Der Gotteskomplex und seine Folgen

Vorbemerkungen

Vielleicht sind Sie sich gar nicht darüber im klaren, wie schlimm das Thema ist, dem ich mich gewidmet habe und mit dem ich ganz sicher einige Aggressionen auf mich ziehen werde. Es ist nämlich meistens so, daß diejenigen, die etwas aufdecken, schlecht dastehen und nicht jene, die etwas Schlimmes verursachen oder dazu beitragen. »Du sollst nicht merken«, lautet nach Alice Miller die Parole jener Zeit, die den Gotteskomplex verursacht hat, angefangen beim göttlichen Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, bis über Watergate und andere politische Männeraffären der Gegenwart.
Ich spreche zu Ihnen als Feministin, was heißt, daß mein Ansatz männerkritisch ist. Daß ein solcher Ansatz von vielen als männerfeindlich empfunden wird, nehme ich dabei in Kauf. Dennoch empfehle ich Ihnen, hier ein wenig zu differenzieren.
Gleichwohl sollten wir die Erkenntnis nicht verdrängen, daß jenes Gottesbild mit seinen komplexen Folgen ausschließlich von Männern gemacht und verkündet wurde. Es bedurfte erst der feministischen Theologie, um dieses Faktum in Betracht zu ziehen mit den dazugehörigen Schlußfolgerungen. Wenn ich also männerkritische Aussagen mache und damit aus Ihrer Sicht kein gutes Haar mehr an den armen Männern lasse, so denken Sie als Frau bitte nicht nur daran, daß Sie in Ihrer Ehe doch gar nicht unterdrückt werden und vielleicht auch noch einen lieben Vater hatten oder daß Sie als Mann doch gar kein Chauvi sind. Das ist nun wirklich nicht gemeint. Es geht vielmehr um die Entlarvung eines Systems, eines Glaubens- und Denkgebäudes wie auch eines Gesellschaftssystems, an dem
jahrtausendelang ausschließlich Männer gebaut haben, da Frauen bei dieser Arbeit nicht erwünscht waren. Unter der Regie des Mannes wurden »männlich« und »weiblich« zu Kategorien, die ein Geschlecht systematisch auf-, das andere hingegen abwerteten. So global lassen sie sich heute selbstverständlich nicht mehr in jedem Fall auf Frauen und Männer übertragen. Oft wird der Vorwurf laut, wir Feministinnen verursachten eine Polarisierung der Geschlechter. Richtig ist vielmehr, daß wir eine Polarisierung aufdecken, die wir nicht verursacht haben.
Daß das adamitische System den Evas den Schwarzen Peter zuschiebt, ist eine altbekannte Tatsache - so alt wie die Bibel. Sollte es wirklich unser Anliegen sein, Geschlechterpolarisierungen abzuschaffen, so müssen wir sie in einem ersten Schritt doch erst einmal aufdecken und bewußtmachen. Das geht allerdings nicht nach dem Motto: Wasch mich, aber mach mich bitte nicht naß, wie es einige wohl gerne hätten. Wer sich dabei angegriffen und verletzt fühlt, sollte nicht gleich die Verantwortung bei mir suchen, sondern sich erst einmal selbst auf die Spur kommen.
Wenn ich gleich vom Gotteskomplex und damit natürlich auch von Gott reden werde, so muß Ihnen klar sein, daß damit selbstverständlich immer nur Gottesbilder gemeint sein können, die mehr oder weniger Anteil am Göttlichen selbst haben. Oft fühlen sich Menschen in ihrem persönlichen Glauben gekränkt, wenn die Monstrosität patriarchaler Gottesaussagen zur Sprache kommt. Wenn ich also von Gott rede, dann meine ich damit ganz bestimmte, von Männern gemachte Aussagen über das Göttliche, die zu einer historisch wirksamen Macht geworden sind und die es Menschen verwehrt haben, ihre Gültigkeit für sich selbst zu überprüfen. Ob Ihr individuelles Gottesbild davon heute noch betroffen ist, mag dahingestellt bleiben. Das kann ich nicht beurteilen. Darum geht es aber auch gar nicht. Ich höre oft den Einwand: Für mich ist Gott Geist und jenseits aller Geschlechtlichkeit. Nun, das mag für einzelne zutreffen, doch aufs Ganze und historisch gesehen, war und ist das eben nicht der Fall. Es wurden ganz massive, rein männliche Bilder von Gott geprägt und mit ihnen Machtpolitik betrieben. Mit ihnen haben wir es bis heute zu tun, denn sie hatten nicht nur politisch-soziale, sondern auch psychische Folgen. Und hier soll es ja um jene Bilder gehen, die neurotische Komplexe verursacht haben.
Daß es im Hinblick auf die Gottes- und Geschlechterproblematik zu Verallgemeinerungen kommen muß, liegt in der Natur der Sache und sollte mir nicht angekreidet werden, denn schließlich geht es ja um die Beschreibung allgemeiner Situationen, um allgemeine Tendenzen, die ich über Jahrtausende hinweg verfolge, so daß eine differenzierte Betrachtungsweise ausgeschaltet ist.
Da ich in einer Stunde das Thema des Gotteskomplexes nicht umfassend erörtern kann, habe ich mich auf sieben Aspekte dieses Komplexes beschränkt, die ich dennoch nicht gründlich genug beleuchten kann.

Diese Aspekte sind:

  1. Die Entgöttlichung der Natur, die auf dem Wege der Entmythisierung der Welt und des Kosmos eingeleitet wurde. Auf diese Tat sind Theologen heute noch stolz und verweisen dabei auf den ersten Schöpfungsbericht. Da werden die orientalischen Himmelsgottheiten mit einem Streich zu Beleuchtungskörpern, zu Lampen degradiert, die Jahwe an den Himmel setzte. Solcher Entweihung der Natur folgt die Respektlosigkeit auf dem Fuße. Steht Gott außerhalb der Natur, so befindet sich dort auch der Mann, der sich jenes göttliche Gebot holt, das ihn dazu auffordert, sich die Erde Untertan zu machen - und dazu gehören dann selbstverständlich auch Frauen und Kinder.
  2. Der zweite Aspekt ist die Entweiblichung des Göttlichen und damit gleichzeitig die Entgöttlichung des Weiblichen, denn die Diffamierung und Dämonisierung der Göttin führte letztendlich zur Diffamierung und Dämonisierung des weiblichen Geschlechts, die dann ihren Höhepunkt in den Hexenverbrennungen fand. Sie führt aber auch zum Bilderverbot und damit zur Abwertung der bilderschaffenden Seele oder - modern gesprochen - zur Abwertung der rechten Hirnhälfte, die allgemein als die weibliche angesehen wird.
  3. Ganz eng damit verbunden ist der dritte Aspekt, die Entsexualisierung des Göttlichen und damit die Entweihung der Sexualität sowie die Dämonisierung des Körpers und der Materie. Geist und Materie, von denen wir heute wissen, daß sie zusammengehören, wurden getrennt und gegeneinander ausgespielt. Materie, Natur, Körperlichkeit und Sexualität wurden im Bereich des Sündhaften, Bösen angesiedelt und dem weiblichen Geschlecht zugeschlagen, während alles Geistige zum Göttlichen gehörte, als gut angesehen und dem männlichen Geschlecht zugesprochen wurde.
  4. Daraus folgt automatisch die Verabsolutierung des Männlichen, die das Göttliche zu einer reinen Männerprojektion machte. Männliches Denken und Fürwahrhalten, Reden und Fühlen beherrschen seit Jahrtausenden die Welt. Der Sieg des Logos über den Mythos wurde gefeiert ebenso wie der Sieg der Wissenschaft über die Weisheit; beides zu Unrecht, wie wir heute mehr und mehr spüren. Die Folgen dieses geistigen Umschichtungsprozesses sind zwischenzeitlich bis zu den theologischen Elfenbeintürmen durchgedrungen, und so besinnt man sich auf den verlorengegangenen Mythos im Dienste einer narrativen Theologie.
  5. Ein weiterer Aspekt ist das Erwählungsdenken. Die Herrschaft durch ein auserwähltes Geschlecht führt geradewegs zum auserwählten Volk (Rasse, Nation, Ideologie), das andere Völker und Rassen zu Heiden oder aber auch zu Untermenschen erklärt und nur noch die eigene Ideologie für erhaltenswert erachtet.
  6. Solche Intoleranz ist eines der auffallendsten Produkte des Monotheismus - ein weiterer Aspekt patriarchaler Herrschaft westlicher Prägung. Bis heute sind Theologen stolz auf den jüdisch-christlichen Ein-Gott-Glauben, mit dem sie die Vielfalt des Seins zu beschneiden und in den Griff zu bekommen suchen und damit das ausgrenzende Freund-Feind-Denken auch weiterhin fördern.
  7. Als siebenten und letzten Aspekt möchte ich das lineare Geschichtsbewußtsein aufgreifen, das Theologenherzen bis heute mit Stolz erfüllt, da es ein so enormer Fortschritt gegenüber dem zyklisch-spiraligen Weltbild älterer Epochen, das heißt primitiver Kulturen, zu sein scheint. Geht es im zyklischen Bewußtsein um die ewige Wiederkehr des Gleichen, so gibt es im linearen Denken einen Anfang und ein Ende. Der Anfang wird ganz willkürlich gesetzt - so meinen Gläubige, Gott habe die Welt am 22. Oktober des Jahres 4004 vor Christus geschaffen -, und beim Ende ist mann sich noch nicht ganz einig, wann es stattfinden soll. Die Vorbereitungen laufen jedenfalls auf Hochtouren.

Selbstverständlich sind diese sieben Aspekte aufs engste miteinander verknüpft und wurden hier nur zwecks Bewußtmachung ihrer enormen Folgen getrennt dargestellt. Damit möchte ich meine Vorbemerkungen beenden und nun mein eigentliches Referat mit einem Märchen von Wilhelm Bruners beginnen.

Als die Macht und die Liebe sich trennten[1]

Im Anfang der Zeit war es so:
Die Macht und die Liebe wurden als Zwillinge geboren. Ihre Mutter war die Weisheit, ihr Vater der Mut. Die Geschwister wuchsen glücklich miteinander auf, und überall, wo sie hinkamen, stifteten sie Frieden zwischen den Parteien und Völkern. Sie verteilten die Güter dieser Welt gerecht, sie machten die Armen reich und die Reichen glücklicher. Die Macht und die Liebe waren ein Herz und eine Seele, und fanden sie in den Häusern der Menschen Platz, so änderte sich alles zum Guten.
Eines Tages begegneten sie dem Neid. Er hatte sich fein herausgeputzt und sah recht stattlich aus. Sein Gewand glitzerte in der Sonne, und sein Geschmeide funkelte nur so im Licht. »Ich sehe dich stets im Schatten der Liebe gehen«, sagte der Neid zur Macht. »So kannst du nie etwas werden. Geh mit mir! Da wirst du größer und stärker. Du sollst sehen, die Menschen werden dir die Hände und Füße küssen, sie werden dir schmeicheln und dir Opfer darbringen, sie werden dir ihre Seele verkaufen, nur um dich zu besitzen.«

Die Macht war wie geblendet. Sie dachte eine Weile nach. Dann sagte sie zur Liebe: »Der Neid hat recht. Laß uns für eine Zeit auseinandergehen. Wenn wir uns trennen, kann sich jede von uns selbständig entwickeln. Keine ist mehr von der anderen abhängig, keine braucht mehr auf die andere Rücksicht zu nehmen. Ich werde derweil beim Neid in die Lehre gehen. Vielleicht treffen wir uns später einmal wieder.«
Ehe die Liebe antworten konnte, waren die Macht und der Neid schon hinter der nächsten Ecke verschwunden. Die Liebe sah noch, wie der Neid der Macht den Vortritt ließ. Ohnmächtig stand nun die Liebe am Wegrand und weinte. Sie erlebte sich schwach und kraftlos ohne die Macht. Sie spürte, wie sie allein nicht leben konnte. Wie ein Schatten legte sich die Angst auf sie, die Angst, sich zu verirren, zu verletzen und nicht verstanden zu werden.
Die Macht fühlte sich unterdessen frei und ungebunden. Der Neid störte sie nicht, weil er immer einen Schritt zurückblieb und ihr den Vortritt ließ. Die Macht merkte, wie sie dabei größer und größer wurde. Aber mit ihrer Größe wuchs auch ihre Kälte. Es gefiel ihr, wenn sich Menschen vor ihr verkrochen oder ihr alles opferten, um sich mit ihr zu verbünden.
Sie bestieg einen großen Thron und ließ sich über die Köpfe der Menschen tragen. Sie genoß es, umjubelt zu werden.
Die Macht hatte die Liebe bald vergessen. Sie umgab sich mit Waffen und Soldaten. Sie raubte den Armen den Frieden und vertrieb sie aus ihrer Heimat. Nur wer ihr die Seele verkaufte, durfte sich in ihrer Nähe aufhalten und sicher fühlen. Hinter ihr aber folgte stets der Neid.
In der Welt wurde nun alles anders. Die Kriege unter den Menschen nahmen an Heftigkeit zu. Die Liebe war zu ohnmächtig, um sie zu verhindern. Viele erkannten sie auch nicht wieder und verwechselten sie mit dem Egoismus oder mit der Schwäche. Sie hatte nicht mehr die Kraft, das Böse in die Schranken zu weisen. Habgier und Gleichgültigkeit wuchsen. Die Natur wurde ausgeplündert und zertreten. Es wurde dunkler und kälter in der Welt. Menschen und Tiere begannen zu frieren. Sie wurden krank und starben einsam dahin.
Da beschloß die Liebe, die Macht zu suchen, und sie machte sich auf, auch wenn der Weg weit war.
Eines Tages begegneten sie sich auf einer Kreuzung. Die Macht kam groß und gewaltig daher. Vor ihr und hinter ihr waren Wächter, bis an die Zähne bewaffnet, die sie beschützen mußten. Die Macht sah dunkel aus. Sie war eingehüllt in einen dicken schweren Mantel. Ihr Gesicht war kaum noch zu sehen. Der Mantel aber war über und über mit Orden behaftet. Rechts und links trug man ihre Titel, damit die Menschen vor ihr in die Knie gingen.
Die Liebe nahm ihren ganzen Mut und ihre ganze Weisheit zusammen, die sie von ihren Eltern geerbt hatte, und stellte sich der Macht in den Weg.
»Du siehst unglücklich aus«, sagte die Liebe und blickte der Macht gerade ins Gesicht. »Deine Augen sind finster. Früher hast du gestrahlt und warst schön.«
»Geh mir aus dem Weg«, sagte die Macht, »ich kenne dich nicht.«
»Erinnerst du dich nicht«, sagte die Liebe, »wie wir miteinander durch die Welt zogen? Du trugst ein leichtes Kleid, du konntest tanzen und springen, du liefst mit mir zu den Menschen, und sie alle nahmen uns mit offenen Armen auf. Wir konnten Frieden stiften, und alle hatten alles gemeinsam. Du warst mit mir mächtig ohne Waffen. Du brauchtest dich nicht zu schützen, und hinter dir zog nicht der Neid. Laß uns wieder miteinander gehen. Schick sie alle weg, die dich jetzt umgeben und fernhalten von den Menschen und von mir. Auch ich brauche dich, denn ohne dich bin ich schwach und ohnmächtig. Ohne dich glauben mir die Menschen nicht. Die Menschen lachen mich aus, sie verletzen und mißbrauchen mich.«
Während die Liebe diese und andere Worte sprach, wurde die Macht immer wärmer. Und weil auch die Macht ein Kind der Weisheit und des Mutes war, taute sie langsam auf und wurde kleiner und kleiner, bis sie wieder so groß war wie die Liebe. Da glitt der Mantel von ihrer Schulter, und die Orden zersprangen am Boden. Die Wächter fielen wie tot um, und die Titel flogen im Wind davon.
Ehe sich die Liebe und die Macht versahen, standen sie sich allein gegenüber. Da lachten sie einander zu und fielen sich in die Arme. Der Neid, der die Macht begleitet hatte, war gewichen, und von der Liebe war der Schatten der Angst geflohen. Seither gehen sie wieder miteinander, die Liebe und die Macht, und sie sind stark geworden, die beiden. Und wenn du sie triffst, dann halte sie fest und warte, bis ich komme, damit ich mit euch ziehen kann.

Wir werden wohl vergeblich nach ihnen Ausschau halten; denn die Verschränkung von Liebe und Macht finden wir nicht in den Straßen des christlichen Abendlandes. Dort wurde die Liebe zur Ohnmacht verdammt und als solche an das weibliche Geschlecht delegiert, derweil sich das männliche um die Macht kümmerte und sie zu mehren suchte, indem es ihr alle nur erdenklichen Opfer darbrachte - nicht zuletzt auch die Liebe...
. ..und das, obwohl doch das Christentum angeblich seit 2000 Jahren einen Gott der Liebe verehrt und verkündet, den Vater Jesu Christi. Da kann doch etwas nicht stimmen!
Horst Eberhard Richter hat in seinem Buch »Der Gotteskomplex« dargelegt, wie sich im christlichen Abendland während des Mittelalters jener Wandel zu vollziehen begann, der letztendlich in den von ihm beschriebenen Gotteskomplex ausartete. Nach seiner Analyse verminderte sich in dieser Zeit das Gefühl kindlichen Beschütztseins zunehmend, während umgekehrt das Bedürfnis wuchs, sich eigene Machtmittel anzueignen, um die aus dem mangelnden Gefühl des Beschütztseins resultierende Stimmung der Unheimlichkeit zu bannen.
Gleichzeitig verstärkte sich die Angst vor dem strafenden Gott, so daß ein unauflöslicher Teufelskreis entstand.
»Anwachsende Geborgenheitsunsicherheit im Verhältnis zu Gott erzwang einen Ausgleich durch narzißtische Selbstsicherung. Jede Erweiterung der eigenen Macht mußte indessen die Gefahr göttlicher Rache erhöhen, wodurch neue Ängste freigesetzt und wiederum zusätzlich überkompensatorische Abwehrmaßnahmen erforderlich wurden. Das heißt, der einmal eingeleitete Prozeß der Ablösung aus der vollständigen Unmündigkeit und Passivität enthielt von vornherein die Tendenz zu einem rasanten Umschlag ins Gegenteil, in die Identifizierung mit der göttlichen Allwissenheit und Allmacht.«[2]
Und dann fährt Richter fort, den Prozeß der Flucht aus narzißtischer Ohnmacht in die narzißtische Allmacht näher zu beschreiben. Verschleiert wurde dieser Prozeß durch immer neue rationalisierende Theorien. Mit dem Einläuten der modernen Wissenschaft wollte man angeblich Gott näherkommen. Man glaubte, ihn in der Schöpfung zu finden, wenn man die Natur zerlegte, um ihr auf die Schliche zu kommen.
So richtig die Analyse Richters im Detail auch sein mag, so geht sie doch aus meiner Sicht am Wesentlichen vorbei. Das liegt daran, daß Richter, der Psychoanalytiker, sich selbst als Mann mit all den damit verbundenen Beschränkungen nicht im Blick hat, und so spricht er laufend vom Menschen, wenn er den  Mann meint. Dieser Art des Allmachtswahns jedoch geht er nicht auf den Grund, ja er nimmt ihn nicht einmal wahr. Er analysiert nämlich nicht die mittelalterliche und neuzeitliche Problematik Mensch - Gott, sondern lediglich die Problematik Mann - Gott, denn an den von ihm aufgezeigten Problemen und Denkmustern hat die Frau keinen Anteil. Sie wurde von Anfang an von der Grundlegung unseres Wissenschaftsgebäudes und der Theologie ausgeschlossen. Folglich konnte sie auch nicht an dem mit ihnen verbundenen Allmachtsgefühl beteiligt sein, so daß die RicHTERsche Analyse für das weibliche Geschlecht nicht zutreffend sein kann. Aber auch für das männliche Geschlecht greift sie meines Erachtens viel zu kurz - ein Fehler, mit dem er sich allerdings in bester Gesellschaft befindet. Richter liefert auch gleich die Erklärung dafür, ohne sich allerdings ihrer wahren Reichweite bewußt zu sein. Wie er schreibt, waren es nicht nur seine individuellen Ängste, die ihn durch Verdrängung von vielen intensiven Verwurzelungen in der Vergangenheit trennten, einer Vergangenheit, die er nach dem Zweiten Weltkrieg als untergegangene Welt erlebte. Er war auch im Begriff, wie er schreibt, an einem falschen Leitbild von Normalität und Vollwertigkeit zu scheitern, das er mit seiner Umwelt teilte. »Ich wollte stabil und stark sein, aber nicht vergessen, was kaputtgegangen war bzw. was wir alle um uns und in uns aktiv kaputtgemacht hatten, aber beides konnte ich nicht miteinander vereinbaren.«

Was Richter hier als sein individuelles Problem beschreibt, trifft für die gesamte Patriarchatsgesellschaft zu. Wohl sieht er die Verdrängung von Verwurzelungen in seinem persönlichen Leben wie auch in seiner Umwelt, aber jene Verdrängung von Verwurzelungen, auf denen das patriarchale Welt- und Gottesbild basiert und die die eigentliche Ursache des Gotteskomplexes ist, scheint er nicht zu sehen. Wohl sieht er sein Scheitern an einem falschen Leitbild von Normalität und Vollwertigkeit, das er mit seiner Umwelt teilte; wodurch dieses falsche Leitbild allerdings bewirkt wurde und wo es in Wirklichkeit seine Wurzeln hat, kann er nicht sehen, da er den eigentlichen Allmachtswahn - das patriarchale Welt- und Gottesbild - nicht ausreichend thematisiert. Wohl erfährt er die Unvereinbarkeit des männlichen Bedürfnisses nach Stärke mit der Erinnerung daran, was sein Geschlecht in der inneren und äußeren Welt kaputtgemacht hat. Aber wie tiefgreifend dieser männliche Konflikt wirklich ist, scheint er gar nicht zu ahnen.

Bei H. E. Richter läßt sich exemplarisch aufzeigen, daß die männliche Art der Aufklärung und Bewußtmachung von Problemen in Wirklichkeit deren Verdrängung ist, da sie Symptome zu Ursachen erklären. Einerseits auf der ständigen Suche nach den Ursachen bestimmter Probleme, ist das Gros dieser Aufklärer doch unaufhaltsam darum bemüht, diese Ursachen zuzuschütten und am Eintreten in das Licht des Bewußtseins auf jede nur erdenkliche Art und Weise zu hindern. Wenige Männer wie zum Beispiel Erich Fromm und Robert Ranke-Graves, aber auch Briffault und Campbell, wie ansatzweise die JUNG-Schule und vorher Bachofen haben dieses Manko männlich-patriarchalen Denkens durchschaut und immer wieder thematisiert. Sie alle gehen davon aus, daß unserem derzeitigen Patriarchat mit seinem sich allmächtig gebärdenden Männer-Gott an der Spitze ein Matriarchat mit einer Göttin als Urgrund allen Seins vorausging und daß unser derzeitiges Vorstellungs- und Denksystem als patriarchale Abspaltung von einer umfassenderen matriarchalen Struktur betrachtet werden muß.
Vielleicht sollte ich hier ganz kurz etwas zu diesen beiden Begriffen sagen, da vielfach das Matriarchat als simple Umkehrung des Patriarchats verstanden wird. Die Schlußfolgerung lautet dann: Genau wie im Patriarchat Frauen ihre Abwertung und Unterdrückung durch Männer erfahren, werden diese im Matriarchat durch Frauen unterdrückt. Auf diese Weise werden patriarchale Machtverhältnisse in frühere Jahrtausende zurückprojiziert.
Im matriarchalen Weltbild ist die Göttin der Urgrund des Seins, also »arche«. Nach unserem heutigen Verständnis kann dieser Begriff zweierlei bedeuten: zum einen die Herrschaft von oben, zum anderen aber ein zugrundeliegendes Prinzip. Dabei geht es nicht um das Überstülpen einer Autorität. Beim Matriarchat handelt es sich um eine selbstbestimmte Gemeinschaft, was heute noch lebende rnatriarchale Stämme zeigen. Das eigentliche Gegenstück zum Patriarchat ist daher nicht etwa das Matriarchat, sondern der Amazonenstaat. Dort herrschen in der Tat umgekehrte Verhältnisse, denn Männer werden von der Macht ferngehalten. Im Matriarchat dagegen wird der Mann integriert, ihm wird Verantwortung übertragen. Herrschaft in unserem Sinne ist hingegen nicht bekannt.

Könnte es nicht sein, daß die von Richter festgestellte Verminderung des Gefühls kindlichen Beschütztseins mit der Verdrängung der Göttin und dem Sieg des patriarchalen Monotheismus , der nur noch Gott-Vater und seinen Sohn im Bereich des Göttlichen zuließ, zusammenhängt? Fehlte da nicht die machtvolle weibliche schützende Kraft, die jedem Menschen aus der Kindheit so vertraut ist und die kaum ein Vater seinen Kindern vermitteln konnte? Bestätigung findet meine Vermutung im Buch des Propheten Jeremia. Er beschimpft die Flüchtlinge aus Jerusalem, die aus der belagerten Stadt nach Ägypten ausgewandert und dort zum Kult der Himmelskönigin zurückgekehrt sind. Dafür sollen sie umkommen. Doch die Menschen scherten sich nicht um die Haßtiraden des Propheten, sondern
entgegneten ihm wie folgt: »Da antworteten dem Jeremia alle Männer, die doch wußten, daß ihre Weiber anderen Göttern räucherten, und die Weiber, die in großen Haufen dastanden, samt allem Volk, die in Ägyptenland wohnten und in Patros, und sie sprachen: Nach dem Wort, das du im Namen des Herrn uns sagst, wollen wir dir nicht gehorchen, sondern wir wollen tun nach allem dem Wort, das aus unserem Munde kommt. Und wollen der Himmelskönigin räuchern und ihr Trankopfer auftragen, wie wir und unsere Väter, Könige und Fürsten getan haben in den Städten Judas und auf den Gassen zu Jerusalem. Da hatten wir auch Brot genug, und es ging uns wohl, und wir sahen kein Unglück. Seit der Zeit aber, da wir aufgehört haben der Himmelskönigin zu räuchern und ihr Trankopfer darzubringen, haben wir allen Mangel gelitten und sind durch Schwert und Hunger umgekommen. Auch wenn wir der Himmelskönigin räuchern und wenn wir ihr Trankopfer darbringen, das tun wir ja nicht ohne unsere Männer, daß wir ihr Kuchen backen und Trankopfer darbringen, auf daß sie sich um uns bekümmere« (Jeremia 44,15-19, Luther-Übersetzung).
In diesen Worten wird deutlich, daß Jahwe von Anfang an nicht in der Lage war, den Menschen das Gefühl kindlichen Beschütztseins zu vermitteln, und daß die Frauen ihn bereits vor 2600 Jahren mit den heute noch brennenden Problemen des Krieges und des Hungers in Zusammenhang brachten. Das ist für mich der Ursprung, der deutliche Anbruch der feministischen Theologie. Sie ist also nicht erst in den letzten hundert Jahren aufgekommen, wie manche Leute meinen. Sie zieht sich vielmehr durch die Patriarchatsgeschichte. Der Jeremia-Text ist ein Beweis dafür. Aber natürlich wird sie auch immer wieder unterdrückt, wie der weitere Verlauf der Jeremia-Rede zeigt.
Aus den Herzen der Frauen aber konnte ihr Anliegen immer nur vorübergehend verdrängt werden.

Kriege entstehen, weil ein Volk sich über das andere erhebt.
Wie es dazu kommt, beschreibt die Hebräische Bibel recht deutlich. Ausgangspunkt des jüdischen Glaubens ist die Erwählung des israelitischen Volkes durch Gott den Herrn, der seine Kinder aus der ägyptischen Gefangenschaft durch die Wüste und schließlich in ein Land führte, in dem Milch und Honig fließen, in dem aber auch andere Menschen mit anderen religiösen Vorstellungen lebten. Trotzdem hatte der Gott Israel, seinem Volk, verheißen, er wolle ihnen große und feine Städte geben, die sie nicht gebaut hatten, und »Häuser, alles Guts voll, die du nicht gefüllt hast, und ausgehauene Brunnen, die du nicht ausgehauen hast, und Weinberge und Ölberge, die du nicht gepflanzt hast, daß du essest und satt werdest« (5. Mose 6,11). Mit diesen wenigen Worten wird das patriarchale Prinzip der Eroberung umschrieben, mit dem der patriarchale Mann seinen Machtanspruch über andere sichert.

In Israel wurde solche Herrschaft über andere Stämme durch einen Jahrhunderte währenden Kleinkrieg im Namen Jahwes vorübergehend errungen. Immer wieder gelang es den Priestern Jahwes, ihren Willen durchzusetzen. Nur der von ihnen vertretene Glaube sollte Anerkennung finden. Schließlich wußten die jüdischen Priester genau, daß es nur einen Gott gab, den ihren, und folglich die Göttinnen und Götter anderer Völker Götzen sein mußten, die es mit Stumpf und Stiel auszurotten galt - ein Kampf, der sogar den Mord an Tochter, Bruder und Gattin legitimierte.[3] Weite Teile der Hebräischen Bibel sind ein Beleg für den von H. E. Richter konstatierten männlichen Ohnmachts-Allmachts-Komplex, der aus meiner Sicht aufs engste mit der gewaltsamen Ausmerzung der Göttin in den Seelen des Volkes zusammenhängt. Ohne den Schutz der Göttin mußten sich die Menschen ohnmächtig und verlassen fühlen, was die Propheten mit der Verkündigung eines allmächtigen Gottes auszugleichen suchten, der es allerdings sehr schwer hatte, in der Seele des Volkes Fuß zu fassen. Es ist gar nicht vorzustellen, wie durch Jahrhunderte der Jahweglaube dem Volk aufgezwungen werden mußte. In den Königsbüchern der Chronik werden jene Könige als gute Herrscher angesehen, die die Altäre der Göttinnen und des Baal zerstörten, jene aber, die ihre Kulte tolerierten, gelten als schlecht, weil sie dem Volk mit religiöser Toleranz begegneten.
Die Allmacht des neuen Gottes Jahwe mußte sich erst allmählich erweisen, und zwar auf recht grausame Art.

Die Bücher der Hebräischen Bibel sind voll von den Aufrufen Jahwes zum Mord an Andersgläubigen, bei denen es sich um Anhängerinnen und Anhänger des göttlichen Paares Aschera (oder Anat) und Baal, ihren Begleiter, handelte. Für die kanaanäischen Völker war es noch selbstverständlich, daß das Göttliche nur in seiner männlichen und weiblichen Potenz verehrt werden konnte. Da aber in allen Religionen der Urakt des jeweiligen Gottes bzw. der Göttin ein schöpferischer Akt ist, aus dem der Kosmos, die Welt oder der Mensch entsteht, galt bei den kanaanäischen Stämmen, wie übrigens in allen vorpatriarchalen Religionen auch, die Sexualität als wesentlicher Ausdruck dieses göttlichen Schöpfungsaktes. Solche Vorstellungen waren Jahwe, dem Herrn, ein Greuel, wie er immer wieder bekundet. Sie sollten mit den dazugehörigen Menschen ein für allemal ausgerottet werden.
Im christlichen Glauben wurde der Erwählungsgedanke auf die christlich getauften Anhänger dieses Glaubens übertragen. Nun waren die Christen das wahre Volk Gottes. Alles andere blieb. Andersgläubige, auch die Juden, galt es auszurotten oder bestenfalls zu bekehren. Sexualität wurde nicht nur aus dem Bereich des Göttlichen verbannt, sondern auch aus dem Bereich des Männlichen. Dualistische Elemente jüdischen und griechischen Denkens wurden zu einem christlichen Dualismus zusammengesetzt, der bis in die Gegenwart die verheerendsten Folgen zeitigt. Kosmos, Welt und Menschheit wurden aufgespalten in zwei einander feindlich gegenüberstehende Prinzipien. Zusammengehörige Polaritäten wurden in einander ausschließende Gegensätze verwandelt. Auf der einen Seite finden wir das Göttliche, den Geist, das Licht, die Ordnung, das Männliche, kurz: das Gute; auf der anderen Seite dagegen das Antigöttlich-Dämonische, die Materie bzw. Natur, den Leib, die Sexualität, die Finsternis, das Chaos, das Weibliche, kurz: das Böse. Dieser Dualismus durchzieht bis heute alle Ebenen unserer Gesellschaft wie auch unserer Seelen und ist die eigentliche Grundlage des Gotteskomplexes, mit dem Frauen und Männer auf recht unterschiedliche Weise ihre Probleme haben. Seine Folgen können gar nicht schlimm genug eingeschätzt werden. Auf der politischen Ebene stellen sie sich so dar: Die Christen fühlten sich mit ihrem Glauben dazu ausersehen, die Welt zu erobern, das hieß andere religiöse Vorstellungen auszurotten oder Andersglaubende zu bekehren; denn sie wußten sich im Besitz des allein seligmachenden Glaubens. Nachdem dieses Geschäft, so gut es eben ging, erledigt war, fiel der Erwählungsgedanke an die einzelnen christlichen Nationalstaaten zurück, in denen Kaiser und Könige von Gottes Gnaden herrschten und ihre eigenen egoistischen Interessen als göttlichen Willen ausgaben. Das christliche Großbritannien sah sich als »Mutterland« aller Völker; Frankreich, die Grande Nation, wetteiferte, wenn auch mit geringerem Erfolg; und schließlich sollte am deutschen Wesen die Welt genesen, denn dort wollte die göttliche Vorsehung die eigentliche Herrenrasse erstehen lassen.
Nachdem diese Leuchten des christlichen Abendlandes erloschen waren, traten sie den Auserwählungsgedanken an die Neue Welt ab, die sich nun ihrerseits dazu erkoren weiß, die Welt zu beherrschen, denn »God loves America«!
Ob jüdisch-christlicher Monotheismus, ob europäischer Imperialismus, ob amerikanischer Kapitalismus, ob russischer Kommunismus, alle diese Patriarchatssysteme sind sich darin einig, daß ihrem jeweiligen »Gott« die Welt gehört, der repräsentativ zu sein scheint für das männliche Geschlecht; denn in allen diesen Systemen ist der Mann wiederum der Auserwählte, auserkoren zu herrschen, während die Frau dazu da ist, zu dienen. In allen diesen Systemen wird der Mann auf- und die Frau abgewertet. Und wo der individuelle Mann nicht herrscht, da ist es sein religiöses, sein politisches, sein wissenschaftliches System - eben sein jeweiliger Gott. Dieser weltweite Prozeß des Abwertens der Frau wie auch weiblicher Dimensionen des Handelns, Denkens und Fühlens korrespondiert mit der Verdrängung und Ausmerzung der Göttin, die Jahwe-Priester in Israel und christliche Priester in Europa vornahmen. Heute kann dieser Prozeß beim männlichen Geschlecht bereits im zarten Knabenalter von vier oder fünf Jahren beobachtet werden, wenn er aus dem Kindergarten und später aus der Schule kommt mit den Worten: »Die ollen Weiber. «Das ist ein Ausdruck dafür, daß die männliche Identität in unserer Gesellschaft ausschließlich auf der Abwertung des weiblichen Geschlechts aufbaut und daß folglich Männer die Aufwertung des Weiblichen als ihre eigene Abwertung empfinden. (Es ist mir schon mehrfach passiert, daß ich nur positiv von Frauen gesprochen habe, ohne dabei die Männer zu erwähnen, und diese sich hinterher beschwerten, weil ich sie angeblich nur negativ dargestellt hätte, obwohl ich doch kein Wort über sie verloren hatte.) Dieses Bedürfnis nach weiblicher Abwertung findet in den nachfolgenden Jahren reichlich Nahrung. Staat und Kirche, Schule und Elternhaus lehren den Knaben, daß Gott ein Vater, König, Richter, kriegerischer Herrscher, kurz: ein männliches Wesen ist, was im Klartext für Jungen und Mädchen heißt, daß Männlichkeit und
Göttlichkeit Synonyme sind, während Weiblichkeit und Göttlichkeit einander ausschließen. Ein Beispiel dafür: Ein evangelischer Pastor sagte, als er von dem Titel meines ersten Buches »Die Weiblichkeit Gottes« hörte: »Wie kann man in einem Atemzug Weiblichkeit und Gott nennen? Das ist doch blasphemisch, denn beide schließen einander ja aus!«
Auf den ersten Seiten der Bibel lernen beide Geschlechter, daß die Menschheit mit Adam, dem Mann, begann, aus dem Eva, die Frau, erst später entstand, obwohl doch nach archäologischen und religionsgeschichtlichen Erkenntnissen zwar eine Urmutter, aber nirgends ein Urvater in Sicht ist, wie auch sonst biologisch und psychologisch gesehen alles auf die Priorität des Weiblichen verweist. Aber genau hier sind wir am neuralgischen Punkt angelangt, um den sich der ganze Gotteskomplex rankt, der sich ja laut Richter aus verdrängter Abhängigkeit und selbstmörderischem Größenwahn zusammenbraut.
Verdrängt wurde die Abhängigkeit vom weiblichen Prinzip, das ohne die Göttin nicht mehr als allgegenwärtig wahrgenommen werden konnte. Das hatte die Entfesselung zerstörerischer Ego-Kräfte des Mannes zur Folge, die sich bis heute über alles andere hinwegsetzen dürfen.
Hier aber hat auch jeder Knabe und Mann seinen individuellen Männlichkeitskomplex. Er, der so systematisch von Kirche und Staat, von Schule und Elternhaus aufgebaut wurde, leidet an einem mehr oder weniger bewußten Zweifel an der ihm zugeschriebenen Großartigkeit, der es ja in der Tat an einer realen Grundlage fehlt.
Gleichzeitig lebt er in der ständigen Angst, daß diese Wahrheit ans Licht der Öffentlichkeit dringen könnte. Sie muß daher kompensiert werden durch größere Kraftakte glaubhafter Männlichkeit, die ihm jenes Image verleihen, an dem er sich auszurichten gelernt hat. Hier liegt meines Erachtens die wahre Ursache des männlichen Ohnmachts-Allmachts-Komplexes, den H. E. Richter beschreibt. Das männliche Selbstwertgefühl hat eine inflationäre Grundlage und kommt einem ungedeckten Scheck gleich. Es konnte sich nur auf Kosten des weiblichen Geschlechts entfalten und nicht etwa im fairen Wettstreit mit diesem. Die Frau mußte dumm gehalten werden, damit der Mann um so klüger erschien; die
Frau mußte sich schwach fühlen, damit er sich um so stärker fühlen konnte; sie durfte nur Gefühl sein, damit er ganz Verstand, oder was er dafür hielt, sein konnte.
Wenn wir nun fragen, was es denn eigentlich sei, was das männliche Geschlecht dem weiblichen voraus hat, so erhalten wir von der Tiefenpsychologie, die es ja wissen muß, denn schließlich geht sie in die Tiefe, die Antwort: der Penis. Das jedenfalls hat S. Freud, der Konstrukteur des Urvaters und seiner Horde, herausgefunden und wurde damit gern und reichlich auch von anderen Wissenschaften zitiert. Das Gerücht vom weiblichen Penisneid ging um die Welt und galt als Schlüssel aller weiblichen Probleme. Die Frau war eben nur neidisch auf den Mann, das war's. Bis heute konnte sich diese These halten, so daß wir allen Grund haben, sie näher zu untersuchen, denn schließlich spielte ja auch in unserem Märchen der Neid eine ganz wesentliche Rolle. Im Neid sieht beispielsweise Hartmut Schoeck, der ihm ein 400seitiges Werk gewidmet hat,[4] den Ursprung des Bösen - und nicht etwa im weiblichen Erkenntnisdrang, wie es die Hebräische Bibel will.
Immerhin steht der Neid hinter dem ersten Mord der Menschheitsgeschichte, dem Brudermord des Kain an Abel, der von Gott begünstigt wurde. Der Neid ist Ausdruck der Haben-Orientierung, die zu den wesentlichen Merkmalen des patriarchalen Systems gehört und Ausbeutung, Unterdrückung, Sexual- und Frauenfeindlichkeit zur Folge hat, wie Erich Fromm in seinem Buch »Haben oder Sein« zeigt.
Demnach steht der Neid mythisch und sozialgeschichtlich in auffallender Nähe zum männlichen Geschlecht. Wie Klickhohn gezeigt hat, gibt es eine unmittelbare Beziehung zwischen Neid und Hexenverdacht, so daß er auch bei dem millionenfachen Frauenmord, den Männer im ausgehenden Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit durch mehrere Jahrhunderte hindurch im Namen Gottes und des Rechts begehen durften, eine nicht unerhebliche Rolle spielte. Der Neid, der Frauen in Form eines Penisneids zugeschrieben wird, wäre also demnach ein primär
männliches Problem? Dieser Meinung ist auch Erich Fromm und entlarvt den FREUDschen Penisneid als eine Verkehrung der Wirklichkeit in ihr Gegenteil. Er schreibt: »Im völligen Gegensatz zu Freuds Annahme, der Penisneid sei eine natürliche Erscheinung in der Konstitution der weiblichen Psyche, bestehen gute Gründe für die Annahme, daß vor der Errichtung der Vorherrschaft des Mannes bei ihm ein Gebärneid existierte, den man sogar noch heute in vielen Fällen antreffen kann.«[5]
Die Annahme eines männlicher Gebärneids erscheint mir wesentlich berechtigter als die eines weiblichen Penisneids. Das soll uns ein Blick in die patriarchale Mythenwelt wie auch in die matriarchale Vorstellungswelt zeigen. Das matriarchale Weltbild trägt dem Phänomen Rechnung, daß menschliches Leben nur aus der Frau hervorgeht und der Mann sich durch das definiert, was er nicht kann: Leben gebären. Mann und
Frau verdanken ihr Dasein weiblicher Gebärfähigkeit und Gebärbereitschaft, so daß sich Männlichkeit nur in ihrer Geschöpflichkeit darstellen konnte, während Weiblichkeit mit Schöpferinnenkraft gleichgesetzt wurde. So wie die Mutter das Leben hervorbrachte, so brachte Mutter Erde die Natur hervor. Und nach dem bewährten Prinzip »Wie auf Erden so im Himmel« wurde auch das Himmelszelt als weiblicher Körper
angesehen, der Sonne, Mond und Sterne als Geschöpfe der Himmelskönigin hervorbrachte. Auf allen Ebenen des Seins herrschte die Große Göttin als Erschafferin allen Lebens. Ihr wurde später, als der männliche Beitrag zum Zeugungsgeschehen bekannt wurde, ein männlicher Begleiter als Sohngeliebter an die Seite gestellt, der das männliche Seinsverständnis veranschaulichte. Ihr Sohn war der Mann deshalb, weil er immer ihr Geschöpf war; ihr Geliebter war er, weil er ihr durch den Liebesakt zur Fruchtbarkeit verhalf. Einmal im Jahr feierte die Priesterin als Vertreterin der Göttin auf Erden mit einem auserwählten Priesterkönig, der in ihrem Auftrag herrschen durfte, die Heilige Hochzeit. Ein Fest, das die Verbindung des göttlich weiblichen Prinzips mit dem göttlich männlichen Prinzip veranschaulichte und das in den Fruchtbarkeitsritualen des
Volkes seinen Niederschlag fand. Das Wissen um seine Beteiligung am Zeugungsakt, durch die er zu göttlichen Ehren kam, muß dem Mann jedoch zu Kopf gestiegen sein. Anscheinend war ihm der Anteil am schöpferischen Prozeß zu gering, denn er erschuf sich Mythen, die diesem Defizit abhalfen, und so entstand der gebärende Mann, der nun als Gott an den Himmel projiziert wurde: Zeus gebiert seine Tochter Athene aus
dem Kopf und seinen Sohn Dionysus aus dem Schenkel. Daß es sich hierbei nicht etwa um einen Scherz, sondern um einen echten biologischen Größenwahn handelt, der schwerwiegende Folgen haben sollte, zeigt der antike Dichter Aischylos in seiner Orestie, mit der er den Abschied vom matriarchalen Weltzustand beschreibt. Es geht darum, die Straffreiheit für den Muttermörder Orest zu begründen. War im Matriarchat noch der Muttermord ein todeswürdiges Verbrechen, da die Blutsbande als heilig galten, so wird diese Auffassung nun einfach
umgedreht. Nur noch Vatermord soll künftig strafbar sein. Also muß der Beweis angetreten werden, daß das Kind nicht mit der Mutter, sondern nur noch mit dem Vater blutsverwandt und daher nur der Vatermord mit dem Tode zu bestrafen sei.
Apollon, der neue, zur Macht strebende patriarchale Gott, spricht folgende Worte:

»Die Mutter bringt, was uns ihr Kind heißt, nicht hervor.
Sie ist nur frisch gesäten Keimes Nährerin.
Der es befruchtet, zeugt. Sie, wie der Wirt den Gast,
Beschützt, sofern kein Gott es schädigt, nur das Gut.«

Das heißt, sie ist nur der Brutkasten, in den hinein der männliche Same gelegt wurde. Schon der Begriff »Same« läßt erkennen, was man sich unter dem männlichen Sperma vorstellte: eine Substanz, die bereits den fertigen Menschen enthält, der die Frau nur noch etwas Nahrung hinzufügen mußte, um das bereits vorhandene Wesen zu vergrößern. Aus dieser Vorstellung folgte, daß der Nachwuchs allein dem Mann gehörte, sein Besitz war. Hier nun der kluge Beweis für solche Phantasien:

»Für diese Rede leg' ich den Beweis euch vor:
Es gibt auch ohne Mutter Vaterschaft:
Hier steht als Zeuge da die Tochter des Olympiers Zeus,
Die nicht genährt in eines Schoßes Finsternis,
Doch herrlich ist wie keiner Göttin leiblich Kind.«[6]

Es gibt noch weitere Variationen des »gebärenden Mannes«. Der babylonische Schöpfungsmythos beschreibt eine andere Art der Kompensation des männlichen Mangels und Gebärneids. Dort setzt der Mann die Verstandeskraft an die Stelle weiblicher Schöpferkraft. »Da er mit seinem Leib nichts erzeugen kann«, schreibt E. Fromm, »muß er es auf andere Weise tun. Er produziert etwas mit seinem Mund, seinem Wort, seinem Denken.«[7]
So stellt der babylonische Gott Marduk, der Enkel der Urgöttin Tiamat, durch sein Wort seine Schöpferkraft unter Beweis, bevor ihm von den andern Göttern die Macht übertragen wird. Die Bibel greift diese Vorstellung auf und gibt sie weiter unter dem Motto: Im Anfang war das Wort,
obwohl es sich bei genauerem Hinsehen auch hier ursprünglich nicht um den Logos, sondern um eine weibliche göttliche Kraft, die Weisheit, die Sophia, gehandelt hat. Ebenso gehen im biblischen Schöpfungsbericht die Urflut, tehom oder babylonisch Tiamat, und die Ruah, das weibliche Geistprinzip, dem göttlichen Wort voraus. Das Männliche als Ursprung allen Lebens steht also von Anfang an auf recht wackligen Beinen. Doch
man muß schon genauer hinsehen, um das zu erkennen. Oberflächlich betrachtet, haben die männlichen Götter gesiegt und ihre Macht an den Weltenanfang zurückprojiziert. Die Macht des Wortes erwies sich als stärker als die Macht der Liebe. Im Siegestaumel sonnte sich der Mann an seiner geistigen Größe, die er nur recht genießen konnte, wenn er sie dem weiblichen Geschlecht absprach, was immerhin noch bis in unsere Zeit hinein geschieht.
Schließlich waren es seine »geistigen« Fähigkeiten, die es ihm ermöglichten, sich das Primat des schöpferischen Prinzips anzueignen und damit seinem berechtigten Neid die Basis zu nehmen; zumindest konnte er diesen Neid mit seinem geistigen Rüstzeug am Wiederauftauchen aus der Verdrängung hindern, wenn er die Abwertung des weiblichen Geschlechts zur Regel machte. Mit ihr steht und fällt das patriarchale Weltbild. Auch im Märchen ließ der Neid der Macht den Vortritt und hielt sich selbst im Hintergrund, während sich die Liebe ohnmächtig und minderwertig fühlte - ein typisch weibliches Lebensgefühl, das allerdings nicht aus einem realen Mangel resultiert, sondern das Ergebnis einer patriarchalen Gehirnwäsche ist, die darauf abzielt, dem weiblichen Geschlecht von klein auf Insuffizienzgefühle zu vermitteln. Was die Frau einst als göttlich erscheinen ließ, ihre Fähigkeit zur Liebe und die damit verbundene Fähigkeit, Leben zu schenken, wurde von allen patriarchalen Religionen nach der Abschaffung des weiblichen Priestertums systematisch abgewertet und diffamiert. Der Akt des Gebärens wurde nur noch unter dem Aspekt der Schmerzen gesehen, die wiederum als Strafe eines männlichen Gottes gedeutet wurden, wie die Paradiesgeschichte zeigt. Die weibliche Liebesfähigkeit hingegen wurde in Ketten gelegt durch ein patriarchales Eheverständnis, das die Frau zum Besitz des Mannes erklärt - eine Sichtweise, mit der sich Frauen heute noch zu identifizieren scheinen.
Doch wo blieb die einstige Göttinnenmacht? Was ursprünglich ein großes Ganzes war, die Göttin als Himmelskönigin, die Göttin als Urflut und die Göttin als Mutter Erde, die Leben hervorbrachte und die Toten in ihren Schoß zurücknahm, wurde aufgespalten und dann schrittweise verdrängt oder aber, wo das nicht möglich war, patriarchalisiert. Männlich-patriarchale Götter übernahmen die Herrschaft im Himmel. In Ägyp-
ten war es Amun-Re, in Babylon Marduk, in Griechenland Zeus, in Israel Jahwe, in Rom Jupiter und später Mars. Die alten Göttinnen wurden ihnen als Ehefrauen an die Seite gestellt, solange man sie noch nicht völlig ausschalten konnte, was in Israel am vehementesten versucht wurde. Jahwe wollte alleiniger Herrscher sein. Er duldete keine Göttin neben sich. Zunehmend wurden aus den Allgöttinnen nur noch chthonische, also erdgebundene Gottheiten. Das weibliche Prinzip sank im wahrsten Sinne des Wortes »immer tiefer«, bis es nur noch im Bereich des Unterirdischen, des Todes, der Finsternis und des Chaos wahrgenommen wurde, in jenen Bereichen, die zunehmend unheimlicher wurden und bis heute nicht wieder ins Leben und ins menschliche Bewußtsein integriert werden konnten. Solche Prozesse haben ja immer auch einen sozialgeschichtlichen Hintergrund. Wie im Himmel, also auch auf Erden! Das weibliche Geistprinzip als synthetisches und integrierendes Denken ging immer mehr verloren. Übrig blieb der männliche Geist, der Intellekt, der analytisch-strategische Verstand, der auf Eroberung setzte, auf Sieg und Macht über andere. Einst hatte der jüdische Gott seinem Volk verheißen, sie sollten »ernten, wo sie nicht gepflanzt, und in Städten wohnen, die sie nicht gebaut haben«.[8] Damit wurde das patriarchale politische Konzept umrissen. Eine solche Verheißung wäre aus dem Mund einer Göttin undenkbar, weil sie alle Menschen als ihre Kinder betrachtet und ihnen nicht das Recht gibt, andere auszurotten, um selber besser leben zu können. Auch wäre es undenkbar, aus ihrem Munde den Befehl: »Macht euch die Erde Untertan« vernehmen zu wollen; denn die Mutter Erde ist heilig und kann nicht besessen werden. Das müssen uns zivilisierte Barbaren heute die Indianer neu lehren. Für sie ist es unfaßbar, wie der weiße Mann, der ihm einst den wahren Glauben bringen wollte, die Erde dermaßen zurichten kann, daß er sich letztendlich selbst zugrunde richtet - ein Akt, der möglicherweise als männlicher Selbsthaß und gesteigerte Variante seines Gebärneides angesehen werden muß.
Diesen Selbsthaß finden wir auch in der Tatsache belegt, daß eine Frau durch den Geschlechtsakt an Wert verliert, der ja in ihrer »Unschuld«, im Unberührtsein vom Mann, besteht. Auch diese Einstellung ist nur möglich auf der Grundlage eines entsexualisierten, rein männlichen Gottesbildes, das den zwangszölibatären Priester zur Folge hat und gleichzeitig ein Heer von Sexualneurotikern, über die zu berichten ein abendfüllendes Programm wäre.
Erotische Liebe ist das wichtigste Ereignis zwischen den Geschlechtern, das sie unauflöslich zusammenschmiedet und die Weitergabe des Lebens gewährleistet. Im Hohenlied der Hebräischen Bibel, das nur zufällig in den Kanon geriet und eigentlich der Rest eines matriarchalen
Kultliedes ist, das den Ritus der Heiligen Hochzeit beschreibt, kommt noch einiges von der herzzerreißenden Bedeutung dieser Liebe zum Tragen, einer Liebe, die stark ist wie der Tod.
Später sollten diese Texte nur noch als rein geistige Metaphern für die Beziehung zu Gott verstanden werden, ein Verständnis, das wohl nur den wenigsten Menschen gelang. Mit dieser Entsinnlichung des Gottesbildes, das im Judentum wie im Christentum von aller Erotik gereinigt und dem Bereich des reinen Geistes zugeführt wurde, mit dieser Entsinnlichung ging ganz zwangsläufig auch eine Sinnentleerung einher, die schließlich in der Sinnlosigkeit der Rede von Gott endete. »Gott ist tot, wir haben ihn getötet«, klingt es von Nietzsche bis zur Gott-ist-tot-Theologie der sechziger und siebziger Jahre. Für unser religiöses Verständnis hat das Hohelied heute kaum noch Bedeutung, obgleich es doch einst der Höhepunkt des religiösen Kultes war. In der christlichen Mystik flammt noch einmal das erotische und mit ihm das weibliche Element im Gotteserleben auf. Nicht umsonst werden viele Mystikerinnen und Mystiker als Häretiker gebrandmarkt und entgehen zum Teil nur knapp
der Exkommunikation.
Ich weiß nicht, ob wir uns heute überhaupt Im klaren sind, was auch für uns die Verdrängung der Göttin und die Erhebung des Männlichen zum alleinigen göttlichen Prinzip bedeutet; was es für unser religiöses Erleben und zwischenmenschliches Miteinander heißt, daß durch zwei Jahrtausende hindurch ausschließlich Männer und von ihnen überwiegend die frauen- und sexualfeindlichsten bestimmt haben, was wir glauben, singen, beten, wie wir lieben und feiern, wie wir Freude und Trauer erleben; denn aus Theologie und Kirche kamen die hauptsächlichen Impulse, die diese Lebensbereiche bestimmten. Die Unfähigkeit, zu trauern und zu lieben, ist inzwischen sprichwörtlich geworden.
Beide Bereiche sind in den antiken Mysterienreligionen noch aufs allerengste mit der Göttin verbunden, die jedes Jahr einmal, wenn die ganze Natur in der Dürre des Sommers vertrocknete und dahinstarb, um ihr Geschöpf, ihren Geliebten, trauerte - und mit ihr die Priesterinnen und Frauen. Noch Hesekiel weiß, daß am Tempel zu Jerusalem die Frauen um ihren Tammuz weinen (8,14), ein Grund übrigens, um sie mitsamt
ihren Familien auszurotten. Auf die Zeit der Trauer und des Klagens folgte dann jedoch im Frühjahr mit dem Wiedererwachen der Natur das Fest der Heiligen Hochzeit, der Feier der Liebe zwischen den Geschlechtern, auf die sich beide gründlich vorbereiteten. Diese Liebe wurde mit der Verdrängung aus dem Bereich des Göttlichen letztendlich an die Gosse preisgegeben.
Ohne göttliche Macht an ihrer Seite, das sagte auch unser Märchen, wurde die Liebe schwach und kraftlos, verletzlich, mißverstanden und mißbraucht. Heute nimmt die Macht immer beängstigendere Formen der Kommerzialisierung und Brutalisierung an.
Der Weg der Liebe im Märchen war der Weg der Frau durch die verschiedenen Gesellschaftsformen des Patriarchats. Es ist noch gar nicht so lange her, da sahen Frauen sich gezwungen, ins Wasser zu gehen, wenn die Folgen ihrer Liebe zu einem Mann sichtbar wurden. Für Frauen war die Liebe zum Mann nicht selten mit tiefem Leid innerhalb und außerhalb der Ehe verbunden, während Männer nur allzu häufig die Verursacher dieser Leiden waren. Sie haben es bis heute nicht gelernt, mit ihrer erotischen Liebeskraft umzugehen; ein solches Lernen ist
ja in ihrer Erziehung zum Mann auch gar nicht vorgesehen.
Er lernt sich zu behaupten, Macht auszuüben und erfolgreich im Wettbewerb mit anderen zu sein, sein Leben auf Kosten anderer - insbesondere Frauen - einzurichten. Genau das hatte auch Jahwe vor rund 3000 Jahren getan. Er erwies sich in Israel als der machtvollste aller Götter, er wußte sich am rigorosesten durchzusetzen und andere unschädlich zu machen, und das alles auf Kosten der Göttin, denn der Glaube an sie blieb dabei auf der Strecke.
In Jesaja 3,17 droht Gott der Herr den stolzen Töchtern Zions die Vergewaltigung an.[9]
Heute wissen wir, daß allein in der Bundesrepublik jährlich ca. eine viertel Million Töchter und Mädchen bereits ab dem 6. Lebensmonat nicht sicher sind vor den Vergewaltigungen durch Väter, Brüder, Großväter und Onkel, Freunde und Nachbarn - und dennoch geht kein Aufschrei der Entrüstung durch die Kirchen! Wie der Herr, so's G'scherr, lautet ein altes Sprichwort, das hier vielleicht angebracht wäre. Wo soll das Vorbild herkommen, das Männern vermittelt, daß Sexualität etwas mit liebevoller Zärtlichkeit zu tun hat, mit Nehmen und Geben, Empfangen und Schenken?
Ich wünschte, ich könnte Ihnen vermitteln, wie viele Frauen an dem reduzierten Sex ihrer Männer leiden, der nicht mehr eingebettet ist in ein geistig-seelisches Ganzheitserleben. Für den Mann im Patriarchat ist Weiblichkeit bzw. die reale Frau identisch mit seiner reduzierten Vorstellung von Sexualität. Er ist nur selten daran interessiert, die seelischen und geistigen Tiefen einer Frau wahrzunehmen oder gar auszuloten, er ist nicht neugierig auf ihre Gefühle und Gedanken. Er hat nie gelernt, die Liebe zur Mutter, zur Schwester oder Ehefrau auf eine Göttin hin zu transzendieren, was dem antiken Mann immerhin noch möglich war. Auch daß Sexualität sublimiert, verfeinert, ja sogar vergeistigt werden kann, scheint ihm überwiegend fremd zu sein. Entweder er nimmt sich, was er braucht, oder er wird zum sexualfeindlichen Asketen. Dazwischen scheint es nur selten etwas zu geben. Schließlich zwingt ihn auch die Patriarchatserziehung, seine eigene Weiblichkeit als eigenständiges Wesen auch innerhalb einer Beziehung zu sehen fällt ihnen sehr schwer.
Daran wird sich meines Erachtens so lange nichts ändern, wie Frauen und Mädchen dazu angehalten werden, das Männliche in Gestalt eines Vatergottes und seines Sohnes zu verehren. Daher ist es für uns Frauen ganz besonders wichtig, die göttlichen weiblichen Kräfte wieder neu zu aktualisieren, denn schließlich haben sie im Judentum wie im Christentum eine eigene Tradition, wenn auch nur recht unterschwellig. Als Schechina, Chochma und Ruah durchzogen diese weiblichen Kräfte das Judentum. Als Weisheit (Sophia) waren sie dem Christentum bekannt. Während im Westen die Sophia mit Maria verschmolzen wurde, blieb sie in der Ostkirche als eigenständige Größe lebendig. Noch im vorigen und zu Beginn dieses Jahrhunderts begegnete sie dem großen russischen Mystiker Wladimir Solowjew dreimal im Verlauf von dreißig Jahren. Die erste Begegnung hatte er im Alter von neun Jahren bei einem Kirchgang mit seinem Kindermädchen. Sie hinterließ einen tiefen Eindruck in ihm. Während seines Studiums in London begegnete er ihr ein zweites Mal. Diesmal sprach sie zu ihm und forderte ihn auf, nach Ägypten zu gehen, dort wolle sie ihm ein drittes Mal erscheinen. Umgehend begab er sich nach Ägypten, was damals immerhin sechs Wochen dauerte. Kairo erschreckte ihn so sehr, daß er sich bald nach seiner Ankunft in die ägyptische Wüste begab. Dort lebte er sechzehn Jahre lang als Eremit. So lange dauerte es, bis ihm die Sophia ein drittes Mal erschien. Danach ging er nach Rußland zurück, wo er sich an die Entwicklung einer Sophiologie machen wollte, dann aber in relativ jungen Jahren starb. Dieser große Mystiker Rußlands war am Ende seines kurzen Lebens zu einer Schlußfolgerung gekommen, die ich mit seinen eigenen Worten hier wiedergeben möchte.

»Die heilige Sophia war für unsere Vorfahren die durch die Erscheinung der niederen Welt verhüllte himmlische Wesenheit, der lichte Geist der wiedergeborenen Menschheit, der Schutzengel der Erde, die zukünftige und endgültige Erscheinungsform der Gottheit. Dieser dem religiösen Gefühl unserer Vorfahren offenbarten, dieser wahrhaft nationalen und absolut universalen Idee müssen wir jetzt einen rationalen Ausdruck
verleihen.«[10]

Nun, vor 2000 Jahren wurde ihr bereits Ausdruck verliehen. Jesus selbst hat sich wiederholt mit der Sophia identifiziert indem er ihre Worte auch auf sich angewandt hat. Auch die frühen Christen sahen in Jesus eine Inkarnation der Sophia, die neben ihm als seine Gefährtin verehrt wurde. Doch dieser Zweig des Christentums wurde von der apostolischen Kirche unterdrückt. Es ist längst an der Zeit, an ihn wieder anzuknüpfen und sich erneut Worte wie die folgenden zu vergegenwärtigen:

»Bevor die Welt geschaffen wurde,
war ich da. Ich, die heilige Weisheit.
Ich war da von Anfang an,
von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Ich war da, bevor die Erde geschaffen wurde,
da die Tiefen noch nicht waren,
da war ich schon da,
da die Brunnen noch nicht mit Wasser quollen.
Ehe denn die Berge eingesetzt waren,
vor den Hügeln war ich da.
Noch bevor der Himmel feststand,
bevor die Wolken zogen,
bevor das Meer der Erde Grenzen setzte,
da war ich da,
ich, die Mutter alles Lebendigen.
Ich bin die Mutter des Gottes,
er spielte auf dem Erdboden vor mir.
Meine Lust ist bei den Menschenkindern.
So erlauschet sorgsam meine Stimme!
Wohl denen, die in meinen Wegen wandeln!
Wer mich findet, der findet das Leben,
wer an mir vorübergeht, der verletzt seine Seele.
Alle, die mich hassen, lieben den Tod.«
Nach Sprüche 8,22ff.[11]