Lia, Matilde und Alice

LIA - 29 Jahre alt - lebt im Süden Italiens

MATILDE:
Eine grundsätzliche Frage: bezeichnest du dich als lesbisch oder ... ich weiß nicht, als bisexuell?
LIA:
Hundertprozentig lesbisch. Ich will sagen, ich habe es sogar mit einem Mann probiert, nur um sagen zu können, daß ich eine Entscheidung getroffen habe ... Es war eine Katastrophe, man könnte meinen, daß ein einziger Versuch ein bißchen wenig ist, aber ... na ja, was soll’s. Dieser eine Versuch hat mich schon genug Mühe gekostet. Das war nicht drin für mich, mich hinzugeben... Dann gab es noch einen im letzten Jahr, ich habe ihn zufällig an einem Strand kennengelernt, aber das ist für mich keine Erfahrung in dem Sinne. Der Typ hat sich einfach auf mich d’raufgeschmissen. Ich habe versucht, mich zu befreien, und er ist dann zum Meer gelaufen, um sich, wie er sich ausdrückte, zu waschen, das sind seine Worte ...
ALICE:
Mamma mia, er hat sich auf dich d’raufgeschmissen?
LIA
Ja, aber er hat mich nicht etwa vergewaltigt, ich habe ihn überhaupt nicht wahrgenommen ... Wer weiß, wie frustriert und voller Phantasien er,war. Das war das zweite Mal, daß ich es probiert habe, das war schon zu viel für mich.
ALICE:
Wie alt warst du beim ersten Mal?
LIA:
Ah, wenn wir wirklich auf die ganze Vorgeschichte zu sprechen kommen wollen! Was soll's, mit elf Jahren hat einer versucht, mich zu vergewaltigen.
ALICE:
Ah, ja?
LIA:
Ja, eine versuchte Vergewaltigung, aber keine vollzogene. Als ich in der fünften Klasse war, bin ich immer zum Nachmittagsunterricht gegangen, und dieser Typ ging da immer in ein kirchliches Freizeitheim. Eines Tages begleitete er mich unter den lächerlichsten Ausreden auf dem Rückweg bis vor unsere Haustür. Er zerrt mich auf die Treppe und versucht, mich zu vergewaltigen ... Ich knalle ihm den Schulranzen hin, er macht sich aus dem Staub. Ich weiß nicht ...
ALICE:
Auch wenn nichts wirklich Schlimmes passiert ist, war der Schrecken doch in jedem Fall groß!
LIA:
Oh ja. Ich wurde ein Stockwerk tiefer in Tränen aufgelöst gefunden. Mein Vater hat dann bei der Polizei Anzeige erstattet. Von der Polizei wurde ich dann aufgefordert, daß ich genauer beschreiben sollte, was für Schäden er mir zugefügt hatte. Das war die eigentliche Vergewaltigung, das was danach kam. ... Also die Untersuchung, ob ich wirklich vergewaltigt worden war oder
ALICE:
Schrecklich ...
LIA:
Die Polizisten, die mir nicht glaubten ... haben dann ziemlich r’umgefrotzelt. Also, sie haben gelacht, weil ich so klein, so ein Stöpselchen war. Sie meinten, daß es für meine Aussage nicht genügend Beweise gab, um eine Anzeige zu erstatten. Auf die Tour ...
ALICE:
Deinen Eltern hast du es aber gesagt ...
LIA:
Ja, klar. Sie fanden mich als heulendes Elend, deswegen mußte ich es ihnen einfach sagen. Ich habe geweint, sie hätten es mir nie abgenommen, daß nichts geschehen sei. Sie haben weiter nachgebohrt, also, ob er mich angefaßt hatte, ob er mir meine Unterhosen runtergezogen hatte. Das war schlimmer als ...
MATILDE:
Aha, deine Eltern.
LIA:
Sie wollten wissen, bis wohin er gekommen war.
ALICE:
Es kommt selten vor, daß eine Frau dann keine derartige Gewalt über sich ergehen lassen muß, wirklich sehr selten. Aber wann hast du dann herausgefunden, daß du lesbisch bist?
LIA:
Mit dreizehn.
MATILDE:
Wir haben heute den ganzen Tag darüber geredet. Erzähl doch, was du mir gesagt hast.
LIA:
Die Geschichte mit Roberta?
MATILDE
Ja, die mit Roberta.
LIA:
Also, ich war in der achten Klasse. In meine Klasse ging auch ein Mädchen, das drei Jahre älter war. Ich habe zu ihr gesagt, daß ich gerne, ihr wißt schon, solche Spiele mache, wie >Fühl doch mal, wie mein Herz schlägt!< Ich habe ihr gesagt, daß sowas bei mir angenehme Gefühle auslöst, sie behauptete aber, das wäre unmöglich, ich würde spinnen, so etwas könnte man nur mit Jungen machen. Nach einigen Tagen, in denen wir dann doch solche Spiele gemacht hatten, sagte sie dann, daß sie noch so eine kennen würde wie mich. Wir heckten dann einen komplizierten Plan aus, so daß ich an einer Bushaltestelle diese Roberta kennenlernen konnte. Ich glaube, es war allerdings mehr Zufall. Jedenfalls bin ich hingegangen, wohl informiert über sie, während sie nicht einmal eine Ahnung davon hatte, wie die anderen über sie redeten. Wir trafen uns öfters, aber es gab eigentlich keine Geschichte zwischen uns. Na ja, wir trafen uns an der Bushaltestelle, manchmal gingen wir zusammen spazieren, weiter nichts. Dann tauschten wir unsere Adressen aus. Ich schrieb ihr, sie schrieb mir, meine Antwort war ziemlich eindeutig. Ihre Eltern kriegten diesen Brief in die Finger, das totale Drama, meine Eltern erfuhren davon. Die übliche Leier, na denn gute Nacht.
MATILDE:
Und das hat dem Zauber quasi ein Ende bereitet.
LIA:
Den gab's nur bei mir, bei ihr nicht.
MATILDE:
Ok, was jedoch die Gegenwart angeht, hast du mir erzählt, daß ihr vor kurzem diese Beziehung wiederaufgenommen, aber bald wieder beendet hat und daß es dir alles in allem eher lieber gewesen wäre, wenn dieser zweite Anlauf nicht stattgefunden hätte.
LIA:
Ja, manchmal denk ich, daß es mir lieber gewesen wäre, und dann wieder denke ich ...
MATILDE:
Jedenfalls, was dein Lesbischsein betrifft, abgesehen von der Anfangszeit, ich meine, die Zeit mit Roberta, also das Abbrechen und Wiederanfangen der Beziehung. Vielleicht hattest du auch wie alle eine Phase der Unsicherheit mit Ängsten und Regressionen und nicht darüber reden können. Aber wann hast du dich wirklich auf dein Lesbischsein eingelassen? Wann hast du es echt zugelassen und wolltest es leben?
LIA:
Tja, der Wunsch, es ohne Schuldgefühle zu leben ...
MATILDE:
Ohne Schuldgefühle? Ruhig auch mit ihnen, also wann hast du es denn jetzt wirklich gelebt?
LIA:
Du meinst, wann ich eine entsprechende Erfahrung mit einer anderen Frau gemacht habe?
MATILDE:
Ja, schon auch eine Erfahrung mit einer anderen Frau, aber was war mit dir, kamst du mit dir selbst klar? Also, war dir jetzt bewußt, daß du lesbisch bist?
LIA:
Das war mir doch schon immer bewußt, ich habe es nie in Frage gestellt, es nie verborgen. Weil ich es mir eben immer ganz klar eingestanden habe, ging es mir eine Weile ziemlich dreckig. Ich habe mir nämlich kein Alibi gesucht, noch irgendwelche anderen Tricks ausgedacht, ich habe es mir gestanden und fertig. Für mich war das Wort lesbisch nicht einmal beleidigend oder so, vielleicht lag das an meiner isolierten Situation, ich verband das Wort lesbisch mit der Insel Lesbos. Von daher war es für mich ein wunderschöner Name. Erst später habe ich dann mitgekriegt, daß es beleidigend gebraucht wird, aber das war erst sehr viel später, erst vor wenigen Jahren. Das hat mich dann nicht weiter mitgenommen.
MATILDE:
Stimmt, das hat keinen Eindruck mehr auf dich gemacht. Jetzt mal abgesehen davon, wann hast du dich konkret auf dein Lesbischsein eingelassen? Es auch gelebt?
LIA:
Tja, das erste Mal habe ich es ziemlich konkret und negativ mit einer heterosexuellen Frau gelebt. Die hat mich übrigens sogar mit einem Gegenstand entjungfert, alles in allem ganz schön tragisch. Es war so traumatisch, daß, wenn ich es mit der vorherigen Erfahrung verglich, ich wirklich fertig war mit Männern und mit solchen Frauen. Sie war ein Bauernmädchen aus der Gegend, in der ich lebte. Praktisch wurde ich von meinen Eltern gezwungen, sie kennenzulernen, weil ich zu isoliert lebte. Ich habe es nämlich gehaßt, überhaupt irgendwelche Beziehungen zu haben. Und da sie um mein psychisches Wohlergehen besorgt waren, zwangen sie mir diese Frau da auf. Damit sie abhaute, eben weil ich mit niemandem eine Beziehung wollte, nicht mal eine Freundschaft, habe ich ihr ganz nebenbei erzählt, daß ich lesbisch bin, damit sie verschwindet, zumindest dachte ich das. Statt dessen gab sie mir nun auch einiges zu verstehen. Und dann ... ganz ohne Erfahrungen und ziemlich ausgehungert, gab ich der Versuchung nach. Ich war so sechzehn bis siebzehn. Na ja, solche Sachen mochte ich eigentlich nicht. Mir kam diese Geschichte ziemlich schmutzig vor. Sie rief bei mir an, ich tobte wie wild, ich wollte sie nicht mehr sehen - und Schluß, und dann war nichts, bis ich 22 war, gar nichts...
MATILDE:
Nach dieser ersten Erfahrung hast du dich dann irgendwann ...
LIA:
Ja, bis dahin war dann sozusagen eine Atempause, aber nicht, weil ich mit meiner Homosexualität nicht klarkam, sondern weil ich überhaupt nicht durchblickte. Ich überlegte mir nämlich, wenn Beziehungen zu Frauen so ablaufen müßten, ja, dann weiß ich nicht bzw. wußte ich nicht mehr, an wen ich mich halten sollte ...
MATILDE:
Das ist klar, natürlich.
ALICE:
Aber, sag mal, warum wolltest du allein sein?
LIA:
Das hängt mit Roberta zusammen. Diese erste Trennung war schlimm für mich gewesen. Als wir in das andere Dorf umzogen, das weit entfernt von meinem war, habe ich zuerst noch versucht, von zu Hause abzuhauen... Zweimal holten sie mich zurück. Ich hatte nämlich versucht, dorthin, in das andere Dorf zurückzugehen. Dann weigerte ich mich, in die Schule zu gehen, ich wollte lieber alleine lernen. Also, nach der achten Klasse wollte ich nicht mehr in die Schule gehen. Ich habe dann angefangen, allen möglichen Mist zu essen und mehr als fünfzehn Kilo zugenommen, und dann wollte ich keinen Menschen mehr sehen, habe meinen Bruder wegen jeder Kleinigkeit angemacht, ich haßte alles und alle, ich benahm mich ziemlich tierisch. Diese Neurosen, manche haben sie früh, manche später, zum Glück habe ich sie früh gehabt, so daß ich jetzt davon befreit bin.
MATILDE:
Diese erste konkrete Erfahrung mit dieser Frau, mit dieser Bäuerin, hat dich so verschreckt, daß du sicher gedacht hast, wenn eine lesbische Beziehung so abläuft, dann verzichte ich lieber darauf.
ALICE:
Entschuldige, war sie heterosexuell?
LIA:
Tja, zur Zeit gilt sie im ganzen Dorf als heterosexuell, ja sogar mehr oder weniger in ganz A..
MATILDE:
Deine Eltern haben sich auch auf sie verlassen, eigentlich vertrauten sie dich dieser Frau an. Sie sollte dir helfen.
LIA:
Richtig, aber nicht, um mir zu helfen, sondern weil sie wollten, daß ich eine Freundin habe. Und so drehten sie mir diese da an.
MATILDE:
Aber ... was bedeutete diese Frau für deine Eltern?
LIA:
Nichts, sie hat unter uns gewohnt.
ALICE:
Eine Nachbarin?
LIA:
Ja, unsere Nachbarin. Schon das erste Mal, als ich sie sah, stopfte sie mich mit Süßigkeiten voll.
ALICE:
Kann es nicht so gewesen sein, daß sie die Sexualität als angstbesetzt erlebte, weil ... sie selbst ziemlich zu war? Wie siehst du das?
LIA:
Ich weiß es nicht, ich weiß aber, daß sie wußte, daß ich Robertas einzigen Brief aufbewahrte, ich hatte es ihr selbst erzählt, und sie verlangte von mir, daß ich ihn ganz vernichten sollte. Ich habe diesen Brief also kopiert, ihn etwas zerknüllte, damit er wie gelesen aussah, und ihn dann zerrissen. Sie verlangte aber, daß ich bei ihrem Leben schwören sollte, ich war gut im Schwören, was kratzte es mich? Na ja, außerdem war es gar nicht der Originalbrief. Ich überlegte mir aber dann doch, >Madonna, vielleicht stirbt sie jetzt< ... Ich bekam so großen Schiß, daß ich am Ende den echten Brief zerriß. Jedoch habe ich die Papierfetzen aufgehoben. Gleichzeitig entwickelte ich eine Art Haß auf diese Frau, weil ich ihretwegen den Brief zerrissen habe. Ja, ich war ein bißchen verwirrt, echt durcheinander ... Na ja, ich war 17 ...
MATILDE:
Wie alt bist du jetzt?
LIA:
29.
ALICE:
Aber entschuldige mal, kann es nicht sein, daß sie das, die Sexualität mit solcher Verbitterung lebte, weil sie sich nicht als Lesbe begriff?
LIA:
Ich habe nicht einmal von ihr verlangt, daß sie sich als Lesbe begreifen sollte, sondern genau das Gegenteil, ich habe ihr gesagt, daß ich lesbisch bin, um sie loszuwerden. Ich habe es nicht verstanden, warum sie so an mir klebte.
MATILDE:
Weißt du, ob diese Frau dann andere Mädchen zur >Behandlung< hatte?
LIA:
Als ich dem Mädchen, das ich danach hatte, davon erzählte, sagte sie mir, daß diese Frau auch einmal versucht hatte, sie anzufassen, aber nur so ...
MATILDE:
Mit 22 Jahren hattest du dann also dieses andere Mädchen?
LIA:
Ja, ich kannte sie aber schon seit Jahren, sie ging bei meinem Vater in die Grundschule. Ich machte in ihrer Klasse mein Praktikum. Dann wartete ich geduldig darauf, daß sie älter wurde ...
MATILDE:
Und du hast diese Geduld gehabt?
ALICE:
Sie war ein sehr junges Mädchen?
LIA:
Ja, sie war 7 Jahre alt. Als sie 14 war, machte sie sich zum ersten Mal an mich heran, aber ich wahrte Distanz, weil sie zu jung war. Dann war sie 17.
ALICE:
Und du 22.
MATILDE:
Ja, das hat auch mit dieser Frau zu tun und ihrer sogenannten Behandlung.
LIA:
Ja, das Dorf ist klein.
MATILDE:
Und mit diesem Mädchen? Was für eine Beziehung hattest du zu ihr? Hat sie angedauert, hat sie dir etwas bedeutet?
LIA:
Mit allen Höhe und Tiefen hat sie vier Jahre gedauert. Es gab mehr Tiefen als Höhen, d.h. wir haben uns manchmal sogar fünf bis sechs Monate lang gestritten. Ja, auch weil ich ein Jahr lang woanders unterrichtete. In der Zeit sahen wir uns nur selten, und diese wenigen Male liefen eher gespannt als liebevoll ab. So ging das noch ein paar Jahre. Jedenfalls war sie bei meiner Rückkehr verlobt. Auch vorher ließ sie sich dann und wann in ein Nachbardorf begleiten, wo sie einen Typen traf. Ich begleitete sie, also ich diente auch als Alibi, denn ihre Eltern vertrauten mir und waren dann beruhigt. Ich mußte zwei, drei Stunden am Strand verbringen, während sie nach ihrem Typen Ausschau hielt, also, ich mußte warten, bis sie zurückkam ... sie kam zwar total erregt, aber unbefriedigt von diesen Treffen wieder. Sie hatte eine Heidenangst, ihre Jungfräulichkeit zu verlieren, und so ... kam danach die Zulage.
MATILDE:
Also, du warst diese Zulage. Hat sie ihrer Erregtheit dann bei dir freien Lauf gelassen?
LIA:
Ja, ja ...
MATILDE:
Ich verstehe ...
ALICE:
Und wie hast du das nur ausgehalten?
LIA:
Es war tragisch für mich, eine ständige Frustration. Später, als sie dann verlobt war, war es noch schwieriger, denn ich mußte sie sogar zu ihrem Verlobten begleiten und ... dann ... schlief sie auch mit ihm. Also, na ja - ihre Familie benutzte mich als Garantie, als Bewacherin. Was soll's, in der Zeit, die sie mit dem Typen verbrachte, konnte ich mich nirgendwo sehen lassen, weder im Dorf noch außerhalb des Dorfes, denn ... es ist klar, nicht? Wenn ihre Familie mich allein gesehen hätte, hätten sie verstanden, das Spielchen mitgekriegt. Ich wußte nicht mehr, wo ich mich verstecken sollte.
MATILDE:
Warum haben sie schon, als du 22 warst ... geahnt, daß du lesbisch bist?
LIA:
Nein, mit 22 war das noch nicht. Nein, nein, erst später, als ich allein in dem anderen Dorf gewohnt habe
MATILDE:
Wann war das?
LIA:
Ungefähr vor fünf Jahren, aber sicher sind sie sich erst sei drei Jahren.
ALICE:
Sag mal, inwiefern tragisch, was meinst du damit?
LIA:
Ich meinte, daß sie mich ganz klar ausgenutzt hat.
ALICE:
Genau. Aber hast du geglaubt, daß die Beziehungen so sein müßten. Du, die Lesbe in dem Ganzen.
LIA:
Sie hatte die Tendenz, mich immer wieder darauf hinzuweisen, daß ich die Lesbe in der Beziehung war. Dauernd hat sie mir das gesagt, ständig darauf herumgeritten.
MATILDE:
Sie war natürlich was ganz anderes ...
LIA:
Wenn mir einmal ein >wir< rausflutschte, verbesserte sie mich immer und sagte >du<. Das war wichtig.
MATILDE:
Das ist typisch für die Beziehungen zwischen einer erklärt lesbischen und einer sogenannten heterosexuellen Frau, daß sie dir immer wieder vorwirft, daß du die Lesbe bist... Dabei werden sie oft als erste aktiv.
LIA:
Ja, ja, das stimmt. In der Tat war ich gehemmt und zu. Jedenfalls hat sie ...
ALICE:
Hat sie dir gegenüber den ersten Schritt getan?
LIA:
Moment mal, das lief alles viel komplizierter ab: sie hat es so gedreht, als ob ich ihn gemacht hätte, dabei ...
MATILDE:
Aber es ist schon bezeichnend, daß sie zu dem Typen ging, sich antörnte, aber Angst hatte, eine richtige sexuelle Beziehung zu ihm zu haben und dann ankommt, um mit ihr zu schlafen. Das sagt bereits alles ...
LIA:
Immerhin hatte sie Beziehungen zu anderen Frauen, alles normale Frauen.
MATILDE:
Alles normale, d.h. die in die Heteronorm integriert sind?
LIA:
Nein, weil eine ... einer Frau ...
MATILDE:
Wart mal eine Sekunde. Das ist wichtig, daß du gesagt hast, >alles normale< Frauen. Normal, wie alle sogenannten heterosexuellen Frauen.
LIA:
Ja.
MATILDE:
Von daher war sie die Lesbe des Tages?
LIA:
Ja, in jenem Fall hat es sie amüsiert, da sie wegen ihrer Verlobung abgesichert war. Und da sie diese anderen Frauen gut kannte, war alles scheinbar nur ein Spaß... Zuerst hat sie irgendeine betrunken gemacht, dann die Gelegenheit ausgenutzt, daß die dann unter die Dusche mußte, um wieder zu sich zu kommen, tja, sie hat ihr beim Duschen geholfen haarklein bis ins letzte Detail. Die unter der Dusche war eine Schulfreundin von ihr, sie ging noch aufs Gymnasium, eine andere war auch eine ihrer Schulfreundinnen ...
MATILDE:
Deine Freundin hat sich also damit amüsiert, bei ihren Klassenkameradinnen die Lesbe zu spielen. Mit dir hatte sie zwar eine wichtige und wirklich lesbische Beziehung, aber eine ganz klar abgesteckte: Du bist die Lesbe und ich die normale'... Hast du geglaubt, daß du je andere Frauen finden würdest, die sich wie du ihres Lesbischseins bewußt sind?
LIA:
In meiner Lage und in der Umgebung, in der ich lebte, war ich schon ziemlich verzweifelt. Ich begnügte mich mit allem.
MATILDE:
Ich möchte daran erinnern, daß Lia in einem kleinen Dorf im Süden lebt. Wenn wir schon ziemliche Schwierigkeiten in den Großstädten haben, ist das erst recht in den kleinen Orten so, immer die Angst, daß die andern es erfahren könnten ...
LIA:
Anderthalbtausend Leute.
ALICE:
Ich wollte aber wissen, ob du auch mal an die Möglichkeit gedacht hast, dich dem Ganzen zu entziehen oder ob du gedacht hast, daß es überall für Lesben dasselbe ist. Was hattest du konkret für Möglichkeiten, um aus deiner Isolation herauszukommen und deine Angst loszuwerden.
LIA:
Ich habe mich z.B. an alles mögliche rangehängt, nur um da rauszukommen. Einmal habe ich eine Anzeige in einer Zeitung gelesen, ich habe sogar so etwas gemacht, nur um meine Lage irgendwie zu verbessern. Diese Anzeige war von einer Frau aus Rom, die eine spezielle Freundin suchte. Ich durchschaute das Spielchen schon und habe ihr geschrieben, worauf sie mir antwortete. So entstand ein Briefwechsel. Die Frau war 26 Jahre, hatte zwei Kinder und einen Ehemann, den sie sehr gerne hatte. Und eines schönen Tages schrieb sie mir, daß sie wissen wollte, wie ich gedachte, aktiv zu werden. Und zwar immer in Anwesenheit des Ehemannes, denn sie liebe ihn so sehr. Ich habe schnell mitgekriegt, was für eine Art Geschichte sie da mit mir leben wollte und den Briefwechsel eingestellt.
MATILDE:
Das kann ich mir denken.
LIA:
Jedenfalls ... habe ich auch so etwas probiert. Ein anderes Mal war es eine völlig fingierte Anzeige, ich habe mich jedenfalls auf solche irreführenden Anzeigen gestürzt. Es war eine Hure, die mir ihre Adresse angab, das war auch in Rom, sie schrieb mir, in welchem Stockwerk sie wohnte und den Preis, über den wir uns dann verständigen könnten. Stellt euch das vor! Ich habe es überall versucht. Es ging immer in die Hosen.
MATILDE:
Wann hattest du dann die Beziehung, in der es dir besser ging?
LIA:
Das war die mit dieser Frau ...
MATILDE:
Mit dieser Frau, die was ... ?
LIA: Ja, aber ich habe die auch abgebrochen, ich war stark genug, um die Beziehung zu beenden.
MATILDE:
Um wen geht es?
LIA:
Um die, mit der ich vier Jahre zusammen war.
MATILDE:
Die auch verlobt war?
LIA:
Ja, genau ...
MATILDE:
Und was ist mit der Frau aus N.? War das vor kurzem? Hattest du vor dieser Frau andere richtige Beziehungen?
LIA:
Nicht gerade richtige, mehr so oberflächliche, die nach wenigen Tagen kaputtgingen. Fast alle mit heterosexuellen Frauen. Künstlich produzierte Bedürfnisse, heißt das so? Da ich total ausgehungert war, versuchte ich, sie irgendwie neugierig zu machen. Das ist zwar ein bißchen feige. Aber was sollte ich machen?
ALICE:
Glaubst du, daß du diese Bedürfnisse produziert hast oder meinst du nicht, daß sie sie nicht schon hatten?
LIA:
Vielleicht hatten sie sie schon vorher, klar. Sicher war das so. Genau.
MATILDE:
Ich glaube auch. Wahrscheinlich waren sie unbewußt lesbisch als heterosexuell.
LIA:
Ja ja, sie waren Frauen, die Erfahrungen sammelten, solche Erfahrungen konnten dann mal zehn Tage oder auch einen Monat dauern und na denn, tschüß.
MATILDE:
Und dann hast du die Beziehung mit der Frau aus N. gehabt, die ... wie lange anhielt?
LIA:
Zwei Monate, irre! Das war ein Rekord.
ALICE:
Wieder eine Heterofrau?
LIA:
Nein, sie habe ich kennengelernt, weil ... ich muß alles von Anfang an erzählen. In EFFE stand einmal eine Anzeige von einer 22-jährigen Frau. Sie schrieb, daß sie sich ausgeschlossen fühlte, weil sie anders sei. Aus ganz Italien bekam sie Unmengen Briefe von Lesben. Ihr Sich-Andersfühlen kam jedoch einfach daher, weil eines ihrer Beine kürzer als das andere war. Also, ein klassisches Mißverständnis. Pfiffig wie sie war, vermittelte sie all diesen homosexuellen Frauen diese verschiedenen Adressen, damit sie untereinander in Kontakt treten könnten, ohne daß sie sie um ihre Meinung fragte. Ich bekam die Adressen zweier Frauen. Quatsch, mir hat sie drei bzw. vier geschickt, von denen zwei aus Kampanien, eine aus der Toskana und die andere aus Apulien stammt. Ich habe allen geschrieben. Jedenfalls hat diese Frau, nachdem sie ein Weilchen mit mir korrespondiert hatte, mit allem angefangen und gesagt, daß sie nicht homosexuell sei und nicht einmal wisse, was das sei. Sie brachte Dinge aufs Tapet, die gezeigt haben, was weiß ich, sie war 18 und suchte ganz einfach einen Halt, denke ich. Viele jungen Frauen suchen den. Sie sehen bei den etwas Älteren, die ein paar mehr Freiheiten haben, irgendetwas und sind einfach hingerissen. Ich glaube, so läuft das. Jedenfalls, als wir anfingen, uns zu treffen, fieberten beide danach.
MATILDE:
Es war schön für euch beide, nicht wahr? Auch sie war demnach ...
LIA:
Ja, aber sie behauptete, daß sie mir ziemlich wenig traue. Nachts träumte sie, daß ich mit anderen zusammen über sie lachen würde, und solches Zeug. So etwas hätte ich mir nie geleistet, denn ich habe Respekt vor den anderen. Das ließ mich schon ein wenig zweifeln, sie hatte bestimmt kein Vertrauen zu mir, wenn sie solche Träume hatte. In jedem Brief flehte sie mich an, daß ich diese ganzen Sachen nicht machen sollte und so etwas ...
MATILDE:
Trotzdem, Leidenschaft auf beiden Seiten
LIA:
Ja, Gedichte von Neruda in jedem Brief.
MATILDE:
Ach, war sie die, die dir jedesmal Gedichte schickte, wenn sie dir schrieb?
LIA:
Ja, sie hat mir Haben oder Sein von Erich Fromm geschenkt. Jedenfalls lief das wechselseitig, wir kamen uns auf allen Ebenen näher.
ALICE:
Und wie ging es zu Ende?
LIA:
Ich weiß es nicht ... also, wir schrieben uns täglich. Zum Verrücktwerden! Die Briefe erreichten mich immer in der Schule. Die Hausmeisterin dort meinte zu mir: >Fräulein, Sie kriegen immer grüne Umschläge.< Ganz nebenbei ließ sie es einfließen, sie machte sich nicht klar, daß auf der Rückseite der Absender einer Frau stand, immer der gleiche. Was soll's, es ist aus. Sie schickte mir zwei Briefe. Der erste war voll von ihrer übergroßen Liebe zu mir, von Anfang bis zum Ende war alles Einbildung, alles gespielt und runtergeplappert wie auf einer Platte. In der Zwischenzeit hatte ich ihr jedoch mitgeteilt, daß mir Roberta wieder geschrieben hatte.
MATILDE:
Die alte Geschichte, die wieder auflebte...
LIA:
... und ein paar Tage später erhielt ich den zweiten Brief, in dem sie mir schrieb, daß sie mich nicht liebte, daß sie sich geirrt hatte, daß alles schiefgegangen war. Ich blickte nicht mehr durch, ich sah auch keinen Zusammenhang mit Roberta. Ich hatte ihr nur ganz nebenbei davon erzählt. Ich maß der Sache mit Roberta längst nicht eine solche Bedeutung bei wie sie.
MATILDE:
Aber du hattest ihr von deiner praktisch ungeklärten Kindheitsliebe erzählt. Zwischen euch gab es zwar so etwas wie Liebe, aber die alte Geschichte hat dich dann wieder eingeholt. Sie hat Schiß gekriegt, was weiß ich ... vor einer Auseinandersetzung.
LIA:
Aber ich habe es ihr doch ganz normal und beiläufig gesagt ... Aber eigentlich ist es erst hinterher, als andere Briefe eintrudelten, klar geworden. Es war alles ziemlich unangenehm. Im letzten Brief warf sie mir vor, daß ich sofort wieder auf Roberta reingefallen wäre. Da habe ich alles verstanden, aber es war längst zu spät. Davor hatte ich nicht richtig durchgeblickt, bei dieser Kehrtwendung von einer-n Tag zum anderen. Morgens am 14. Februar kriegte ich zwei Briefe, und am 15. dann diesen. Wie eine kalte Dusche. >Die hat 'ne Macke weg< habe ich gedacht, >und dann ist es auch idiotisch, sich mit 18-jährigen abzugeben, die sind nicht ganz klar im Kopf,< So jammerte ich rum, ohne irgendwelche Zusammenhänge...
MATILDE:
Du selbst sagst aber doch heute, daß du wegen der Rückbesinnung auf deine alte ungeklärte Kindheitsliebe zu Roberta, unter der du ja noch heute leidest, deiner letzten Beziehung nachtrauerst.
LIA:
Aber es ist sinnlos, denn ich weiß genau, daß ich mich ihr nicht mehr nähern kann. Außerdem habe ich es seit einigen Monaten aufgegeben, ihr zu schreiben. Es wurde zu einer Qual, sich zu schreiben.
MATILDE:
Das glaube ich. Nunmehr sind das alles gegessene Geschichten. Klar ist auch, daß du immer weiter gehen mußt und dabei nicht vergessen darfst, daß du große Schwierigkeiten hattest. Wenn ich mich nicht irre, hast du auch enorme existentielle Probleme. In der Zwischenzeit hattest du dann angefangen zu arbeiten, an der Schule zu unterrichten. Du hast dich mit Sekretären, Kollegen, Lehrern usw. herumgeschlagen ... Du warst auch gezwungen, dein Lesbischsein unter tausend Ausflüchten zu leben und ...
LIA:
Ich habe davon nie viel Gebrauch gemacht. Besonders im letzten Jahr nach dem Schwulencamp, von dem das ganze Kaff sprach, war mir das alles schnurzegal.
MATILDE:
Eine Sekunde, fand dieses Camp im letzten Sommer statt?
LIA:
Ja ...
MATILDE: Wir haben uns aber im März 1978 kennengelernt, anläßlich des F.U.O.R.I. Kongresses. Ich war schwer von dir beeindruckt, weil in dem nur zwei- oder dreitägigen Treffen deine Stärke rübergekommen ist und genauso deine Klarheit darüber, daß du zu deinem Lesbischsein stehen willst und dabei auch die Schwierigkeiten mit deiner Arbeit in Kauf nimmst. Du hast gesagt, im Dorf würde darüber geredet. In der Schule hatten sie davon erfahren, es waren schon Beschwerden gekommen ... Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, ob sie von der Gemeinde, dem Bürgermeister oder dem Pfarrer kamen.
LIA:
Nein, das war mein Schulrektor, bei dem ich meine Ausbildung gemacht habe. Tja ... er zitierte mich in sein Zimmer, um mir mitzuteilen, daß er äußerst häßliche Sachen über mich gehört hätte. Als ich ihn löcherte, um herauszufinden, um was es ging, sagte er, >Ich habe gehört, Sie sind lesbisch'. Ich darauf, >Ist das alles?< worauf er antwortete, >Das erscheint ihnen wenig? Dagegen kann rechtlich eingeschritten werden.< Ich weiß nicht warum, denn sie können dir nichts, solange du die Kinder in Ruhe läßt. Trotzdem kannst du schon Scherereien kriegen. Na ja, halt das übliche Gerede, daß er mir helfen wolle, daß es in jedem Fall gut sei, wenn ich eine Versetzung beantragen würde. Ich sollte in einen größeren Ort gehen, mit mehr Menschen, und wo ich unbeobachteter leben könnte. Aus meinem Versetzungsantrag machte ich aber eine Farce, d.h. ich schrieb ihn so, daß er mir nicht bewilligt wurde. Ich tat das, um den Schein zu wahren. Ich blieb dann ein weiteres Jahr dort. Dieses Jahr habe ich wieder einen Antrag gestellt, aber so, daß ich wirklich gehen kann, denn es haben sich inzwischen andere Dinge ereignet.
MATILDE:
Welche?
LIA:
Ich habe die Olivenpflückerinnen aus dem Dorf verteidigt und versucht, sie für die Gewerkschaft zu gewinnen. Sie arbeiten für einen Boss aus dem Dorf.
ALICE:
Wie sah ihre Arbeit für diesen Boss aus?
LIA:
Er ist Großgrundbesitzer und hat für das Ernten der Oliven 1000 Lire am Tag bezahlt.
ALICE:
Typisch ...
LIA:
Ja ... und dann ... das Ereignis dieses Sommers. Am 31. August bestellte mich der Rektor auf's neue zu sich, um mir mitzuteilen, daß das Schwulencamp wirklich der Tropfen sei, der das Faß zum Überlaufen bringe... Er sagte, wenn ich nicht sofort etwas dagegen unternehmen würde ... also ... er selbst würde bestimmt nichts machen ... daß ich aber, wenn mich irgendjemand anonym anzeigen würde, aus disziplinarischen Gründen versetzt werden könnte. Ich habe das aber nicht eingesehen, denn an der Schule wurde meine Arbeit bis dahin immer anerkannt. Ich machte die Weiterbildungsveranstaltungen, irgendwie war ich eine Führungskraft, darum fühlte ich mich in dieser Hinsicht ziemlich sicher... Trotzdem habe ich in der Zeit meine Versetzung beantragt, ich war es einfach leid.
MATILDE:
Ja, klar, du hast ganz schön gekämpft ...
LIA:
Nein, es war etwas passiert. Vor Jahren gab's da eine Frau, die psychisch ein bißchen gestört war. Na ja, zwischen uns war etwas, es war ganz gut. Danach lief sie aber im ganzen Dorf herum und erzählte, daß ich versucht hätte, sie zu vergewaltigen! Da ging's hoch her ... eine der vielen chaotischen Geschichten meines Lebens!
ALICE:
Du hast also deine Versetzung beantragt und lebst jetzt woanders?
LIA:
Ja.
ALICE:
Und wie gefällt dir das?
LIA:
Ich habe noch nicht angefangen zu arbeiten.
ALICE:
Wie gehst du heute mit deinem Lesbischsein um? Glaubst du, daß sich die Dinge verändert haben, fühlst du dich immer noch alleine, hat es für dich auch eine politische Seite? Du hast vorhin gesagt, daß ihr beide euch im F.U.O.R.I. kennengelernt habt. Wart ihr beide im F.U.O.R.I.?
LIA:
Nein, offiziell gehöre ich keiner Gruppe an. Ich habe keinen F.U.O.R.I.-Ausweis usw., dafür habe ich F.U.O.R.l. und LAMBDA abonniert, ich habe auch Kontakte zur Schwulenbewegung. Sie haben mir sogar dieses Blättchen, SAPPHOS BRIGADEN geschickt. Seit kurzem gehöre ich aber der Radikalen Partei an, nur der. Jedoch möchte ich versuchen, eine politische Homosexuellengruppe zu organisieren, aber bislang habe ich mich in der Partei noch nicht dafür eingesetzt.
MATILDE:
Sie geht auf alle Veranstaltungen, Lesben- und auch Schwulentreffen. Sie ist immer auf dem laufenden, wenn sich etwas tut.
ALICE:
Wie bist du zum F.U.O.R.I. gekommen? Warum? Kannst du ein bißchen mehr davon erzählen?
LIA:
Ich bin reingegangen, als ich mich nach vier Jahren entschieden habe, mich von A. zu trennen, weil sie weitermachte mit ihrem Spiel auf doppeltem Boden. Ich überlegte mir, daß ich wegen meiner isolierten Lage an ihr kleben bleiben würde, bis ich einen Ausweg, eine Möglichkeit fände, meinen Interessen woanders nachzugehen. Dann las ich in einer der ersten Ausgaben der NOTIZIE RADICALI vom F.U.O.R.I., sah die Adresse, die sich dann als die alte herausstellte, und schrieb ihnen. Es vergingen ein paar Monate, bevor ich eine Antwort von I. aus Turin erhielt. Wir haben uns ziemlich häufig geschrieben. Daraus entstand eine Freundschaft. Wir haben auch miteinander telefoniert, sie sind letztes Jahr auch zum Campen runtergekommen. Wir haben uns viel erzählt, ich habe sie auch mal besucht. Dann ...
MATILDE:
Entschuldige mal. I. macht heute nicht mehr beim F.U.O.R.I. mit, C. und T. haben mir erzählt, daß sie rausgegangen ist und daß sie sich mit den Frauen aus dem Turiner Frauenbuchladen zusammengetan hat.
LIA:
Sie hat aber keine hohe Meinung von ...
MATILDE:
Wahrscheinlich hat es nur kurz gedauert, aber sie hat versucht, ihr Lesbischsein nicht als ein Politikum so wie beim F.U.O.R.I. zu leben, sondern mehr im lesbischfeministischen Sinne, nur mit Frauen.
ALICE:
Ich wollte dich fragen, hast du dich besser gefühlt, als du mit deiner Isolation gebrochen hast, oder fühlst du dich isoliert irgendwie besser?
LIA:
Nein, das nicht: Jedenfalls habe ich so mehr Verpflichtungen, ich bin beschäftigt, nur deswegen.
ALICE:
Wenn es nichts anderes gäbe, wäre ich auch bestimmt im F.U.O.R.I.. Als ich Matilde kennenlernte, hörte ich, daß sie im F.U.O.R.I. war. Ich habe ihr gesagt, daß ich auch hingehen wollte, um mich zu informieren. Dann habe ich mich kurz danach mit weiteren lesbischen Frauen angefreundet, und wir haben unsere eigene Gruppe gemacht.
MATILDE:
Richtig, den F.U.O.R.I. hatten wir nicht mehr nötig, obwohl ich zumindest noch Kontakte zu einigen schwulen Freunden aufrechthielt. Ich hatte aber kein Bedürfnis mehr nach politischen Treffen mit männlichen Homosexuellen. Mein großes Bedürfnis war es, meine Homosexualität mit Frauen zu leben. Ich wollte auch Selbsterfahrung machen, und zwar außerhalb einer Liebesbeziehung, etc. ja, auch auf einer politischen Ebene ... was im F.U.O.R.I. fehlte. Die lesbischen Frauen gingen wahrscheinlich lieber in die Frauenbewegung, weil sie da doch etwas unerkannter und getarnter bleiben.
LIA:
Na ja, aber in dem Ort, in dem ich lebe, gibt es weder Frauen noch Männer, mit denen ich mich darin irgendwie verstehen könnte. Was können mir der Turiner F.U.O.R.I. oder der in Rom bringen? Freundschaften, sonst nichts. Für Beziehungen und nähere Kontakte wohne ich aber zu weit entfernt.
MATILDE:
Stimmt.
LIA: Wie etwas bezeichnet wird, ist mir egal. Hauptsache, es wird diskriminiert ein bestimmter Kampf geführt. F.U.O.R.I. bezieht sich auf die Radikale Partei, die eine allgemeine politische Linie hat zugunsten aller Unterdrückten, aller Randgruppen. Frauen werden diskriminiert, Behinderte werden diskriminiert, Homosexuelle werden diskriminiert, tja, bringen wir sie politisch alle zusammen anstatt sie getrennt zu lassen. Bringen wir's weiter, je mehr desto besser, es geht nur weiter, wenn wir viele sind.
ALICE:
Ich möchte nicht unbedingt polemisch werden, aber ich glaube, entweder treiben wir eine Sache voran oder es passiert nichts. Ich unterstelle den anderen keinen bösen Willen, ich denke dabei überhaupt nicht an so etwas, sondern nur an die politischen Mittel. Also, es ist mir bewußt, daß es eine ungeheure Sache ist, lesbisch zu sein. Unsere Kultur existiert schon, wir müssen sie nur wiederfinden. Das gilt genauso für unsere spezifische Art von Zusammensein. Lesbisch zu sein, beinhaltet viel. Vielleicht werde ich mir irgendwann einmal eine übergreifende politischen Organisation näher angucken, aber wer weiß, was mit mir sein wird ...
LIA:
In eurer Realität habt ihr Möglichkeiten, euch zu treffen und euch auseinanderzusetzen, während ich ... mit wem kann ich mich schon auseinandersetzen?
MATILDE:
Ja, das haben wir. Aber ich bin davon überzeugt, wenn Lia in Rom leben würde, käme die Radikale Partei auch für sie nicht mehr in Frage. Sie würde bei der neuen Gruppe im Governo Vecchio mitmachen und bestimmt zu den politisch Engagiertesten gehören. Ich bin mir da ganz sicher, sie hat so viele Energien gespeichert, die sie einsetzen würde, sie würde sich durchsetzen und sich Gehör verschaffen. Klar, in der Provinz ist sie doppelt isoliert. Was soll sie tun? Sie hat keine Alternative und engagiert sich für die Sache der Lesben in der Radikalen Partei, die ja das Auffangbecken sämtlicher Bewegungen der sogenannten Randgruppen ist. Was könnte sie sonst tun?
ALICE:
Spürst du z.B. nicht das Bedürfnis, an einen Ort zu gehen, wo mehr Lesben sind?
LIA:
Ehrlich gesagt, als ich im Zanzibar war, kam ich mir ein bißchen vor wie ein Fisch auf dem Trockenen ...
ALICE:
Wie?
LIA:
Ich fühlte mich draußen, das ist alles.
MATILDE:
Tja ... das erste Mal bist du verunsichert, so viele Frauen. Frau hat ja nicht sofort den großen Anschluß. Ist doch verständlich, daß du dich das erste Mal nicht so toll fühlst. Du hast X Phantasien und Wünsche, und es kann sogar sein, daß du glaubst, daß du nicht akzeptiert wirst, und darunter leidest.
LIA:
Ja, ich habe noch ein Problem. Ich war nie tanzen. Das erste Mal war ich vor zwei Jahren im Emanuelle und dann letztes Jahr im Zanzibar, aber ich komme mir dort vor wie auf dem Mond. Ich gehe dahin, wenn ich mit einer Frau zusammen bin, die das unbedingt will oder um, wie beim ersten Mal, meine Neugierde zu befriedigen. Damit reicht's aber auch. Kurz gesagt, ich erlebe es immer als Außenstehende.
MATILDE:
Heißt das, daß dir direkter menschlicher Kontakt wichtiger ist als das Tanzen?
LIA:
Um bei der Wahrheit zu bleiben, ziehe ich die Einzelkontakte den Massen, die dich dann doch nur enttäuschen, vor.
ALICE:
Ja, das kenne ich, aber dadurch kannst du auch neue Leute kennenlernen ... neue Freundschaften schließen. Z.B. wenn du an einem Kongress teilnimmst, ist nicht nur der wichtig, sondern genauso die Bekanntschaften, die du da machen kannst.
LIA:
Ja, aber ein Kongreß ist etwas anderes ...
MATILDE:
Ich glaube, daß du eigentlich ein unheimliches Bedürfnis hast nach Beziehungen zu anderen Frauen. Zumindest ist es untergründig da, auch sexuell, was du aber vor dir und nach außen hin aus einem politischen Selbstverständnis nicht zuläßt. Daher hast du rein verbale Beziehungen, die viel tiefergehen als die, die beim Tanzen entstehen. Das Tanzen ist ja schon eine Annäherung an das Zusammenschlafen.
ALICE:
Ich bin damit nicht ganz einverstanden ...
MATILDE:
Na ja, du gehst doch zum Tanzen ins Emanuelle, um hinterher zu vögeln. Wir wissen, daß es im Zanzibar nicht so läuft, trotzdem ...
ALICE:
Aber es geht da auch um die sogenannten sinnlichen Lesben, nicht wahr? Ich meine, das Zanzibar ist politisch sehr wichtig, ein Ort, den es zu schützen gilt, und den wir nach unseren Bedürfnissen ausrichten müssen ... Es wundert mich nicht, daß die Zeitungen alle Horrorgeschichten über das Pin Up bringen. Sogar heute, wie mir scheint, steht etwas darüber im Corriere della Sera... Ich glaube aber, das Pin Up ist ganz anders als das Zanzibar. Insbesondere wird im Zanzibar nicht jeden Abend getanzt, natürlich ist es nicht das Paradies auf Erden, trotzdem ist es, finde ich, sehr wichtig, da es das erste alternative Lokal für homosexuelle Frauen ist. Also, kein Wunder, gleich nach der Eröffnung wurden dort Unmengen von Kursen angeboten. Frau mußte einfach einen Workshop mitmachen, frau ging aber nicht etwa hin, um andere Frauen kennenzulernen, was der eigentliche Grund war, warum alle dorthin gingen, statt dessen mußtest du sagen, >Ich gehe hin, um Englisch oder Klavierspielen zu lernen usw.< ... Wir mußten alle alles lernen. In Wirklichkeit ... waren das nur Ausreden, denn es gehört schon viel Mut dazu,
MATILDE:
Was hält dich in S.? Die Radikale Partei? Ein neues oder auch älteres Lokal?
LIA:
Ja, es gibt schon ein Lokal ... aber das ist nur eine Heterobar, die auch von ...
MATILDE:
Wenigstens eine Kontaktmöglichkeit, klar, das Lokal, das, 80 km von S. entfernt ist...
LIA:
Tja, das ist nicht gerade berückend, aber was soll's.
MATILDE:
Vorhin hast du von deiner Familie gesprochen ...
LIA:
Ja, meine Familie, mein Vater und meine Mutter.
MATILDE:
Was für ein Verhältnis hast du zu ihnen?
LIA:
Ich hatte ein gutes in den sieben Jahren, in denen ich 130 km von Rom entfernt wohnte ... Hoffentlich geht es jetzt auch gut, jetzt, wo ich wieder bei ihnen wohne.
MATILDE:
Warum hast du dich nach dem Alleinleben wieder dazu entschieden?
LIA:
Vor einem Monat
MATILDE:
... hast du dich für ein erneutes Zusammenleben mit deiner Familie entschieden, weil dein Vater sehr krank ist und du als einzige nichtverheiratete Tochter deinen alten Eltern am ehesten zur Hand gehen kannst? Ich würde sagen, daß alles in allem dabei die Krise mit Roberta eine Rolle gespielt hat, denn wenn du eine sehr glückliche Beziehung gehabt hättest... Reden wir Klartext, wenn du total glücklich mit Roberta gewesen wärest, sie zu dir gesagt hätte, >Komm nach Rom, laß uns zusammen leben<...
LIA:
>Komm nach Rom< hat sie mir schon gesagt ...
MATILDE:
Eine Sekunde, okay. Dazu kommt noch das Chaos mit der anderen Frau, du hast dich aus gutem Grund da herausgehalten, aber wenn es das Optimale gewesen wäre, reden wir Klartext, dann wäre dir deine Familie bis zu einem gewissen Grad scheißegal gewesen ...
LIA:
Ja, meine Familie wäre mir dann in der Tat überhaupt nicht wichtig!
MATILDE:
Ich möchte damit sagen, daß du natürlich bis zu einem gewissen Punkt deine Pflicht als gehorsame Tochter erfüllt und deinen Vater im Krankenhaus besucht hättest, und wenn es deinem Herrn Papa dann besser gegangen und er in der Lage gewesen wäre, nach Hause zu gehen, hättest du gesagt, >Tja, liebe Eltern, kümmert euch jetzt um euren Kram, ich habe meinen Teil gemacht, den Rest können die in Palermo machen ... < Das wäre etwas ganz anderes gewesen als das, was du als Ausweg aus deiner derzeitigen Krise machst. Du hast dich dafür entschieden, weil es dir, wie du mir vor kurzem gesagt hast, vor allem auch gefällt, nach Hause zum Alleinsein zurückzukehren, weil du deine eigene Kraft wiederfinden mußt. Und du findest sie nur, wenn du 14 und 15 Stunden ziemlich harte körperliche Arbeit machst und durch die schwere Arbeit nicht zum Nachdenken kommst und physisch völlig geschafft bist, so daß du abends nur ins Bett fallen und schlafen kannst.
LIA:
Ja, ich falle förmlich hinein ...
MATILDE:
Ja, du bist dann total kaputt... Nun bist du auf diesen Ausweg gekommen.
ALICE:
Warum, was kann passieren, wenn du nachdenkst?
LIA:
Ich habe Angst, daß ich, wenn ich nachdenke, das alles wiederhole - na ja, damals war ich sehr viel unreifer, was schon mal passiert ist, früher mit Roberta. Daß ich zehn Jahre lang ein Idol anhimmelte, ich quasi ihre Füße küßte ... Wahrscheinlich würde ich das nie wieder tun, weil ich heute realistischer als damals bin, aber - na ja ...
ALICE:
Aber was ist denn so Besonderes an Roberta? Sie war deine erste Liebe, na und?
LIA:
Wahrscheinlich, weil sie wirklich meine erste Liebe war vielleicht auch, weil sie mir ähnelte - also, als ich klein war. All das mag sehr dazu beigetragen haben, daß sie für mich etwas Besonderes war. Ja, wenn ich heute aus der Distanz über sie rede, ist das Besondere an ihr ihr Haufen ungelöster Probleme! Ich weiß es nicht, vielleicht habe ich einen missionarischen Tick, und da ich ihn nicht bei ihr befriedigen konnte, mache ich es jetzt bei meinem Vater und meiner Mutter...
ALICE:
Ja, komisch ist es schon, diese enorme Wichtigkeit ...
MATILDE:
Du hast vorhin gesagt, daß Roberta dir nicht ausdrücklich untersagt hat, nach Rom zu kommen ... Was heißt das? Wie hat sie sich das vorgestellt, eine Beziehung mit dir leben zu wollen? >Komm nach Rom< ... um was zu tun? Sie ist mit S. zusammen, und auch in der Beziehung kommt sie nicht klar ... wie schon in anderen Beziehungen, soweit ich weiß. Ihre Beziehungen gehen nie gut, weil sie mit sich selbst nicht im reinen ist.
LIA:
Ja ... genau, das Drama liegt nicht bei den anderen, sondern in ihr selbst.
MATILDE:
Was beabsichtigte sie demnach mit dieser halbherzigen Einladung nach Rom?
LIA:
Sie hatte fünf Tage im Dorf mit mir verbracht und täglich unter zig Vorwänden ihre Rückkehr nach Rom verschoben. Sie schaffte es aber nicht, ihre Rückreise noch offen zu lassen, weil ihr das einengende Leben im Dorf viele Probleme machte ... So traute sie sich nicht, auf die Straße zu gehen oder sich am Fenster zu zeigen, weil sie Angst vor dem Urteil der Leute hatte. Ihre Erfahrungen mit der Umwelt haben bei ihr ein Trauma ausgelöst, was sie überhaupt noch nicht überwunden hat, d.h. sie hat eine wahnsinnige Angst ... Dort unten kann sie sich viel viel weniger akzeptieren als in Rom. Hier in der Stadt fühlt sie sich als ein Nichts, weil sie unter Hunderttausenden von Menschen lebt, niemand betrachtet dieses Nichts, niemand beobachtet sie.
ALICE:
Das Leben in der Anonymität ...
LIA:
Ja, ein anonymes Leben, nur deswegen ...
MATILDE:
Aber warum wollte sie dann, daß du nach Rom kommst?
LIA:
Sie meinte, daß wir in Rom weniger Probleme hätten, aber, ich weiß nicht, das letzte Mal im April hatte sie gesagt, daß sie vier Tage bleiben würde. Ich brachte sie bis zum Bahnhof und dann? Ich nahm sie wieder mit nach Hause. Ehrlich, erst rein in den Zug und dann wieder raus. Eines Tages meinte sie, daß sie S. anrufen würde, um sie wissen zu lassen, daß sie vier Tage später als geplant zurückkommen würde. Als sie jedoch vom Telefonieren kam, sagte sie, >Ich kauf mir jetzt eine Karte< ... Tja, ich habe das größte Verständnis für S., sie ist mir sympathisch ... S. hatte ihr gesagt, daß sie die Schnauze voll hat, was von ihrem Standpunkt aus berechtigt ist. Jedenfalls haben wir den Abfahrtstermin nach Rom erst vom 8. März auf Ende März verschoben und waren dann sogar bis zum 5. April zusammen. Am 10. April kam sie wieder ins Dorf zurück und blieb bis zum 25., eigentlich wollte sie bis zum 1. Mai bleiben. Blickt ihr noch durch? S. litt unter den täglich verschobenen Abreiseterminen und sie gab zu verstehen, daß sie ziemlich genervt war. So fuhr Roberta nach Rom zurück, und während sie in ihrem ersten Brief von ihrer Krise mit S. berichtete und daß sie es nicht erwarten könne, zu mir zu kommen, schrieb sie einige Tage später in ihrem zweiten Brief, daß ihr die Entfernung gezeigt hätte ... na denn alles Gute!
ALICE:
Und das alles per Brief, wie schrecklich! Sag mal, wann wurde dir klar, daß du lesbisch bist? War das, als du Roberta, die lesbisch war, kennengelernt hast? Bist du da losgezogen, um dich darüber zu informieren? Hast du auch in Büchern, Zeitungen usw. nachgeschaut?
LIA: Ja, schon. Im Lexikon stand es unter >Perversion', jedoch hatte ich damals noch keine genauen Worte dafür und dachte anfangs fälschlicherweise, daß wir uns eigentlich als Hermaphroditen bezeichnen müßten, halb Mann und halb Frau. Ich habe das so gesehen, auch weil mir eine Freundin gesagt hatte, daß mein Körper bei meiner Neigung natürlich auch nicht normal sein könnte. Das war ihr Sichtweise ... Alles paßte zusammen. Ja, sie war die Freundin, die mir gesagt hatte, daß Roberta lesbisch sei, und daß sie in der Schule einmal mit ihr zum Klo gegangen sei und ihr gesagt hätte, >Mach alles mit mir, was du willst< ... halt, die üblichen erotischen Phantasien.
MATILDE: Hast du abgesehen vom Lexikon noch andere Sachen gefunden?
ALICE: Nee, wart< mal, diese Sache mit dem Hermaphrodismus, daß du physisch gesehen nicht ganz normal gewesen sein sollst.
LIA: Oh, ja. Was soll's, damals habe ich nicht gerade oft masturbiert, fast nie ... denn ich war davon überzeugt, daß mich der Herrgott fürs Bravsein belohnen und mein Geschlecht umwandeln würde.
ALICE: Ach, du wolltest dein Geschlecht umwandeln?
LIA: Ich dachte, daß das vieles lösen würde, nicht, weil ich mein Geschlecht umwandeln wollte, sondern weil es bestimmt die Rückkehr zur Norm bedeutet hätte.
MATILDE: Ja, sicher ... wenn du ein Mann geworden wärst.
LIA: Ja. Also, ich habe mich nie angefaßt bzw. ich machte es um herauszufinden, ob ich wirklich etwas hätte, was nicht stimmte. So kam es, daß ich meine Klitoris entdeckte. Andernfalls glaube ich, hätte ich sie vielleicht gar nicht entdeckt. Mich hat das ziemlich beunruhigt, ich war fest davon überzeugt, daß somit etwas nicht stimmte.
ALICE: An deinem Körper, meinst du? ... Warst du auch davon überzeugt, daß nur Männer Frauen begehren, und daß es deswegen zweckmäßiger sei, ein Mann zu sein?
LIA: Ja ...
ALICE: Aber ... ich weiß nicht, was für Informationsquellen hattest du sonst noch über's Lesbischsein?
LIA: Zeitungen ... Einmal las ich im Domenica del Corriere von zwei schwedischen Frauen, die eine war Atomphysikerin und die andere Ingenieurin, daß sie ihre Verlobung in einer Lokalzeitung angekündigt hätten. In der gleichen Zeitung stand etwas von einer >Hochzeit zwischen zwei Schwulen< in Mexiko. Dann habe ich ein Buch gekauft, ich weiß nicht mehr von welchem Verlag, jedenfalls ... zuerst las ich Gli amori impossibili.[1] Was soll's, ich schämte mich wie verrückt, als ich es in meinem Dorf abholte. Was soll's, immer mit der Ruhe!!
MATILDE:
Gli amori impossibili?
LIA:
Ja, was soll's, es war Schwachsinn ...
MATILDE:
Jedenfalls hast du es geschafft, es dir dann doch zu besorgen.
LIA:
Ja, ebenso Donne pericolose,[3] das war sehr interessant, und dann ein soziologisches Buch über die Homosexualität und abweichende Sexualität überhaupt: I fuorilegge del sesso, [4] eine Übersetzung aus dem Englischen. Oh je!
MATILDE:
Ist doch verständlich, bei deinem Ausgehungertsein ...
ALICE:
Aber, wie alt warst du da?
LIA:
Das war so um die zwanzig rum.
MATILDE:
Bei deinem Verlangen nach irgendetwas Geschriebenem hast du alles gelesen, was dir in die Finger kam...
ALICE:
Was sonst!
MATILDE:
Wie toll wäre das gewesen, wenn es brauchbare Bücher bzw. Dokumentationen gegeben hätte.
LIA:
Besonders, da ich aus einer leicht bigotten, protestantischen Familie komme.
MATILDE:
Sind deine Eltern evangelisch?
LIA:
Ja, ich auch... Da liest du in der Bibel von der Verdammung der Männer, die es mit Männern treiben, aber keine Anspielung auf Frauen, die es mit Frauen tun. Du wunderst dich, >Vielleicht ist es nur bei Männern eine Sünde und nicht bei Frauen?< Puh, ich weiß nicht! Du suchst dann irgendeine Entschuldigung, hörst Vater und Mutter, die über solche Fälle reden ... Mamma mia, so etwas kann nur den anderen passieren! Oh ja, ab und zu meinte mein Vater, wenn aus meinem Bruder so etwas geworden wäre, ... Immer wurde über Männer geredet, Frauen fielen dabei völlig aus. Obwohl ich vermutete, daß es ähnlich verurteilt wurde, klammerte ich mich daran, daß es nicht ausdrücklich verboten war.
MATILDE:
Wann haben es deine Eltern eigentlich von dir erfahren?
LIA:
Sie haben es ein paar Mal erfahren, nur, glaube ich, ist es die Eigenart aller Eltern, immer so zu tun, als hätten sie es vergessen.
MATILDE:
Du hast mir aber heute erzählt, daß deine Mutter sehr verständnisvoll ist, daß sie es akzeptiert.
LIA:
Ja, ein Beispiel aus der Vergangenheit: Als mein 14-jähriger Bruder mein Tagebuch entdeckte und es meinen Eltern zeigte, sagte sie zu mir, daß es nur eine altersbedingte Erscheinung sei. ... Drei oder vier Jahre später, als mein Bruder fortfuhr, mich zu bedrohen, konnten sie sich an nichts erinnern bzw. sie wollten sich nicht an den ersten Vorfall erinnern ... Wie machen sie das nur, sich an so etwas nicht zu erinnern? Ich glaube nicht, daß sie sich wirklich nicht erinnern.
ALICE:
Glaubst du nicht, daß wir selbst es auch doller machen, als es ist? Als ich meiner Mutter erzählte, daß ich lesbisch bin, habe ich ihr auf ihr ständiges Fragen, >Warum heiratest du denn nicht?< geantwortet, >Nein, Mama, das mache ich nie, ich bin lesbisch'. Ihre Antwort darauf, >Ach, sieh mal einer an', und dann zählte sie die Namen von ihren Freundinnen auf ... Ich war fassungslos, denn ich hatte erwartet, daß ich ihr etwas total Ungewöhnliches sagen würde, während es für sie etwas ganz Selbstverständliches war. Stellt euch vor! Meinst du nicht, daß es nicht auch an uns liegt?
LIA:
Nein, finde ich nicht. Denn als ich 22 war, haben es ihnen andere Verwandte gesagt, und meine Mutter hat sich dann toll aufgeführt, also Heulanfälle, Tränen, ein napolitanisches Drama, a la >Dein Vater darf es nicht erfahren<. Mein Vater wußte es aber längst, nur daß ...
ALICE:
Er tat so, als ob er es nicht wüßte
LIA:
Ja ... inzwischen nimmt es meine Mutter ziemlich gelassen hin. Ich habe es ihr gesagt.
MATILDE:
Du hast mir gesagt, daß sie dich akzeptiert hat unter dem Motto >Komm ruhig her, Tochter, du kommst uns gelegen<, es paßt ihnen in den Kram ... Folglich akzeptieren sie Lia gefälligerweise so wie sie ist, nämlich lesbisch. Ihre Mutter hat ihr aber auch einen Gefallen getan, als sie neulich mit Roberta ...
LIA:
Ja, letzten Monat ...
MATILDE:
Es waren Verwandte da, und sehr diskret hat sie die Verwandten aus dem Zimmer geführt, damit sie allein sein konnten.
LIA:
Ja, weil ich ihr gesagt hatte, daß wir ein Nickerchen machen wollten, und meine Mutter hat verstanden, was gespielt wurde. Sie hat die ganze Verwandtschaft genommen und ist mit ihnen auf's Land gefahren.
MATILDE:
Sie hat ihnen einen Freiraum gelassen, eigentlich ganz schön viel, das ja ... trotzdem lauerte die Tragödie schon.
LIA:
Ich glaube, sie mußte da durch, ... vor den Verwandten hätte sie es nicht ruhig hinnehmen können.
MATILDE:
Das stimmt ... wenn du heute an deine Zukunft denkst, an dein Leben, deine Arbeit und deine Beziehungen, wie möchtest du es haben, wie willst du dich auf diese Dinge einlassen? Wir Lesben haben es ja dringend nötig, zu arbeiten und Geld zum Leben zu verdienen ... Wenn wir nicht an uns selbst denken, denkt niemand an uns. Aber ebenso glaube ich, daß wir mehr oder weniger alle an den Punkt kommen, an dem wir unser Lesbischsein wirklich leben wollen, und zwar mit allen Schwierigkeiten, auf die wir stoßen, aber wir wollen es wirklich leben. Wie stellst du dir deine Zukunft vor?
LIA:
Meine ökonomische Situation ist geregelt, ich habe eine sichere Arbeit, ich hätte zwar gerne bessere finanzielle Verhältnisse, aber bis jetzt habe ich noch keine Arbeit mit einem höheren Verdienst gefunden, die mir so viel Freizeit ließe, wie ich sie jetzt bei meiner gegenwärtigen Arbeit habe. Aber ... du hast vom Gefühlsleben oder entsprechenden Sachen gesprochen?
MATILDE:
Nein, nicht unbedingt von einer Zweierbeziehung sondern ich meine damit die Hoffnung auf eine etwas glücklichere Liebe, warum nicht? Ich meine nichts Endgültiges, es gibt für niemanden mehr etwas Endgültiges ... Trotzdem kann es ruhigere und entspanntere Zeiten geben, also phasenweise das eigene Leben ein bißchen gelassener zu leben. Was meinst du mit Sicherheit? Du sagst mir zwar, daß du eine ruhige und sichere Arbeit hast, aber wenn ich mich nicht irre, ich beziehe mich jetzt auf vorhin, arbeitest du als Lehrerin ... wegen vieler Informationen, die ich von Freundinnen, auch lesbischen Lehrerinnen, bekommen habe - es gibt sehr viele, glaube ich - sagen zu können, daß für die meisten ihr Lesbischsein angstbesetzt ist. Zumindest, meine ich, gilt das für die, die hier in Rom und in anderen Städten leben und Angst haben, es im Kollegium auszusprechen. Es darf nicht angesprochen werden, in diesem mißgünstigen Klima an den Schwulen. Je mehr sie sich zurücknehmen, um so größer wird die Angst, aus der Schule rauszufliegen und vom Schulamt einen Verweis zu kriegen, also den Arbeitsplatz ganz zu verlieren. Du bist aber Lehrerin an einem ziemlich kleinen Ort, zwar hoffst du gerade, noch nach S., eine Stadt, zu kommen, doch ist es dort immer noch etwas anderes als in ,Mailand, Rom, Bologna oder einer anderen Großstadt. Du wirkst ruhig und sicher auf mich, wenn du sagst, >Ich habe meine gesicherte Arbeit als Lehrerin, die mir niemand wegnehmen kann. Du bist so optimistisch, und alles in allem fühlst du dich wohl bei deiner Arbeit. Deine Arbeit ermöglicht dir auch, anderen Interessen nachzugehen, und zwar denen einer politisch engagierten Lesbe. Das geht aber nur bei einer Halbtagsstelle, während ich mit meinem Achtstundentag nur abends dazu komme, mich politisch zu engagieren und mich weiterzuentwickeln. Du wirkst so sicher existenziell, also, finanziell gesehen, daß ich dich einfach fragen muß, woher das kommt, daß du dich so sicher fühlst und da drin so anders bist als die, als die Lehrerinnen, die wir in Rom kennen und die tausend Ängste davor haben, entlassen zu werden, keine Arbeit mehr zu finden?
LIA:
Vielleicht haben sie nicht nur wegen ihrer Homosexualität Angst. Vor dem Gesetz gibt es jedenfalls zwei Arten von Straftaten. Laut der italienischen Gesetzgebung ist Homosexualität eigentlich nicht strafbar, deswegen können sie nicht gegen dich vorgehen oder dir deinen Arbeitsplatz wegnehmen. Recht so! Wenn sie eines Tages erfahren sollten, daß du homosexuell bist, können sie dich höchstens versetzen, denn als Lehrerin darfst du den Eltern, der Belegschaft und den Dorfbewohnern keinen Anlaß zum Gerede bieten. Die einzig mögliche Maßnahme wäre, dich an einen Ort zu versetzen, an dem du niemanden kennst und dir zur Auflage machen, daß dich niemand kennenlernen darf... Deine Arbeit können sie dir nicht wegnehmen. Ein anderes Problem sind aber die sogenannten obszönen Handlungen in der Öffentlichkeit. Daher die Angst, denn dieser Begriff ist so dehnbar... Das ist ein >ad personam< Vergehen, d.h. es hängt vom Ermessen des jeweiligen Richters ab, was bedeutet, daß schon ein Küßchen in der Öffentlichkeit deinen Arbeitsplatz gefährden kann. Als ob es keine kleinen Unterschiede gäbe!
ALICE:
Meinst du nicht, daß du deinen Arbeitsplatz auch aus anderen fadenscheinigen Gründen verlieren kannst? Das kommt vor, weißt du?
MATILDE: Genau
ALICE:
Z.B. gab es hier vor einigen Jahren den Fall einer Lehrerin, die wegen Arbeitsunfähigkeit entlassen wurde, ausgerechnet sie, die bedeutende Bücher und Schulbücher geschrieben hat. Natürlich kündigen sie dir nicht mit der Begründung, daß du homosexuell bist... Dort, wo ich gearbeitet habe, wurden zwei Lesben entlassen, natürlich nicht mit dieser Begründung. Ja, sie trauen sich nicht einmal, es zu sagen, sie trauen sich nicht einmal, das Wort auszusprechen.
LIA:
Was soll's, du mußt dir halt Rückendeckung verschaffen: Das ist das Schwierige. Wenn eine wie ich in der Personalakte positive Vermerke drin hat wie Einladungen, Konferenzen abzuhalten und Vorträge zu halten, die dann in Educare oggi [5] gedruckt werden usw. Tja, auch die Frau wußte nicht, wie sie sich verteidigen sollte, obwohl sie Schulbücher veröffentlicht hat. Das wäre schon mehr als ausreichend gewesen, um ganz klar abgesichert zu sein. Du mußt nur Mut und Ausdauer haben, denn wenn du dich von der Angst mitreißen läßt ...
ALICE:
Ja, das stimmt, aber ... die eigene Ausdauer reicht nicht. Um mich stark zu fühlen, brauche ich die Unterstützung einer Lesbenbewegung. Ich brauche ebenso moralische Unterstützung, daß ich verstanden und nicht abgelehnt werde, und daß ich nicht als überspannt gelte. Ich denke nicht, daß es einer Frau, die 1968 den Mut hatte, ein Buch über Homosexualität zu veröffentlichen, an Beharrlichkeit mangelt.
LIA:
Bis vor wenigen Tagen, d.h. bis zu den Wahlen, wäre meine Lage für jede andere selbstmörderisch gewesen, nämlich sich in so einem kleinen Dorf zur Wahl zu stellen ... Als ich für die Wahlen kandidierte, kriegte ich als erstes zu hören, >In einer Schwulenpartei hat eine Lesbe ja noch gefehlt!< Sie haben im Dorf darüber geredet, in dem Dorf, in dem ich unterrichte. In der Pizzeria unter meiner Wohnung haben sie zu mir gesagt, wenn ich aus dem Haus ging. >Frau Abgeordnete, gehen Sie nur! ... Wow, heutzutage sind die Abgeordneten lesbisch und Lesben Abgeordnete<. Mehr oder weniger war es so. Was habe ich da gemacht? Ich habe einen Artikel für die Lokalzeitung geschrieben, in dem ich ihr Verhalten ins Lächerliche zog. Er wurde veröffentlicht, und ich selbst habe den Artikel an alle verteilt.
MATILDE:
Du meinst den, den du mir mit dem Brief geschickt hast?
LIA:
Ja, aber ich glaube, wenn jemand abends in meiner Lage angefangen hätte, Schiß zu kriegen, wäre alles noch viel schlimmer gelaufen, garantiert. Ich habe mitgekriegt, daß der Rektor neuerdings zu mir eine mehr oder weniger - was soll's. Anfangs hat er mich gesiezt und dann ... so verhält man sich hier in der Gegend gegenüber Nutten, also leichten Mädchen ... Eine Lesbe ist für sie synonym mit Hure... Ich habe so getan, als wäre nichts ... und ihn weiterhin genau so behandelt wie vorher, als ob ich es nicht mitgekriegt hätte. Vor drei oder vier Tagen hat das auch Roberta zu spüren bekommen. Ober einer Mauer hörten wir jemand sprechen und kichern, als wir genau unterhalb dieser Mauer entlanggingen. Es waren zwei Männer. Als ich sagte, >Hör dir nur mal diese Klatschbasen an', waren sie sofort still.
MATILDE:
Das hängt mit deiner Stärke zusammen. Ich glaube, daß in einem kleinen Dorf, ich will dich nicht beunruhigen, eher im Gegenteil, ich habe große Hochachtung vor deiner Stärke, ich finde es toll, wie du weitermachst. Aber ... ich habe alle diese Erfahrungen von anderen Frauen im Kopf, und ich denke, daß sie in einem kleinen Dorf wie dem deinen unendlich viele Gründe finden könnten, wenn sie nur wollten
LIA:
Letzten Sommer haben sie eine Geschichte erfunden, daß ich in der Pizzeria unter meiner Wohnung eine Frau geküßt hätte ... Diese Sache ging im ganzen Dorf rum, und der Rektor hat mich zum x-ten Mal zu sich zitiert, um mir zu verbieten, in der Öffentlichkeit Frauen zu< küssen. Ich hatte es nicht getan, ich bin nicht so blöd, die anderen Frauen hatten das aber gemacht. Trotz meiner prekären Lage haben sie das nicht respektiert ... sondern es einfach getan. Natürlich wurde es mir zur Last gelegt, denn ich saß am selben Tisch.
MATILDE:
Das nenne ich nicht gerade besondere Rücksichtnahme dir gegenüber, deine Situation an deinem Wohnort nicht zu respektieren. Natürlich mußtest du persönlich und ganz allein für die Konsequenzen ihres Verhaltens einstehen. Ähnlich ist es ja auch mit deiner Vermieterin ...
LIA:
Sie hat mir einen Brief geschickt voll von Beleidigungen wegen des Kraches, den sie über Ostern aus meiner Wohnung gehört hat ... Was soll's, wann immer ich auf die Straße ging, hörte ich die Alten, wie sie tratschten, >Nein, ... aber versteh doch, das sind zwei Frauen, die machen das aber so wie ein Mann und eine Frau<. Und das, während wir vorbeigingen. Ich habe mich umgedreht, sie angeschaut und sie sogar gegrüßt. Als wollte ich sagen, >Ich habe alles verstanden, ihr redet über mich, da gibt's viel zu reden, was!<
MATILDE:
Irgendwann hat dir dann deine Vermieterin einen Brief geschickt, in dem stand, daß du dich besser benehmen sollst, andernfalls ...
LIA:
Nein, sie hat geschrieben, daß von einer wie mir nichts anderes zu erwarten sei.
ALICE:
Aber habt ihr's wirklich so toll getrieben?
LIA:
Im allgemeinen bin ich alleine in diesem Haus, also niemand wohnt unter mir, aber über Ostern wohnten einige Verwandte der Vermieterin darin. Der Fußboden ist mit Fliesen ausgelegt, das Bett rutschte deswegen ein bißchen ... aber sie haben übertrieben.
MATILDE:
In welchem Ton war denn der Brief abgefaßt?
LIA:
Ziemlich beleidigend. Sie schrieb, daß sie von Leuten wie mir nichts anderes erwarten könnte. Ich habe ihr dann per Einschreiben geantwortet.
MATILDE:
Und daß sie bereits Anstalten unternommen hätte, falls sich das Ganze wiederholen sollte.
LIA:
Ja, sie schrieb, daß sie sich in jedem Fall meiner entledigen würde, wenn es ginge, ohne sich um Formalitäten zu kümmern. Daraufhin habe ich direkt an den Eigentümer geschrieben, und zwar so: >Herr Sowieso ... ich habe von Ihren Methoden die Nase voll'. So fing der Brief an. Den habe ich ihm per Einschreiben geschickt. Weiter stand darin, daß ich den Rechtsweg beschreiten würde, wenn er mich noch länger beleidigen und in irgendeiner Form belästigen würde, und daß ich nicht ausziehen würde, weil er keine Veranlassung hätte, mich rauszuschmeißen. Ich habe noch härtere Ausdrücke als die Vermieterin benutzt.
MATILDE:
Du hast immer dafür kämpfen müssen, um friedlich in deiner Wohnung leben zu können.
LIA:
Wenn jemand schreit, mußt du noch lauter schreien ... das ist das Problem.
MATILDE:
Klar ... hier zeigt sich deine innere Kraft. LIA: Früher hatte ich die aber noch nicht.
ALICE:
Meiner Meinung nach verlierst du dabei eine Menge Energien. Mich zumindest kostet so etwas viel Kraft.
LIA:
Bis vor vier Jahren war so etwas immer schrecklich aufreibend. Manchmal habe ich insgeheim geheult. Immer gegen alles und alle zu kämpfen, aber jetzt gehört das schon zu meinem Alltag. Ich mache es, ohne viel darüber nachzudenken. Es gibt noch eine ganze Menge mehr, was mich stört. Als ich neulich im Büro der Radikalen Partei in S. ein Schild las, >Hier ist es verboten, Frauen, Homosexuelle und Verrückte zu beleidigen<, habe ich mich wahnsinnig aufgeregt ...
MATILDE:
Wie?
ALICE:
Wegen der Gleichmacherei, meinst du?
LIA:
So was regt mich immer noch auf ...
ALICE:
Glaubst du, daß du irgendwelche Schuldgefühle verinnerlicht hast? Wie hast du das für dich gelöst, falls du es gelöst hast?
LIA:
Inzwischen schon. Ich habe doch bereits erwähnt, daß es mir bis zum Alter von 22, 23 Jahren schlecht ging. Ich bin nicht in die Schule gegangen, lieber habe ich allein gelernt, ich bin nicht aus dem Haus raus, ich habe den Menschen nicht einmal direkt ins Gesicht sehen können. Ich war total zu. Auch wenn Besuch kam, zog ich mich in mein Zimmer zurück, weil ich in Wirklichkeit Schuldgefühle hatte. Ich hatte Angst, daß man es mir an meinem Gesicht ablesen könnte, daß man es an irgendetwas merken könnte.
MATILDE:
Ja, die Einsamkeit, die Zeit der Einsamkeit.
LIA:
Jedenfalls wollte ich das so, diese Zeit der Einsamkeit.
MATILDE:
Die Zeit der Einsamkeit, das, was wir damit verbinden, alles in allem kommt das daher, daß wir uns selbst nicht annehmen. Uns scheint das dann so, als ob uns alle anderen als anders wahrnehmen. Doch das sind alles unsere eigenen Ängste. Die Einsamkeit, manchmal kann sie ja auch schön sein, ist, glaube ich, eine Flucht ...
LIA:
Wir fliehen auch vor all diesen Blicken, die in unseren Augen nur darauf aus sind, hinter unser Lesbischsein zu kommen. Darum haben wir Schuldgefühle. Dann all diese Geschichten. Ich will damit sagen, wahrscheinlich sind das alles unsere eigenen Probleme, die Leute kriegen sicher nur bestimmte Einzelheiten unseres Verhaltens mit ... Ich weiß nicht, zum Beispiel, daß wir merkwürdig und einzelgängerisch sind... Zu mir meinten sie, daß ich ihnen wie ein Soldat oder Wachtmeister vorkäme, weil ich auf der Straße immer ganz gerade ging, ehrlich, ohne jemandem ins Gesicht zu sehen. Zu meiner Mutter meinten die Leute, >Alle Achtung, ihre Tochter läuft immer ganz gerade wie ein Soldat<... Ich will damit sagen, einerseits war ich allein, das war schon komisch für sie, andererseits habe ich mich sicher auch den Blicken dieser Leute entzogen. Heute sehe ich sie direkt an, es ist mir scheißegal.
LIA:
Ja, aber damals wirkte ich physisch auch nicht gerade anziehend. Tja, die anderen lehnten mich auch ab, das lief von beiden Seiten. Ich selbst bemühte mich auch, abstoßend zu erscheinen, in jeder Hinsicht war ich eklig.
MATILDE:
Du meinst die Fressphase, in der du sehr zugenommen hast.
LIA:
Ja ... hinzukam, daß ich mich nicht gewaschen habe, wie ein Tier.
ALICE:
Willst du dich noch weiter schuldig fühlen?
LIA:
Nein, überhaupt nicht. Das war im Alter von 14 bis 20, als mich Roberta kennenlernte. Jetzt hat sie mir gesagt, daß ich ihr damals Angst eingejagt hätte. Ich habe mich selbst da nicht gerade sehr geliebt...
ALICE:
Wie hast du das überwunden?
LIA:
Ich wurde völlig träge, verbrachte die Zeit im Bett, ich habe nicht gearbeitet, gar nichts gemacht, nicht einmal zu Hause geholfen. Ich war wirklich ... als Leiche hätte ich wahrscheinlich mehr Aktivitäten entwickelt. Dann habe ich angefangen, ... möglicherweise habe ich mit mir persönlich Selbsterfahrung gemacht, mit anderen habe ich es nie getan. Ich fing an, über mich nachzudenken, und habe mich gefragt, wenn das das Leben sein soll, na ja, dann ...
MATILDE:
Vorhin hast du mir erzählt, daß du das alles alleine gemacht hast, du hast dich selbst beobachtet, an dir gearbeitet, alles allein ... So ähnlich lief das auch bei mir, wir zwei haben es alleine gepackt.
LIA:
Ja, ich dachte darüber nach, was mir an meiner Lage nicht gefiel. Meine Art Leben gefiel mir überhaupt nicht, von daher konnte ich nicht einfach so weitermachen. Aber wenn ich etwas ändern will, muß ich das auch echt wollen. Damals war ich aber noch nicht so weit. Ich habe es immer auf den nächsten Tag verschoben. Irgendwann habe ich versucht, wieder zu laufen, aus dem Haus rauszugehen, denn davor war das nicht mehr drin gewesen. Ich kam schon ins Schwitzen, wenn ich nur 100 Meter lief, ich hatte immer eine leicht erhöhte Temperatur von 37 Grad, müßt ihr wissen! Das hat mich aufgerieben. Ich dachte, ich wäre körperlich krank, der Doktor meinte aber, daß ich nichts hätte und daß ich ein Drückeberger sei ... Was soll's, nach 100 Metern kam ich ins Schwitzen, ich war völlig ausgelaugt. Allmählich siegte meine Dickköpfigkeit. Sie brachte mich dazu weiterzumachen, obwohl ich völlig fertig war... Ich dachte, >Ich muß bis zum Ende meiner Kräfte weitergehen, damit ich dann gezwungen bin, auch wieder ganz weit zurückzugehen'. So bin ich dann losgezogen, ich ging, vielleicht ...
MATILDE:
Du hast erzählt, daß du eine passionierte Spaziergängerin bist und viel läufst ...
ALICE:
Und dann hast du abgenommen ...
MATILDE:
Du bist eine schöne Frau, sagen wir es ruhig, ich habe dich heute im Badeanzug gesehen, echt eine schöne Frau ...
ALICE:
Vorhin
hast du gesagt, daß du dich nicht damals gewaschen hast ...
LIA:
Ja, aber als ich mich entschlossen hatte, wieder zu laufen, habe ich mich auch wieder gewaschen. Mir war inzwischen klar, daß ich mich selbst annehmen mußte.
MATILDE:
Du hast da angefangen, dich zu lieben und dich um dich selbst zu kümmern: Weil du dich selbst geliebt hast, warst du auch wieder offen für die Liebe der anderen.
LIA:
Ich habe mich gleichzeitig von meiner Familie emanzipiert. Damals klebte ich nämlich so an meiner Familie, daß ich nicht mal in der Lage war, alleine Zug zu fahren. Meine Schwester hält mir das noch heute vor... Andererseits schämte ich mich wie verrückt, wenn mich mein Vater zur Uni begleitete.
ALICE:
Mir ging das genau so. Ja, eine Zeitlang war mir auf der Straße immer schwindelig zumute, und ich mußte in jedes Café reingehen und etwas zu mir nehmen, wahnsinnig! Das hängt, finde ich, stark mit dem Alleinsein zusammen ... Zumindest war das bei mir so, es ist auch verschwunden, nachdem ich meine Einsamkeitsphase hinter mich gebracht hatte.
LIA:
Meine Einsamkeit hat sich nicht einfach aufgelöst, indem ich zur Uni ging, herumreiste oder älter wurde. Irgendwo drinnen war ich es noch.
ALICE:
Du meinst damit, daß du es immer noch bist?
LIA:
Ja, sicher, an so einem Ort, an dem ich bis jetzt wohnte, konnte das schließlich auch nicht anders sein. Durch einen Ortswechsel befreist du dich zwar auch nicht davon, das verfolgt dich überall hin ... trotz der äußeren Veränderung der Bedingungen.
ALICE:
Du, entschuldige mal, die äußeren Bedingungen können schon viel ausmachen.
LIA:
Ja, das meinten auch Roberta und S. Sie finden, daß ich gesellig bin, am Meer kann's schon vorkommen, daß ich mit allen Freundschaft schließe. So etwas passiert mir an allen möglichen Orten.
MATILDE:
Du findest leicht Kontakt?
LIA:
Irgendetwas ist faul daran ... aber ich habe noch nicht herausgefunden, was.
MATILDE:
Kann es sein, daß wir dauernd alles mögliche machen, nur um akzeptiert zu werden? ... Ich sage wir, weil ich mich auch als eine sehr kontaktfreudige Frau gebe ... Darüber ist oft in der Gruppe geredet worden. Meinst du nicht, daß das auch ein Zeichen für unsere Angst, unsere fortwährende Angst vor der Außenwelt sein könnte?
LIA:
Finde ich nicht, ich tendiere eher dazu, die Bedürfnisse des anderen zu erraten. Ich gucke nach den Bedürfnissen der anderen.
ALICE:
Du erweist ihr also eine Gefälligkeit
MATILDE:
Du versuchst, dich nützlich zu machen ... Im Grunde suchen wir alle Anerkennung und Bestätigung, indem wir immer verfügbar sind.
ALICE:
Ja, das ist genau das, was am schwersten auszumerzen ist.
LIA:
Was?
ALICE:
Die Funktion der Frau, immer die Gebende zu sein. Den Preis muß jede Frau bezahlen, um überhaupt leben zu können ...
MATILDE:
Ja ... genau. Alice sagt mir oft, >Du bist immer so freundlich, so ansprechbar.< Das kann am Alter, den Gewohnheiten, der Arbeit liegen, was soll's. Ich denke dauernd darüber nach ... über meine permanente Freundlichkeit, die mir manchmal selbst auf den Wecker geht, wenn einige Frauen dauernd meine Hilfe wollen. Sogar, wenn das in zeitlichen Abständen kommt, bin ich sauer und schicke sie zum Teufel. Vor einiger Zeit sprach ich mit einer Freundin darüber, wieviel ich wirklich von mir geben will. Steckt hinter meiner Freundlichkeit immer der Wunsch nach Anerkennung von außen? Wieviele von den Leuten, die ich um mich habe, weil ich nett zu ihnen bin, würden bei mir bleiben, wenn ich nicht mehr so hilfsbereit wäre? Welchen Preis müßte ich dafür zahlen? Wahrscheinlich wäre ich einsamer. Wie kann ich das angehen?
ALICE:
Genau das ist das Riesenproblem.
MATILDE:
Verstehst du? Also, wenn du mir sagst, >Ich mag dich, du bist immer so nett und hilfsbereit zu allen<. manchmal hast du aber auch mit einem kritischen Unterton gesagt ... >Wie kommst du dazu?< Du z.B. redest so wie dir der Schnabel gewachsen ist, ich denke erst nach, stelle mir alle möglichen Fragen. Eigentlich macht mir das Nichtredenkönnen nichts aus, aber ich hatte auch schon Freundschaften und Bekanntschaften, in denen ich ständig die Trösterin spielen sollte. Ich war immer da und hörte wie eine Schwester, wie eine Mutter, zu. Manchmal konnte ich einfach nicht mehr, am liebsten hätte ich sie alle zum Teufel geschickt, obwohl ich es dann meistens doch nicht getan habe. Manchmal habe ich mich dann gar nicht mehr gemeldet, diese Frauen sind auch nicht mehr aufgetaucht. Natürlich bin ich ihnen auch nicht hinterhergerannt, um es ihnen etwa zu erklären, ich hatte von ihnen die ... Ich möchte aber sagen, ich suche wirklich nach dieser Anerkennung und Bestätigung, für die ich mit meiner Freundlichkeit bezahle. Wenn ich mich jetzt anders verhalten würde und deswegen wahrscheinlich etwas mehr alleine wäre, wie würde ich mit dieser Einsamkeit zurecht kommen? Das ist etwas, ich weiß nicht, so weit bin ich noch nicht, vielleicht komme ich mal dahin, ich würde es gern schaffen, auch wenn ich nicht weiß, wie weit ... Wahrscheinlich habe ich Angst ... Ich habe mich jedenfalls ziemlich von diesen Kreisen, von diesen Leuten gelöst. Ich kann sehr nett sein ... Vielleicht ist das auch Sache der Gewohnheit, der Erziehung. Übrigens finde ich es ziemlich hart, wenn mich ein Mann bittet, ihm Feuer zu geben, und ich es ablehne, weil er ein Mann ist. Das finde ich wirklich ein bißchen übertrieben... Manche Dinge sind meiner Meinung nach nur eine Frage von guter Erziehung. Aber, ich wiederhole es, in der letzten Zeit habe ich einen Riesenschritt vorwärts gemacht, im Grunde suche ich jetzt Frauen, mit denen ich mich wirklich wohlfühle. Und wenn sie etwas von mir verlangen, tue ich das im allgemeinen gerne für sie, weil sie mir ihrerseits wieder etwas zurückgeben.
ALICE:
Ein Austausch
MATILDE:
Ja, ich halte nicht mehr Ausschau nach dieser Art von Beziehung, die darauf beruht, daß du alles gibst, aber nichts zurückbekommst. Ich würde sagen, im letzten Jahr habe ich in dem Sinne große Schritte geschafft, mir reichen wenige, aber verläßliche Freundschaften.
ALICE:
Meinst du nicht, daß du diese Schritte unternehmen konntest, weil du genau solche verläßlichen Beziehungen gefunden hast? Oder was hat dich sonst dazu gebracht?
MATILDE:
Ja, natürlich habe ich verläßliche Beziehungen gefunden, die mir sehr geholfen haben, so daß ich kein Bedürfnis mehr nach allen möglichen Nettigkeiten und Belanglosigkeiten habe.
ALICE:
Das ist klassisch, für viele Lesben, die oft mit Schwulen zusammen sind, nicht wahr? Diese Rolle zu haben ...
MATILDE:
Ja, die Mutterrolle ...
ALICE:
Immer etwas zu geben, zuzuhören, Rat zu geben, zu unterstützen... Ich erinnere mich an frühere Zeiten, als es klar zu sehen war, daß du eine lange Zeit des Alleinseins hinter dir hattest, und zwar gerade daran, wie du dich auf die anderen bezogen hast.
MATILDE:
Ja, ja ... ununterbrochen verfügbar. Vorletztes Jahr war ich eine Zeitlang völlig ausgelaugt. Auch mit anderen Lesben, ich war so offen für viele Frauen gewesen, daß ich im Laufe von drei Monaten zehntausend Tragödien zu hören bekam. Zudem hatte ich meine eigenen Geschichten, ich habe das nicht mehr ausgehalten. Als die Ferienzeit gekommen war, konnte ich es nicht fassen, daß ich nach England fahren sollte. Ich bin praktisch geflohen, als ob England das absolute Nonplusultra wäre. Und tatsächlich ist es das dann für mich geworden, denn ich habe mich ... Meine Beharrlichkeitkeit hat sich dort als äußerst nützlich erwiesen, genauso meine freundliche verbindliche Art, beispielsweise beim Telefonieren und im Umgang mit anderen Leuten. Wenn ich mich dort irgendwie hätte verunsichern lassen ... In dem Fall hat mir mein entgegenkommendes Wesen total geholfen. Ich konnte aktiv werden, Kontakt zu den Frauen dort aufnehmen, mit denen ich mich dann nach dem Kennenlernen schnell verständigen und austauschen konnte, obwohl ich in der Fremde war. Dazu mußt du einfach mit bestimmten Sachen umgehen können, sie zu deinem Vorteil nutzen.
ALICE:
Das hat dich sicher viel Mut gekostet, nicht wahr? Ich glaube, du hast dich inzwischen sehr verändert, auch wenn du immer noch diese freundliche Art drauf hast, die, finde ich, echt und schön ist.
MATILDE:
Na, ja schon ...
ALICE:
Vorgestern abend hast du M. bis nach Hause gebracht.
MATILDE:
Aber ich habe das unwahrscheinlich gern getan! So einen Gefallen tun, fällt mir nicht schwer. Ich habe das spontan entschieden, das hat mir gar nichts ausgemacht. Im Prinzip bin ich für so etwas immer offen.
ALICE:
Du hast deine eigene Herangehensweise an Beziehungen, das hast du dir mühsam erkämpft, eine echte Leistung, denn wenn man aus einer langen Phase der Einsamkeit auftaucht, ist es sehr schwer, auf die anderen zuzugehen.
MATILDE:
Wie nimmst du Kontakt zu ihnen auf? Indem du am Anfang viel von dir gibst und sehr wenig zurückforderst...
ALICE:
Das ist deine Art ...
MATILDE:
Das war meine Art!
ALICE:
Es geht aber auch ganz anders ...
MATILDE:
Das war halt meine Art, viel zu geben und sehr wenig für mich zu fordern, so wenig wie möglich zur Last zu fallen.
ALICE:
Das entspricht genau dem klassischen Bild, nach dem eine Frau erzogen wird, daß sie nicht zur Last fallen darf. Es ist kein Zufall, daß männlichen Kindern alles erlaubt wird. Ich hatte keine Brüder, aber in einem bestimmten Abschnitt meines Lebens z.B., als ich auf die Uni ging, hatte ich das Gefühl, mir die Zeit dafür stehlen zu müssen.
LIA:
Ja, aber ich glaube nicht, daß das nur für Frauen zutrifft.
ALICE:
Doch. Ein Mann hat ganz bestimmte Rechte, z.B. in eine Kneipe zu gehen, niemand stellt dieses Recht in Frage, obwohl es zu Hause viel zu tun gibt. Egal, um was es sich dreht. Auf solche Anrechte konnte ich nicht bauen, ich habe sie mir erobert, klar.
LIA:
Ja, obwohl das ein gewagter Vergleich ist, muß ich bei all dem hier an die Schwarzen denken, die als Sklaven dienen mußten. Sie bekamen keinen Lohn und mußten gratis arbeiten. Demnach geht es nicht nur um Frauen, sondern um Diskriminierung von Randgruppen. Der Ausdruck trifft es nicht ganz, aber ihr habt sicher verstanden, was ich meine?
ALICE:
Sklaven ...
LIA:
Nicht nur, es geht um Unterdrückte. Ja, wir sind doppelt unterdrückt, denn es geht eben nicht nur darum, als Frauen akzeptiert zu werden, sondern von der Umwelt als Lesben wahrgenommen zu werden. Das ist ein doppeltes Problem.
ALICE:
Schau doch mal ... Wenn du nicht verheiratet bist und keine Kinder gemacht hast, was kannst du schon machen? Du mußt dich für deine Nichten und Neffen aufopfern und für die Verwandten, die im Krankenhaus sind ... die Rechnungen bezahlen.
LIA:
Davon kann ich ein Lied singen.
MATILDE:
Das ist aber auch bei einer unverheirateten und nichtlesbischen Frau so.
ALICE:
Wenn du Familie hast, wird es dir verziehen. Du hast dann deine Aufgaben, hast deine eigene Arbeit, du bist in der Norm, aber die sogenannte alte Jungfer soll sich restlos für alle aufopfern. Macht sie es nicht, spucken ihr alle ins Gesicht. Wie wäre es, wenn ein Junggeselle alles für alle machen müßte? Ja, das läßt sich überhaupt nicht vergleichen.
MATILDE:
Ich würde sogar behaupten, daß ein Junggeselle früher sämtliche Freiheiten hatte, von allen umhätschelt wurde ...
LIA:
Er wurde von allen bedient, besonders von seiner Mutter, die ihm immer zur Verfügung stand. Wenn auf der anderen Seite die Junggesellin bei der Mutter bleibt, ist sie deren Sklavin, das ist der kleine Unterschied.
ALICE:
Tja, es ist schwierig, da rauszukommen ...
MATILDE:
Meinst du nicht, daß wir jetzt wieder beim Problem des Mutterseins angekommen sind?
ALICE:
Ich finde schon, ja, auch bei der Frage der Identität.
MATILDE:
Hast du z.B. je das Bedürfnis gehabt, Mutter zu werden?
LIA:
Ja, schon, ich habe diesbezüglich auch meine Scherzchen getrieben. Ja, vor einigen Jahren wollte ich wirklich ein Kind. Aber allein die Vorstellung, es neun Monate lang in mir zu tragen, das ist zu viel! Wenn Gott für etwas kürzere Schwangerschaften gesorgt hätte ... vielleicht hätte ich mich dann auch darauf einlassen können, aber neun Monate sind zuviel. Darüber hinaus sind die neun Monate ja nur das Geringste, dann kommt das Danach. Von daher habe ich mir diesen Wunsch rational überlegt und ihn ziemlich abgebaut.
MATILDE:
Hast du ihn jetzt zurückgestellt?
LIA:
Mir ist gesagt worden, daß das bei allen so um die 26, 27 vorkommt. Das muß ein kritisches Alter sein ... Bei mir kam hinzu, daß ich als Lehrerin dauernd diese Kleinen, Süßen sah.
MATILDE:
Etwas ganz anderes ... wie sah z.B. dein Verhältnis zu deinen Eltern aus? Hast du deine Mutter besonders geliebt? Und dein Vater, wie bist du mit ihm ausgekommen? Ich zum Beispiel habe meine Mutter sehr geliebt, bis vor wenigen Jahren hat sich alles um meine Mutter gedreht ...
LIA:
Bei mir wechselte das. Es gab Zeiten, in denen ich meine Mutter wie verzweifelt liebte, verzweifelt deswegen, weil ich mich in ihre Lage als Frau hineinversetzen konnte, in anderen Zeiten habe ich sie viel kritisiert, weil sie nicht gerade meinem Idealbild von Frau entsprach. Da hielt ich -mich dann an meinen Vater, ich war da etwas widersprüchlich. Ja, als ich 6 oder 7 Jahre alt war, passierte es mir oft, daß ich nach einer Krankheit in Tränen ausbrechen mußte beim bloßen Gedanken an die Mühe, die sich meine Mutter gemacht hatte. In dieser Zeit war ich emotional besonders ansprechbar. Das Verhältnis zu meinem Vater war sehr zärtlich, aber auch voller Gewalt, denn mein Vater war streng und schlug uns ... Vor allen Dingen mich, seine Lieblingstochter, wie meine Mutter zu sagen pflegte.
MATILDE:
Warst du die Älteste?
LIA:
Ja, ich bin die Älteste. Er schlug mich fast zu Tode mit seinem Hosengürtel. Einmal wollte er mich mit dem Wursthaken am Hals an der Wand aufhängen. Ein anderes Mal lag ich am Boden, und er trat mich in den Magen, weil ich mich von allen am meisten gegen ihn aufgelehnt hatte. Eigentlich machte er das, weil ich sein Ebenbild war. Er ist auch stur, mein Vater sah in mir nämlich mehr das Abbild seiner selbst als in seinem Sohn, der nach mir auf die Welt gekommen war... Tja, er hatte eine Vorliebe für mich. Andererseits hatte er das Bedürfnis, mich zu unterjochen, und das machte er rücksichtslos.
ALICE:
Da war wohl etwas Sexuelles mit im Spiel ...
LIA:
Das weiß ich nicht ...
ALICE:
Also, nichts Umgesetztes, nichts Ausgesprochenes, jedenfalls ... wird er dich bestimmt sehr geliebt haben.
LIA:
Ja, ich glaub' schon ...
MATILDE:
Und dann die schlimmen, brutalen Strafen ...
LIA:
Gleichzeitig machte er mich für alles verantwortlich, was mein Bruder anstellte. Ich kriegte es immer ab, das war toll, ich war die Ältere und von daher auch für meinen Bruder verantwortlich ... Ein Altersunterschied von nur zehn Monaten, tja, ja
ALICE:
Aber, klar ist, er wollte dich schlagen.
LIA:
Ja, er hat mich geschlagen, bis ich achtzehn, neunzehn war, danach nicht mehr.
MATILDE:
Bis du neunzehn warst? Er hat dich geschlagen, bis du neunzehn warst?
LIA:
Ja, aber in den letzten Jahren nur ab und zu. Das letzte Mal, als es ihm wirklich ernst war, war ich vierzehn ... Meine Mutter traute sich nicht, sich einzuschalten, auch weil ich es ihm zurückgab, wenn er mich schlug, und ich dann stärker als er loshaute. Das war ein echter Kampf, sie fand das geradezu verwerflich. Darum ...
MATILDE:
Das kann ich mir vorstellen, was für eine Aufregung
LIA:
Wie, Aufregung? Mein Vater ist ein friedlicher Typ!
ALICE:
Genau ... um so mehr, wenn er friedlich ist ...
MATILDE:
Aufregend, weil du ihm durch dein Reagieren die Möglichkeit gegeben hast, wieder auf die väterliche Autorität zu pochen. Die alles immer am besten rechtfertigen ...
LIA:
Meine Mutter traute sich nicht, sich einzuschalten, weil sie Angst hatte, daß sie auch etwas abkriegen könnte. Sie machte nichts anderes, als mir zu sagen, daß ich ihn um Verzeihung bitten sollte. >Bitte doch um Entschuldigung'. Das machte mich noch bockiger, denn mich zu entschuldigen, hätte mich viel zu sehr erniedrigt. Ich habe es auch tatsächlich nie gemacht, d.h., fast nie, nur einmal, nach drei Fastentagen.
ALICE:
Drei Fastentagen?
LIA:
Ja, wegen des getrockneten Kabeljaus, den ich nicht mochte. Drei Tage lang hielt ich es aus, dann, weißt du, was ich zu ihm sagte, nur um das nicht essen zu müssen? >Ich bitte um Vergebung, aber nur deswegen, du sollst nicht etwa glauben, daß ich es aus Überzeugung tue'... So. Das letzte Wort hatte also ich.
MATILDE:
Ja, was sie mir gestern erzählt hat, hat auch mit diesem Kabeljau zu tun... Nämlich, daß ihr Vater sie daran gewöhnt hat, alles zu essen, und daß sie ihm heute alles in allem dankbar dafür ist, besonders weil sie den Kabeljau inzwischen am allerliebsten ißt...
LIA:
Da schlug er mich aber nicht, sondern er sagte, >Du willst ihn wohl nicht? Soll das etwa heißen, daß du nicht hungrig genug bist?< Abends stellte er mir dann denselben Teller wieder hin. Ich hatte auch ein Versprechen abgelegt, und jetzt mußte ich mich daran halten, verdammt noch mal!
ALICE:
Was für ein Versprechen?
LIA:
Mich als Freiwillige beim Grünen Kreuz zu melden. Das ist happig, was soll ich tun?
MATILDE:
Beim Grünen Kreuz als Freiwillige? Das bedeutet, du mußt immer verfügbar sein, wenn sie dich brauchen...
LIA:
Jein, nur einen Tag pro Woche, nicht immer
ALICE:
Und für wie lange?
LIA:
Vielleicht das ganze Leben. Damals habe ich keine zeitliche Begrenzung abgemacht.
ALICE:
Ich glaube, daß wir uns oft so zu Menschen verhalten, die wir hassen, ohne daß wir es uns eingestehen. Wir haben Angst vor ihrer Stärke, ihrer Gewalt, deswegen laden wir die Schuld lieber auf uns selbst, anstatt uns zu wehren.
MATILDE:
Und du bist bereit, dieses Versprechen einzuhalten, du bist so gläubig, daß du,
LIA:
Aber ich habe es doch nicht mit Gott ausgemacht. Ich habe gesagt, wenn mein Vater gerettet wird, dann würde ich es tun, ... und mein Vater ist gerettet worden.
MATILDE:
Was soll's, du hast es zwar nicht mit dem Gottvater selbst ausgemacht, aber du hast sozusagen ein Glaubensprinzip bzw. fügst dich ihm.
LIA:
Ja, schon irgendwie.
MATILDE:
Da, siehst du es?
ALICE:
Und wie vereinbarst du dein Lesbischsein mit deinem Glauben?
LIA:
Hm, nach langem Inmichgehen habe ich es hingekriegt. Ich habe mir überlegt, daß letztenendes die Bibel von Menschen geschrieben wurde mit ihren Vorurteilen und allen solchen Sachen. Wenn ein Prinzip existiert, es ist nicht gesagt, daß es sich mit der Bibel vereinbaren läßt, ich bezeichne es als etwas Absolutes, es ist unwichtig, ob es evangelisch, katholisch, arabisch oder islamisch ist. Dieses Prinzip steht über allen menschlichen Vorurteilen, alle Vorkommnisse auf der Erde werden im richtigen Sinn von ihm gesehen. Wenn ich heute keine Schuldgefühle habe, ich brauche natürlich auch keine zu haben, nicht zuletzt, weil ich keinem Menschen irgendwelches Leid zufüge ... Ich sehe das von einem nichtkirchlichen Standpunkt aus. Ist das klar geworden? Ich füge den anderen keinen Schaden zu, damit auch mir selbst nicht und habe somit keine Schuld. Logischerweise begreift Er es auch nicht als Schuld. Wir sind darin ganz einer Meinung.
MATILDE:
Du rechtfertigst dich aber ganz schön...
LIA:
Ich glaube nicht, daß meine Rechtfertigung individuell zurechtkonstruiert oder einfach bequem ist.
MATILDE:
Nein, du bist davon überzeugt, daß du nichts Schlechtes tust, ja sogar im Grunde für die anderen ziemlich verfügbar bist. Du bist so, wie du bist, na gut...
LIA:
Ich bin aber auch fest davon überzeugt, daß die Homosexualität ganz klar ihre Daseinsberechtigung hat. Evolutionistisch gesehen hat die Homosexualität ihre Berechtigung
ALICE:
Was?
LIA:
Durch ihre Grenzen. Das ist sogar bei den Tieren beobachtet worden... Bei extremer Übervölkerung werden Fälle von Homosexualität verzeichnet.
ALICE:
Bei Tieren wird so etwas immer festgestellt...
LIA:
Nein, ... ich habe von dem Experiment mit dem eingeschränkten Lebensraum gelesen. Das ist tatsächlich durchgeführt worden.
ALICE:
Ja, das stimmt, damit hat man das weiter bestätigt, aber Tiere müssen doch immer für alle möglichen Beweise herhalten.
LIA:
Na ja, dieses Experiment beweist jedenfalls, daß die Evolution kräftig dafür sorgt, daß automatisch ein Gleichgewicht geschaffen wird. Ich sehe das halt von dieser Warte aus, obwohl mir auch klar ist, daß der Mensch kein einfaches Tier ist, sondern daß dabei ein Haufen anderer Faktoren eine Rolle spielen, die das beeinflussen. Jedoch hat die Homosexualität ganz klar ihre Daseinsberechtigung. Eigentlich müßten wir extra dafür belohnt werden, weil ... je mehr wir werden, um so eher lösen wir das Problem des zu hohen Geburtenanstiegs. Im Ernst! Der Nutzen für die Gesellschaft durch die Homosexualität läßt sich zur Zeit noch längst nicht absehen...
MATILDE:
Dieses Argument haben wir zu meinen F.U.O.R.I.-Zeiten auch benutzt.
LIA:
Piu devianze meno gravidanze ...[6]
MATILDE:
So haben wir geredet, als wir mit den Schwulen und nur sehr wenigen Lesben zusammen waren. In der Diskussion erträumten wir uns unsere Zukunft jedenfalls, so daß alle Männer mit Männern und die Frauen mit Frauen schlafen, und daß das wunderschön würde. Keine Probleme mehr mit Geburten, Überbevölkerung, und die Nahrung würde für alle reichen.
LIA:
Sicher, oh Gott, dabei riskiert man, daß die menschliche Rasse vorzeitig ausstirbt. Jedenfalls müssen alle die Freiheit haben, ihre eigene Sexualität nach ihren Vorstellungen zu leben, niemand darf zur Homosexualität gezwungen werden.
ALICE:
Lassen sie uns deiner Meinung nach frei über unsere Sexualität bestimmen?
LIA:
Selbstverständlich nicht. Du kriegst nur eine Torte angeboten, und zwar mit den Worten, daß das die beste sei ... worauf du fragst, >Die beste in bezug auf was?< Um eine kleine Auswahl zu haben, willst du auch eine andere probieren. Das ist z. B. so, als ob dir zwei Torten gezeigt würden und es dann heißt, daß du die da zu nehmen hast. Aber was soll das dann mit der anderen? Wenn ich die beste will, muß ich beide probieren, um herauszfinden, welche es ist ... Oder etwa nicht?
ALICE:
Meiner Meinung nach werden dir nicht mal beide angeboten.
LIA:
Genau, das habe ich schon gesagt, daß dir nur eine angeboten wird, auch wenn du die andere wohl oder übel mitkriegst.
ALICE:
Das stimmt eben nicht, weißt du? So nicht, ich weiß nicht, ob es an meinen Gefühlen liegt oder ...
LIA:
Du hast die andere Torte nicht mitgekriegt, denke ich.
ALICE:
Ach, wenn du ins Kino gehst, ein Buch liest, am Ende denkst du, daß das Zeugs da .. ich weiß nicht, tja, vielleicht ist es im Norden schlimmer.
LIA:
Ich glaube, daß es in Südtirol am schlimmsten ist.
ALICE:
Das kann sein, ich weiß es nicht.
MATILDE:
Wie kommst du auf so etwas?
LIA:
Weil ein Richter dort das Sexuallexikon der städtischen Bibliotheken beschlagnahmt hat, das ist gerade in Südtirol passiert.