Autobiografische Eintragungen 12 - 15

12.           Durch die alte Platanenallee gehe ich zum Schloß. Vom Teich her grüßt eine Karyatide, eine jener wunderbaren weiblichen Statuen, früher lampentragend, jetzt lichtlos. Über die Rampe, 1800 beim Umbau des Schlosses angelegt, komme ich in die Halle. Imposant, mächtig. Mein Blick fällt auf die wunderbare Eichentreppe, die sich in den ersten Stock windet. Rechts der Sandsteinkamin aus dem siebzehnten Jahrhundert. Gobelinähnliche Stoffe, mit Löchern und Rissen, kleiden die Wände. Durch das Oberlicht fällt der Schein der Sonne auf die Kassettendecke. Ich nähere mich der Treppe. An ihrem Fuße die auslaufende Rundung, barock. Durch eine zweiflügelige Eichentür gelange ich in das rechts von der Halle abgehende Zimmer. Es ist mit blauen Tapeten ausgeschlagen. Ansonsten völlig leer. Die eichenen Fensterläden schließen tadellos, unterstützt von handgeschmiedeten Vorlegestangen. Originale von 1695. Im Nebenzimmer leichtbeschwingte Malerei, klassizistisch. Ein Gedicht aus dem Jahre 1800. Unter der Deckenkehle laufen Messingstangen entlang, Bilder hingen hier, durch bronzene Ösen gehalten, kontrastierend mit der weiß-goldenen Tapete. Das Parkett alt und gut, Gediegenheit ausstrahlend wie der weiße Kachelofen.
Zurück in die Halle. Von hier in den nördlich gelegenen Parterresaal. Gelbe Tapete, in jeder Ecke ein Porzellanofen, verziert mit Kinderplastiken. Klassizistische Gesimse. Eichenpaneel, Parkett, Fenster mit Bajonettverschlüssen. In die Fensterpfeiler eingelassen sind hölzerne Spiegelrahmen aus der Biedermeierzeit. Aus dem vorgelagerten Pavillon führt eine Treppe in den Garten. Gußeisernes Geländer und am Auslauf Lampenkandelaber.
Wieder zurück in den Saal. Links das Zimmer mit roter Tapete. Parkett und Eichenvertäfelung. Eine stumpfe Ecke, ins Parkett eingelassene schwarze und weiße Marmorfliesen erzählen ihre Geschichte: Hier wärmten sich die Schloßbewohner einst am Kamin.
Vom Parterresaal in den ehemaligen Salon. Holzleisten teilen die Wände, die mit alten weinroten Samttapeten ausgeschlagen sind. Ein überwältigender Meißner Kamin -ofen, schlank und turmhoch. Die Feuerstelle, flankiert von zwei Karyatiden, die das prachtvolle Gesims tragen, ist reiner Klassizismus.
Unten in der Halle stehend, gewahre ich unter der Deckenkehle der oberen Etage ein durch Konsolen unterbrochenes Stuckgesims. Der Deckenspiegel - oval eingefaßt von gemalten Girlanden, die Malerei setzt sich fort in der Deckenkehle.
In die Bel-Etage über die Eichentreppe. Zwischen dem ersten und zweiten Absatz fehlt ein Teil des Geländers längs der Wand. Zerhackt von Flüchtlingen, in hungrige Öfen gestopft.
Die Treppe erklommen. Durch die mittlere Tür in den Großen Festsaal. Vier Säulenpaare mit korinthischen Kapitellen tragen die Decke. An den Wänden Pflaster, dazwischen Spiegel, jeweils vis-ä-vis einem Fenster, das hereinfallende Licht reflektierend. Ovaler Deckenspiegel, eingefaßt von einem blumenumrankten Gitter, lichter Sommerhimmel mit kleinen, fetten, getüpfelten Wölkchen. Die vier Ecken der Deckenkehle zieren Freskomalereien: Trophäen von Fahnen, Lanzen, Trommeln.
Vom Saal aus gen Osten: das Kattunzimmer. Das Baumwollgewebe ist abgerissen. Unter der Bespannung eine grün bemalte Holzvertäfelung, in Felder aufgeteilt. Die klassizistisch fächerartig gemalte Decke ist von überwältigender Schönheit. Von der Tür zum Saal fehlt ein Flügel: ebenfalls herausgebrochenes Brennholz.
Der Raum hinter der Bibliothek wüst, die Decke herabgefallen, nasse, verfaulte Trümmer bedecken den Boden. Hier wurde 1772 Prinz Louis Ferdinand von Preußen geboren, sein Bruder August 1779.

Als ich das Schloß zum ersten Mal besichtigte, war der Glanz früherer Jahrhunderte abgebröckelt, eingestürzt, weggetragen, der alte Charme aber, morbide zwar, noch erhalten.
Über die preußisch-militaristischen Traditionen war im Sommer 1945 auf der Potsdamer Konferenz der Siegermächte im Schloß Cäcilienhof schon das Verdikt gesprochen, die staatsrechtliche Auflösung Preußens 1947 durch den Alliierten Kontrollrat nur noch ein postum ausgestellter Totenschein. In der Sowjetischen Besatzungszone ging man mit Akribie an die Arbeit: Die »Aktion gegen Junkerbesitz« sollte auch die steinernen Überreste des adligen Erbes beseitigen.
Schloß Friedrichsfelde, nicht preußischen Ursprungs, sondern 1695 vom Holländer Benjamin Raule zunächst als kleines villenähnliches Lusthaus an der Stelle eines Jagdschlößchens errrichtet, war, als mir die Verwaltung übertragen wurde, in einem üblen Zustand: die Fenster allesamt zerschlagen, die Fensterflügel demoliert, die Türflügel fehlten und das Dach zerlöchert, wund vom Bombenhagel.
Um es auszubessern, holte ich mir mit Zustimmung der Bauern die Dachsteine einiger Scheunen, die abgerissen werden sollten. Mit selbstgefeilten Schlüsseln machte ich die vordere Haustür abschließbar. Dann schraubte ich starke Dielenbretter vor die Terrassentür, um einigermaßen sicher zu sein vor den russischen Soldaten, die durch die Gegend marodierten und deren »Besuch« ich fürchtete. Alles war völlig verdreckt. Da hab' ich erst mal richtig saubergemacht.
Meist arbeitete ich nachts, kletterte im fahlen Licht des Mondes auf dem Dach herum, turnte durch die Zimmer, schraubte, hämmerte und bohrte. Im Schloßpark flanierten am Tage die Berliner, und des Nachts verabredeten sich dort Liebespärchen zum Rendezvous oder, so die Witterung mitspielte, auch zu mehr. Im nahen Dorf flüsterte man sich mit wissender Miene zu, daß es nicht mit rechten Dingen zugehe im Schloß. Da ich mit einem Leuchter durch die Zimmerfluchten ging und mitunter bei Reparaturarbeiten polterte, vermutete man ein Schloßgespenst.

Mit dem Jugendstileßzimmer meines Großonkels zog ich ein; danach kam sein Wohn- und Arbeitszimmer, das ich heute noch besitze, an die Reihe; dann ein kleines Eßzimmer mit Säulenbuffet und die Salonmöbel meiner Nenntante. Und natürlich eine Unmenge an Uhren, Grammophonen, Musikautomaten, Kronleuchtern, Bildern und Möbelstücken: Damit richtete ich nach und nach fünf Zimmer komplett ein. Da es in den hohen Räumen vor Kälte nicht auszuhalten war, zog ich in die warme Stube im Keller des Schlosses, wie es sich für ein Hausmädchen gehört.
Drei Zimmer waren fertig eingerichtet, ich putzte gerade in Kopftuch und Schürze den Blauen Salon, die Fenster standen offen. Der Musikautomat mit den zwölf Glöckchen spielte, die Klänge schallten bis in den Park. Vor dem Fenster hatte sich eine Menschentraube gebildet. Als das Stück zu Ende war, rief einer: »Ach, das war ja hübsch, können Sie das nicht noch mal laufen lassen?« - »Sie dürfen ruhig reinkommen und sich den Musikkasten angucken, die Tür ist offen«, entgegnete ich. Mit einem Mal umringten mich fünfundzwanzig Leute, die sich interessiert umschauten. Ich war völlig perplex. Na, das kann ja heiter werden, dachte ich. Kein Fenster verglast, nichts restauriert, und oben ist Sperlingslust. Außerdem hatte ich doch noch nie eine Führung mit fremden Leuten veranstaltet. Ich zog den Automaten wieder auf, hoffte, er würde die Leute schon zufriedenstellen.
Kaum war der letzte Ton verklungen, klatschten sie, und ein Besucher fragte, ob sie nicht auch die anderen Räume des Schlosses besichtigen könnten. Wir stiegen die alte Holztreppe empor und betraten den Festsaal im ersten Stock. Hier fehlten zwar die Klinken an den Türen, die Fenster waren noch nicht eingesetzt, und Fledermäuse hingen, mit den Köpfen nach unten, an den Stuckgesimsen, aber das störte niemanden. Ich erzählte ihnen von der Geschichte des Festsaales und den Schicksalen der Besitzer. Am Ende des kleinen Rundgangs fragte einer aus der Gruppe: »Das war aber interessant, wo kann man denn hier einen Obulus entrichten?« Auf diese Frage wußte ich nichts Rechtes zu antworten.
In der Halle prunkte auf der Konsole eines Trumeauspiegels eine Majolika-Vase. »Die Vase dort hat einen dicken Bauch, da schmeißen wir was rein«, freute sich eine ältere Dame. Und tatsächlich, alle stellten sich an, die Münzen klimperten, und als ich die Vase im Salon ausleerte, fand ich sechsundachtzig Mark vor. Dafür konnte man damals, vor der Währungsreform, einen Laib Brot kaufen. Nicht viel, dachte ich, aber immerhin, für das bißchen Erzählen.
Am nächsten Sonntag erschienen wiederum Besucher bei mir im Schloß, direkt nach dem Gottesdienst im nahen Gemeindehaus, der um viertel vor elf beendet war. Ich malte eine Papptafel und hängte sie mit einer Kordel an die Klinke: »Schloßführungen jeden Sonntag um elf und um zwölf Uhr. Außer dieser Zeit nach Vereinbarung.« So halte ich es noch heute in meinem Gründerzeitmuseum.

Zunächst wohnte ich allein in der Ruine. Nach ein paar Monaten schauten sich Gutsarbeiter und Flüchtlinge um und fragten, ob sie nicht bei mir einziehen könnten. Was denn die Miete bei mir kosten würde? »Überhaupt nichts«, entgegnete ich, »ihr müßt nur für die entsprechenden Räume Glasscheiben besorgen.« Glas wurde damals noch bewirtschaftet, man kriegte nie so viel, wie man eigentlich brauchte. Alte Röntgenplatten wurden aus dem nahegelegenen Krankenhaus besorgt, abgewaschen und zugeschnitten. Zusätzlich kaufte ich bei Trödel-Kaiser am Schlesischen Bahnhof alte, wertlose Bilder, entfernte die Rahmen, schnitt die Glasscheiben zu und setzte sie in die Unterfenster ein. Die Oberfenster vernagelte ich mit Pappe, füllte zur Isolierung Laub in die Zwischenräume, so daß selbst Schneestürme meiner Konstruktion nichts anhaben konnten.
Die Flüchtlinge und ich waren wie eine Familie. Abends saßen wir zusammen, oft spielte ich Grammophonplatten vor, und wir tanzten.
Doch im Frühjahr 1948 standen urplötzlich ein paar geschäftige Herren von der Treuhandgesellschaft auf der Matte - sowas gab's damals schon. Sie teilten uns in der Treppenhalle lapidar mit, daß wir das Haus zu räumen hätten. Den Familien waren bereits Wohnungen zugewiesen worden. »Habt ihr denn überhaupt Möbel?« fragte ich meine Mitbewohner, die mir so ans Herz gewachsen waren. »Wir sind mit dem Hundewagen gekommen, wir werden mit dem Hundewagen ziehen« war die Antwort. Das ließ ich nicht zu, sondern verschenkte einen Teil meiner Sammlung an die Familien. So war ihnen geholfen und mir: Ich mußte ja binnen drei Tagen das Schloß verlassen und konnte nicht alles mitnehmen. Kurzerhand stellten die Bauarbeiter die Möbel in den Garten, und ich karrte alles mit dem Pferdefuhrwerk nach Mahlsdorf. Natürlich war das ein oder andere Stück, wenn ich von einer Fuhre zurückkehrte, nicht mehr an seinem Platz, aber was konnte ich schon tun?

Als nächstes becircte ich mit weiblicher Schläue den Landrat von Bernau, um den Abriß von Schloß Dahlwitz zu verhindern. Mit zwei Pferdefuhrwerken voller Möbel zog ich in den vom jüdischen Architekten Friedrich Hitzig 1854 erbauten neoklassizistischen Bau.
»Hier müssen Sie raus! Kommt gar nicht in Frage, daß Sie hier ein Museum einrichten. Das wollen wir nicht, und das brauchen wir auch nicht. Das Schloß ist Junkerbesitz, und es wird abgerissen, basta!« erklärte mir der Bürgermeister, nachdem er einen angewiderten Blick auf meine Sammlung geworfen hatte. Unbedarft, wie er war, hielt er sie wohl für Möbel aus einem Schloß und damit für eine Ausgeburt aristokratischer Höllen.
Mit dem Mann war nicht zu reden, da hätte ich auch mit einer Mauer Konversation treiben können. Ich ging zum Landratsamt Bernau - im Nordosten unweit Berlins gelegen -, der maßgeblichen Stelle, und fiel dem Landrat solange auf die Nerven, bis er einer gemeinsamen Besichtigungstour durchs Schloß zustimmte.
Das Wappen an der Terrasse anstarrend, wollte er schon wieder kehrt machen und erklärte: »Wir wollen diese Junkerschlösser alle weghaben, da führt kein Weg dran vorbei.« Ich konterte streng sozialistisch: »Genosse, das gehört doch jetzt alles uns, es ist Volkseigentum, die Junker sind längst enteignet, und wir könnten aus diesem Schloß etwas Nützliches für die Werktätigen machen. Ein Kinderheim zum Beispiel.« Bei dem Wort »Kinderheim« wiegte er bedächtig den Kopf und überlegte laut: »Na ja, ein Kinderheim fehlt uns eigentlich.«
So tummelten sich bald Jungen und Mädchen im Dahlwitzer Schloß. Der klassizistische Stuck freilich wurde abgeklopft. Wenn ich heute dort vorbeiradele, halte ich kurz inne, umrunde einmal mit bedächtigen Schritten das Schloß und wünsche ihm alles Gute.

13.       Seit 1945 spaziere ich häufig im Kleid durch die Gegend. Sicher, in den Wintern ging ich in Hosen und langen Mänteln, aber wenn die Witterung es zuließ, trug ich Kleider.
In solch mädchenhaftem Aufzug lief ich natürlich Gefahr, unsanft von Russen angegangen zu werden. Doch ich hatte Glück: Als mich eines Tages einige Soldaten überwältigt und mein Kleid schon hochgestreift hatten, aber dann doch nicht das fanden, was sie suchten, brachen sie in schallendes Gelächter aus. Einer gab mir einen Klaps auf das Hinterteil, und das war alles - es hätte schlimmer kommen können!
Von seizen der Mahlsdorfer, die mich von Kindesbeinen an kannten, erntete ich wohlwollendes Achselzucken: Na, ist ja ulkig, der läuft eigentlich nur mit Männern durch die Gegend, nie mit Frauen, trägt so altmodische Kleider, ob der wohl schwul ist? Das war alles.
Christinchen, mein alter Schulfreund, mit dem ich im Fummel, vierzehnjährig, der HJ-Streife in die Arme gelaufen war, hatte weniger Dusel. Sie kokettierte gern, stakste oft in Pumps und Sommerkleid, mit Schaumgummibrüsten und Büstenhalter zu Schwulentreffpunkten. Als sie nach Kriegsende am Bahnhof Friedrichshagen in der Nähe der Herrentoilette herumstolzierte, fiel sie fünf Russen in die Hände, die sie offenbar für ein deutsches Fräuleinwunder hielten. »Komm, Frau, schlafen, Mädchen, komm, dawai, dawai!« Christinchen schüttelte ihre blonde Mähne, aber die Russen packten sie am Arm. Sie riß sich los - Kamerad Ruski natürlich mit Hallo hinterher -, lief über die Wiese in Richtung Freilichtbühne und stolperte über einen Baumstumpf. Sie flog in hohem Bogen hin, ihr Täschchen kullerte Gott weiß wohin und sprang auf. In einem solchen Moment denkt eine Tunte ja vor allem an Lippenstift und Spiegel und nicht daran, davonzurennen. Die fünf Russen zerrten Christinchen in eine dunkle Ecke auf eine Parkbank und machten sich über sie her. Letztlich war es ihnen wohl egal, ob Männlein oder Weiblein.
Christinchen heulte sich bei mir aus, hatte Schmerzen, und ich begleitete sie zum Arzt. Der schüttelte den Kopf, stellte aber lediglich eine Entzündung fest.
Christinchen arbeitete viele Jahre als Sekretärin und wurde von den Kolleginnen akzeptiert. Schon 1980 wurde sie berentet und zog zunächst nach West-Berlin, um später dem Mann ihrer Träume nach Westdeutschland zu folgen.

Uhrmacher oder Möbelhändler? Meine Mutter rätselte, was ich denn mal werden solle. Vom Uhrmacherdasein hatte mir schon mein Großonkel abgeraten: »Uhrmacher? Den ganzen Tag mit der Lupe in der Werkstatt sitzen? Wenn du alt bist, kannst du nicht mehr richtig sehen«, sorgte er sich. Als es in den dreißiger Jahren modern wurde, Möbel glatt und klotzig zu bauen, verging mir die Lust darauf, mein Leben mit Mobiliar zu verbringen, das nicht aus der Gründerzeit stammte. Also wurde ich nach dem Krieg eine Art Dienstmädchen, bis meine Mutter mich beiseite nahm: »So geht es nicht weiter, du mußt was Richtiges lernen.« Da die Musikstücke auf meinen Edison-Walzen oft in englisch angesagt wurden, interessierte mich diese Sprache. Ich besuchte Kurse und legte 1949 mein Dolmetscherexamen ab. So hatte ich doch noch etwas »Richtiges« gelernt, bevor ich meine Ausbildung als Museumskonservator begann.

Der Winter 1948/49 war barbarisch kalt. Die unbeheizten Räume der Sprachschule, in denen wir mit klammen Fingern kaum schreiben konnten, vertauschten wir mit der herrschaftlichen Altbauwohnung meiner Mitschülerin Mechthild. Jeder Schüler mußte zu jeder Unterrichtsstunde eine Preßkohle mitbringen, damit der kleine Notofen beheizt werden konnte. Den Mantel behielten wir dennoch an. Mechthilds beste Freundin war Uschi Dressler, Tochter des Malers August-Wilhelm Dressler. Quirlig wie ein Schneebesen, dazu bunt gekleidet, war sie ganz Bohemien, und hatte, dem Künstlerkindklischee entsprechend, nie Geld in der Tasche. Mit schelmischen Augen schaute sie mich aus ihrem hübschen ovalen Gesicht an und begrüßte mich mit großer Schauspielergeste: »Ah, Lotharchen!«

August-Wilhelm Dressler, nicht sehr groß, untersetzt, grauhaarig, betrachtete sich interessiert meine nackten Beine, als ich in kurzen Hosen sein Atelier betrat, um seine Kaminuhr zu reparieren. Bilder von dicken nackten Frauen hingen an den Staffeleien - wegen seiner expressionistischen Malerei war Dressler unter den Nazis verfemt. »Hast du nicht Lust, für zehn Mark in der Stunde Modell zu stehen?« lockte er mich.
Nach einem ersten Schreck fand ich Gefallen an der Idee. Warum eigentlich nicht? Ich war zwar schüchtern, aber nicht prüde. Außerdem reizte mich das Geld. Grammophonplatten kosteten nur fünfzig Pfennige, eine Bluse drei Mark fünfzig, ein neuer schöner Damenrock fünf Mark. Für acht Mark fünfzig konnte ich einen Sommer lang schmuck aussehen.
Hübsch bin ich ja, ging es mir durch den Kopf, und ich schaute in den riesigen, oben abgerundeten Spiegel, während ich nackt posierte und die Studenten und Studentinnen aus Dresslers Malklasse mein auf dem Hocker angewinkeltes Bein malten. Wurde es mir langweilig, betrachtete ich mir die schönen sprossengeteilten Fenster und die Biedermeiermöbel, die im Atelier herumstanden.

14.        Eigentlich bin ich ein Einzelgänger, war es schon immer. Mein Hausfrauendasein, meine Möbel und später das Herumpusseln in meinem Museum, das hat mir fast genügt. Aber eben nur fast: Sexualität läßt sich ja nicht unterdrücken, warum sollte man es auch?
1949 ging ich das erste Mal auf eine »Klappe«, eine öffentliche Männertoilette. Irgendjemand hatte mich ermuntert, geh doch mal dahin, am besten auf eine im Park, da stehen viele Männer. Such dir einen aus!
Zu jener Zeit konnte man nicht inserieren, eine schwule Subkultur mit Bars existierte nicht - was sollte man also tun, wenn man nicht wie ein Mönch leben wollte? Und das wollte ich unter keinen Umständen!
Mit arg gemischten Gefühlen betrat ich die Toilette am S-Bahnhof Bellevue. Ich wollte zunächst wirklich »nur mal gucken«, aber die Atmosphäre machte mich an. Viele Sprüche waren auf die Kacheln geschrieben, wer wen sucht und für was. Da dämmerte es mir erstmals: Hier kann man auch Freunde für länger kennenlernen.
»Ach Gott, was bist du denn für ein süßes Ding!« Der ältere Mann, der die Klappe betreten hatte, schaute mich freundlich an. Wir setzten uns draußen auf eine Bank und sprachen miteinander. Immer war es mir wichtig, herauszufinden, was für ein Menschenkind ich vor mir hatte. Kann ich Vertrauen haben? Ob die Männer jung oder alt waren, hübsch oder nicht so hübsch, das spielte für mich keine Bolle. Durch meine ausgeprägte weibliche Zurückhaltung und Schüchternheit - ich ging beileibe nicht mit jedem - bin ich vielleicht auch Gefahren aus dem Wege gegangen.
Es war eine herrliche Nacht mit meiner ersten Klappenbekanntschaft, und am nächsten Morgen nach dem Frühstück drückte er meinen Arm: »Also Schätzchen, so etwas Reizendes wie dich habe ich noch nie gehabt. Du bist der erste Mensch, der nicht gleich nach Zigaretten fragt oder nach Geld.«
Es war kurz nach der Währungsreform, und er wollte mir tatsächlich zwanzig Mark geben, aber ich wies seine Offerte erstaunt zurück: »Nein, nein, behalte die mal, ich habe ja schließlich auch meine Freude gehabt.« Er schien perplex, jemanden gefunden zu haben, der aus Freundschaft und Liebe eine Nacht mit ihm verbrachte.
Mit zweiundzwanzig lernte ich ein recht maskulines Mädchen kennen, das rauflustige Züge wie ein Preisboxer hatte und mich irgendwie faszinierte. Zwar interessierte sie mich erotisch nicht besonders, aber mir gefielen ihre kurzen Lederhosen, in denen sie durch die Gegend lief. Eines Tages drohte das dralle Fräulein scheinbar scherzhaft: »Du bist ja wie ein Mädchen! Dir heb' ich mal die Röcke hoch und werd' dich vergewaltigen.« Ich nahm sie nicht ernst, aber als wir ein paar Tage später allein in der Wohnung ihrer Eltern waren, packte sie mich, warf mich aufs Bett, nestelte an meinen kurzen Hosen herum und riß sie herunter, die Schuhe flogen in die Ecke - sie vollführte einen irrsinnigen Ritt auf mir, kniff mir in die Brüste, packte mich an den Armen, so daß ich das Gefühl hatte, ich wäre die Frau und sie der Kerl.
Mit einer passiven Frau hätte ich weder über noch unter mir etwas anfangen können, aber mit der sexuell aktiven Hertha, so hieß die schwulenliebende Amazone, ging die Chose. Nachher kriegte ich einen Riesenschreck, dachte: 0 Gott, was ist, wenn sie jetzt ein Kind von dir kriegt? Wie dämlich ich damals noch war, zeigte sich eine Woche später, als wir allein in ihrem Elternhaus saßen, sie mich anschaute und fragte: »Na, Lotharchen, du guckst ja so traurig, was ist denn los?« - »Ach Hertha, ich gucke auf deinen Bauch. Ich glaube, er ist schon ein bißchen dicker als vergangene Woche.« Ich glaubte tatsächlich, sie sei schwanger! Hertha kugelte sich fast vor Lachen: »Lotharchen, jetzt muß ich dich doch mal richtig aufklären, das dauert ein dreiviertel Jahr. Außerdem kann ich gar nicht mehr schwanger werden.« Das verblüffte mich nun doch, aber sie trampelte zu einem Vertikow, zog den Schubkasten hervor und kam mit einem medizinischen Gutachten, das ihre Behauptung bewies.
Das war mein erster Ausflug in die Heterowelt, und er hat mich doch eher verschreckt.

Anfang der fünfziger Jahre lernte ich einen Kunstmaler kennen. Seine Landschaftsbilder erhielten die auf der Rennbahn Hoppegarten siegreichen Jockeys. Da die Preise auch in den Vitrinen von Hoppegarten ausgestellt wurden, benötigte er Bilderrahmen. Und die hatte ich zur Genüge.
Zu dieser Zeit verdingte sich der kaiserliche Offizier Herbert von Zitzenau, früher selbst aktiver Reiter, als Abwieger und Richter in Hoppegarten. Eines Tages blieb er vor den Vitrinen stehen und stieß den Kunstmaler an: »Mensch, wo haben Sie denn bloß immer diese schönen, alten Rahmen her? So etwas gibt es doch heute gar nicht mehr.« - »In Mahlsdorf lebt ein junger Mann, der sammelt solch alten Kram«, entgegnete der Maler, und Zitzenau beschloß aufgeräumt: »Den muß ich kennenlernen, ich hab' doch auch noch so viel altes Zeug auf dem Boden.«
Er hatte uns zum Tee bestellt, und ich war ganz aufgeregt: Herr von Zitzenau, Herrenreiter mit Villa in Karlshorst - ich dachte natürlich sofort an eine Gründerzeitvilla mit mindestens zwölf Zimmern. Und so machte ich mich so hübsch, wie ich konnte: kurze Hosen, himmelblaues Blüschen und das Haar schön aufgelockt. Vom Bahnhof Karlshorst schon ein Stückchen entfernt, beschlich mich ein komisches Gefühl: Mein Gott, das wird hier ja immer einfacher! Das Trottoir führte nicht zu einem schmiedeeisernen Gitter, sondern ging in einen Sandweg über. Hier konnte nichts mehr kommen, ade, Gründerzeitvilla.
Endlich standen wir vor einem Gartengrundstück mit einem schlichten Einfamilienhaus, 1926 erbaut. Weder Freitreppe noch sonst irgend etwas Hochherrschaftliches, der Drahtzaun schon völlig verrostet, so daß man den Eindruck gewann, nur der wilde Flieder, der ihn umrankte, halte ihn zusammen. Der Briefkasten preußisch schlicht: Holz mit eingeritztem Namensschild.
Auf unser Klingeln erschien auf der Seitentreppe ein einarmiger Mann, alt, jedoch groß und kräftig. Er begrüßte uns freundlich, aber ohne Zeremonie. Ich war ein wenig enttäuscht und wohl auch befangen.
Er erzählte von früher und führte mich durch das Haus, das er selbst nur zum Teil bewohnte; in den meisten Zimmern hausten Untermieter. Ich bemerkte die verschmutzten Teppiche und Läufer, und Zitzenau, mein Blick war ihm nicht entgangen, meinte verlegen: »Na ja, ich habe hier zwar eine Sängerin wohnen und 'ne Schauspielerin, aber die Fußböden dürfen Sie sich nicht angucken. Diese Weiber sind alle sehr schön, aber sauber macht von denen keine.«
Der stattliche Herrenreiter war mir inzwischen sympathisch geworden, meine Putzader getroffen, und so bot ich mich als Haushaltshilfe an. Gut bezahlen konnte er nicht, er bezog nur Mindestrente, und für seine Kriegsverletzung zahlte ihm der DDR-Staat keinen Pfennig, aber gegen ein geringes Entgelt und Naturalien - vor allem das »Gerümpel«, das auf dem Speicher stand: alte Kronleuchter, Gläser oder Bilder - fing ich bei ihm als Stubenmädchen an. Und im Nu waren die Zimmer picobello sauber.
Meinen Hauptlebensunterhalt bestritt ich als Mitarbeiter des Märkischen Museums. Jahrelang, von 1949 an, schippte ich Schutt aus diesem Museum, zunächst als freier Mitarbeiter. »Wissen Sie«, nahm mich eines Tages der Museumsleiter, der von mir sehr verehrte Professor Dr. Walter Stengel, beiseite, »Sie sind fürs Museum geboren, und in drei Jahren sind Sie Konservator, von der Pieke auf.« So kam es denn auch. Ich ordnete das Depot und restaurierte Musikapparate. Ich nahm Uhren auseinander und setzte sie wieder zusammen, wie ich es bei dem alten Uhrmacher in Köpenick gelernt hatte, als ich zehn war. »Die drei Mark fünfzig für die Reparatur kannste dir sparen«, begrüßte er mich, als ich mit einem kaputten Regulator zu ihm kam. »Komm mal, Jungeken, ich zeig dir, wie das geht, an deiner Uhr ist doch alles in Ordnung. Nur die Pendelfeder ergänzen, reinigen, ölen.« Gesagt, getan, und diese Uhr läuft heute noch.
Zwischenzeitlich schloß das Märkische Museum mit mir einen festen Honorarvertrag. Bis 1971: Ich war zu einer Party eingeladen, warf mich in irgendeinen Fummel, setzte eine Perücke auf und machte mir einen vergnüglichen Abend. Auch jemand aus der Theaterabteilung des Märkischen Museums feierte mit, ein herzensguter Mensch, und kurz darauf erzählte er in der Frühstückspause unseren Kollegen von seinem »exotischen« Erlebnis: »Ach, unser Lottchen sah so süß aus auf der Party mit Perücke, blauem Keid und Halskette.«
Was harmlos gemeint war, hatte unangenehme Folgen, denn ein anderer Kollege denunzierte mich. Wenige Tage später wurde ich direkt nach Arbeitsbeginn zum stellvertretenden Direktor, dem SED-Genossen Manfred Maurer, bestellt. Er saß hinter seinem Schreibtisch und sagte maliziös: »Kollege Berfelde, nehmen Sie Platz.« Na, argwöhnte ich, hier ist doch 'ne Zigarre im Busch, das kann doch nichts Gutes bedeuten. Eigentlich hätten sie mir dankbar sein müssen, da ich oft viel länger arbeitete, als ich mußte, Fenster putzte und saubermachte.
»Sie sollen am letzten Wochenende in Frauenkleidern auf einer Party gewesen sein.« Vor dem Wort »Frauenkleidern« machte er eine kurze Pause, offenbar vor innerer Empörung nach Luft ringend. Der Ekel war ihm förmlich an der Stimme anzuhören, er sprach das ominöse Wort nicht einfach so hin. Er erbrach es.
Innerlich fuchste mich das ungemein - was geht das Museum schließlich mein Privatleben an? -, aber nach außen blieb ich freundlich: »Aber ja, da haben Sie richtig gehört, ich hatte ein himmelblaues Kleid an, eine goldblonde Perücke auf, eine Perlenkette um den Hals und habe mich prächtig amüsiert.« Genosse Maurer hüstelte verlegen: »Ja ja, die neuen Gesetze seit 1969, aber Sie dürfen nicht vergessen, daß Sie in einem städtischen Institut arbeiten.« - »Wissen Sie«, fuhr ich ungezwungen fort, »ob ich nun in Hosen oder im Kleid auf der Straße rumlaufe, ist völlig egal. Wer nicht ganz dämlich ist, sieht schon dreißig Meter gegen den Wind, daß ich eigentlich ein weibliches Wesen bin.«
Ich wurde nicht sofort entlassen, o nein. Man wandte sehr viel subtilere Mittel an, mich zu vergraulen. Das Kesseltreiben begann damit, daß man mich hinter vorgehaltener Hand »Gänseliesel aus Mahlsdorf« nannte, weil ich zu jener Zeit nachts auf einem Gutshof Schweine, Enten und Gänse hütete.
Als nächstes untersagte mir die Museumsleitung, Führungen in kurzen Hosen vorzunehmen. Angeblich hatten sich Frauen über meinen Aufzug bei der Direktion beschwert: Bekommt der junge Mann, der die Musik vorspielt, so wenig Geld, daß er sich nicht mal eine lange Hose kaufen kann? War natürlich alles Quatsch! Ich weiß von der Sekretärin, daß solche Beschwerden nie eingegangen sind. Solch spießige Klagen wären auch völlig absurd gewesen - damals waren kurze Hosen modern, Frauen liefen in ihren Hot-Pans durch die Gegend, daß die Arschbacken nur so knackten -, und ich dachte: Okay, wenn sie dir jetzt so kommen, können sie ihren Dreck alleene machen.
Da mein Honorarvertrag immer auf ein Jahr befristet wurde, wartete ich den 31. März 1971 ab, und -ich hatte es schon geahnt - er wurde nicht verlängert.
In der Musikmaschinenabteilung des Museums arbeiteten zwar rührige Menschen, aber sie hatten nur eine sehr begrenzte Kenntnis davon, wie die empfindlichen Musikwerke zu warten und vor allen Dingen zu reparieren waren. Ein achtundzwanzig Instrumente imitierendes Orchestrion, pneumatisch funktionierend, die Mechanik aller Instrumente und eine Notenrolle im Gehäuse, stellte das Prunkstück der Sammlung dar. Und, als wollte es sich an der bornierten Museumsleitung rächen, ein halbes Jahr nach meiner Entlassung gab es seinen Geist auf. Nun dackelten die Herren vom Museum wieder zu mir, faselten etwas von einem Vertrag als Aufseher, waren natürlich nur darauf erpicht, daß ich ihnen ihre Hauptattraktion wieder billig in Gang setzte. Ich lehnte ab, und sie kamen nicht umhin, zwei Mechaniker aus Köpenick zu holen. Die besahen sich ratlos das Orchestrion und gestanden zerknirscht ein: »Wissen Sie, wir können die Mechanik reparieren, nicht aber die Pneumatik.« So mußte das Museum einen Orgelbauer aus Leipzig hinzuziehen, der den Apparat komplett auseinandernahm. Ein halbes Jahr werkelten sie zu dritt vor sich hin: Insgesamt verschlang die Reparatur elftausend Mark. Bei mir, und dabei kann ich mir ein leises Lächeln nicht verkneifen, hätte der Druckausgleich, das Reinigen und das Nachstellen der Ventile sechzig Mark gekostet. Das geschieht euch recht, ihr Idioten, dachte ich.

Aber zurück zu meinen Erlebnissen mit dem Karlshorster Herrenreiter Zitzenau: Wie viele Frauen wollte ich erobert werden. Und Zitzenau, einerseits Kavalier alter Schule, andererseits charmanter Wüstling mit der humorig-witzigen Stimme eines preußischen Offiziers, schaffte es. Eines Tages war ein Gewitter in Anzug, ärgerlicherweise hatte ich gerade Fenster geputzt, und guckte durch die blanken Scheiben. Von Westen zog eine schwarze Gewitterwand heran, so daß Zitzenau meinte, ich solle dableiben, da ich den Weg bis zur Straßenbahnhaltestelle nicht mehr schaffe. Und während ich noch unentschlossen zum Fenster hinausschaute, die Radfahrer sich bereits das Cape über den Kopf zogen und die ersten Regenstöße losgingen, stand Zitzenau plötzlich hinter mir und griff mir zwischen die Hinterbacken. Ein erotischer Blitz durchzuckte mich, und was folgte, war eine klassische Verführung.
So begann unsere intime Freundschaft. Daß er über sechzig war, interessierte mich nicht. Ich hatte schon immer ein Faible für ältere Männer, und bei ihm fühlte ich mich beschützt. Was kann eine Frau sich mehr wünschen? Oft gingen wir gemeinsam auf die Rennbahn Hoppegarten, wo die Musiker auf meinen Wunsch hin meine Lieblingsstücke spielten - die »Amboß-Polka« oder den Walzer »Über den Wellen« von Juventino Rosas. Das Publikum, den Musikern heftig applaudierend, ahnte nicht, daß die fröhliche blonde junge Dame im altmodischen Sommerkleid in Wirklichkeit ein junger Mann war. Kleider machen eben Damen, wenn man die Figur hat - und die hatte ich. Einmal flötete eine »wirkliche« Dame neidisch, wo ich mir mein Kleid habe schneidern lassen. An die Brüstung des Musikpavillons gelehnt, gab ich bereitwillig Auskunft: »Beim Trödler gekauft.« Da lachte sie aus vollem Halse, drohte mir allerdings mit dem Finger, als hätte ich mit ihr üblen Schabernack getrieben. Verwundert sah ich ihr hinterher.
1957 erlitt Zitzenau einen Herzinfarkt, und er selbst machte sich im Sankt Hedwig-Krankenhaus über sein Ende keine Illusionen: »Hier komme ich nicht mehr heraus.« Ich versuchte noch, ihn aufzumuntern, aber er winkte, müde und matt, ab. Wenige Tage darauf starb er.
Fünf Jahre waren wir zusammengewesen. Beileibe nicht treu, nein, Zitzenau hatte mich regelrecht ermuntert, andere Männer kennenzulernen.
Ich suchte wieder häufiger öffentliche Toiletten auf, lernte diesen und jenen kennen, zu einigen faßte ich Vertrauen, so daß sich Freundschaften entwickelten, die - wenn meine Verehrer im Westen wohnten - bis zum Mauerbau hielten.

14.            Zum ersten Mal betrat ich ein schwules Lokal. Westberliner Freunde nahmen mich mit, allein hätte ich mich nicht getraut, und ermunterten mich: »Lottchen, da brauchst du keine Angst zu haben.« Ich schwuchtelte im Kleid mit.
Vor der kleinen Treppe zur Lokaltür war ein Gitterchen angebracht, wir klingelten und wurden eingelassen. Drinnen bot sich ein bizarres Bild: ein altes braunes Rückbuffet aus der Jahrhundertwende, stark angeräuchert, davor die flache Theke. Die linke Seite der Kneipenwand zierte ein Bild aus dem Berlin, wie es früher war - eine Häuserzeile mit Gaslaternen und Torbogen. An der stuckverzierten Decke hing an einem Haken ein uralter Kronleuchter. Alles mutete wie 1900 an. Doch auf den durchgesessenen Polstersesseln, deren ursprüngliche Farben, weil verblichen, nicht mehr auszumachen waren, lebte man ganz im Hier und Jetzt: Halbnackte Jungs, oft im Fummel oder in einem fast durchsichtigen zauberhaften Nichts, saßen auf den Schössen ihrer Begleiter. Alles schnatterte wild durcheinander. In diesem kunterbunten Gewusel aber gab es einen ruhenden Fels: die Wirtin.
»Na, nu hör bloß uff«, berlinerte sie durch ihr Lokal, knuffte einen Gast, der »Kappes« erzählt hatte und stapfte in ihrer ausladenden Motorradjacke wieder hinter den Tresen. Die hat ihren Laden im Griff, dachte ich, als ich in der ältesten Szenekneipe am Görlitzer Bahnhof stand: Elli's Bierbar.
Elli, burschikos und resolut, musterte mich aufmerksam, als ich schüchtern einen Saft bestellte. »Mensch, Schätzchen, haste dich hübsch gemacht«, schäkerte sie mich an.
Ich mochte ihre männlich-herbe Art und sie wohl meine weiblich-zurückhaltende. Denn als ich das nächste Mal die Kneipe besuchte, zur Abwechslung im Dirndlkleid, hob sie mich hoch, setzte mich auf die Theke und lachte: »Du bist meine Zierpuppe.«
Hinter einem Torbogen befand sich ein schmaler Hinterraum, in dem die Toiletten lagen. »Andere Tür« wurde oft gerufen, wenn die Transvestiten in ihren Kleidchen den Knauf zur Herrentoilette drückten.
»Ein bißchen bi schadet nie«, schmunzelte Elli und faßte mir unter den Rock. Zwar war sie Lesbe, ihre Freundin kellnerte im Lokal, aber so genau nahm Elli es nicht, wie ich aus eigener Erfahrung weiß...
Im Hinterzimmer fanden gelegentlich kleine Sado-Maso-Parties statt. Wurde jemand über den Tisch gelegt und Elli machte Anstalten, ihm eine zu verpassen, ahnten wir: Wenn Elli zuschlägt, knallt es nicht nur, sondern brennt auch. Meist gaben wir uns jedoch harmloseren Vergnügungen hin.
An einem Wochenende war Ringelpietz mit Anfassen angesagt, denn Elli hatte sich einen neuen Musikboxplattenspieler angeschafft. Eine Unmenge Schwule und Lesben drängten sich in der Kneipe, aber als der Tanz losgehen sollte, versagte das Ding. Elli bestürmte mich: »Mensch, Lottchen, guck doch da mal rein, du verstehst dich doch auf Musikmaschinen.« Als ich den Deckel abgehoben hatte und Drähte, Strippen, Lämpchen und was nicht alles sah, hob ich nur abwehrend die Hände: »Kinder, hier gucke ich rein wie die Kuh ins Uhrwerk. Das wird nie was.« Die ganze Tanzerei drohte schon ins Wasser zu fallen, als jemand vorschlug: »Na, Lottchen, kannste nicht dein Grammophon holen?« Na, das war 'ne Sache. Irgendwer fuhr mit seinem Auto vor, und wir zuckelten los. Ich holte Grammophon und Platten.
Der große Messingtrichter dröhnte auf Ellis Theke, alle hopsten durch die Bar, und ich kam zu meinem ersten Auftritt: Ich kannte die Liedtexte auswendig, und wenn die alten Platten zu sehr kratzten, sprang ich mit meiner Stimme ein. Von nun an stand ich regelmäßig an den Wochenenden in meinem Kleid oder meinen kurzen Cordsamthosen, dunkelblau oder schwarz, bei Hertie in Neukölln für sechs Mark billig gekauft, am Grammophon. Um mich herum Schwule im krachledernen Bayernlook oder in den damals gerade aufkommenden engen Jeanshosen. Elli versorgte mich in den Pausen mit Saft und Essen, schenkte mir sogar Gürtel und Schuhe: »Kiek doch mal, det kannste doch jut zu deinem Kleid anziehen.«

1961 war alles über Nacht vorbei. »Zur Unterbindung der feindlichen Tätigkeiten der revanchistischen und militaristischen Kräfte Westdeutschlands und Westberlins«, so hieß es im Beschluß des DDR-Ministerrates am 12. August 1961, »wird eine solche Kontrolle an den Grenzen der Deutschen Demokratischen Republik einschließlich der Grenze zu den Westsektoren von Groß-Berlin eingeführt, wie sie an den Grenzen jedes souveränen Staates üblich ist.«
In Moskau hatte man sich entschlossen, das »Ausbluten« des wichtigen Frontstaates dadurch zu verhindern, daß man die Bevölkerung einfach einsperrte. Hatten wir die Gründung des Staates DDR 1949 noch mit einem Achselzucken hingenommen - es tangierte uns einfach nicht -, waren die Folgen nun einschneidend. Überspitzt formuliert, waren wir die letzten Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges, die letzten Opfer des Hitler-Faschismus, ohne den - man vergißt es gar zu leicht - es eine Mauer mit Wachtürmen und Stacheldraht nie gegeben hätte.
Auf der vorderen Plattform des Straßenbahnwagens redeten die Leute am folgenden Tag wild durcheinander: »Mensch, die machen die Grenzen dicht, fahren mit Panzern auf und ab und bauen eine Mauer.« - »So schlimm wird's schon nicht sein«, warf ein anderer ein. »Das mit der Mauer dauert vielleicht vierzehn Tage.« - »Noch nicht mal«, glaubte ein dritter. »Täuschen Sie sich nicht, das machen die Russen, nicht Ulbricht«, hielt ich dagegen. Und ihren beklommenen Gesichtern entnahm ich, daß ich nur das aussprach, was sie insgeheim wußten, aber nicht glauben wollten. »Ja«, pflichtete ein älterer Mann mir bei, »die Mauer kann ein Jahr oder zehn Jahre stehen.« - »Ach«, sagten die anderen, »das geht doch gar nicht: All die Schauspieler, die Künstler, die Ärzte, die hier in der Charite arbeiten, das kann sich nicht lange...« - »Na, ihr werdet euch wundern«, prophezeite der Straßenbahnschaffner, »die kann lange stehen, wenn die Westalliierten nicht eingreifen. Und ich glaube nicht, daß sie das tun.« Er sollte recht behalten.

Ich schnupperte Erinnerung, als ich 1988 nach siebenundzwanzig Jahren wieder in Elli's Bierbar stand. »Hier hab' ich Grammophon gespielt«, klärte ich Moni auf, die jetzt den Laden führte. Elli war ein Jahr zuvor gestorben. »Wann war denn das?« fragte Moni. Ich fühlte mich, als wäre es gestern gewesen. »Ach, det is doch bestimmt lange her«, sagte sie gedehnt und winkte mit der Hand ab. Da erst wurde mir bewußt, daß seitdem tatsächlich schon fast drei Jahrzehnte vergangen waren.
Ich fragte nach meinen Freunden von damals, auch nach Claudetta, einem Transvestiten, mit dem ich so manche ausgelassene Stunde bei Elli verbracht hatte. »Mensch, der ist doch schon über siebzig und wohnt im Seniorenheim in der Blücherstraße. Aber sonntags kommt er meist her«, erzählte Moni.
Am nächsten Sonntag stand ich am frühen Abend bei ihr an der Theke. »Guck mal, wer da kommt«, flüsterte Moni mir zu. Ein altes weißhaariges Männlein mit Brille schlurfte an seinen Stammplatz in der Ecke, fiel schwer in das Sofa und bestellte Bier und Likör. »Claudetta«, rief Moni, »wat meenste, wer hier an der Theke sitzt?« Claudetta hob den Kopf, sein Blick schweifte durch den Raum. »Lottchen, du?« Freudig und wehmütig zugleich, hatte ich wenigstens einen meiner alten Freunde wiedergetroffen.

Das war das traurigste Kapitel für mich, als ich 1988 begann, meine »Auslandsreisen« nach Kreuzberg, Tempelhof, Charlottenburg, Neukölln, Spandau zu machen. Neben den Reisen zu Stätten der Erinnerung - zum Trödelkeller von Max Bier, der Wohnung von Dr. Wongtschowski und in die Manteuffelstraße 7 mit Schule und Luftschutzkeller - wollte ich natürlich auch Menschen wiederfinden, die mir lieb waren. Claudetta war die einzige, die noch lebte.

Doch zurück in die Fünfziger. Mir fällt Max Palmowsky ein, meine Liebe nach dem Tode von Zitzenau. Ich sortierte gerade Schlüssel bei Ludwig in seinem Eisenwarenladen in der Charlottenburger Schloßstraße, Ecke Seelingstraße, als Max den Laden betrat, Sammler von Antiquitäten und Trödel, ein regelmäßiger Kunde. Als ich das nächste Mal bei Ludwig erschien, raunte er: »Du, der Max interessiert sich für dich, würde dich gern mal zum Tee einladen.« Er hatte eine winzige, aber geschmackvoll eingerichtete Hinterhauswohnung - und wollte durchaus nicht nur Tee mit mir trinken. Kaum hatte ich auf dem Biedermeiersofa neben ihm Platz genommen, zeigte er mir Bilder von nackten Männern, Originaldrucke französischer Werke, zum Teil aus dem vorigen Jahrhundert. Das war für mich damals etwas ganz Neues.
Max war bisexuell, groß, schlank, dunkelhaarig und genau mein Typ. Um die fünfzig, strahlte er väterliche Ruhe aus: Bei ihm fühlte ich mich wie in einem geschützten Hafen. Daß er auch auf Frauen stand, nahm ich ihm nicht übel. Warum auch? Allerdings hatte er eine Schwäche für besonders üppige Frauen. Schwere Maschinen, mit Ärschen wie Tausendtalerpferde.
In Mahlsdorf wohnte eine Matrone, so recht nach seinem Geschmack. Sie wiederum suchte einen potenten, schlanken, dunkelhaarigen Mann. Ich spielte quasi die Kupplerin, warnte ihn aber vor: »Die ist so dick, die wird dir bestimmt zuviel sein.« - »Egal«, entgegnete Max Palmowsky glänzenden Auges, »schaff mir das Weib ran!«
Er lud sie zum Kaffee ein, und auch ich sollte nicht fehlen. »Ich bin nicht prüde«, röhrte die Walküre, »und bevor hier was läuft, möchte ich euch beide mal in Aktion sehen.« Ich hatte Hemmungen, wir beide vor dieser Frau? Max fand zwar Gefallen an der Idee, wollte sie in unser Spiel aber mit einbeziehen und forderte sie lüstern auf, sich ebenfalls auszuziehen. Sie tat es ohne Umschweife - ich mochte gar nicht hinschauen. Eine so üppige Frau mit einem derartigen Hinterteil und großen Brüsten, das ließ bei mir jegliche Erotik absterben. Max regte es hingegen sehr an, nach allen Regeln der Kunst schoben sie eine Nummer. Eifersucht spürte ich nicht, weil sie mich erotisch nicht anzog: Für mich war diese Frau ein Neutrum.
Mit Max schloß ich eine erotische Freundschaft, die bis zum Mauerbau andauerte. Danach schrieben wir uns regelmäßig. 1967 kam einer meiner Briefe als unzustellbar zurück, Empfänger nicht zu ermitteln. Nicht einmal Max' Grab habe ich gefunden. Das ist wohl Schicksal, wenn man ältere Männer liebt. Zuletzt sitzt man allein auf einer Bank.

»Freund, 47, sucht Freund für gegenseitige Hiebe mit Rohrstock, Rute oder Peitsche. Bitte hier anschreiben.« Die Nachricht in der alten Bahnhofsklappe, noch aus Kaisers Zeiten mit gußeisernen Konsolen und alten Blenden, entflammte mich. Ich kritzelte eine Antwort, gab Uhrzeit und Erkennungszeichen an. Ein paar Tage später spazierte ich, scheinbar uninteressiert, die Hände auf dem Rücken - das Erkennungszeichen - in der Nähe des Bahnhofs Ostkreuz auf und ab. Da sah ich ihn: trotz seines Alters jungenhaft wirkend, groß, schlank und drahtig-sportlich. Eine Mischung aus sorglosem Gassenjungen und graziler Katze. Gleichzeitig strahlte er jene Sicherheit aus, die mich an Männern immer gereizt hat.
Schon sehr früh mochte ich Sex härterer Gangart. Schon in der Schule reckte ich meinen Hals, wenn Mitschüler mit dem Rohrstock versohlt wurden, obwohl sie mir auch leid taten. Pfiff das dünne Stöckchen durch die Luft, hielt ich den Atem an - in einer Mischung aus Scham, Schande und erotischen Gefühlen genoß ich es, selbst etwas mit dem Rohrstock auf den Hintern zu bekommen. Nahm der Lehrer mich am Kragen und mußte ich mich bücken, wußte ich zwar, daß der erste Schlag brannte wie Feuer, aber der zweite und dritte schmerzten schon nicht mehr. Sie waren für mich eher aufregend.
Die Böswilligen, die Philister und Moralapostel schreien, sobald sie etwas nicht verstehen - und was verstehen sie schon! -, pfui, das geht über unseren Horizont, also muß es krank sein, etwas Perverses, weg damit! Sollen sich doch die Psychologen mit meiner Art, Sexualität auszuleben, beschäftigen, ich geißle mich nicht ständig mit der Frage, warum ich so geworden bin, wie ich bin. Es macht mir Spaß, ich schade mit dem, was ich tue, niemandem, im Gegenteil, also, warum soll es etwas Schlechtes sein?
Mit klopfendem Herzen fuhr ich mit Jochen, meiner Eroberung von der Bahnhofsklappe, nach Mahlsdorf. Er war ganz verrückt auf Rollenspiele. Eines will ich erzählen: Ich holte meine Sammlung an kurzen Hosen aus dem Schrank - Cordsamthose, Nietenhose, Jeanshose, Badehose, Lederhose - und breitete sie auf dem Bett aus, während er auf Zettelchen Nummern von 1 bis 6 schrieb, die er den verschiedenen Hosen zuordnete. Die nächste Zettelsammlung war bestimmt für die verschiedenen Zuchtinstrumente - dünner Rohrstock, dicker Rohrstock, Rute, Peitsche, Siebenstriemer. Mit zwei Würfeln knobelten wir Zuchtinstrument und Hose aus. Dann multiplizierten wir die beiden Zahlen miteinander: Das Ergebnis legte die Anzahl der Schläge fest, die er mir oder ich ihm verpaßte. Wobei mir der passive Part immer lieber war, wohl auch mehr meinem Wesen entspricht. »Mein Gott, du handhabst ja den Rohrstock wie eine Jungfer im Mädchenpensionat«, zog Jochen mich auf, wenn ich ihm nicht Zuchtmeister genug war.
Siebenundzwanzig Jahre, bis zu seinem Tod 1987, war ich mit ihm zusammen. Er war Sportlehrer und in den dreißiger Jahren ein bekannter Tennisspieler. Im Dritten Reich hatte er eine Sandkastenbekanntschaft geheiratet, eine Lesbe, um vor den Nazis sicher zu sein.
Jochen beherrschte mich, und ich ließ mich gern beherrschen. Er beriet mich, machte Bauzustandsphotos von meinem Museum und ermahnte mich, jede Rechnung aufzubewahren. Von selbst wäre ich nie auf so etwas gekommen. Den Haushalt mit weiblicher Hand in Ordnung zu halten ist das eine, aber für Papierkram bin ich zu schusselig, das liegt mir einfach nicht. Als braves Weib tat ich, was Jochen mir sagte. Ich sah in meinen Männern das, was ein Mädel in der damaligen Zeit in einem Mann sah. Ich fühlte mich beschirmt, konnte auf sie zählen, wenn ich in Not war, und deshalb faszinierten sie mich.

15.        Dieses Haus ist mein Schicksal. In höchster Not rief es mich, und ich war zur Stelle. Hier habe ich mir meinen Traum verwirklicht. Nicht nur den Traum vom eigenen Museum - es ist mehr als das, es ist mein Zuhause. Ich bin Museumsführer, Bewohner und Putzfrau in einem, und ich habe mich eingerichtet, wie eine Frau der bürgerlichen Mittelschicht sich um 1900 einrichtete.
In diesem Spätbarockbau untersuchte mich der Schularzt, als ich ein kleiner Steppke war. Seitdem ließ mich das Gutshaus nicht mehr los. Immer beobachtete ich, wie es ihm in den Zeitläuften erging.
Erbaut um 1780, war es zunächst ein Amtsvorwerksgutshaus der Staatsdomäne Köpenick. 1821 wurde es an Privatleute verkauft. 1869 erwarb es der wohlhabende jüdische Kaufmann Lachmann. Er modernisierte es im Stil der Zeit, ließ Doppelfenster einbauen, Flügeltüren mit Gesimsen, Supraporten, und baute die vorgesetzte Freitreppe mit dem neoklassizistischen Stuck an der Hofseite. Die Parkseite mit der kleinen Terrasse und der Freitreppe blieb original erhalten, wurde lediglich restauriert. Im ganzen Haus ließ Lachmann Doppelfenster mit französischer Einteilung einbauen, die in jenen Jahren modernen und so beliebten Kreuzfenster.
Lachmanns Erben verkauften das Gut. Die letzten Rittergutsbesitzer in »Mahlsdorf an der Ostbahn«, wie es damals postalisch lautete, waren die Schrobsdorffs, eine thüringische Patrizierfamilie. Der Vater von Renate Schrobsdorff, einer Nichte des Dichters Friedrich Rückert, predigte in der böhmischen Brüdergemeine in Rixdorf.
1920 ging das Haus in den Besitz der Stadt Berlin über und wurde zehn Jahre als Kinderheim genutzt. Dann zog die Dorfschule ein, das Haus wurde umgebaut: Zwischenwände wurden herausgerissen, um Platz zu schaffen für vier Klassenzimmer. Abwechselnd waren danach Arbeitsdienst, Kartenstelle, Bürgermeisteramt und Arbeitsamt untergebracht, dann Straßenreinigung, Hilfsschule, Kinderwochenheim, Jugendamt, Finanzamt, Kriminalpolizei, Volksbücherei, Untersuchungsraum für den Schularzt und Kindergarten.

Ab 1958 stand das Haus leer.
Eines Morgens schaukelte ich mit der Straßenbahn an ihm vorbei und sah einen Fensterflügel in den Ästen der Bäume hängen. Ich schaute genauer hin und bekam einen tollen Schreck: das Dach zerlöchert, Scheiben zerschlagen, Flügeltüren im Garten verstreut.
Ich stieg aus der Straßenbahn und inspizierte das Haus vom Keller bis zum Boden. Ein Jahr Leerstand hatte genügt, eine Ruine aus ihm zu machen. Vandalen hatten die Dielung rausgerissen, sie als Brennholz weggetragen und die Türklinken abmontiert. Toiletten- und Handwaschbecken in den oberen Räumen waren ebenso zertrümmert wie das Porzellan in der Küche. Auch die schönen neuen Eichenschränke lagen demoliert auf dem Boden. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, hatten sie herausgeschleppt.
Als ich die Ruine sah, dachte ich, alle seien dem Wahnsinn verfallen. Nicht nur, daß irgendwelche Banausen das geschichtsträchtige Gutshaus in ein Trümmerfeld verwandelt hatten, nein, auch von offizieller Seite fühlte sich offensichtlich niemand verantwortlich. Wer wohl zuständig ist? fragte ich mich. Ich ging zum nebenan gelegenen Gutshof und fragte den Hofmeister, einen netten Menschen von bäuerlichem Phlegma, was mit dem Haus werden solle. »Sie meinen das Stadtschloß?« fragte er. Für die Mahlsdorfer hieß es »Stadtschloß«, obwohl es doch ein Gutshaus war. »Riesenkate mit Freitreppe« nannte Theodor Fontane solche Bauten. Der Hofmeister, den Kopf zur Seite geneigt, erklärte mir: »Das Ding wird abgerissen.«
Der letzte Hausmeister des Gutshauses verdingte sich inzwischen als Fahrkartenknipser auf dem Bahnhof Mahlsdorf. Abends um halb zehn suchte ich ihn in seinem Häuschen an der Sperre auf. Zwischen abfahrenden und ankommenden Zügen erzählte er mir, daß er versucht habe, das Haus zu sichern. Er hatte die Türen ein ums andere Mal mit Brettern vernagelt, aber einen Tag später waren sie wieder aufgebrochen.
Kurzentschlossen zog ich von meinem Geburtshaus in Mahlsdorf-Süd in das Gutshaus, ich mußte es doch vor weiterer Zerstörung bewahren. Auf dem nackten Fußboden richtete ich mir mit ein paar Decken einen Schlafplatz ein, und mit einer Trillerpfeife neben der Decke entschlummerte ich. An die nicht abschließbaren Türen hatte ich Holzbalken gelehnt, darauf Mauersteine getürmt. Bereits in der ersten Nacht versuchte jemand ins Haus einzudringen, meine »Alarmkonstruktion« fiel mit Getöse zusammen, ich schreckte hoch, stieß einen gellenden Pfiff aus und brüllte: »Was ist da los?« Ein kurzes Poltern folgte, dann war Ruhe: Der ungebetene Gast hatte das Haus in Windeseile verlassen.
Die Lichtenberger Abteilung Volksbildung gab sich unnachgiebig. Mehrmals war ich vorstellig geworden, aber man erklärte mir, daß ich das Haus nicht bekommen könne. Den Wiederaufbau für mehr als zweihundertfünfzigtausend Mark hatte der Rat des Stadtbezirks abgelehnt. Statt dessen hatten die Provinzpolitiker Geld für den Abriß im Haushaltsplan untergebracht: sechzigtausend Mark. Damit sollte die Sprengung des Feldsteinfundaments und der Kappengewölbe des Kellergeschosses bezahlt werden. »Wenn das Geld da ist, dann wird es dafür auch verwendet«, lautete die sozialistisch-bürokratische Antwort auf meinen Hinweis, daß der Stadtbezirk durch mein Angebot sechzigtausend Mark einsparen könnte.
Für immer sollte dieses Stückchen Mahlsdorfer Ortsgeschichte verschwinden. Doch der Zufall - genauer gesagt: sozialistische Schlamperei - kam mir zu Hilfe.
Der ausquartierte Kindergarten hatte im Dorf nur eine Notunterkunft bekommen, so daß die Verwaltung ein endgültiges Domizil für die Jungen und Mädchen suchte. Ihr begehrlicher Blick war auf das Landhaus eines Fuhrunternehmers gerichtet, der in den Westen gegangen war. Wie damals üblich, konfiszierte man es.
Im Rahmen des kindergartengerechten Umbaus hatte man zwar eine Kohle-Zentralheizung eingebaut, aber eine entscheidende Kleinigkeit vergessen: einen größeren Schornstein.
Der Bezirksschornsteinfeger schüttelte den Kopf: »So nehm' ich den Schlot nicht ab«, eröffnete er, preußisch korrekt, der entsetzten Kindergartenleiterin. Und das unmittelbar vor Eröffnung dieses Prestigeobjektes! Der Abriß des alten Schornsteins vom Keller bis zum Dach und der Neubau sollten siebzigtausend Mark kosten.

Als ich in Lichtenberg zum x-ten Mal vor der Bürotür der Abteilung Volksbildung stand, erscholl von drinnen Gebrüll: »Wo soll ich denn siebzigtausend Mark für einen neuen Schornstein hernehmen? Der Abriß des alten Schuppens in Mahlsdorf kostet mich doch schon sechzigtausend Mark.«
Das Gezeter nahm und nahm kein Ende, so daß ich anklopfte und hereinplatzte. Mehr als rausschmeißen können sie dich nicht, dachte ich. Mir war inzwischen alles Wurscht.
Als hätte er einen Goldesel vor sich - wenn man's genau nimmt, war ich ja auch einer -, hellten sich die Züge des Finanzhaushaltssachbearbeiters auf. Schrillte die Stimme eben noch im höchsten Diskant, war er nun die Sanftmut und Freundlichkeit in Person und begrüßte mich, sich vom Schreibtisch erhebend, jovial und aufgeräumt: »Da kommt er ja. Wollen Sie den alten Schuppen noch haben?« Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich erklärend an den neben ihm stehenden Kindergartenbauleiter: »Wenn dieser junge Mann das Gutshaus in Mahlsdorf übernimmt, habe ich sechzigtausend Mark frei. Den fehlenden Betrag kriegen wir dann auch noch zusammmen.« Natürlich wollte ich.
Er überließ mir das Haus, allerdings ohne irgendwelche schriftlichen Abmachungen mit mir zu treffen. Er nötigte mir nur eine Unterschrift ab, mit der ich zusicherte, alle Arbeiten auf eigene Gefahr zu verrichten. Damit hatte sich die Verwaltung doppelt abgesichert: Zum einen konnte sie mich jederzeit wieder vor die Tür setzen, zum anderen war die Stadt Berlin, falls ich beim Dachdecken vom Haus stürzen sollte, niemandem gegenüber haftpflichtig. Mir war das einerlei, ich wollte nur das Haus retten.
Ich schaffte erst mal Ordnung. Eine irre Arbeit, denn Dreck und Glassplitter steckten in buchstäblich jeder Ritze. Die Ruine ohne Heizung, ohne Wasser, ohne Klo, ohne Scheiben verwandelte ich peu à peu wieder in ein Haus. Ich zog Hunderte von Nägeln aus noch vorhandenen Türen, Fensterrahmen und Wänden, die die früheren Nutzer hinterlassen hatten.

Ich wollte die Zeit von 1870 bis 1900 wieder auferstehen lassen und hielt mich an die Vorgaben des Kaufmanns Lachmann, der das Haus im Stil des Neoklassizismus modernisiert hatte. Das paßte wunderbar zu »meiner« Gründerzeit.
Obwohl die sogenannten Gründerjahre nur kurze Zeit währten - sie begannen 1871 nach dem deutsch-französischen Krieg und endeten bereits 1873 unrühmlich mit einer großen Depression, dem »Gründerkrach« -, nennt man die verschiedenen Modestile, die Einrichtungsgegenstände und auch die Architektur der Jahre zwischen 1870 und der Jahrhundertwende den Gründerzeitstil.
Die Industrialisierung schritt rasant voran: Maschinen produzierten schneller und, weil in großen Mengen, billiger. Gesimse und Kehlleisten konnten nun maschinell gefräst, die zum Teil aufwendigen Beschläge gestanzt, gepreßt oder gegossen werden, während zuvor Handwerker jedes Stück einzeln und manuell hatten fertigen müssen.
Ein Heer von Künstlern übertraf sich in immer neuen Entwürfen. Die Möbelhersteller kopierten nahezu alle historischen Stile der Vergangenheit, wenn auch nicht immer fehlerfrei, und wandelten sie modisch ab. Sowohl einzelne Möbel als auch komplette Salons, Wohn-, Eß-, Herren- und Schlafzimmereinrichtungen, das Interieur für Restaurants, Apotheken, Bäckereien wurden in Romanik, Gotik, Renaissance, Barock, Rokoko, Klassizismus und nach 1900 sogar in Empire und Biedermeier gestaltet. Diese Neostile bezeichnet man als Historismus. Der beliebteste Modestil - ganz gleich, ob die Möbel einfach oder elegant gefertigt waren - war die Neorenaissance.
Selbst der Jugendstil, zwischen 1900 und 1910 in Mode, konnte den Historismus nicht ganz verdrängen. Vollständige Zimmereinrichtungen und Küchen waren besonders begehrt: Deckenstuck, Kronleuchter, Öfen, Türen, Teppiche, alles sollte »stilecht« sein. Auch die Gehäuse der technischen Geräte - Spieldosen, Musikautomaten, Orchestrien, Grammophone, Telephone, Nähmaschinen und Uhren - waren mit Liebe zum Detail dem jeweiligen Stil angepaßt.
Aber bald schwappte von Amerika die Welle der »Sachlichkeit« herüber. Schreibtische, Rollschränke und selbst die Gehäuse der Edison-Phonographen entsprachen nur noch dem Zweck. Zierat war verpönt. Um 1910 empfahl ein Nachschlagewerk der praktischen Hausfrau: »Ein Büffet soll nicht süß sein und nicht reizend und keine kleine Kirche, auch keine Raubritterburg, es soll nichts anderes tun, als den Staub und die Fliegen von den Tellern und der Suppenschüssel fernhalten.« Da bin ich ganz anderer Meinung: Schnörkel und Zierde erfreuen doch den Menschen. Alles ist heute so versachlicht.
Sicher, Kuponschneiderei und Spekulationsskandale prägten die Gründerzeit. Der übersteigerte Expansionsrausch, die Prunksucht der Schlotbarone und Krautjunker und der vermessene Anspruch der Hohenzollern »Am deutschen Wesen soll die Welt genesen« widerspiegele sich, so die Kritiker, in den Möbeln. »Der zusammenhanglose Katzenjammer« sei »ungehörig und nicht ganz menschlich«. Unsinn - für mich haben Gründerzeitmöbel Figur!
Abwertend nennt man diesen Stil den wilhelminischen, aber der Historismus hatte seinen Ursprung in der Mitte des 19. Jahrhunderts in England, wo die Industrialisierung früher eingesetzt hatte; dort entwickelte sich später der Victorian style. Auch in Frankreich, Italien, der Schweiz, Dänemark, Polen, Rußland und Österreich faßte der Historismus Fuß. Natürlich sahen die Säulen eines Eßzimmerbuffets in Paris etwas anders aus als die in Berlin, Wien, Warschau oder Sankt Petersburg.
Ich weiß, daß der Stil der Gründerzeit Surrogat ist, aber dennoch: Ich neige diesen Dingen zu, weil sie liebevoll gestaltet sind.
Im Gegensatz zum Jugendstil, der anschloß an den Historismus und bis in die fünfziger Jahre als kitschig verpönt war, dann aber seinen Siegeszug antrat, löst die Gründerzeit bei den meisten Fachleuten bis heute Stirnrunzeln oder Naserümpfen aus. Des öfteren besuchten mich im Laufe der Jahre Museumsfachleute und Kunsthistoriker. An einen erinnere ich mich noch genau, an seine zusammengekniffenen Augen und seine verständnislose Frage: »Wieso haben Sie eigentlich die Epoche der Gründerzeit gesammelt?« -»Ich fand und finde das einfach hübsch, und schließlich sollte man auch die Epoche des früheren Industriezeitalters der Nachwelt erhalten. Sehen Sie doch«, fuhr ich im Wohnzimmer fort, »ich habe hier das Gefühl der Geborgenheit, der Beständigkeit. Der Bücherschrank mit seinen Säulen, das Paneelsofa mit den Sesseln dazu, Tisch und Stühle, die Standuhr, der Schreibtisch mit Aufsatz, das Klavier mit Säulen, die Messingleuchter und der Balustradenaufsatz, alles im Stil der Neorenaissance, wie ausgewogen das ist. Eine typische Mittelstandseinrichtung von 1890. Das bin ich!« Dem konnte er nur zustimmen: »Ja, wenn Sie das so sehen.«
Für mich spielt es keine Rolle, ob die Möbel aus einem hochherrschaftlichen, einem Mittelstands- oder einem einfachen Arbeiterhaushalt stammen. Aber, wenn ich recht überlege, bevorzuge ich Mittelständisches. Für die Prunkstücke bin ich zu schlicht, aber zu einfach soll es auch nicht sein. Sechstürige Büffets mit geschnitzten Zwergen möchte ich nicht geschenkt haben, sie sind mir zu unbescheiden, zu bombastisch.
Ich bewundere das Schloß Sanssouci, das Neue Palais, den Muschelsaal, aber wohnen möchte ich dort nicht. Die Hausfrau in mir würde sagen: Na, was müßte ich hier Fenster putzen und Staub wischen! In dieser Beziehung bin ich zweigeteilt, in Herrschaftsdame und Hausfrau. Im Zweifelsfall siegt die Hausfrau.

Bevor ich mir den Traum vom eigenen Museum verwirklichen konnte, mußte ich dreieinhalb Jahre Schutt schippen. Die vielen neugezogenen Zwischenwände im ersten Stock belasteten die Zimmerdecken im Parterre, an einigen Stellen waren sie um bis zu achtzehn Zentimeter abgesackt. Ich riß die Wände ab und karrte, pferdefuhrwerkweise, das Geröll auf den Schuttplatz. 1962 schaute sich eine Mitarbeiterin von der Denkmalpflege staunend um und fragte: »Welche Firma hat Ihnen denn den Schutt herausgeholt?« Ich hob meine beiden Hände: »Das ist meine Firma.« Mir wurde bedeutet, daß das Haus vielleicht unter Denkmalschutz gestellt wird. Aber nichts Konkretes passierte. Der Gründerzeitstil war suspekt und Lottchen ebenfalls.
Das Haus hatte keine Fenster und Türen mehr, dafür reichlich Schwamm und Holzwurm. Der Schwamm wucherte wegen der unsachgemäßen Nutzung des ersten Stockwerks: Für die Kinder waren hier Waschräume eingebaut worden, den Fachwerkwänden zum Trotz. Das Haus faulte. Ich baute Gerüste und stützte die einsturzgefährdeten Decken mit Eisenträgern ab, um im ersten Stock ungefährdet arbeiten zu können. Jahrelang konservierte ich die Balken mit Schwamm- und Holzschutzmitteln. Eine tolle Schinderei, aber Spaß hat sie mir trotzdem bereitet.
Meine Kenntnisse hatte ich aus meiner Arbeit am Schloß Friedrichsfelde und aus Büchern erworben. Die Berechnungen, Mathematik war nie meine Stärke, besorgte ein befreundeter Statiker.
Praktischerweise bekam ich damals einen Job auf dem Gutshof nebenan. Als Nachtwächter. Morgens um sechs schmiß ich meinen Kittel in die Ecke, schlüpfte in meine kurze Lederhose und stieg, ohne meine Matratze beguckt zu haben, aufs Dach. Von Wurm oder Schwamm befallene Latten sägte ich heraus. Neue Latten und Dachsteine karrte ich mit einem Pferdefuhrwerk aus dem nahen Biesdorf oder aus Mahlsdorfer Stallungen und Scheunen heran. Einmal fuhr ich bis Berlin-Mitte, wo ich in der Roßstraße sieben Meter lange, alte Deckenbalken kaufte und barg. Vom Abrißplatz des VLB Tiefbau holte ich mir Kastenfenster, die dort gestapelt auf dem Hof herumlagen.

»Der Verrückte ist wieder da«, begrüßten mich die Bauleute in Abrißhäusern, wenn sie mich sahen. Von der Denkmalpflege hatte ich mir mitteilen lassen, wo im Zentrum Gebäude abgerissen wurden. Die »flügeltürverdächtigen« erkannte ich schon an den Fassaden.
So kam ich auch in die Prenzlauer Straße und blieb vor der Barockfassade eines Hauses stehen: das Mette-Haus, benannt nach seinen früheren Besitzern, Adolf und Emilie Mette. Einst Gutshaus vor den Toren der Spandauer Vorstadt, war später eine Stiftung, in ihm untergebracht. Mittellose Mädchen, oft Waisen, genossen dort eine hauswirtschaftliche Ausbildung.
Ich wollte schon weitergehen, als sich im Parterre ein Fenster öffnete und ein Mütterchen, alt wie ein Stück Elfenbein, seinen kleinen Kopf herausstreckte. »Sie betrachten sich so interessiert unser schönes altes Haus. Leider wird es in Kürze abgerissen.«
Auf meine Frage nach Flügeltüren aus der Gründerzeit baten sie und ihre Schwester mich herein und zeigten mir stolz ihre Flügeltüren mit Gesimsen aus der Zeit um 1870. Sie hatten fast das gleiche Profil wie die mir noch fehlenden in Mahlsdorf.
Alle anderen Wohnungen im Haus waren bereits geräumt, die Schwestern Hirschfeld als letzte Bewohnerinnen hatten die Schlüssel, und ich unternahm nicht nur eine hochinteressante Besichtigungstour, sondern richtete mir in einer der Wohnungen sogar ein Lager für die Möbel ein, die ich bei meinen Streifzügen durch andere Abrißhäuser ergatterte.
Aus dem Mette-Haus baute ich drei Flügeltüren aus, die ich mit dem Fuhrmann Philipp, mit dem ich befreundet war, in seinem kleinen Lastauto nach Mahlsdorf transportierte. Aus Nachbarhäusern montierte ich Türklinken und -rahmen ab, Scheuerleisten, Dielenbretter, Stuckrosetten, Glockenzüge, Treppentraillen und dreiundzwanzig Türgesimse.
Eines Morgens kam ich zum Mette-Haus und entdeckte, daß ein großes Stück der Barockfassade auf dem Trottoir lag. In ihm steckte noch immer die eiserne Kanonenkugel, die General Tettenborn 1813 während der Befreiungskriege gegen Napoleon hineingeschossen hatte. Mit einem Stemmeisen hatte jemand versucht, sie herauszubrechen, war aber gescheitert. Ich vollendete seine Arbeit und schaffte das eiserne Zeitzeugnis ins Märkische Museum, wo es noch heute zu besichtigen ist.

Als im alten Berliner Fischerkiez auf der Fischerinsel das von Ludwig Hoffmann um die Jahrhundertwende erbaute Standesamtshaus abgerissen werden sollte, auch hier die Bausubstanz tadellos, entdeckte ich hoch oben im Giebel das Berliner Bärenwappen in Sandstein, mehrere Zentner schwer. Ich drückte dem verdutzten Sprengmeister zwanzig Mark in die Hand und bat ihn, den Giebel so zu sprengen, daß das Wappen erhalten blieb. Aus sicherer Entfernung beobachtete ich das Getöse, und als sich der Staub verzogen hatte, lag der Stein mit dem unbeschädigten Berliner Bären zuoberst auf dem Trümmerhaufen.
Für den Transport des schweren Sandsteinreliefs konnte ich, ebenfalls mit einem Zwanziger, den Baggerführer gewinnen. Mit Stahlseilen befestigten wir es an dem Schaufeltier und fuhren im Schrittempo zum Märkischen Museum. Heute liegt der Stein an der Fassade neben dem Seiteneingang.

Die Arbeiter hielten mich für etwas wunderlich, aber mein Drang, alles zu bewahren, schien ihnen auch ein bißchen zu imponieren. Einer pflichtete mir bei: »Daß der Magistrat den Fischerkiez, die Wiege Alt-Berlins, zerstört, ist ein Verbrechen.« Heute ragen hier häßliche Betonhochhäuser empor.
Alt-Berliner Flair atmet heute nur noch das Scheunenviertel. Der SED-Staat ließ in den letzten Jahrzehnten ganze Stadtviertel, die historisch gewachsen waren, bewußt verrotten, wollte sie bis spätestens 1995 durch Plattenbausiedlungen ersetzen.

Damals zog ich oft des Nachts los, »bewaffnet« mit Hammer, Zangen, Stemmeisen, Schraubenzieher, um selbst widerspenstige Türrahmen abmontieren zu können. Einmal spazierte ich, morgens um drei, durch die Gassen des Scheunenviertels, durch die Wadzeck- und die Georgenkirchstraße, entdeckte ein Abrißhaus und tapste durch die Keller und das Vorderhaus, mir mit einer Taschenlampe den Weg bahnend.
Bald hatte ich einen Türrahmen ausgemacht und ging an die Arbeit. Daß ich furchtbar lärmte, wurde mir erst bewußt, als ich durch ein kaputtes Fenster luchste: Zwei Polizisten näherten sich dem Haus. »Was machen Sie denn hier um diese Zeit?« - »Ich baue diesen Türrahmen ab.« Der Polizist richtete den Lichtkegel direkt auf mein Gesicht, kam näher und rief: »Mensch, sind Sie das mit dem Museum, über den kürzlich was in der Zeitung stand?« - »Ja, der bin ich.« Die Polizisten schwärmten aus und brachten mir Stühle - manche natürlich aus den Dreißigern, weil sie sie nicht von Stühlen aus der Jahrhundertwende unterscheiden konnten -, Kaffeemühlen und Stangen für Luftklappen.
Nach der Sammelaktion begab ich mich zur Baubude am Mette-Haus. »Na, was führt dich denn so früh hierher?« begrüßten mich die Bauarbeiter. Sie ließen sich nicht lange bitten, spannten den Trecker an, wir fuhren zurück ins Scheunenviertel, der Polizist hatte mit seinem Hund Wache gestanden. »Ist nichts weggekommen«, grinste er. Wir karrten alles zusammen und brachten es in mein Lager.
Der Tag rückte näher, an dem die Schwestern Hirschfeld ihre enge Neubauwohnung in Friedrichshagen beziehen mußten, traurig verabschiedeten sie sich von mir. Obwohl ihre neue Bleibe modern ausgestattet war, haben sich die beiden Frauen immer nach ihrem alten Domizil in der Prenzlauer Straße zurückgesehnt.

Mit den Bauleuten bekam ich meist schnell Kontakt. Drückte ich ihnen zwanzig oder fünfzig Mark in die Hand, begeisterten sie sich: »Mensch, dann ziehen wir dir noch ein paar Balken raus. Und solltest du noch Türen brauchen, dann kannst du dir die ausbauen und die Stuckrosetten abmachen.« Ich erinnere mich, daß ich in einem Haus noch an den Stuckrosetten herumschraubte, während die Bauarbeiter schon die Sprenglöcher bohrten. Der mit der grossen Tute guckte vom Hof hoch, und als er mich an der Decke herumturnen sah, brüllte er im breitesten Berlinisch: »Mensch, mach hinne, schraub deine Rosetten ab, sonst sprengen wir dir weg, samt die Rosetten.«
Das meinte er zwar scherzhaft, aber die Situation stand sinnbildlich für das, was vor sich ging. Fast nie konnte ich so schnell retten, wie zerstört wurde. Hatte ich vom Denkmalschutz eine neue Abrißadresse bekommen, war oft nur noch ein Trümmerfeld übrig, wenn ich eintraf. In bezug auf die Zerstörung ganzer Stadtteile ging der Sozialismus mit hochkapitalistischer Effizienz und Behendigkeit vor. Wenigstens ein bißchen von dem, was im Berlin der sechziger und siebziger Jahre vernichtet wurde, konnte ich den Abrißbirnen und Sprengmeistern entreißen.
Es ist nicht nur totes Gestein, es sind nicht nur leblose Möbel: In diesen Gegenständen widerspiegelt sich die Geschichte der Menschen, die dies erbaut, die hier gelebt haben. Die sinnlose Zerstörung berührt die Lebensweise, die Grundlagen geistiger wie ästhetischer Kultur. Sie macht, unwiederbringlich, den Alltag ärmer.
Triebfeder in mir war immer, etwas zu erhalten - nicht für mich, sondern für die Nachwelt: Es soll weitergehen, es soll nichts sinnlos enden. Ich bin beseelt von diesem Gedanken. Was immer du tun kannst mit deinen zwei Händen, dachte ich, mußt du tun. Oft wünschte ich mir mehr Hände, um Schloß Schöneiche zu retten oder Schloß Fredersdorf, das noch in den achtziger Jahren abgerissen wurde.
Aus den Häusern baute ich alles so vorsichtig aus, daß nichts kaputtging. Jede Schraube vom Klingelbrett nahm ich mit. Gerettete Treppentraillen numerierte und verwahrte ich in meinem Museum, bis ich sie brauchte.
Ausstellungsbesucher glauben oft, die Türklinken, die Gesimse, die Spitzenbänder der Türen und die Scheuerleisten seien schon immer dagewesen. Weit gefehlt. Aber ich bin natürlich ein bißchen stolz, daß alles so harmonisch wirkt.
Ich befragte Hausfrauen, alte Damen und Dienstmädchen, die früher in Stellung waren, um herauszubekommen, welche Möbel in einem Gründerzeitwohnzimmer oder -eßzimmer standen und wie sie arrangiert waren. Ich wälzte Möbelkataloge aus Kaisers Zeiten, die ich bei Trödlern im Krieg gefunden hatte. In Antiquariaten wühlte ich nach Büchern und wurde fündig: »Die praktische Hausfrau« von 1900 oder »Ich kann wirtschaften« von 1890. Ausnahmslos Ratgeber, die Haushalt, Etikette und Wohnungseinrichtung betreffen. Und seltsam, ich fand das alles so richtig und auf mich zugeschnitten, daß ich eine perfekte Hausfrau der Gründerzeit wurde.

Die erste Museumsführung in Mahlsdorf am 1. August 1960 kam per Zufall zustande. Straßenbahnarbeiter besserten gerade die Schienen aus, die Gärtner arbeiteten im Park, und die Gutsarbeiter hatten auf dem Hof erzählt: »Mensch, da müssen wir mal reingehen.« Nach Feierabend erschienen sie, und ein paar neugierige Passanten schlossen sich ihnen an. Zwei Zimmer hatte ich komplett eingerichtet, ein Wohnzimmer von 1890, noch heute ist es die zweite Station meiner Führung, und ein Eßzimmer, das ich ein Jahr später ausquartierte, um dem neogotischen Zimmer Platz zu machen.
Mein Museum sprach sich rum. Die Bauern und Bürger von Mahlsdorf erzählten sich in den Gaststuben: »Da steht ein großer Musikautomat mit Blechplatten, die spielt er euch alle vor.« Obwohl die Wände nicht renoviert waren und das Stroh noch von den Decken herunterhing, waren die Leute begeistert, fanden es kurios. Arbeiterbrigaden, Schulklassen, Kunststudenten und natürlich Museumskollegen besuchten mich.