Nicht anfassen!« Das ist freilich eine Form der Enteignung: »Der Gynäkologe darf da hineinschauen und -spüren, ich aber nicht.« Auch schwangere Frauen untersuchen sich kaum selber, obwohl die Schwangerschaft auch eine Chance sein kann, diese Schwelle zu überwinden. Eine jüngere Frau erzählte: »Als ich schwanger wurde, spürte ich, wie sich meine Scheide veränderte. Bisher hatte ich nie das Bedürfnis gehabt, sie anzuschauen. Jetzt aber wurde ich plötzlich neugierig. So habe ich das komische Angstgefühl vor dem Raum meiner Scheide überwinden gelernt.«
Eine etwa gleichaltrige Frau äußerte sich dazu: »Irgendwann einmal ging mir auf, daß meinem Freund meine Vagina vertrauter war als mir selbst. Er durfte sie anschauen, betasten, in sie eindringen. Ich spürte sie eigentlich nur durch ihn beim Koitus. Als mir das plötzlich bewußt wurde, fand ich es so absurd. Meine Scheide gehörte gar nicht mir. Als ich noch ein Mädchen war, versuchte ich, da einen Tampon hineinzudrücken. Es ging nicht. Das war wie die Bestätigung einer Botschaft: Eintritt verboten! Unzugänglich! Schließlich verschaffte sich mein Freund den Zutritt. Und dabei blieb es auch. Und nun war ich also da mit dem mir fremden Terrain - in mir. Ich hätte nie gewagt, mit jemandem darüber zu sprechen. Aber ich holte mir - erstmals - einen Spiegel und betrachtete die Topographie genau, die ich nur von den Berührungen der Klitoris kannte, als ich onanierte. Und dann begann ich erstmals, meine Scheide zu erforschen, spürte ihre Innenwand, den geschlossenen Gebärmuttermund. Endlich wurde die Scheide wirklich mein Innenraum. Und dadurch wurden die sexuellen Empfindungen auch irgendwie anders. Ja, es waren eben meine Empfindungen. Ich ließ meinen Freund ein in meinen Innenraum. Manchmal schämte ich mich auch, weil das für andere Frauen selbstverständlich war, was ich eben erst am Entdecken war.«
Dieses Entdecken der eigenen Vagina ermöglicht auch das Wahrnehmen der Veränderung während der Schwangerschaft. »Es war verrückt«, sagte eine etwa dreißigjährige Frau, »erst diese rosaroten Schamlippen, so zierlich zusammengefaltet, und nun die fleischigen, fast violetten Wülste. Da merkte ich so unabweisbar, daß ich kein Mädchen mehr war. Das Wort >Weib< fiel mir ein. Es schmeckte mir und befremdete mich auch. Und da wird das Kind herauskommen. Es ist immer noch unfaßlich.« Als wir von der Beziehung zum eigenen Körper sprachen, sagte eine Frau in der Therapie unvermittelt zu mir: »Manchmal kommen mir merkwürdige Gedanken, wenn ich einen Mann anschaue. Der muß doch ein ganz anderes Körpererleben haben. Er ist - wie soll ich sagen - er ist irgendwie >verschlossen<. Für sich selber unerreichbar. Das klingt zu philosophisch. Aber, es gibt für mich doch einen Zugang nach innen, einen Tunnel, der in mich hineingeht. Ich habe irgendeine Vorstellung, nein, eine konkrete Erfahrung, daß in mir ein Raum ist, den ich ertasten kann. Und ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, wenn man da nicht hineinspüren kann.«
Hier dürfen auch die Phantasien Gestalt gewinnen, einmal das andere Geschlecht zu sein. Wie wäre es, wenn ich eine Vagina, wenn ich einen Penis und Hoden häne? Nicht als Neid erlebt, sondern als Identifikation mit dem Schattengeschlecht. »Wir spielten manchmal ich sei der Mann und mein Mann die Frau«, erzählte mir eine Frau, »es war ein Spiel, und wir lachten dabei, aber es war auch mehr als ein Spiel. Ich war dann wilder und aggressiver, und mein Mann schloß die Augen und war ganz hingegeben. Wir kamen da auch über unsere Rollenklischees hinweg. Aber nicht nur das. Ich identifizierte mich wirklich mit seinem Penis, und er hatte ein Gefühl, unten offen zu sein. Es war lustvoll und belustigend zugleich.«
Wichtig ist es also, Sprache im Bereich von Geschlechtlichkeit zu finden, denn Sprache schafft Beziehung. Kinder kreieren im Austausch mit der Mutter häufig liebevolle, zärtliche und spielerische Wörter. So entsteht ein inniger Beziehungsraum für die eigene Geschlechtlichkeit, der als tragende Atmosphäre bleibt, selbst wenn diese Namen später wieder verlorengehen. Auch Liebespaare schaffen sich manchmal auf ähnliche Weise einen intimen Sprachraum, in dem sie ihre Zärtlichkeit bergen können.
Häufig müssen wir diese Sprache als Erwachsene erst lernen. Viele Menschen, die noch in alten Tabus mit ihrer Stummheit aufgewachsen sind, können dem Partner oder der Partnerin gegenüber die eigenen Erfahrungen, Wünsche und Bedürfnisse kaum zum Ausdruck bringen. So entstehen Stummheit, Einsamkeit und Mißverständnisse auch im Raum von Beziehungen und versehren damit den Bezug zu Körperlichkeit und Sexualität. Eine Frau, die wegen sexueller Schwierigkeiten zu mir gekommen war, drückte dies so aus: »Ich habe gelernt, daß man >darüber< nicht sprechen darf. Und als dieses Verbot für mich keine Gültigkeit mehr hatte, konnte ich Icht sprechen. Bei jedem Anlauf verkrampfte ich mich und war wie gelähmt. Und diese Lähmung übertrug sich auf die sexuelle Beziehung zu meinem Mann, die anfangs noch lebendig gewesen war. Ich versuchte, >es< mit mir selbst auszumachen, spürte aber, wie sich damit etwas Trennendes zwischen meinen Mann und mich schob. Ich hoffte auf seine Initiative, auf eine Art Erlaubnis von ihm. Er aber dachte, es sei alles in Ordnung, und nahm die wachsenden Schwierigkeiten erst wahr, als ich immer passiver wurde. Da dachte er aber, ich hätte einfach Probleme ... Jetzt wird mir klar, daß wir an gegenseitiger Stummheit leiden.« Auch »Stummheit« ist eben kein isoliert sprachliches Problem, sondern ein ganzheitliches, das den leibhaften Dialog mitformt. Wenn wir dies zu akzeptieren gewillt sind, vermögen wir auch, unsere Sprach-Not ernster zu nehmen.
Wenn wir von der Tabuisierung des Leiblichen und Sexuellen ausgehen, stoßen wir also immer wieder auf die Erkenntnis, daß der Bezug zu diesem Bereich ein verkörperter Bezug ist. Wenn beispielsweise die Geschlechtsorgane »die Unberührbaren« blieben, mußte die Menstruation zu etwas Fremdem, Unangenehmem und Störendem werden, ganz zu schweigen vom körperlichen Erleben in einer sexuellen Beziehung oder während Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit.
»Unberührbarkeit« bedeutet jedoch nicht nur, die Hände von den eigenen Sexualorganen zu lassen. Mindestens dieser TabuAspekt ist weitgehend aufgelöst und auch bei der älteren Generation im Auflösen begriffen. Unberührbarkeit heißt auch, sich mit der eigenen Sexualität nicht zu be-fassen, eigene Erfahrungen in ihrer Bedeutung nicht wahrnehmen zu dürfen. Wohl scheint auch dieses Tabu überholt zu sein. Doch das Formulieren einer Erlaubnis für sexuelles Erleben, wie es die sexuelle Liberallsierung mit sich gebracht hat, genügt allein nicht. Wo die gute, die freie und ungehemmte Sexualität propaglert wird, entstehen neue Normen. Zum Problem wird jetzt unbefriedigende Sexualität, gemessen an einem neuen »Plansoll«. Auch Frauen fühlen sich heute schnell als Versagerinnen - und damit wird letztlich die fehlende sexuelle Erlebnisfähigkeit zum Tabu. Die Frage: »Wie erlebe ich Sexualität? Was möchte ich?« bleibt auch hier stumm. Die Enttabuisierung des Sexuellen kann nur dann sinnvoll wirken, wenn die eigenen mitgebrachten Geschichten als Teil des eigenen Selbst ernst genommen werden dürfen, ohne Versagergefühle damit zu verbinden. So wird es vielleicht möglich, das Geschlechtlich-Sein neu zu entdecken und sich anzueignen.

Verkörperte Enteignung

Wir kennen die Szene: Eine junge Frau sitzt in einem Café  oder geht durch die Straßen. Sie fühlt die Blicke der Männer auf sich. Das mag Selbstbestätigung geben. Doch die Blicke sind beharrlich. Sie sehen mehr, als sie sehen. Sie prüfen, beurteilen, sie haften und kleben, werden begehrlich und besitzergreifend. Der Körper der Frau wird vereinnahmt. Zudem muß die junge Frau damit rechnen, angesprochen und »angemacht«, belästigt und verfolgt zu werden. So können auch bedrohliche Situationen entstehen ... Ich habe viele Frauen erlebt, die vor Wut und vor Verzweiflung weinten, wenn sie sich solche Szenen vergegenwärtigten, oft aus einer Zeit, in der sie noch sehr jung waren, eben dabei, mit ihrer neuen geschlechtlichen Identität vertraut zu werden: »Ich habe mich damals so wehrlos gefühlt, so nackt, ohne etwas dagegensetzen zu können. Ich spürte mich gar nicht mehr, wagte nicht, meinen Körper wahrzunehmen. Ich trennte mich von ihm und lief wie eine Marionette weiter. Ich hatte Angst, und ich fand es so gemein und ungerecht, daß ich jedem Mann gehören sollte, der an mir vorbeiging. Es ist ein Augen-Besitzrecht ... Jetzt habe ich Ruhe. Jetzt ist meine Tochter dran. Vorher gab es mich nur als Objekt, nicht als Frau und Person. Jetzt gibt es mich für Männer nicht mehr.«
Und dazu eine Gegen-Geschichte: Vor einiger Zeit sah ich in einem Buch das Bild einer Göttinnenstatue aus Kreta.[38] Es war eine herrliche, aufrechte Frau mit bloßen Brüsten, die einfach dastand und sie selber war, Ausdruck der Freiheit von Frauen. Im Berachten dieses Bildes spürte ich, wie etwas von dieser Verkörperung auf mich »übersprang«. Ich fühlte mich inspiriert und nahm diese Gestalt in mich hinein, um mit ihr zu leben, um zu erfahren, was sie mich lehren würde. Was ich zu lernen begann, hat viel mit Aneignung zu tun. Es kam mir dabei einmal der Satz: »Ich bin die Frau, Iréne.« Mein Name war mir dabei sehr kostbar, die Göttin in mir leibhaft gegenwärtig. Von hier aus läßt sich vielleicht auch eine neue Beziehungsgeschichte von der Frau zum Mann entwerfen, eine kraftvollere und lebendigere.
Wir kommen jedoch aus einer Geschichte der Enteignung - auch körperlicher Enteignung. Das Verhältnis der Geschlechter war ein körperliches Besitzverhältnis. Der Mann »nahm« die Frau - das war ein Ausdruck für geschlechtliche Beziehung. Dem Mann wurde sexuelle Freizügigkeit zugestanden, aber die Frau, die sie befriedigte, war die Geächtete, denn sie hatte vor der Ehe gleichzeitig schön und attraktiv und die Hüterin ihrer Keuschheit für den Mann zu sein, der sie bekam - zumindest in der bürgerlichen Gesellschaft. Sie mußte versprechen und gleichzeitig die Erfüllung aufschieben. Konsequenterweise wurde ihr ein eigener sexueller Drang abgesprochen, so konnte sie um so besser auf die Bedürfnisse des Mannes ausgerichtet sein und gleichzeitig die auferlegten Grenzen wahren. Das galt für die Zeit vor der Ehe. Und in der Ehe bewahrte die Frau den Mann davor, seine eigene Potenz in Frage zu stellen, denn er war es ja, der das Maß des Bedürfnisses bestimmte. Umgekehrt wurde die sexuelle Verweigerung zu einer Macht der Frau. Wie absurd diese Geschichte war, spiegelt sich in Äußerungen von Frauen, die noch mit dieser Geschichte großgeworden sind, wider: »Vor der Ehe hatte ich Sexualität als etwas Sündiges und Verwerfliches zu empfinden, und plötzlich, in einer einzigen Nacht, wurde sie nicht nur etwas Erlaubtes, sondern eine Pflicht. Das schaffte ich einfach nicht. Ich erstarrte, und das jedes Mal, wenn mein Mann etwas von mir wollte.« Diese Geschichte gibt es heute kaum mehr, sie lebt aber noch in verkörperten Mustern der älteren Generation, oft auch dann, wenn die zugehörigen Geschichten längst in Frage gestellt sind. Dies wird nicht in soziologischen Untersuchungen, sondern vor allem im Raum der Therapie erfahrbar:
Eine Frau, Mitte Zwanzig, empfand eine tiefe Abneigung, mit ihrem Freund zu schlafen, und verweigerte schließlich die Sexualität völlig. Sie formulierte ihr Problem so: »Ich liege jeweils im Bett und denke ständig: >Ich sollte ja eigentlich. Ich müßte. Das gehört doch dazu. Ich kann doch meinem Freund nicht zumuten, auf Sexualität zu verzichten.« Und je mehr ich das denke, um so weniger Lust habe ich eigentlich. Und um so schuldiger und defekter fühle ich mich.« Das ist ein perfekter Teufelskreis. Schließlich kam sie auf den entscheidenden Kern ihrer Geschichte: »Ich dachte eigentlich immer nur an die Lust meines Freundes. Meine Lust gab es gar nicht. Ich hatte nie den Impuls, mit meinem Freund zu schmusen. Ich dachte gleich: Oh, dann muß ich mit ihm schlafen. Ich kann doch nicht mit ihm schmusen und dann nicht weitermachen. Und dann fing ich schon lieber gar nicht an ... Ich kann aber Lust empfinden, wenn ich onaniere. Dann ist kein Druck da. Es geht auch am Anfang einer Beziehung. Dann muß ich ja noch nicht. Dann spüre ich mich für kurze Zeit ...« - Es gibt für diese Frau kaum eine eigene Lust, welche die ihre ist und an der sie Maß nehmen, der sie sich anvertrauen kann. Doch war sie auch nicht imstande, »es« einfach über sich ergehen zu lassen.
Die Sexualität ihrer Eltern hatte sie ähnlich erlebt. Ihr Vater hatte ihr die Botschaft vermittelt, es werde mit ihr und ihrem Freund »auch so herauskommen«. Für die Mutter war Sexualität ebenfalls eine Pflichtübung gewesen, und sie hatte sich entzogen, so gut es möglich war, während der Vater »fremdging«. - Die junge Frau bekrittelte sich auch ständig: »Ich kann mich nicht in Ruhe lassen. Ich traue meinem Körper nicht. Er ist mir irgendwie fremd und unheimlich.« Sie versteifte sich, machte ihren Bauch hart, und wenn sie Leben und Bewegung in sich spürte, geriet sie in Angst.
Auch sie verkörperte also ihr Mißtrauen gegen den Körper und gegen ihre Erregung. »Vielleicht müßte ich endlich erwachsen werden und die Verantwortung für meinen Körper, für die Gestaltung meiner Sexualität selber tragen«, sagte sie eines Tages. - Hier wird deutlich, wie eng Aneignung und Verantwortung für sich selbst miteinander verbunden sind.
Mit den Geschichten über Sexualität ist noch eine weitere Nuance verbunden: Seit dem 18. Jahrhundert wurde Sexualität immer stärker mit der Vorstellung von »Liebe« gekoppelt.[39] »Liebesvereinigung« ist ein sprechender Ausdruck dafür. Doch Hingabe war etwas »dem Mann zuliebe«, wenn es sich nicht um eine Konvenienzehe handelte. So sagt schon Gretchen in Goethes Faust:

Und alles, was mich dazu trieb,
ach war so gut, ach war so lieb.

Dieser Ausdruck der Liebe aber war vor der Ehe verwerflich, auchwenn die Schwüre des Mannes das Gegenteil besagen mochten. [40] Eine Frau, etwa fünfzig Jahre alt, sagte dazu: »Meine Mutter gab mir die Botschaft: >Wenn du dich einem Mann vor der Ehe hingibst, liebt er dich nicht mehr und verläßt dich.< Ich verstand eigentlich nie, weshalb ein Mann mich für diesen Ausdruck meiner Liebe verlassen sollte. Und dennoch spürte ich immer ein tiefes Mißtrauen gegen einen Mann, den ich zu lieben begann. Ich konnte ihm meine Gefühle nie zeigen, weil ich fürchtete, für diese Gefühle von ihm verlassen zu werden. Und schließlich heiratete ich einen Mann, den ich nicht liebte.«
In der Ehe jedoch wurde Sexualität zu einem »Beweis von Liebe«. So sagte eine Frau Mitte Vierzig dazu: »Ich empfand nie besondere Lust, mit meinem Mann zu schlafen. Aber ich sagte mir, ich müsse dies doch tun, weil ich ihn ja liebte. Manchmal genoß ich seine Nähe einfach, dann war es mir wieder zuviel. Ich hätte aber nie gewagt, nein zu sagen. Ich dachte, dann würde ich ja meinen Mann zu wenig lieben. Daß etwas nicht stimmen konnte, wurde mir erst bewußt, als mir die sexuellen Kontakte mit meinem Mann zuwider wurden. Heute weiß ich, daß ich mich nie fragte, was für mich gut sei. Damit starb auch meine Liebe.« Die Frau lernte innerhalb dieser Geschichten, ihre Liebe zunächst von der Sexualität abzuspalten und diese dem Mann vor der Heirat um der Liebe willen vorzuenthalten, um dann in der Ehe eine plötzliche Kehrtwendung zu vollziehen, die sich nie ganz verkörpern ließ. Dazu kam, daß die endliche sexuelle Vereinigung als Höhepunkt der Liebe verherrlicht wurde, um in einer Enttäuschung zu enden, welche Frauen oft sich selbst als Schuld anlasten.
Viele Frauen lebten so sehr in der Verkörperung überkommener Geschichten, daß sie den Bezug zu den eigenen sexuellen Gefühlen weitgehend verloren. Der Mann erschien als triebhaft. Er »wollte das eben haben«, während die Frau Sexualität »über sich ergehen ließ«. Oft lebten Paare auch eine befriedigende sexuelle Beziehung, die aber von den Geboten der Kirche ständig durchkreuzt wurden. Als ich selber noch ein junges Mädchen war, sagte mir die Mutter einer Freundin: »Ich habe früher gern mit meinem Mann geschlafen. Aber dann mußten wir wieder beichten gehen, wegen der Verhütung. Das war für mich so erniedrigend. Schließlich hat mir das die Freude an der Sexualität vergällt. Jetzt will ich von da unten nichts mehr wissen.«
Andere Frauen erlebten jedoch auch eine große Diskrepanz zwischen ihren eigenen Gefühlen und Wünschen und dem geltenden Bild von männlicher und weiblicher Sexualität, das dem Mann die stärkere Sexualität zusprach. Dazu erzählte eine fünfundvierzigjährige Frau: »Meine sexuellen Bedürfnisse waren immer sehr stark. Und ich hatte Freude daran. Mein Mann aber hatte viel weniger das Bedürfnis nach Sexualität und Nähe. Das war für mich schwierig. Und gleichzeitig fühlte ich mich irgendwie daneben. Ich dachte, etwas sei bei mir nicht in Ordnung, daß ich so triebhaft sei und mein Mann nicht. Ich hatte ja gelernt, daß die Sexualität des Mannes stärker sei als diejenige der Frau. Ich fand das zwar selber blöd, aber diese Gefühle tauchten immer wieder auf. Manchmal stellte ich mich auch vor den Spiegel und schaute mich an. Ich bekam eine Wut auf mich selber oder war verzweifelt. Offenbar war ich zuwenig attraktiv und schön, sonst würde mich mein Mann bestimmt begehren ... So war ich ständig hin und her gerissen. Und ich verlor mein Selbstvertrauen. Der Gedanke, bei meinem Mann könnte auch ein Problem liegen oder daß wir ein gemeinsames haben könnten, kam mir gar nicht.«

Weibliche und männliche Sexualität als Spiel-Raum von Beziehung

Frauen kamen durch die überkommenen Geschichten kaum in Berührung mit ihrer eigenen Sexualität. Auch sie wurde als eine vom Mann definierte erlebt. Gerade hier wird die Umkehrung, ja Verkehrung von Verhältnissen besonders deutlich greifbar. Nicht der Mann hat die stärkere Sexualität, sondern die Frau.[41] Die männliche Geschichte zur Sexualität der Frau konnte diese biologische Tatsache entschärfen und die weibliche Sexualität damit unter Kontrolle bringen. Dasselbe gilt auch für den ganzen Fruchtbarkehszylus: Die menstruierende Frau wurde als unrein erklärt,[42] ihre Fähigkeit zu gebären zur körperlichen, niederen Funktion erklärt. An die Stelle des Gebärneides trat der Penisneid.[43] So konnte die Gefährlichkeit und Bedrohlichkeit der Frau herabgemindert werden.
Weshalb ist jedoch die Frau so bedrohlich? Darauf gibt es die verschiedensten möglichen Antworten. Walter Hollstein schreibt:

»Zweifellos ist also die Frau von der Natur reicher ausgestattet als der Mann. Das betrifft nicht nur ihre Gebärfähigkeit, sondern auch ihre generell stärkere Naturverbundenheit, ihre größere sexuelle Potenz und höhere Lustfähigkeit ... Daraus läßt sich eine vitale Bedrohung des Mannes ableiten, zumal dieser in keiner Weise in der Lage ist, seine eigene Männlichkeit qua naturam zu definieren oder sich selbst einen auch nur annähernd so wichtigen Stellenwert für den Bestand der Welt zuzugestehen, wie ihn das weibliche Prinzip unbestreitbar hat.« [44]

Der Mann muß seine Männlichkeit also erst erschaffen - so folgert Hollstein. Er ist deshalb anfälliger für Infragestellungen. Wir haben hier die genaue Umkehrung des Bildes, das sich für Frauen aufgrund ihrer Geschichte bietet, in der sich die weibliche Identität als fremdbestimmte, vom Mann definierte sich erweist. Dann wäre die Übermacht des Mannes, seine Identifikation mit Kulturleistung nichts anderes als eine gigantische Kompensation seiner ursprünglich fragilen männlichen Identität? Dies ist sicher nur ein Aspekt innerhalb einer komplexen historischen Entwicklung, die zumindest die männliche Hegemonie mit den Leitbildern von Macht und Kontrolle herausgebildet hat. Die Natur als lebendiger Organismus wird nicht als solcher wahrgenommen, sondern auf ein Objekt von Bemächtigung und Ausbeutung reduziert. Lebendiges läßt sich jedoch nicht kontrollieren, muß also um seine Lebendigkeit gebracht werden. Damit wandte sich männliche Hegemonie auch gegen das, was sie in der Frau sah: gegen das weibliche Prinzip als Ausdruck eines organismischen Rhythmus.
Damit möchte ich allerdings nicht »die Frau« mit Natur gleichsetzen. Vielmehr geht es um das, was sie durch ihre generative Potenz an Natur im Sinne des Organismischen für den Mann verkörpert. Dabei ergibt sich ein bemerkenswerter Widerspruch: Die Frau mit »Natur« zu identifizieren ist eine männliche Geschichte, in welcher diese »Natur« zugleich gefürchtet und entwertet wurde. Umgekehrt haben diese Geschichten auch zur Folge, daß vielen Frauen ihre eigene organismische Kraft so verdächtig geworden ist, daß sie nichts mehr von ihr wissen wollen. Die Abgrenzung gegen männliches Verständnis von Weiblichkeit und entsprechende Herrschaftsformen schlägt unversehens in globale Identifikation mit männlichen Wertungen um. Wir bewegen uns auf einem schmalen Grat! Immerhin entstand auch unter Feministinnen ein Bewußtsein für den Gewinn, der mit diesem Aspekt von Frausein verbunden ist: »Frauen suchen keine Macht über Männer und wollen Macht auch nicht benutzen, wie Männer sie benutzt haben. Ich glaube, daß die Stimme der Frauen bei politischen Entscheidungen dazu beitragen wird, unsere ganze Politik vom Krieg wegzubringen und an den kritischen menschlichen Problemen unserer Gesellschaft zu orientieren - nicht weil Frauen reiner oder besser wären als Männer, sondern weil unser Leben es nicht erlaubt hat, der menschlichen Realität auszuweichen.«[45]
Wenn Frauen hellhörig mit den männlichen Geschichten umgehen, können sie vielleicht auch jene Schätze heben, die in ihrer Lebensweise als Frauen verborgen liegen. Das gilt auch für die Beziehung zur Sexualität. Durch Schwangerschaft und Gebären waren Frauen immer schon in unmittelbarer Verbindung zum Lebendigen. Doch nicht nur die generative, die lebenschaffende Potenz wurde zur reinen Funktion entwertet, sondern die Sexualität der Frau wurde in funktionale Abhängigkeit vom Gebären gebracht. Umgekehrt wurde jedoch das sexuelle Erleben der Frau aus der generativen Potenz »herausgeschnitten« und isoliert. Sexualität wurde identifiziert mit Geschlechtsakt, mit Koitus, war nicht ein Ganzes, zu dem alle Aspekte der weiblichen Lebensdynamik gehören, also auch der Menstruationszyklus, von der Menarche bis zur Menopause, Schwangerschaft, Gebären und Stillen. Das bedeutete nicht nur Funktionalisierung, sondern auch Aufspaltung der weiblichen Potenz. Man könnte dafür sogar den Ausdruck »Kastration« gebrauchen. Aneignung im Bereich der Sexualität würde bedeuten, sich mit der lebenschaffenden Potenz als einer eigenen Macht zu identifizieren und sie als eine Lebenseinheit zu verstehen. Doch das bedeutet nicht, daß alle Aspekte im individuellen Leben eingelöst werden müssen, sondern als Möglichkeit präsent sind - sonst würde diese Macht wieder in die alte männliche Geschichte umschlagen. Diese Macht bedeutet auch nicht Macht über Leben, sondern Macht aus der Dynamik des Lebens heraus und im Verbundensein mit ihm. Dies ist eine neue Perspektive, die vielleicht auch den Anfang einer neuen Liebesgeschichte mit dem Mann bedeuten könnte.
Sexualität bedeutet dann also nicht Dominanz, sondern Hingabe, Schmelzen, Auflösen von Grenzen. Doch genau da kommen von männlicher und weiblicher Seite Geschichten in die Quere. Zunächst ist Hingabe nicht Passivität, sondern Zulassen jener pulsierenden Lebendigkeit, die mit sexueller Erregung und Leidenschaft verbunden ist. Sie ist sowohl Hingabe an die eigene organismische Lebendigkeit wie an diejenige des anderen Menschen. Die männliche Geschichte ist deshalb nicht nur als Kampf gegen die pulsierende Kraft der Frau, sondern auch gegen seine eigene zu sehen. Nur wenn der Kampf gegen sich selbst, die Angst vor der eigenen Lebendigkeit aufhört und der Zugang zu dieser Lebensqualität wieder gefunden werden kann, ist auch eine neue Beziehung zwischen den Geschlechtern möglich. Hier liegt - bei aller Verschiedenheit auch die heutige Gemeinsamkeit im beschnittenen und eingeschränkten Kontakt beider Geschlechter zu lebendiger Sexualität. Dies läßt sich gerade am Aspekt der Hingabe zeigen. Wenn Hingabe keine männliche Möglichkeit darstellt, so besteht weibliche Hingabe häufig aus einem Spaltmuster, in dem die Frau sich auf den Mann und seine Bedürfnisse ausrichtet und die eigenen Wünsche dabei in den Hintergrund rückt. Lebendige Hingabe jedoch würde die Auflösung eines solchen Spaltmusters bedeuten.
Lebendige Sexualität bedeutet aber auch, die Unterschiede zwischen weiblichem und männlichem Erleben zu respektieren. Dabei geht es nicht allein um das tiefere Eingebundensein der Frau in eine Vielfalt organismischer Zyklen, sondern auch um das Erleben der sexuellen Vereinigung und des Orgasmus. Beim Mann ist der orgastische Höhepunkt eine Explosion, die den Samen ausschießt, also eine Entladung im wörtlichen Sinn. Der Orgasmus und seine Funktion werden als eines erlebt. Der Orgasmus der Frau hingegen ist wellenförmig, läßt oft auch mehrere Höhepunkte hintereinander oder ineinander übergehend zu. Das sind Grundmuster, die auch in anderen Bereichen mitformend wirken. Bei einer Geburt beispielsweise identifizieren sich Männer am ehesten mit dem Herauskommen des Kindes, das wie eine Ejakulation verstanden wird, während Frauen sich vor allem mit den wellenförmigen Wehen eins wissen und die eigentliche Geburt aus diesem Rhythmus heraus empfinden. So ist konsequenterweise der Mann als Gynäkologe bei der »Austreibung« dabei, während die Hebamme den Rhythmus des Gebärens als ganzen begleitet.
Auch die Dynamik, welche auf die Zeugung folgt, ist für Frau und Mann sehr verschieden. Für den Mann ist mit der Ejakulation die »Geschichte der Zeugung« abgeschlossen. Bei der Frau folgt der wesentliche Teil anschließend, ihr selbst zunächst verborgen, ihrem Zugriff entzogen. Die Zeugung ist nur der Anfang eines möglichen, lange währenden Prozesses, in dem die Frau ein Neues nährt und wachsen läßt. Die zeugende Kraft des Mannes und die lebensspendende der Frau durch Schwangerschaft und Geburt lassen sich nicht gegeneinander ausspielen. Sie gehen auch nicht in der Polarität von »aktiv« und »passiv« auf. Vielmehr sind sie Grundmuster des Bezogenseins, deren Bedeutung wir erst voll wahrnehmen können, wenn die alten Geschichten aufgelöst sind.
Die sexuelle Vereinigung gibt noch weitere Aspekte dieser Grundmuster frei. Der Mann dringt in die Frau ein und wird von ihrer Scheide umschlossen. Er kehrt zurück in den Schoß, aus dem er einmal kam. Darin verbinden sich also ein progressiver, vordrängender, und ein regressiver Aspekt. Für die Frau ist sexuelle Vereinigung etwas anderes. Sie ist Raum der Rückkehr. Rückkehr in den Mutterschoß bedeutet für sie deshalb, selbst Schoß zu werden. Sie ist für sich selbst die eigene Mutter, die Raumschaffende und Raumgebende, nicht das Kind, das in ihr ist. Eindringen und aufgenommen werden sind der männliche Pol der Dynamik, durchdrungen werden und aufnehmen der weibliche. In beiden ist jedoch die Polarität von aktiv und passiv enthalten - nur je verschieden akzentuiert. Unsere bisherigen männlich-weiblichen Geschichten haben wenig mit dem tatsächlichen organismischen Muster zu tun.
Sexualität ist jedoch mit einer weiteren folgenschweren Geschichte verbunden: Sexualität ist nur animalischer Trieb, also das eigentlich Tierische im Menschen. Doch wenn wir uns auf die »Natur« beziehen, geht es allein um die Fortpflanzung. Dann gibt es Lust nicht als etwas Selbständiges, sie ist nur funktional. Die katholische Kirche hat sich konsequent auf diese Ebene gestellt: Sexuelle Lust ist nur erlaubt in Verbindung mit Zeugung, sie ist rein funktional. Das ist die folgerichtige Reduktion von Sexualität auf die Ebene der Natur. So kann es keine menschliche Sexualität im Unterschied zur tierischen geben. Der einzige - und erschwerende - Unterschied besteht dann darin, daß die menschliche Sexualität nicht auf bestimmte Perioden der Fruchtbarkeit beschränkt ist. Letztlich basiert diese Geschichte von der »tierischen Sexualität« im Menschen auf der alten Trennung von Körper und Geist, von Tierischem und Himmlischem im Menschen. Doch gerade unsere sexuellen Probleme widerlegen diese Auffassung. Stanley Keleman hat in einem Workshop ein treffendes Beispiel erzählt: Die ejaculatio präcox (der vorzeitige Samenerguß) ist vom Standpunkt der Natur aus gesehen kein Problem. Wie der Samenerguß stattfindet, spielt keine Rolle, Hauptsache, er findet statt, damit die Fortpflanzung gewährleistet ist. Erst auf der menschlichen Ebene, wo es um das Erleben der Sexualität und um den Aspekt der Beziehung geht, wird der vorzeitige Samenerguß zu einer Störung.
Sexualität ist also ein Aspekt des Menschlichen, der gestaltet und in Beziehung eingebunden sein will. Dabei spielt es zunächst keine Rolle, ob diese Beziehung nur eine momentane oder eine länger dauernde ist. Immer geht es darum, ob ein befriedigendes Erleben damit verbunden ist. Dies bedeutet nicht, daß Sexualität nicht mit Trieb, mit der instinktiven Ebene verbunden ist. Doch handelt es sich immer um Triebhaftigkeit, deren Urheber und Gestalter wir zugleich sind. Daß sexuelles Verlangen mich einfach überfällt und zum Ausagieren zwingt oder bekämpft und beherrscht werden muß - gerade dies ist nicht eine Gegebenheit, sondern bereits eine bestimmte Art und Weise, wie wir als Menschen mit unserer Sexualität umgehen, ist also eine verkörperte Geschichte. Es geht daher um die Frage, wie wir Erregung, die in uns aufsteigt, aufbauen, sich ausbreiten lassen oder zurückhalten können. »Überfallen werden« ist deshalb nicht eine Gegebenheit, sondern ein Muster, wie jemand mit Erregung umgeht, ebenso wie wenn er vom Beherrschen und Kontrollieren seiner Triebe spricht. Menschliche Sexualität ist also gestalteter Trieb, wie leidenschaftlich, verrückt, ekstatisch sie auch sein mag. Ich kann Erregung allein auf die genitalen Zonen beschränken oder mich völlig überfluten lassen. Meist wissen wir gar nicht, wie wir diese Muster aufbauen, um mit unserer Erregung umzugehen, aber wir bauen sie auf, und sie haben ihre geheime Bedeutung, die mit unserer Geschichte im Zusammenhang stehen.
Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Eine Frau Mitte Dreißig äußerte im Lauf ihrer Therapie: »Es war mein ganzer Ehrgeiz, eine gute Geliebte zu sein. Ich hatte eigentlich schon immer Freude an der Sexualität gehabt, aber es war dennoch ein Krampf. Ich gab mich auch dann erregt, wenn ich es nicht war, oder zwang mich zum Sex, obwohl ich lieber nur geschmust hätte. Ich bekam dafür Bewunderung. >Noch nie hatte ich es mit einer Frau so schön im Bett< das war mein höchster Lohn. So bewies ich auch meiner Mutter, daß ich nicht war wie sie, so spröde und hölzern. Bei meinem jetzigen Freund begriff ich aber, daß ich ihn mit unter Druck setzte, weil er ja mithalten mußte. Und jetzt fange ich an, besser zu spüren, was ich möchte.«
Die Frau zeigte auch, wie sie sich körperlich zu dieser Geliebten machte. Sie zog ihren Oberkörper nach oben, riß die Augen weit auf, lächelte. »Ich drücke mein Zwerchfell hinauf. Dann bin ich oben und außen ganz aufgeregt. Aber ich atme nur im Brustraum, flatterig und unregelmäßig. Mit meinen Bauchmuskeln presse ich gleichzeitig nach unten. So entsteht ein Druck auf meine Vagina, und ich kann meine sexuelle Begierde steigern. Doch der Bereich zwischen Zwerchfell und Scham - den gibt es gar nicht.« Nachdem wir eine Weile mit diesem Muster gearbeitet hatten, sagte sie: »jetzt verstehe ich etwas. Wenn ich das mache, ist mir, als sei ich wie außerhalb meiner selbst. Liebeskontakt lief dann ab, aber es war mir, als sei das doch nicht ich. Das hängt mit diesem Bereich zusammen, den ich nicht spüre.« Als ich die Frau nach einigen Übungen mit Bauchatmung und Beckenbewegungen bat, das alte Muster nochmals zu verstärken und zu lösen, fühlte sie Wärme und dann ein Strömen, das sich über den ganzen Körper ausbreitete. Sie nahm es als ein Schmelzen wahr und hatte Tränen in den Augen. »Erstmals spüre ich meinen Bauch. Das gibt mir Kraft und ein Gefühl, ich selbst zu sein. Ich empfinde mich als kostbar« Dann schwieg die Frau lange, atmete in vollen Zügen. Sie richtete sich auf und begann zu lachen. Und sie lachte lange, während ein übermütiger Ausdruck in ihr Gesicht kam. »Ich habe eine kleine Hexe im Bauch. Die lacht und will spielen. Die will keine todernst lächelnde Geliebte sein.« Und sie lachte weiter: »Weißt du was, ich habe erstmals warme Pobacken. Ein Hintern - das ist etwas Feines. Puh, ich entdecke ganz neue Körperbereiche in mir. Bis jetzt bestand ich nur aus Gesicht, Brust und Vagina. Und dazwischen mußten makellose >Verbindungsteile< sein. Aber jetzt habe ich auch einen Bauch und einen Po ..., und wer weiß, was noch kommt!«
Die Frau begann, ihren Körper neu zu entdecken, mit den eigenen Augen zu sehen, Bereiche zu spüren, die es bis jetzt nicht gab. Sie hatte sich bisher gleichsam »von außen«, mit den Augen »der Männer« wahrgenommen. Jetzt fing sie an, die Möglichkeiten ihres Körpers auszuloten. »Ich bin ganz fasziniert, was alles mit meinem Körper los ist. Manchmal liege ich einfach da und genieße das für mich. Bis jetzt war so etwas undenkbar. Ich brauchte stets die Bestätigung durch den Mann ... Und ich lache oft, einfach so. Ich lache auch über mich, aber liebevoll.
In der Folgezeit veränderte sich auch das Erleben der Sexualität mit dem Freund. Die Frau sagte: »Endlich wage ich zu spüren, was ich spüre. Das klingt verrückt. Aber es ist wahr. Vorher dachte ich immer: >Du mußt den Orgasmus spüren - möglichst intensiv.< Und ich war unter Druck. Jetzt bin ich neugierig darauf, was ich wirklich spüre. Und das ist immer wieder verschieden.« Hier machte sie eine Pause. Ich bemerkte einen Anflug von Verlegenheit. »Ungewohnt, das in Worte zu fassen?«, fragte ich. Sie nickte und fuhr fort: »Ich habe auch nie darüber gesprochen. Ich mußte allein mit meinem Orgasmus zurechtkommen. Ja, und jetzt erfahre ich, daß es so viele verschiedene Arten von Orgasmen gibt. Kurz und heftig, wellenartig strömend, manchmal einfach geil, dann innig, auf den ganzen Körper sich ausbreitend oder mehr auf die Vagina konzentriert ... Manchmal kann ich die Lust zulassen, dann wieder ziehe ich mich etwas zusammen, weil ich den Ansturm nicht ertrage, er mir fast Angst macht ...« Und dann lachte sie: »Ich dachte immer, es gebe nur einen Orgasmus, der sich einstellt wie ein Naturgeschehen. Doch jetzt spüre ich, wie ich den Sturm zulasse, ihn durch meinen Körper strömen lasse, mich ihm hingebe oder ihn verringere, abbremse. Es ist ein Abenteuer mit mir selbst und mit meinem Freund ... « In diesen Worten kommt die Erfahrung, daß Sexualität eine Einheit von Gestalten und Geschehenlassen darstellt, klar zum Ausdruck.

Lineare und «spektrale«, Sexualität

Mit den bisher geschilderten Erfahrungen wird wiederum eine neue Geschichte über weibliche Sexualität unterstützt. Die Frau muß sich nicht der »Triebhaftigkeit« des Mannes ausliefern, ihre eigene als unzulässig verstehen oder sich die Projektionen des Mannes, der seine Triebhaftigkeit auf das »Weib« legt, gefallenlassen. Heute besteht die Chance, eine eigene, eine persönliche Sexualität zu leben, die eine ganzheitliche und lebendige sein könnte, eingebettet in ein Kontinuum von Berührungs- und Beziehungsmöglichkeiten. Zärtlichkeit etwa läßt eine Vielfalt von Möglichkeiten offen. Sie kann sich in sexuelle Erregung hinüberformen oder das Erleben von Innigkeit und Hautnähe sein, zum verspielten Balgen oder zum stillen Ineinander-Versunkensein werden. Männer sehen häufig in der Zärtlichkeit nur ein sexuelles Vorspiel, einen oft mühsamen Einstieg in den Koitus. Es ist auffallend, wie viele Frauen sich über die mangelnde Zärtlichkeit ihrer Männer beklagen.
Dazu sagte eine jüngere Frau: »Manchmal möchte ich einfach mit meinem Freund zärtlich sein, mit ihm schmusen, aber er faßt es immer schon als sexuelles Angebot auf. Und ich weiß, worauf es hinausläuft. Auch ich bekomme oft Lust beim Schmusen. Aber ich möchte, daß auch offenbleiben kann, wie es weitergeht. Sonst fühle ich mich unter Druck, und dann fange ich gar nicht erst damit an oder nur, wenn ich schon klar spüre, daß ich Lust aufs Miteinanderschlafen habe. Das ist schade und so phantasielos, wie eine Einbahnstraße, die mir manchmal wie eine Sackgasse erscheint.« - Die alte männliche Geschichte über Sexualität ist eine Einbahnstraße, und ich sehe darin mindestens einen wichtigen Grund, weshalb vor allem Männer so große Mühe haben, Zärtlichkeit zuzulassen, ohne darin nur ein sexuelles Vorspiel zu sehen, denn Zärtlichkeit wurde als unmännlich abgewertet. Das bedeutet, daß Männer wenig Chance hatten, das Spektrum von Zärtlichkeit formen zu lernen. Auch hier zeigt sich das fatale Mißverständnis, daß die dem »Weiblichen« zugeordnete Zärtlichkeit eben deshalb als eine »mindere« Möglichkeit erschien. Dahinter steht die typisch männliche Sozialisation, in der Gefühle zu zeigen als unmännlich gilt. Hier besteht allerdings auch ein Zusammenhang mit der Ausschließlichkeit der Mutterbeziehung in der Kindheit und der Schwierigkeit, sich aus ihr zu lösen, ohne die Unterstützung des meist abwesenden Vaters zu haben.[47]
Männer haben zudem oft den Eindruck, sie müßten ihre sexuelle Potenz unter Beweis stellen. Gesellschaftlich geprägte Vorstellungen bilden dabei vielleicht nur die Oberfläche. Männliche Potenz ist anfälliger, »punktueller« als die umfassende generative Potenz der Frau. Der Beweis gilt meist der eigenen Identität als Mann, kommt jedoch auch der Frau gegenüber, die nicht enttäuscht werden darf ins Spiel. Das ist ein Beziehungsproblem der letzten Jahrzehnte, wie ich es in der Jugendberatung in Gesprächen mit jungen Männern deutlich erlebte. Doch viele Mädchen und Frauen waren - und sind oft noch heute - selber sehr ambivalent. Sie wünschen sich einen zärtlichen, liebevollen Partner und sind gleichzeitig fasziniert von Draufgängern, die sie jedoch wiederum ablehnen, weil sie nicht zärtlich seien. Und ein zärtlicher Mann löst Unbehagen aus, wird vielleicht gar nicht ernst genommen.
Dies ist freilich das Dilemma einer Übergangszeit. Frauen lassen ihr Bedürfnis nach einer ganzheitlichen Beziehung zu, tragen allerdings oft noch die alten Beziehungsmuster in sich, die sie aber als nicht erfüllend erleben. Doch neue Beziehungsangebote von seiten eines Mannes machen sie hilflos, weil sie darauf nicht zu »antworten« vermögen. Und der Mann, der anfängt, seinen eigenen Bedürfnissen zu vertrauen, sieht sich zurückgestoßen, wird darin bestätigt, daß er doch »männlich« sein müsse. Und damit wird seine alte Angst reaktiviert, daß nämlich seine »weiblichen Züge« minderwertig seien. Daraus ergibt sich eine schmerzhaft-absurde Situation: Frauen denunzieren - ohne es zu bemerken - die eigene Weiblichkeit, indem sie diese im Mann verachten. Dabei handelt es sich freilich immer um die kulturellen Chiffren von »weiblich« und »männlich« und nicht um Wesenszuschreibungen.
Häufig läßt sich auch beobachten, daß die im Koitus endende Sexualität die einzige intensive Begegnung zwischen Mann und Frau darstellt. Es kann sein, daß dahinter eine tiefe Angst vor Nähe liegt. Vor allem Männer - aber nicht nur sie - verlegen oft auch ihren ganzen Beziehungsausdruck in den Bereich der Sexualität und »verpacken« ihre Sehnsucht nach Nähe, nach Geborgenheit und Zärtlichkeit in den Ausdruck von Sexualität. Der sexuelle Akt ist das Bekannte, alles andere müßte neu geformt werden, und es wäre nicht auszumachen, was dann geschehen könnte. »In der Sexualität kenne ich mich aus. Da fühle ich mich sicher«, sagte mir ein Mann, der seine Frau sehr liebte, diese Liebe jedoch nur in der Form von »linearer Sexualität« zu geben vermochte. Erst als seine Frau an dieser Verkürzung zu leiden begann, realisierte er dies und lernte, ein breiteres Ausdrucksspektrum seiner Gefühle zu formen.
Eine andere Gefahr der Übergangszeit besteht darin, alte Muster in neuem Gewand wieder auftauchen zu lassen, ohne es zu bemerken. Wurde beispielsweise früher der Frau sexuelle Genußfähigkeit abgesprochen, fordern Frauen heute das Recht auf eine erfüllte Sexualität. Doch im Handumdrehen wird das Recht zur Norm und Pflicht. Die Frau verlangt von sich, eine »gute Sexualität« zu haben. Damit setzt sie sich selber unter Druck und inszeniert das altbekannte Kampfmuster. Hinzu kommt, daß oft das Verständnis dessen, was eine »gute« Sexualität sei, aus dem männlichen Entwurf abgeleitet wird. Manchmal geht es - oft uneingestanden - auch darum, sexuelle Leistungen für den Mann erbringen zu müssen oder zu wollen. Umgekehrt wünschen sich Männer oft eine sexuell lebendige Frau und können gleichzeitig nichts von ihrer »Initiantenrolle« abgeben.
Daß wir gerade im Bereich des Sexuellen in einer Übergangszeit leben, zeigen die oft widersprüchlichen Geschichten, die Frauen und Männer - sich erzählen und damit den Partner oder die Partnerin in eine Beziehungsfalle hineinmanövrieren. Manchmal können diese Muster in der Auseinandersetzung zwischen Frau und Mann aufgelöst werden. Oft gelingt dies jedoch erst nach dem Scheitern einiger Liebesbeziehungen in der Rückbesinnung auf die je eigenen Muster. Hier ist zudem - wie auch in anderen Lebensbereichen - die Diskrepanz zwischen den mit dem Verstand akzeptierten neuen Entwürfen und den trotzdem vorhandenen körperlich-emotionalen Mustern aus familiärer und gesellschaftlicher Herkunft zu berücksichtigen. Wenn wir diesen Unterschied, dieses Mißverhältnis vergessen, täuschen wir uns selbst und landen schließlich in einer schmerzhaften Enttäuschung über uns selbst.

Wer ist die Schönste im ganzen Land? oder: Schönheit als lebendige Gestalt

Es gibt einen Bereich, der offenbar nur für Frauen von Bedeutung ist: die Schönheit. Sie erscheint in den überkommenen Geschichten als eine objektive Größe, die der einen Frau schicksalhaft zufällt, einer anderen eben nicht. Wenn in früheren Zeiten eine Frau hervorgehoben wurde, pries man vor allem ihre große Schönheit. Das galt für Märchen ebenso wie für literarische Gestalten vergangener Jahrhunderte. Das Schönheitsideal selbst mochte wechseln, doch die guten Königinnen, Heldinnen, Feen zeichneten sich stets durch außerordentliche Schönheit aus, die bösen durch Häßlichkeit. Männer jedoch waren kühn, beherzt, mutig, stark. Neben der edlen und reinen Schönheit gab es allerdings die verführerische, ja die laszive Schönheit.
Was jedoch Schönheit wirklich sei, das läßt sich schwer festlegen. Einerseits gibt es - stets wechselnde - gesellschaftliche Normen,[48] andererseits subjektives Empfinden, das auch mit der jeweiligen Lebensgeschichte verbunden ist. Reklame und Modezeitschriften zeigen heute die schlanke, jugendliche Figur mit gebräunter Haut als Ideal, präsentieren die sportliche, die lässige, elegante oder gar mondäne Schönheit. Nackte oder wenig bekleidete Frauen haben eine makellose Figur, weisen ein ebenmäßiges Gesicht auf, sind entweder eher mädchenhaft oder »weiblich« mit großer Brust - es gibt hier ein breites Spektrum. Nur haben die gezeigten Frauen keine »Geschichte«, keine Spuren eines Lebens, das sie gezeichnet hat. All das ist gleichsam »ausgeblendet«. Das gesellschaftliche Ideal ist also dasjenige einer geschichtslosen Frau ohne Spuren. Die reale Frau kann - will sie diesem Ideal entsprechen nur versuchen, »Spuren zu verwischen« oder gar keine zu bekommen, während Männer eher »Charakterköpfe« sein dürfen, mit den eingeschriebenen Spuren von Originalität oder Lebenserfahrung.
Geschichten über Schönheit allgemein sowie über den eigenen »Stellenwert« bilden sich bereits in der Herkunftsfamilie. Mütter vermitteln ihren Töchtern Botschaften wie: Wer schön ist, hat keine Probleme. Wir sind nicht so schön, wir müssen versuchen, liebenswert zu sein. Oder: Auf die äußere Schönheit kommt es nicht an, sondern auf den inneren Wert. Einerseits ist Schönheit begehrenswert, andererseits wird sie heruntergespielt und das Mädchen auf »innere Schönheit« verwiesen - ein oft zweifelhafter
Trost angesichts gesellschaftlicher Wertungen. Bewunderung, Eifersucht und Entwertungen spielen in vielen Familien eine große Rolle, während für andere das Aussehen gar kein Thema oder zumindest kein vordergründiges darstellt. Oft bekommt fehlende Schönheit jedoch den Stellenwert einer Organminderwertigkeit. Umgekehrt kann Schönheit zu einer »positiven Organminderwertigkeit« werden. Gerade weil wir meist Nöte und Minderwertigkeitsgefühle von Mädchen und Frauen, die nicht so schön sind, leichter nachvollziehen können, möchte ich im folgenden zunächst den anderen Aspekt in den Vordergrund stellen.

»Organminderwertigkeit« im Bereich der Schönheit

Das Problem der Schönheit kann schon die Kindheit überschatten. Ich hatte in der Jugendberatung ein achtzehnjähriges Mädchen, das Depressionen bekam, weil es in Schule und Ausbildung stets Schwierigkeiten hatte. Im ersten Gespräch kam folgendes heraus: »Als kleines Mädchen wurde ich überall wegen meiner langen Locken bewundert. Überhaupt sagten alle: >Was für ein entzückendes Kind!< Ich war immer der Liebling >und soo sonnig ...<. Ich mußte nur einfach da sein, gar nichts tun - und schon hatte ich die Menschen
gewonnen. Ich lernte, daß ich mich zurechtmachen lassen, für meine Kleider Sorge tragen und lächeln mußte - dann war alles gut. Ich war auch der ganze Stolz meines Vaters. Meine Mutter und meine Schwestern waren eifersüchtig. Mit der Zeit belastete mich das. Als ich in die Pubertät kam, begann meine Mutter, mich zu entwerten. >Ein schönes Gesicht allein
macht es nicht aus<, sagte sie oft gehässig. Da hielt ich mich immer mehr an meinen Vater. Doch dann bestand ich die Prüfung in eine höhere Schule nicht. Mein Vater, der Akademiker war, ließ mich von einem Tag auf den anderen fallen. Er schaute mich nicht mehr an. >So eine Schande<, sagte er. Meine drei älteren Schwestern waren auf dem Gymnasium. >Von dir hätte ich das nicht erwartet, war alles, was der Vater dazu sagte. Da brach meine Welt zusammen. Ich war niemand mehr. Ich traute mir nichts mehr zu. Und ich haßte meinen Körper, der mich so verraten hatte. Alles wurde zum Horror - die Schule, die Freunde, einfach alles. Mit Privatstunden schleppten mich meine Eltern durch. Meine Mutter sagte: >Ich hab's dir ja schon immer gesagt!< Die Mädchen in der Schule waren eifersüchtig auf mich, weil mir die Buben nachliefen. Aber ich traute keinem. Ich dachte immer: >Wenn die mich genauer kennen, hängen sie mich doch wieder ab.< Also machte ich immer ganz schnell Schluß mit ihnen. Ich bekam den Ruf, eingebildet und unnahbar zu sein. Mit siebzehn sagte ich mir: >Jetzt ist es aus, ich mach das nicht mehr mit.< Und ich schnitt meine Locken ab, machte mich so häßlich wie möglich. Ich schlief dann später mit Burschen, wenn sie es wollten, mir war alles egal. Vor ein paar Monaten hatte ich eine Abtreibung. Die Eltern setzten mich dann vor die Tür. Jetzt wohne ich in einer WG. Und da sagte mir eine Kollegin, ich könne doch nicht so weitermachen. Ich arbeite als Aushilfe in einem Schuhgeschäft, den ganzen Tag im Magazin. Sonst rauche und trinke ich. Und freue mich nur aufs Schlafen. Ich fühle mich uralt ...«
Das ist, etwas zusammengefaßt, der Inhalt unseres ersten Gesprächs. Ich habe nur zugehört, und Myrta sagte, sie sei froh, daß sie all das einmal habe »auskotzen« können. Myrta war ein verwöhnter Liebling aller gewesen. Es wurde in der Folgezeit deutlich, daß sie gelernt hatte, nichts tun zu müssen, als schön und nett zu sein. »Meine Mutter versuchte immer, meinem Vater zu gefallen, aber sie hatte wenig Erfolg damit«, sagte Myrta einmal, »und er verachtete sie, weil sie dumm war. Ich war wenigstens schön. Meine Dummheit kam später an den Tag.«
Myrta war völlig auf ihre Schönheit fixiert worden. »Es war das einzige, was zählte ...« Mit der Zeit kam jedoch heraus, daß ihr Schulversagen mit dem Beginn ihrer körperlichen Entwicklung zusammenfiel. »Mein Vater schaute mich manchmal so seltsam an«, sagte Myrta eines Tages. Allmählich kristallisierte sich heraus, daß sich ihr Vater wohl mit der Abwendung von seiner Tochter gegen die eigenen Gefühle geschützt hatte. »Ich fühlte mich irgendwie schuldig, aber ich dachte, es sei wegen der Schule«, sagte Myrta. In Wahrheit empfand sie ihre Schönheit als schuldhaft: »Ich sollte schön sein und wurde gleichzeitig dafür bestraft. Wenn ich tanzen
ging, mußte ich mit den Burschen tanzen die mich fragten. Wenn ich es nicht tat, galt ich als hochmütig, und keiner wagte es mehr, mich zu holen. Sie wurden nämlich von ihren Kollegen gehänselt, wenn sie einen Korb >von der Schönen< bekamen. Tanzte ich mit ihnen, ließ ich mir viel an Annäherung gefallen, aus Angst, sie würden mich wieder als hochnäsig anschauen. Ja, aber dann sagten sie, ich sei leicht zu haben, eben >so eine<. Und ich hab mich dann halt auch gerächt. Das war ein Teufelskreis.«
So wurde allmählich das Netz deutlich, in dem sich Myrta verstrickt hatte. Zugrunde lag die problematische Ehe der Eltern, aus der heraus der Vater sich ihr zugewendet und sie als Kind zum Ersatz gemacht hatte. Als Myrta das klar wurde, sagte sie weinend: »jetzt bricht alles zusammen. Mein Vater hat gar nicht mich gemeint. Er hat mich gar nie richtig lieb gehabt. Ich war nur ein Objekt. Und das hat mir den Weg zu meiner Mutter verbaut. Sie mochte mich nicht. Und ich fühlte mich irgendwie schuldig, ohne zu wissen, warum.« Myrta weinte lange. Dann beschloß sie, mit ihrer Mutter zu sprechen.
Es wurde ein sehr offenes Gespräch, nachdem die Mutter zuerst sehr mißtrauisch gewesen war. »Ich ließ aber nicht locker«, sagte Myrta anschließend, »und da sagte mir meine Mutter, sie sei auch stolz auf mich gewesen, auch darauf, daß sie, die eigentlich nicht hübsch sei, eine so schöne Tochter zustande gebracht habe. Aber der Vater habe sie so verletzt, weil er immer wieder gesagt habe, er verstehe nicht, daß sie eine so schöne und herzige Tochter habe hervorbringen können, von ihr habe es die Tochter bestimmt nicht ... Und da habe sie eben negative Gefühle bekommen. Aber sie habe auch Angst gehabt, der Vater könne zu weit gehen. Und da sei sie froh gewesen, daß das mit der Schule passiert sei. Für mich - aber auch für sich selbst.« Myrta erfuhr von der Mutter, daß sie im letzten Jahr angefangen habe, ihren eigenen Wert zu entdecken, und ihn nicht mehr von ihrem Mann bestimmen lassen wolle. »Wir waren beide traurig, daß wir einander verpaßt haben«, erzählte Myrta und wirkte ruhiger und gelassener, selbstsicherer. »Ich sehe Frauen nicht mehr einfach als Rivalinnen und Feindinnen«, sagte sie, »ich habe erstmals eine Freundin. Sie hatte anfangs Angst, mit mir auszugehen, wegen der Burschen. Aber ich habe ihr gesagt, wie schwierig es für mich sei. Das hat sie erstaunt. Und jetzt können wir offen zueinander sein.«
Groß war aber immer noch die Wut auf den Vater, die Verletzung und Enttäuschung. »Ich wollte lieber häßlich sein als schön«, sagte Myrta verzweifelt, »dann wüßte ich vielleicht, wer ich bin. Aber die wollen doch nur Bestätigung über mich. Und ich meine über sie. Das geht nie auf. Ich wollte Bestätigung für meinen Körper und wollte doch, daß sie mich um meinetwillen mochten.« Das war Myrtas innerer Widerspruch. Sie machte sich »häßlich« und wollte dennoch ihre Schönheit entdeckt wissen, die das einzig Wertvolle an ihr war - wie sie gelernt hatte - und wollte gleichzeitig als sie selber entdeckt werden, vereitelte aber diese Entdeckung aus Angst, dann fallengelassen zu werden. »Und so mache ich mich immer wieder zum Objekt und hasse mich gleichzeitig dafür.«
Nach fast einem Jahr versuchte Myrta auch, mit ihrem Vater zu sprechen. »Es war schwierig«, sagte sie, »er wich ständig aus und versuchte, alles als meine Phantasie abzutun.« Und doch lernte sie etwas Entscheidendes aus diesem Gespräch: »Mein Vater war plötzlich nicht mehr so mächtig. Ich sah seine Unsicherheit, seine Angst. Er war nicht mehr der gottgleiche Verleiher von Gunst und Ungunst. Er war ein gewöhnlicher Mann - und mein Vater. Erstmals habe ich eigentlich gemerkt, daß er mein Vater ist, nicht mein Bewunderer und dann mein Verächter.« Damit wurden auch die Gleichaltrigen zu »Menschen«, zu verschiedenartigen Individuen. Sie verstand, daß nicht alle Männer gleich waren. Aber sie hatte immer noch Angst vor einer Freundschaft mit einem Mann.
Dann machte sie eine für sie zunächst verwirrende Erfahrung: Sie begegnete einem sechs Jahre älteren Mann, der vorher eine Freundin gehabt hatte, die als »nicht schön« und »unattraktiv« galt. Und Myrta antwortete seinen Werbungen mit größtem Mißtrauen, vor allem, als er äußerte, er finde sie schön. In einer Auseinandersetzung sagte er ihr: »Was bildest du dir eigentlich ein! Für mich bist du nicht schöner als meine vorige Freundin. Mir hat sie nämlich sehr gefallen, nur daß du's weißt.« - »Ich war so schockiert und beleidigt«, berichtete Myrta, »und da ging mir auf, daß ich meinen Wert eben doch mit meiner Schönheit gleichsetzte. Ich fand es empörend, mit der anderen Frau auf die gleiche Ebene gesetzt zu werden. Meine Reaktion hat mich erschreckt.« Und etwas später: »Da hatte ich nun, was ich wollte, einen Mann, der mich als diejenige nahm, die er gern hatte. Ja, was will ich denn eigentlich?« Die  Situation verschärfte sich. Da sagte Myrtas Freund eines Tages voller Wut: »Die andere Frau sagte mir ständig, ich liebe sie nur aus Mitleid, und du sagst mir, ich liebe gar nicht dich. Du wollest nicht wegen deines Aussehens geliebt sein, aber in Wirklichkeit willst du doch nur meine Bewunderung. Aber ich bewundere dich nicht. Du gefällst mir, ich mag dich gern. Ich lasse mir meine Gefühle von dir weder vorschreiben noch vermiesen.«
Myrta war verzweifelt. Sie kannte sich nicht mehr aus, denn vertraut war ihr nur die Falle ihrer Beziehung zum Vater. Sie fand den Freund hartherzig, fühlte sich unverstanden. Als er deswegen mit in eine Stunde zu mir kam, sagte er zu Myrta: »Ich habe dich einfach gern. Und ich habe keine Lust, meine Gefühle zu erklären. Sie sind da, und du kannst sie annehmen oder nicht. Es tut mir weh, wenn du's nicht tust, aber ich lasse sie mir von dir nicht verdächtig machen. Wenn wir zärtlich miteinander sind, findest du's ja auch schön - nur hinterher machst du alles wieder kaputt. Ich habe versucht, meine Mutter so gern zu haben, wie sie es
wollte, das konnte ich nicht. Aber ich habe alles versucht, jahrelang. Weißt du, erst jetzt begreife ich, daß ich liebe, wie ich es eben kann. Und das lasse ich mir nicht mehr wegnehmen. Schließlich hast du mir zu dieser Erfahrung verholfen.« Myrta wehrte sich
zwar, aber sie begann zu verstehen. Die dreimonatige Abwesenheit ihres Freundes half ihr dabei. Vor seiner Rückkehr sagte sie zu mir: »Ich sah mich immer nur mit den Augen >des Mannes<, so wie ich es eben erfahren hatte. Und ich hatte die Gefühle, die ich mit meinem eigenen Blick auf mich produzierte. Sie haben mit meinem Freund nichts zu tun.«
Myrta erfuhr in unserer Arbeit, wie sie den Blick der »Vater-Männer« auf sich selbst verkörperte und sich dann gegen ihn in Wut und Verletztheit versteifte. Als sie begann, dieses Muster aufzulösen, kam tiefer Schmerz zum Vorschein. Dann fing sie an, Vertrauen zu
sich zu schöpfen. In der letzten Stunde vor der Rückkehr ihres Freundes sagte sie zu mir: »Ich mag meinen Körper, einfach weil ich das bin - Schönheit hin oder her.«
Diese Geschichte zeigt, daß »Schönheit« kein isoliertes Phänomen ist. Sie erscheint hier als »positive Organminderwertigkeit«, um es paradox auszudrücken, und wurde in Myrtas Familie mit der überkommenen Geschichte des weiblichen Objektseins verbunden. Gleichzeitig wird deutlich, daß hinter dem männlichen Anspruch das eigene männliche Minderwertigkeitsgefühl steht - beim Vater und bei vielen Gleichaltrigen. Das führt zu einer mißbrauchenden Liebe. Zuletzt zeigt sich auch, daß Myrta ihre Geschichte verkörperte. Das bedeutet, daß »Schönheit« auch eine Geschichte der Beziehung zu sich selbst ist eine erlernte allerdings - und nicht in erster Linie ein »objektives Phänomen«. Das wurde Myrta durch die Reaktion ihres Freundes sichtbar. Zugleich zeigt sich auch, daß die »positive Organminderwertigkeit Schönheit« nicht weniger beeinträchtigend sein muß als ihr Gegenteil. Genau dies brachte eine vierundzwanzigjährige Frau in einer Frauengruppe folgendermaßen zum Ausdruck:
»Ich war immer die Schöne in der Familie, die schöne Italienerin. Mein Vater bewunderte mich, meine Mutter war gekränkt. Ich bin nur die >schöne Italienerin<. Für mich interessiert sich niemand. Keiner fragt, wer ich als Person bin. Meine Schönheit ist mir im Weg. Auch meine Schwestern sind eifersüchtig. Ich weiß eigentlich gar nicht, wer ich bin.« Sie weinte und drückte ihren heftigen Schmerz aus. Eine andere junge Frau in der Gruppe wirkte sehr betroffen. »Ich bin eben eine solche häßliche Schwester, welche immer die >andere< beneidete. Ich dachte immer, sie müsse doch glücklich sein. Ich erfahre erstmals, wie schwer auch das sein kann, die Schöne zu sein ... Ich bin froh, daß ich dich jetzt gehört habe.« Alle anderen schauten sie erstaunt an, diese hübsche Frau mit dem ausdrucksvollen Gesicht. »Du - die häßliche Schwester?« sagte schließlich eine weitere Frau. »Ja, ich habe mich nie gemocht. Ich habe oft geweint, wenn ich in den Spiegel schaute.« - Alle verstanden in diesem Augenblick, daß »Schönheit« vor allem eine Geschichte ist, eine Geschichte, die von Familien und von der Gesellschaft erzählt, von den Betroffenen übernommen und als Beziehung zu sich selbst verkörpert wird, aber auch eine Geschichte über die Befindlichkeit des anderen, ohne dessen wirkliche Gefühle zu kennen. Wir erfuhren aber auch, daß es möglich war, eine neue Geschichte zu formen, in der es nicht mehr »die Schöne« oder »die Häßliche« gab, sondern eine Frau, die sich entdecken und als sie selbst erleben kann und für die es auch nicht nur den Blick der anderen gibt, sondern viele Menschen, die verschieden reagieren, selbst wenn es Normen gibt, so etwas wie eine kollektive Geschichte der Gesellschaft.
Hier kommt ein weiteres Thema ins Spiel, in dem es nicht nur um Schönheit im engeren Sinn, sondern um »anders sein« geht, um das Herausfallen aus der Norm einer größeren oder kleineren Gruppe. So gibt es Körperbeschaffenheiten, die mit der Norm von »welblich« oder »männlich« verbunden werden. Ich erinnere mich hier an einen jungen Mann, der seit seiner Jugend daran litt, zu breite, das heißt »weibliche« Hüften zu haben, wie sein Vater ihm immer wieder vorsagte, um ihn damit zu entwerten. Die abweichende Form von Körperteilen, die mit Geschlechtlichkeit identifiziert werden, können besonderes Leiden hervorrufen. Ein Mann machte als Knabe die Hölle durch, weil er wegen einer Fimose als Kleinkind beschnitten worden und später in der Schule von Kameraden viele Male gehänselt und ausgelacht worden war, sobald er sich nackt zeigte. Die Form des Gliedes kann zum Problem werden, ob es nun die Umwelt ist, die entsprechend reagiert, oder der betreffende Knabe oder Mann sich im stillen Vergleichen als abweichend empfindet.
Dasselbe gilt bei Frauen und Mädchen für die Form ihrer Brüste oder der Vagina. Eine junge Frau entschloß sich, ihren zu großen Busen operieren zu lassen, obwohl sie nie abfällige Bemerkungen gehört hatte. Niemand konnte sie von ihrem Vorhaben abbringen. »Ich fühle mich wie von einem Bann befreit«, sagte sie nach der Operation. Ich lernte widerstrebend verstehen, daß dies für sie ein Ritual war, das ihr ermöglichte, sich selber anzunehmen. Sie ging sorgfältiger mit sich um und begann sich aufzurichten. »Ich habe erstmals etwas für mich getan«, sagte sie, »obwohl die anderen mich nicht verstehen können.« Das ist entscheidend für mich. Eine andere Frau lernte mit vierzig, ihren Hängebusen zu akzeptieren und erstmals Freude daran zu haben. »Mein Arzt hat mir vorgeschlagen, ihn doch operieren zu lassen. Aber das konnte ich nicht. Ich merkte plötzlich, daß dies mein Busen ist. Und das
war die Wende«, sagte sie.
Der komplexe familiäre und gesellschaftliche Raum bilden also den Erfahrungshintergrund, auf dem wir den Bezug zu unserem Körper auch im Kontext von »Schönheit« herausbilden. Da ist die schöne Schwester oder Mutter, die Konfliktbeziehung der Eltern und auch das Alter, in dem sich die Konfrontation mit dem eigenen Anderssein ereignet. Schönheit und Normgerechtheit stehen oft auch quer zueinander. Die südliche Schönheit wird ausgestoßen, weil sie einer verachteten Minderheit angehört. Rote Haare waren lange eine
Art Organminderwertigkeit, was in unserer hennagefärbten rothaarigen Gesellschaft schon fast in Vergessenheit geraten ist. Die Schönheitsbegriffe sind der Mode und den soziologischen Konstellationen unterworfen, ebenso wie die Zuordnungen von »weiblich« und »männlich« in bezug auf Körperbeschaffenheit, Kleidung und Gebaren. Doch jede Abweichung von dem, was als Norm gilt, kann mit Auslachen oder Ausstoßen beantwortet werden - ob nur innerlich oder auch von außen.
Wir beziehen uns jedoch mit unseren Geschichten nicht nur auf unsere äußere Erscheinung, sondern ebenso auf unser inneres Bild dessen, wie wir aussehen. Dieses Bild formte sich meist aus den Erfahrungen unserer Kindheit und Jugend, bleibt aber oft bis weit ins Erwachsenenalter hinein erhalten. Eine etwa fünfunddreißigjährige Frau sagte in der Therapie im Zusammenhang mit diesem inneren Bild: »Ich sehe ein dickes, schwammiges und häßliches Mädchen vor mir, eines, das niemand mag. Noch jetzt fühle ich mich so.« Ich schaute die sehr gut angezogene, schlanke und hübsche Frau vor mir völlig verblüfft an. »Ich sehe dich ganz anders«, sage ich, und die Frau vor mir nimmt mein ratloses Erstaunen wahr. »Ja, ja, ich weiß, alle sagen mir das. Aber wenn ich durch die Straßen gehe und mich zufällig in einem Schaufenster sehe, finde ich mich immer noch dick und häßlich. Ich sehe das wirklich. Ganz realistisch.«
Diese Frau blickte noch immer gleichsam mit den Augen ihrer Mutter und ihrer Geschwister auf sich. Entsprechende Szenen tauchten auf: »Meine ältere Schwester badete mich jeweils am Samstag in der Waschküche. Sie tat es sehr gehässig, beschimpfte mich und lachte mich aus, weil ich so dick war. Ich wurde zum allgemeinen Gespött. Diese Szene war unausweichlich. Sie wiederholte sich jede Woche. Ich kann die Gefühle, die ich hatte, gar nicht benennen.« Tiefste Verletzung war in den Worten Helgas spürbar. Es wurde deutlich, daß sie sich die Beziehung ihrer Familie zu ihrer Körperhaftigkeit einverleibt hatte. Auch sie selbst schaute sich mit entwertendem Blick an, gab sich innerlich eine Form, durch die sie sich von ihrem Körper trennte: »Ich spüre meinen Körper nicht«, sagte sie. »Ich trage schöne Kleider, um von meinem Körper abzulenken. Aber es ist mir unangenehm, wenn ich durch die Kleider auffalle. Am liebsten ziehe ich mich deshalb sehr dezent an.«
Im inneren Bild der eigenen Gestalt kann sich vieles an schmerzlichen Geschichten aus Kindheit und Jugend verdichten. Nur ein behutsamer Kontakt mit ihm kann Verletzungen heilen und ein neues Bild oder vielmehr eine neue Wahrnehmung entstehen lassen. So erzählte mir eine jüngere Frau, sie sehe vor sich ein schlaksiges Mädchen mit unkoordinierten Gliedern, oben eher zu dünn, aber mit dicken Oberschenkeln. Fettes und unordentlich hängendes Haar. Ein häßliches Gesicht ... Es stellte sich heraus, daß die Mutter sie in der Pubertät massiv entwertet hatte. Als ich die Frau bat, die imaginierte Gestalt zu sein, zog sie sich von der Mitte aus in die Höhe, zog die Schultern hoch und nach vorn, ließ die Brust einfallen und versteifte den Nacken, indem sie den Hals nach hinten
drückte. Das Becken zog sie leicht nach hinten hoch, drückte die Knie durch und hob die Zehen vom Boden. Dadurch entstand eine versteifte Gestalt mit vielfach gebrochenem Energiefluß. Anschließend sagte sie dazu: »Ich fühlte mich so linkisch, ungeschickt und
spröde. Und ich weiß nun, daß ich auch jetzt oft dahin gerate, nur nicht so extrem. Immer dann, wenn mich jemand kritisiert, werde ich wieder zu diesem Mädchen. Ich weiß dann nicht, wohin mit mir. Und ich denke dabei: >Nur nichts anmerken lassen!< Und so kann ich mich überhaupt nicht ausstehen!« Als die Frau die mit dem Bild verbundene Haltung aufzulösen begann, sagte sie: »Ich fühle mich größer werden. Der Raum in mir wird weiter. Ich kann atmen. Mein Hals wird länger. Ich kann dir in die Augen schauen. Nur der Kontakt mit dem Boden ist nicht so sicher.« Nach einer intensiven Standübung sagte sie: »Da stehe ich. Und so bin ich. Und ... und ich gefalle mir eigentlich.« Etwas später erzählte sie: »Wenn ich Fotos von mir aus meiner Kindheit und Jugend anschaute, waren sie mir irgendwie fremd. Ich sah viel hübscher und lebendiger aus, als ich von mir das Gefühl hatte. Jetzt kann ich mir erstmals vorstellen, daß ich das wirklich war!«
Wir tragen nicht nur innere Bilder von uns mit, sondern sprechen auch gleichsam auf einer inneren Bühne mit uns selber. Wir sagen zu uns etwa: Du bist unmöglich. Schau einmal dein Gesicht an. Die lange Nase und deine Haare. Mach kein so häßliches Gesicht ... Vielleicht wird mit der Zeit deutlich, daß wir uns die Stimme von Bezugspersonen aus Kindheit und Jugend einverleibt haben und mit ihr zu uns selber sprechen und Zeit brauchen, um eine liebevollere Sprache für uns selber zu finden. »Fehlende« Schönheit und Schönheit als positive Organminderwertigkeit können also versehrend und beeinträchtigend sein, je nach der Geschichte, die wir aus dem familiären und weiteren sozialen Umfeld mit uns tragen. Zugleich zeigt sich, daß Schönheit nicht
isoliert betrachtet werden kann, sondern einen Aspekt unserer Identität, unserer Beziehung zum eigenen Selbst und zu anderen Menschen darstellt.
Der Satz »Ich bin die Frau, die ich bin«, bedeutet hier, innere und äußere Wahrnehmung zu verbinden, als lebendige Einheit zu erfahren und eine liebevolle Sprache für sich selbst zu finden, ohne sich mit den üblichen Kategorien und Geschichten über Schönheit zu denunzieren. Damit wird der übliche Begriff von Schönheit jedoch auch relativiert, in den unsere Gestalt nicht ohne weiteres hineinpaßt oder hineinzupassen scheint.

Schönheitsrituale als verkörperte Geschichte

Zum Bereich von Schönheit gehören auch die mit ihr verbundenen Rituale, die sich heute zum Teil relativiert haben, jedoch als verkörperte Geschichten der jetzt älteren und mittleren Frauengeneration noch immer bestehen. Früher wurden schon kleine Mädchen schön gekleidet und mit Haarschleifen frisiert und waren dadurch in ihren Spielen viel eingeschränkter als Knaben.[49] Eine sechzigjährige Frau äußerte sich dazu: »Ich empfand mein Mädchensein immer als Behinderung. In unserer Umgebung gab es fast nur Knaben. Und überhaupt, die Mädchenspiele kamen mir langweilig vor. Mein helles Röcklein war immer schmutzig, die Haarschleifen verlor ich ständig. Und jeden Abend hatte ich Krach mit meiner Mutter. Oh, wie haßte ich diese blöden Verkleidungen. Ich genieße es noch heute, daß ich in Hosen herumlaufen kann!«
Doch der große Einschnitt kam meist erst mit der Pubertät. Eine etwa fünfundvierzigjährige Frau schilderte dieses Erleben sehr eindrücklich: »Da durfte man plötzlich keine kurzen Röcke mehr tragen, mußte die Beine stets nahe beisammen halten, durfte nicht mehr breitbeinig sitzen. Es gab damals die steifen Unterröcke und die ganz engen Röcke. Ich stieß mit meinen Bewegungen wie an die Mauern eines Gefängnisses, das aus meiner Kleidung bestand. Meine Mutter gab mir eines Tages einen breiten Strumpfgürtel, damit meine Form nicht auseinanderfalle. Und einen BH mit Bügel. Ich durfte auch keine flachen Schuhe mehr tragen. So würde ich endlich lernen, wie ein Mädchen zu gehen, meinte meine Mutter.
Damals waren auch die aufgesteckten Frisuren Mode. Der Wind wurde damit zum Feind, das schnelle Laufen, ja selbst das Schlafen. Die Schuhe drückten, und unter Qualen ging ich zu meinen Verabredungen mit Burschen. Ich dachte einfach, das müsse so sein. Erstmals haßte ich es, ein Mädchen zu sein. Das Ganze war wie eine Vertreibung aus dem Paradies. >So ist das eben, wenn man kein Kind mehr ist, sondern eine Frau wird<, sagte meine Mutter nur. Heute weiß ich, daß auch sie ihr Frausein als Plage und Einschränkung empfand.«
Das geschilderte Ritual ist jedoch nicht nur etwas Äußerliches. Es beeinflußt die Verkörperung als Mädchen und Frau nachhaltig. Die Frau fuhr in ihrer Darstellung fort: »Ich begann, mich anders zu bewegen. Ich nahm mich zusammen, preßte die Schenkel zusammen, machte kurze Schritte, schränkte überhaupt meine Bewegungen ein. Ich hielt meinen Nacken steif ... Mit der Zeit erstarrte ich förmlich. Sicher nicht nur wegen der Kleidung, aber sie verstärkte das Gefühl, es sei schlimm, eine Frau zu werden. Schließlich wurde mir das alles selbstverständlich. Ich konnte mich auch in lockerer Kleidung oder im Badekleid nicht mehr frei bewegen. Zudem war auch beim Baden immer noch die Frisur, die ich >retten< mußte.« Diese Frau schilderte, wie auch die rituelle Mädchenkleidung und das geforderte Gehabe zu ihrer erstarrten, unfreien Verkörperung als Frau beitrugen. Bei den Körperübungen, die ich mit ihr in der Therapie machte, kamen diese Geschichten zum Vorschein. Sie waren ihrem Körper eingeschrieben. Sie spürte die Kleider und die Frisur noch deutlich, als sie versuchte, »breitspuriger«, ausgreifender zu sein, und hörte die damit verbundenen Botschaften ihrer Mutter und den Druck der gleichaltrigen, sich ebenfalls der Norm anpassenden Kameradinnen und die den jungen Burschen zugeschriebenen Erwartungen an sie.
Jugendliche Mädchen beginnen auch, sich herzurichten und sich zu schminken. Sie stellen sich vor den Spiegel, probieren aus, zeigen einander gegenseitig, »wie es gemacht wird«. Manchmal sind es auch verzweifelte und einsame Versuche, dem eigenen, als häßlich empfundenen Gesicht doch noch etwas abzugewinnen. Mädchen sind in diesem Alter in bezug auf Kritik an ihrem Körper besonders verletzbar, entwerten sich oft selber gnadenlos und beginnen bei jeder Bemerkung von außen, gleich wieder an sich zu zweifeln, da sie sich auf keine ihnen vertraute Identität stützen können. Ich erinnere mich, wie ich nach einem meiner ersten Schminkversuche äußerst zufrieden war und erwartungsvoll in die Stube trat. Da sagte mein Vater lächelnd: »Gehst du zur Fasnacht?« Ich verschwand wortlos und wischte mir mit Zornestränen die Farbe wieder aus dem Gesicht. Mein Vater ahnte nicht, wie tief er mich verletzt hatte, da er mich sicher nicht hatte entwerten wollen.
Eine etwa fünfunddreißigjährige Frau sagte rückblickend: »Meine Mutter legte wenig Wert auf ihr Äußeres. Sie schminkte sich nicht und trug immer dieselben einfachen Kleider. Ich selbst mußte immer noch sehr kindliche Kleider tragen, während meine Freundinnen längst Modisches trugen. >Du kannst noch lange genug erwachsen sein<, sagte meine Mutter und verleugnete vor sich selber hartnäckig, daß ich kein Kind mehr war. Sie erlaubte mir auch nicht, mich zu schminken. Meine Freundinnen belächelten mich mitleidig. Ich fühlte mich so hilflos, weil ich jene Fertigkeit nicht besaß, mich geschmackvoll zu kleiden, mich gut zu frisieren und zu schminken. Vor einem Fest sagten sie zu mir: >Nein, also wirklich, so kannst du nicht kommen. Warte, wir machen dich zurecht!< Sie toupierten mein Haar und steckten es auf, malten mir rote Lippen, puderten mich und malten lange an meinen Augen herum. Dann durfte ich mich im Spiegel anschauen. Ich erschrak. Eine fremde Frau blickte mich an. Ich erkannte mich wirklich kaum. Ich hatte mit diesem Gesicht nichts zu tun. >Lächle doch<, sagten die anderen zu mir. Ich aber saß steif da, wußte nicht, wie ich dreinschauen, noch wie ich mich bewegen sollte. Nichts paßte mehr. Den ganzen Abend fühlte ich mich verloren, obwohl ich bei den Burschen >Erfolg< hatte. «
Die damals Sechzehnjährige konnte die Rolle nicht verkörpern, in die sie sich verkleidet hatte. Sie blieb das unsichere Mädchen, dem die Welt der Gleichaltrigen verschlossen war. Sie erlebte die Diskrepanz durch ihre »Verkleidung« noch deutlicher. »Ich hatte auch plötzlich das Gefühl, wie meine Mutter zu sein, so eckig und ungelenk.« Etwas später sagte die Frau von sich: »Ich habe damals furchtbar gelitten. Vor jedem Fest geriet ich in einen inneren Kampf. Ich versuchte, es den anderen gleichzutun, aber ich sah nie so gut aus wie die. Zumindest meinte ich es. Was die anderen chic machte, sah an mir aus - ja, wie eine schlechte Verkleidung. Aber das Schlimme ist, daß ich diesen körperlichen Kampf auch heute noch spüre, bevor ich ausgehe. Ich fühle mich dann wieder so eckig, schaue mich im Spiegel an und finde meine Haare scheußlich, mein Make-up unpassend ... Ich spüre mich überhaupt nicht mehr. Und ich merke, daß ich dann trotzdem funktioniere, daß ich lächle und flirte. Ich mach das wie Handgriffe, die man eingeübt hat. Aber ich komme mir vor wie eine aufgezogene Puppe. Das Ganze hat mit mir nichts zu tun. ich bin wie außerhalb meiner selbst.«
Die Frau verkörperte noch immer denselben Blick auf sich wie das Mädchen von damals, obschon sie die entsprechenden Rituale längst gelernt hatte. Als es ihr gelang, diese alten Muster aufzulösen, entwickelte sie erstmals einen eigenen Stil und begann, spielerisch mit ihrem Aussehen und Auftreten zu experimentieren. Über ihre Erfahrungen sagte sie: »Ich kann aus mir verschiedene Ichs machen. Das ist lustvoll. Ich habe nicht mehr das Gefühl, eine Fremde zu sein. Ich spüre mich - aber auf verschiedene Weisen. Ich entdecke immer neue Seiten an mir: die Kecke, die Vornehme, die Lustige, die Mädchenhafte.«
Dieses Beispiel zeigt, wie verschiedene Ebenen ineinandergreifen. Zunächst hat diese Frau sich mit der Mutter identifiziert, obwohl sie sich innerlich dagegen auflehnte. Sie erlaubte es sich nicht, »besser« als ihre Mutter zu sein. Zugleich verkörperte sie das kindhafte Mädchen, als das die Mutter sie haben wollte.
Der leibhafte Dialog mit der Mutter spielt oft eine große Rolle. Eine fünfundzwanzigjährige, sehr hübsche Frau brachte es immer noch nicht fertig, sich selbst zu zeigen. Ihre Mutter war eine äußerst elegante Erscheinung, stets Mittelpunkt in Gesellschaften, die die Bewunderung ihrer einzigen Tochter und ihrer Söhne forderte. Umgekehrt entwertete sie die heranwachsende Tochter laufend: »Wie siehst du auch aus! Das steht dir doch nicht! Schminken mußt du dich schon gar nicht!« Die Tochter lernte unbewußt, daß sie die Mutter nicht »überrunden« durfte. Sie blieb im wörtlichen Sinne unscheinbar. Sich schön machen, sich zeigen hat also zunächst - wie die bisherigen Beispiele zeigen - oft etwas mit der Beziehung der Tochter zu ihrer eigenen Mutter zu tun: Ich darf nicht sein wie du. Ich muß sein wie du. Ich muß sein, was du nicht sein konntest. Gleichzeitig geht es auch um die Beziehung zum Vater, dem die Tochter gefallen will, dessen Akzeptanz sie sucht, dessen Bewunderung sie als schuldhaft erlebt oder dessen Gefühle sie zu schonen weiß. In der Familie lernt die Tochter ihre Identität in bezug auf Schönheit und die damit verbundenen Rituale und Rollen. Sich schön machen hat also jeweils einen anderen Kontext und ist deshalb mit verschiedenen Geschichten verbunden: Schön sein ist schuldhaft. Schönheit ist etwas für die anderen. Schönheit ist gefährlich et cetera.
Schon als Mädchen erlernen wir meist die Geschichte, uns »für die Männer« schön zu machen. Wir erzählen uns dabei zudem familiär und gesellschaftlich geprägte Geschichten darüber, was Männer als schön empfinden. Und sehr viele Männer tragen ebenfalls Stereotypen über weibliche Schönheit in sich.[50] Auch hier ist die Grenze zwischen der kreativen Freude, sich zu gestalten, dem Bedürfnis, das Wohlgefallen der Männer zu bekommen, und der Selbstaufgabe und -verleugnung fließend. Es gibt viele Frauen, die sich elegant, »natürlich« oder alternativ zurechtmachen, je nachdem, was für einen Freund sie haben. Oder sie halten an ihrem Make-up-Stil oder ihrer alternativen Aufmachung fest, was immer der für sie wichtige Mann dazu sagt. »Ich gebe mich nicht auf. Ich mache das Theater nicht mit«, behauptet die eine Frau. »Ich bin, wie ich bin, ich brauche keine Schminke«, sagt eine andere. Doch nicht der »Stil« oder die Aufmachung ist das Ausschlaggebende, sondern welche Geschichten und Verkörperungen sich damit verbinden. Die eine Frau bildet ein Muster der Selbstverleugnung, des Sichnicht-Spürens aus, eine andere ein Muster von Trotz, von Rebellion. Immer sind dies auch einschränkende Muster. Umgekehrt können sie in einer bestimmten Phase der Entwicklung hilfreich sein, als Übergang zu einer neuen Möglichkeit, die eine persönliche Geschichte über Schönheit darstellt, wie in einigen der erwähnten Beispiele zum Ausdruck gekommen ist.
Gerade der jugendliche Protest ist für die Elterngeneration auch ein heilsamer Spiegel wenn sie wagt, hineinzublicken. Jugendliche wehren sich gegen den Perfektionisimus mit ihrer Kleidung, oder sie spielen mit ihrem Äußeren, wie beispielsweise die Punks. Sie machen den Verkleidungsaspekt sichtbar, experimentieren damit wenn sie nicht einer Gegennorm verfallen. Die sozialen Normen zum Spiel werden zu lassen ist eine der kreativen Möglichkeiten, die hier dargestellt werden. Es wird mit den Erwartungen des Betrachters gespielt, seine Optik entlarvt und das Schauen selbst thematisiert. Da ist etwa ein Punk-Mädchen, das eine hübsche Mädchenfrisur aufweist. Dann dreht es den Kopf - die andere Seite ist kahlgeschoren!

Lebendige Schönheit

Die bisherigen Gedankengänge und Beispiele bringen uns auf die grundlegende Frage zurück, was denn Schönheit überhaupt sei. Die meisten Menschen machen irgendwann einmal die Erfahrung, daß sie jemanden schön finden können, auch wenn die alten Kategorien sich dieser Erfahrung entgegenstellen. Wir sprechen dann oft von der »Ausstrahlung« eines Menschen. Was ist damit gemeint? Ich möchte versuchen, dies wiederum anhand eines Beispiels zu zeigen:
Ich regte eine Frau an, sich im Spiegel zu betrachten. Es war eine etwa fünfzigjährige Frau. Sie schaute sich lange an, beschrieb, was sie sah, und versteifte sich dabei zusehends. »Das bin ich«, sagte sie schließlich trotzig, »auch wenn ich nicht mehr schön bin, auch wenn ich Runzeln habe und eine schlaffe Haut. Ich bin nun mal älter.« Ich sah, daß die Frau kaum mehr atmete. Nur so konnte sie ihr Spiegelbild überhaupt aushalten. Was war geschehen? Die Frau sah im Spiegel nicht einfach sich selber. Sie sah vor allem eine ältere Frau. Und sie versuchte dazu zu stehen, aber es verschlug ihr den Atem. Sie trotzte den überkommenen Wertungen und übernahm zugleich deren Geschichte: »Schönheit ist gleichzusetzen mit Jugend.« Freilich gibt es eine Schönheit der Jugend, und den Abschied von ihr mögen wir betrauern. Doch ist dies die einzige Bedeutung von Schönheit? Und ist Schönheit ein Maßstab für das eigene Wertsein? Es gibt hier endlose verkrampfte Verteidigungen von Frauen. Und meist machen sie atem-los. Gerade dies konnte ich der Frau deutlich ansehen.
Meine Reflexionen hätten ihr wohl wenig geholfen. Ich schlug ihr deshalb vor, ihre trotzige Verteidigung körperlich zu verstärken und sich dabei weiter im Spiegel anzuschauen und dann diese Verstärkung ganz langsam zu lösen. Während des Lösens kamen der Frau die Tränen. Sie weinte und schaute sich weiter im Spiegel an. Als sie die Augen schließen wollte, bat ich sie, ihr Spiegelbild nicht im Stich zu lassen. Ich hielt ihre Hand, während sie heftig zu schluchzen begann. Sie sah ihr weinendes Gesicht und blieb mit ihm, so wie ich sie ohne Worte begleitete. Nach einer Welle wurde sie ruhiger. Noch immer liefen ihr die Tränen herunter. Langsam und zärtlich wischte sie schließlich ihre Tränen fort. Sonst hatte sie jeweils mit einer heftigen und ungehaltenen Bewegung ihre Augen ausgerieben. Jetzt aber saß sie da und begann plötzlich zu lächeln. Lächelte ihr Spiegelbild an, während ihre Züge weich waren, ihre Hautfarbe die Blässe verlor. Ein staunender Ausdruck kam in ihre Augen: »Das bin ja ich«, sagte sie. »ja, das bin ich! Und das reicht. Ich fühle mich so warm.« Und dann ganz leise: »Du. Ich mag dich.« Diese Frau hatte angefangen, eine liebevolle Beziehung zu sich selbst zu finden, sich von innen her zu spüren und von da her auch anders wahrzunehmen.
Es gibt also eine Schönheit, die aus Lebendigkeit geformt ist und quer durch alle anderen möglichen Kategorien hindurchgeht. Eine der bewegendsten Erfahrungen im Raum der Therapie ist es für mich zu sehen, wie Menschen allmählich ihre Schönheit im Sinne von Lebendigkeit und Ausdrucksfähigkeit entfalten. Sie richten sich aus ihrer geduckten Haltung auf, verhärtete Gesichtszüge werden weicher, der Blick wird wacher, zugewandter, der Stand sicherer und zugleich elastisch. Die ganze »Ausstrahlung« verändert sich - ein anderer leibhafter Dialog mit sich selbst und anderen Menschen wird möglich. Die Kategorie unseres üblichen Schönheitsverständnisses wird gesprengt und zugleich neu gefüllt. Schönheit wird zu lebendiger Form. Von hier aus eröffnet sich noch eine andere Dimension. Wir erfahren heute immer deutlicher und schmerzlicher, daß wir mit unseren technischen Möglichkeiten die Natur verunstalten und ihre Schönheit zerstören. Wenn es uns jedoch möglich ist, unsere eigene lebendige Schönheit zu entfalten, können wir aus ihr heraus verantwortlich auf die Natur eingehen, auf ihre lebendige Schönheit antworten.

Phantom, du bist nicht meinesgleichen oder:
Eine liebevolle Beziehung zu sich selbst finden

Bisher sind wir vielen überkommenen Geschichten nachgegangen, die sich Frauen in unterschiedlichen Varianten und Nuancierungen erzählen. Zum Teil sind diese Geschichten so selbstverständlich geworden wie ein ständig im Hintergrund ertönender »Sound« , einige werden schon kaum mehr oder eben erst neu wahrgenommen. Viele sind schmerzlich bewußt, viele noch ohne Sprache, andere gelten als überwunden... Nicht nur die Vielfalt der Geschichten forderte unsere Aufmerksamkeit, sondern auch die Vielschichtigkeit des Geschichtenerzählens selbst. Doch gibt es noch eine Geschichte, welche die meisten anderen Geschichten in entscheidender Weise »mitfärbt«: Es ist die Liebesgeschichte mit uns selbst als Frauen, die sehr oft eben eine »Unliebesgeschichte« ist und sich in inneren Gesprächen mit uns selbst zeigt: Ich bin keine gute Mutter. - Ich mache alles falsch. - Warum gelingt mir das schon wieder nicht?

 Freilich kennen auch Männer solche Geschichten, doch die welblichen haben oft bestimmte unverkennbare Akzente wie die Ablehnung der eigenen äußeren Erscheinung, Schuldgefühle, das Gefühl, für alle Beziehungen verantwortlich zu sein und dieser Anforderung nicht zu genügen, die Tendenz, sich selbst zugunsten anderer zurückzustellen, eigene Bedürfnisse nicht wahr- oder nicht ernstzunehmen und schließlich auch, sich selbst in der Diskrepanz von innerer Anforderung und entsprechendem Unvermögen nicht gern haben zu können.
Wiederum ist dies nicht eine Geschichte, die sich einfach ausreden läßt, sondern ein vielfach variiertes, leibhaft einschränkendes Muster. Die neue Perspektive könnte hier sein: eine liebe-volle und lebendige Beziehung zu sich selbst zu finden. Diese Perspektive ist auch in den vorangehenden Kapiteln immer wieder angeklungen. Im folgenden werde ich sie weiter entfalten und vertief en.

Es ist eine selbstverständliche, aber weitreichende Feststellung, daß wir unser Gesicht nicht sehen können, es sei denn im Spiegel. Und auch unseren Körper sehen wir nur »von oben«. Viele Menschen unserer Kultur identifizieren sich mit diesem Blick und schauen auch innerlich vom Kopf her auf den Körper hinunter. Da wir unser Gesicht nicht erblicken können, kann das Anschauen im Spiegel den Charakter einer Begegnung bekommen, falls wir uns darauf einzulassen vermögen. [51]
Zunächst hat der Spiegel eine klare soziale Funktion. Er dient dazu, jenes Gesicht herzustellen, mit dem wir nach außen treten. Der Blick in den Spiegel steht also im Spannungsfeld zwischen dem unkontrollierten Gesicht und der »sozialen Maske«. Wenn Sie sich vorstellen, daß Sie am Morgen zu Hause sind - gerade eben aufgestanden, ohne Kontakt zu irgendeinem Menschen - und sich dann vorstellen, daß Sie bald nach außen treten werden, können Sie spüren, wie Sie mit Ihrem Gesicht diese soziale Maske[52] herstellen? Eine jüngere Frau schilderte ihre Erfahrung folgendermaßen:
»Ich saß zunächst einfach so da. Mein Gesicht war wie nach innen gerichtet. Ich ließ meine Backen hängen, mein Kiefer war lose, der Mund leicht geöffnet. Ich fühlte mich nicht ganz wach. Meine Gedanken schweiften umher. Ich mag diesen Zustand, in dem sich Bilder und Gefühle einfach einstellen. Aber ich muß allein sein, sonst fühle ich mich zu verletzlich. Im Übergang zu meinem Tagesgesicht richte ich mich aus meiner Mitte auf, schließe sofort den Mund, presse die Zunge an den Gaumen und gebe damit Druck in den Kopf. Dabei ziehe ich die Augen leicht zusammen. So kann ich >zielgerichtet< denken, mich konzentrieren, aufmerksam sein. Dabei bemerke ich, wie ich den Atem durch das Anheben der Brust leicht anhalte. Das Angespannte der Haltung im ganzen Körper und auch im Gesicht überdecke ich durch ein Lächeln. Ich gebe mir dadurch etwas Freundliches und zugleich Aufgestelltes ... Ich bin gespannter, aber auch weniger verletzlich und kann die Situation einigermaßen kontrollieren und die anderen zugleich freundlich stimmen. Schade, daß es für mich nur ein Entweder/Oder gibt, einen brüsken Übergang zu meinem Tagesgesicht. Ich kann da nichts dosieren. Es ist wie ein Reflex.«
Durch das Erspüren des Übergangs von einem »Gesicht« zum anderen wurde es dieser Frau allmählich möglich, sich aus dem Entweder/Oder zu lösen und ein Spektrum zu formen, so daß ihr Muster sie nicht mehr einfach »überfiel«: »Ich muß nicht immer lächeln, mich nicht stets so gerade aufrichten, um möglichst aufgestellt zu sein. Ich kann meine Kiefer zwischendurch lösen. So kehre ich immer wieder für Momente zu meinem frühmorgendlicchen oder abendlichen Bei-mir-Sein zurück. Das gibt mir das Gefühl von mehr Freiheit.«
Wir »machen« jedoch nicht nur unser Gesicht, sondern auch den Blick, mit dem wir uns im Spiegel anschauen. Dieser Blick vermag uns zu zeigen, wie wir mit uns selber in Beziehung treten. Eine andere Frau äußerte dazu: »Ehrlich gestanden, wunderte ich mich immer, daß andere mich sympathisch finden. Wenn ich mich so im Spiegel anschaute, mochte ich mich eigentlich nicht. Und jetzt wird mir deutlich, daß ich mich eben auch mit einem besonderen Blick anschaue. Es ist verrückt, aber ich glaube, ich habe mir selber noch nie gerade in die Augen geblickt. Ich halte mein Gesicht immer leicht abgedreht und schaue mich aus den Augenwinkeln an. Dabei halte ich den Atem an und atme nur noch ganz oben in der Brust weiter. Damit wird eine kritisierende und entwertende Stimme in mir laut. Sie erinnert
mich jetzt an die Stimme meiner Mutter... je länger ich mich anschaue, desto starrer werde ich. Das hat weniger mit meinem Tagesgesicht als mit dem Blick auf mich selber zu tun. Es wird mir jetzt klar, daß ich mich auch ohne Spiegel oft gleichsam innerlich so anschaue. Es ist genau dieselbe Haltung.«
Wir arbeiteten daraufhin mit diesem Muster. Als die Frau es erstmals wagte, sich im Spiegel gerade in die Augen zu schauen, war sie betroffen und hielt den eigenen Blick nur kurze Zeit aus. Intensive Gefühle und Erinnerungen kamen hoch. Dann schaute sie sich wieder an, ihr Gesicht wurde weicher, ihr Atem vertiefte sich. Ein fast scheues Lächeln erschien. Anschließend sagte sie: »Ich weiß jetzt erstmals, was Intimität ist. Ich fühle mich mir ganz nahe. Es ist für mich schön zu wissen, daß ich mich selbst so anschauen kann - auch ohne Spiegel. Es ist mein Geheimnis mit mir. Diese Erfahrung hilft mir, mich anzunehmen. Auch wenn ich Schutz brauche, muß ich nicht mehr ganz so stolz nach außen treten wie bisher.«
»Sich mit anderen Augen anzuschauen« bedeutet also, eine neue und oft liebevollere - Beziehung zu sich selbst zu finden, sich Halt und Unterstützung zu geben, ohne sich versteifen zu müssen, sich zu schützen, ohne Verkrampfung. Die Verhärtungen der sozialen Maske lösen sich langsam auf. Dies erlaubt es, ein breiteres Spektrum möglicher
Begegnungsformen mit sich und anderen zu bilden, das die jeweilige Situation und die Eigen-art von Begegnungen mit einbeziehen kann.
Mit dem Blick in den Spiegel sind auch die Geschichten verbunden, die wir uns über uns selber erzählen und entsprechend verkörpern: Ich forderte eine dreiunddreißigjährige, sehr hübsche Frau in einer Therapiestunde auf, sich anzuschauen. Sie warf einen Blick in den großen Spiegel, schrie leise auf und bedeckte ihr Gesicht mit den Armen. »Ich kann nicht«, klagte sie. »Ich ertrage es nicht!« »Was erträgst du nicht?« fragte ich. »Diese schreckliche Frau da. Ich will das nicht nochmals erleben.« Sie erzählte mir weinend, daß sie als Jugendliche oft in den Spiegel geschaut habe. »Sie haben mich immer ausgelacht, meine Geschwister und meine Eltern. Ich war die >Unmögliche<. Ich war die Jüngste und allen zuviel. Sie mochten mich nicht, was immer ich tat, um sie umzustimmen, und sie machten es an meinem Aussehen fest. Als Kind hatte ich O-Beine, vorstehende Zähne. Und die dünnen Haare meiner Mutter. Ich schaute mich an und fand, daß sie recht hatten. Dann wurde ich schlaksig, war flach wie ein Brett. Und sie lachten noch mehr. Ich glich wirklich meiner Mutter, die ich häßlich fand. Und mein Vater sagte mir auch, ich sei wie meine Mutter. Er hatte eine Freundin. Und meine Mutter haßte mich wohl auch dafür, daß ich wie sie war. Vielleicht haßte sie sich in mir. Und ich hasse mich auch. Wenn ich mich anschaue, kann ich nur immer sagen: >Wie unmöglich! Sieh doch diese Haare! Und die zu kleinen Augen.< Ich beschimpfe mich dauernd.«
Ich stellte mich hinter die Frau und schaute mit ihr zusammen in den Spiegel. Sie sah sich selber an, verzog schmerzlich ihr Gesicht. Ich hielt sie umfaßt, und unsere Blicke trafen sich im Spiegel. Sie schaute mich erstaunt an. Eine Weile blieb dieser Blickkontakt, dann schaute sie wieder ihre eigene Gestalt, ihr Gesicht an, drehte sich weg. Ich hielt sie weiter um die Schultern und wartete, bis sie wieder meinen Blick im Spiegel suchte. Nach einer Weile kam ein Anflug von Lächeln auf ihr Gesicht. Ich spürte während der ganzen Zeit viel Wärme und Zuneigung für diese Frau. Nach einer Weile wagte sie wieder einen Blick auf sich selbst und konnte ihn etwas länger halten, bevor sie wieder meinen Blick suchte. Lange ging es hin und her. Ich sah und spürte, wie sich die Frau langsam entspannte. Zuletzt trat ich neben sie, brachte mein Gesicht nahe zu dem ihren. So schauten wir zusammen in den Spiegel, und einen Augenblick lang kam etwas beinahe Übermütiges in unsere Gesichter, etwas Spielerisches. Dann drehten wir uns zueinander und schauten uns an.
Es dauerte noch längere Zeit, bis die Frau sich allein im Spiegel anschauen konnte. Eine Woche nach unserer »Spiegelszene« sagte sie zu mir: »Daß du mit mir in den Spiegel geschaut hast, war meine Rettung. Ich erwartete, daß du mich mißbilligend anschauen würdest wie meine Mutter. Und ich war überwältigt, daß du mich so freundlich angeschaut hast. Ich konnte es gar nicht fassen bei dem Anblick, den ich bot. Ich brachte das anfangs irgendwie gar nicht zusammen. Mit der Zeit hat mich dein Blick angesteckt. Weil du mich so freundlich angesehen hast, konnte ich mich erstmals auch besser anschauen. Ich fand mich nicht mehr so schlimm. Ich traue dem zwar immer noch nicht ganz - aber es ist eine Möglichkeit ... Als du dann neben mir standest, warst du wie meine Schwester. Ich hatte die Phantasie, daß wir in den Spiegel schauen und uns entdecken als junge Mädchen. Es war irgendwie lustig und unbeschwert. Ich brauche deinen Blick noch. Sonst halte ich mich nicht aus.« Über meinen »mütterlichen« und »schwesterlichen« Blick lernte diese Frau, sich selbst liebevoller zu begegnen und anders wahrzunehmen.[53]
Wenn wir es wagen, der Begegnung mit uns selber standzuhalten, und dadurch unsere Geschichten an die Oberfläche kommen, berühren wir auch bisher unbekannte, zum Teil verdrängte Seiten unserer selbst. Im Augen-Blick werden sie plötzlich oder allmählich sichtbar.
Während eines Workshops regte ich die Teilnehmerinnen an, am Abend längere Zeit - mindestens zwanzig Minuten - in den Spiegel zu schauen, vielleicht auch mit sich selbst zu sprechen und anschließend das Erlebte aufzuschreiben. Der Text, den eine junge Frau mitbrachte, lautet:

»Wie ein asiatischer Judo-Kämpfer stehe ich vor mir - vielleicht liegt es am kimonoähnlichen Morgenmantel, versuche ich mich zu beruhigen. Ich schaue mir direkt in die Augen, und sehr schnell ertrinke ich in diesen Augen - rundherum löst sich alles auf, nichts scheint mehr zu existieren außer diesen Augen, diesem Blick, der starr ist..., unheimlich ... , ich versuche wegzukommen und betrachte meine Füße, meine Hände, mein Gesicht. Es juckt mich in den Fingern, meine Hautunreinheiten zu betasten, mich zurechtzuzupfen. Doch ich sehe mich ... jedesmal, wenn ich schnell schauen möchte, ob diese Augen mich noch immer anstarren, sind sie da. Selbst wenn ich den Blick senke und den Kopf, habe ich das Gefühl, daß sie mich anstarren. Ich schaue diese Augen an, stelle mich diesem Blick. Warum nur sind sie hart, so abweisend und kalt? Was ist das für eine Frau, was für ein Mensch, der so versteinert dreinschauen muß? Wir sind nicht mehr ineinander verflossen, die Gestalt ist mein Gegenüber, ich betrachte dieses Gesicht und warte auf etwas - eine Antwort - eine Frage - eine Geste..., ich weiß nicht was. Was willst du mir sagen? Mein ganzer Körper wird von einem Schauer durchflossen eine kurze wellenartige Bewegung durchströmt mich. Gleichzeitig glaube ich, daß Tränen in meine Augen schießen, doch merkwürdig ... , mein Gegenüber bleibt tränenlos; der Ausdruck der Augen jedoch ist ein anderer geworden, sie sind voller Trauer, und ich weiß, daß es die Einsamkeit ist, die sie traurig macht - und für dieses Alleinsein gibt es keinen Ausdruck außer diesem tränenlosen Blick. Ich fange an, meine Haare aus der Stirn zu streichen, mich zu berühren, ich muß mich meiner selbst vergewissern. Die Kirchenuhr schlägt halb elf ... Ich nehme es wahr und kann es kaum glauben, daß ich eine volle Viertelstunde dagestanden bin vor meinem Spiegelbild. Und während ich in meinem Bett liege und diese Zeilen aufschreibe, habe ich das Gefühl, als stehe die Gestalt immer noch im Spiegel und warte ..., aber worauf? Vielleicht darauf, daß ich hingehe und sie in meine Arme schließe und ihr den Weg nach Hause zeige.«

Diese Frau vermochte das Befremden auszuhalten, auch wenn es sie ängstigte. Sie kam mit einer Seite von sich in Kontakt, über die sie im Alltag stets hinwegblicken konnte. Der Schluß des Textes zeigt, daß es - wenigstens ahnungsweise - einen Weg vom Befremden zum Befreunden gibt. Dennoch gelingt es uns kaum, unser »wirkliches Gesicht« zu sehen, jenes, das nicht schon vom Wissen um Sehen und Gesehenwerden geprägt ist. Vielleicht ist es in seltenen Augenblicken möglich, wenn wir uns plötzlich und unvorbereitet in einem Spiegel sehen. Ich erinnere mich selbst an eine solche Erfahrung: Ich war eben dreißig Jahre alt geworden und befand mich auf der Hochzeit einer Freundin. Ich hatte den ganzen Abend intensiv getanzt und ging zwischendurch einmal hinaus. Als ich mich zufällig umdrehte, fiel mein Blick in einen Spiegel, den ich vorher gar nicht bemerkt hatte. Es war ein Augenblick totalen Erschreckens. Unvorbereitet sah ich eine Frau, die ich noch nie so gesehen hatte, die mir fremd war und mich gleichzeitig tief und unmittelbar anrührte. Mein eigenes Bild traf mich wie ein Blitz. Ich weiß nicht, wie lange ich mich einfach fassungslos anblickte, unfähig, meinem Gesicht die gewohnte Form wiederzugeben und meinen Blick zu verändern. Mir war, als blicke ich in mich hinein, war betroffen vom Fremdsein und empfand gleichzeitig eine leidenschaftliche Zuneigung, eine Wärme, die ich in der Begegnung mit mir selber sonst nicht kannte. Ich hätte einfach so bleiben mögen, und doch ertrug ich den Anblick nach einer Weile nicht mehr. Ich wandte mich ab, bevor ich fähig gewesen wäre, den Augen-Blick in die mir bekannte Haltung hinein zu verändern ... Ich schlief in dieser Nacht überhaupt nicht. Ich hatte eine Ahnung von Dimensionen in mir selbst bekommen, die ich bisher kaum je berührt
hatte.«
Neben allem sorgfältigen Erspüren unserer eigenen Muster gibt es jene Momente, in denen wir unmittelbar an eine Grenze kommen, die wir durch unser Zutun niemals erreichen können und wo unsere gewohnte »Fassung« verlorengeht, ohne daß wir uns verlieren. Dann wird augenblicksweise eine Dimension unseres Daseins angerührt, in der wir uns nicht aufhalten können und die dennoch trotz ihrer Flüchtigkeit die Beziehung zu uns selber zu verändern vermag. Das Erschrecken oder mindestens ein »Schauder« bleibt uns dabei nicht erspart. Die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff hat das erste mir bekannte Gedicht geschrieben, in dem es um die Begegnung mit dem eigenen Spiegelbild geht, die sehr dramatisch inszeniert wird. Am Ende der ersten Strophe ruft sie aus: »Phantom, du bist nicht meinesgleichen!«
Sie rückt ab und nähert sich wieder, erschrickt und fühlt sich angezogen, je nachdem, mit welchen Aspekten von sich selber sie in Kontakt kommt. Dieses Hin und Her gipfelt nochmals in den Worten: »Es ist gewiß, du bist nicht Ich ...«
Das Gefühl des Fremden in ihr wird ein letztes Mal übermächtig, doch gleichzeitig erscheint dieses Fremde nicht nur als negativ, es sind »Kräfte«, es ist »Leid« und »Lust«. Das Befremden bleibt:

Und dennoch fühl ich wie verwandt
zu deinen Schauern mich gebannt,
und Liebe muß der Furcht sich einen ...

Was es bedeutet, eine liebevolle Begegnung mit sich selbst zu gestalten, zeigte uns eine junge Frau im Rahmen eines Frauen-Workshops. Sie hatte an einem der Abende eine Zeichnung von sich selber gemacht und hielt ihr Erleben in einem Text fest:

»Ich saß vor einem Blatt Papier und ließ die Bilder des Tages durch meinen Kopf gehen. Ich war entschlossen, etwas zu zeichnen, hatte aber keine klare Vorstellung, was ich auf das Papier bringen wollte. Zeichnen ist für mich nicht das Medium, etwas umzusetzen. Meine Hand hielt den Bleistift, der anfing, ein Augenpaar zu zeichnen. Traurige Augen blickten mir entgegen, und daneben entstand ein trauriger Mund, ein trauriges Gesicht. Ich erkannte mich, es war meine Traurigkeit, meine Trauer. Das Gesicht ging über in einen Hals, den ich mit einem dicken Rollkragen versah. Ich betrachtete meine Zeichnung und wußte, etwas stimmt nicht ... ja, die Frau muß einen Körper haben. Ich griff zum Radiergummi und ließ den Rollkragen verschwinden. Ich begann einen Oberkörper zu zeichnen mit zwei Brüsten wie meine, ein bißchen hängend, nicht >comme il faut<, aber weich und schön. Langsam wurde die Frau zu etwas Ganzem. Das Bild war fertig und doch nicht; ja, es war mein >Frausein<, mein >trauriges Kind<, mein >du darfst so sein<. Aber etwas fehlte; wo waren meine sonnige Seite, meine Lebenslust, meine Bewegung? Hinter der ersten Frau entstand meine zweite Frau. Ein feines Lächeln, Augen, die liebevoll und mit Hoffnung in die Welt blicken. Ihre Hände legte sie haltend und zart um meine >traurige Frau<.«

Hier wird bildhaft und kommt zur Sprache, was es bedeutet, liebevoll und behutsam, zart und innig mit sich selber zu sein und sich nicht einer festen Vorstellung über sich zu verschreiben. Die junge Frau machte unserer Gruppe mit ihrem Bild und ihrer Geschichte ein kostbares Geschenk: Der Weg zum Befreunden mit uns selbst erspart uns den Augen-Blick des Be-fremdens nicht. Doch ist der Weg ins Fremde auch gleichzeitig ein Weg »nach Hause« »Ich bin die Frau, die ich bin« - befremdet und befreundet zugleich.