Sophia und Heilige Ruah

Ansätze eines weiblichen Gottesbildes in der Bibel

Vorbemerkungen

Ich möchte mit Ihnen jetzt eine Reise durch die Bibel machen, um dort Sophia, die Weisheitsgöttin, sowie die Heilige Ruah, die im Christentum zum Heiligen Geist wurde, aufzusuchen. Damit Sie mit mir auf dieser Reise möglichst viele Entdeckungen machen können, bedarf es vorab einiger Klarstellungen.
Für eine solche Reise müssen nämlich einige Voraussetzungen erfüllt sein, die ich Ihnen gleich nennen werde. Vor allem aber sollten Sie offen sein für Neues und dies nicht unbedingt am Althergebrachten messen. Wer eine Reise nach Spanien oder Kenia macht, sollte dort nicht Sauerkraut und deutsches Bier erwarten und den dortigen Speisezettel bespötteln.
Ich brauche Ihre Offenheit für neue Inhalte.
Der renommierte Verlag für Reiseführer, DuMont, arbeitet seit Jahren mit dem Slogan: »Man sieht nur, was man weiß.« Dies gilt natürlich für frau in gleicher Weise. Unsere Wahrnehmungsfähigkeit hängt immer auch mit unserem Vorwissen zusammen. Ich baue auf gewissen Denkvoraussetzungen auf, die in der Auseinandersetzung mit feministischer Theologie immer wieder zur Sprache kommen und die ich daher ganz kurz thematisieren möchte.

  • Erstens setze ich bei Ihnen ein aufgeklärtes Bibelverständnis voraus, das in der Bibel ein religionsgeschichtliches Dokument sieht und nicht die exklusive Selbstoffenbarung des Göttlichen als einzig gültige Wahrheit.
  • Zweitens gehe ich davon aus, daß Sie sich bereits mit der Frage nach dem Gottesbild befaßt haben und dieses daher nicht mehr mit dem Göttlichen an sich identisch sehen. Auch daß es sich bei unserer Rede von Gott immer nur um Bilder des Göttlichen handeln kann, die zeitbedingt und geschlechtsabhängig sind, sollte dabei klar sein.
  • Drittens hoffe ich, daß Ihnen die feministische Bibel- und Theologiekritik bekannt ist, die immer wieder auf die Androzentrik, die Mannzentriertheit biblischer Texte wie auch theologischer Exegesen hinweist. Was Frauen in den rund 2000 Jahren jüdisch-christlicher Tradition gedacht, geglaubt und wie sie Texte interpretiert haben, erfahren wir aufgrund einer exklusiv männlichen Redaktionsgeschichte nirgends.
  • Viertens wünsche ich mir, daß Ihnen die feministische Patriarchatskritik einigermaßen bekannt ist. Sie geht davon aus, daß die weltweite ökologische Krise wie auch der Rüstungswahn und die ungerechte Verteilung der Güter auf die Einseitigkeit männlichen Denkens und Handelns zurückgeht, das Frauen im Laufe der Jahrtausende aus allen verantwortlichen Bereichen von Religion, Wirtschaft und Politik hinausgedrängt und Männlichkeit über alles gefeiert hat. Zu beachten wäre an dieser Stelle allerdings, daß eine männerkritische nicht mit einer männerfeindlichen Haltung gleichzusetzen ist, was leider häufig geschieht.
  • Fünftens bedarf es des Wissens um die Tatsache, daß unserem patriarchalen, an Männlichkeit orientierten Weltbild - das einen männlichen Gott, der ursprünglich ein Stammesgott und kriegerischer »Herr der Heerscharen« war, an den Beginn der Schöpfung plaziert - ein matriarchales Weltbild vorausging, dessen Anhänger/innen als schöpferische Urkraft eine Göttin in ihren vielfältigen, Leben und Tod schenkenden Aspekten verehrten. Dies matriarchale Weltbild war allerdings so stark in den Seelen der Menschen verankert, daß es zu keiner Zeit gelang, es völlig auszutilgen. Trotz des vehementen Kampfes gegen wesentliche Aspekte dieses Weltbildes konnte nicht verhindert werden, daß es auch in die biblischen Texte mit einfloß und dort heute noch nachgewiesen werden kann.
  • Sechstens möchte ich noch auf die für viele von Ihnen sicherlich problematische Verwendung der Begriffe »weiblich« und »männlich« hinweisen, auf die insbesondere Frauen inzwischen - teilweise zu Recht - allergisch reagieren. Sie wittern in ihnen alte Klischees mit Aufforderungscharakter, denen sie sich nicht mehr stellen wollen. Dennoch liegt in diesen beiden Begriffen alles beieinander: Wahrheit und Klischee, von Männern ausgebeutete Normen und in der Tiefe begründete Seinsweisen der Geschlechter. Weiblichkeit und Männlichkeit umfassen zudem mehr als das individuelle Personsein von Frau und Mann. Sie sind geschlechtsübergreifende Kategorien, die zum einen in beiden Geschlechtern, zum anderen im außermenschlichen Bereich wahrgenommen werden, die sich aber dennoch überwiegend und vorrangig in einem Geschlecht manifestieren - global gesehen, versteht sich. Sie sind aber auch kulturhistori- sche Größen, die entsprechenden Wandlungen unterworfen sind. Ich benutze hier die Vorstellungen von weiblich und männlich im herkömmlich-patriarchalen Verständnis, nur daß ich ihnen eine andere Wertigkeit zukommen lasse.

Ganz sicher wäre jeder der von mir genannten sechs Punkte eines eigenen Referats würdig; dennoch will ich mich nunmehr meinem eigentlichen Thema zuwenden.

Man sieht nur, was man weiß

Wer im jüdisch-christlichen Glauben erzogen wurde, ist mit dem Gedanken groß geworden, daß diese Welt von einem männlichen Geist im Alleingang aus dem Nichts erschaffen wurde. Durch das Wort Gottes, durch seinen Befehl sozusagen, entstand diese Welt. So können wir es auf der ersten Seite der Bibel nachlesen. Doch so ganz stimmt dieses Bild nicht, denn bevor das göttliche Wort gesprochen wird, erfahren wir von einer weiblichen Kraft, von der Ruah, der Heiligen Geistin, die über den Wassern schwebt. Die Wasser oder Ürtiefen und die Ruah scheinen so etwas wie Grundgegebenheiten der
Schöpfung zu sein. Die Urwasser oder Tehom, wie sie im Hebräischen heißen, gelten in allen Kulturen als das weibliche Urbild der Materie und des Chaos, in dem ungeordnet noch alle Möglichkeiten der Entwicklung unterschiedlichster Lebensformen enthalten sind. So ist auch in dem Begriff »mater« oder
Mutter noch die Vorstellung von Materie enthalten.
Wie sich aber das gesamte Leben auf dieser Erde dem Wasser verdankt, so ist auch unser individuelles Leben -phänomenologisch jedenfalls - aus dem Fruchtwasser des Mutterschoßes hervorgegangen. Das babylonische Schöpfungsepps »enuma elish« kennt diese Urwasser als Göttin Tiamat, deren
Name auch in dem hebräischen Wort Tehom enthalten ist. Der babylonische Schöpfungsbericht beschreibt, wie Tiamat von einem ihrer Enkelsöhne, dem Gott Marduk, getötet wurde.
Aus ihrem Leib erschafft er dann schließlich die Welt. Die Vernichtung der weiblichen Basis wird hier also ganz offen beschrieben, So einfach macht es uns die Bibel nicht. Aber ähnlich wie es im babylonischen Text heißt, Marduk habe die Tiamat durchbohrt und zerstückelt, haben die biblischen Schreiber ihnen vorliegende Mythentexte zerstückelt und nach ihrem Belieben wieder zusammengesetzt, wobei selbstverständlich eigenen Bedürfnissen entsprechend ausgelassen und ergänzt wurde. Von dem babylonischen Schöpfergott heißt es  daß er sich vor den anderen Göttern als machtvollster unter ihnen ausweisen mußte, indem er durch Befehl vernichten und erschaffen konnte. Auch hier haben wir es also mit einer Schöpfung durch das Wort zu tun genau wie im biblischen Schöpfungsbericht, wo es zu Beginn heißt: »Gott sprach: Es werde Licht und es ward Licht.« In älteren matriarchalen Schöpfungsmythen ist es die Göttin, die das Licht aus dem Dunkel ihres Schoßes gebiert. Hier nun wird der weibliche Gebärakt durch das männliche Wort abgelöst. Dennoch geht diesem Wort auch im Alten Testament das weibliche Geistprinzip voraus, das als Ruah über den weiblichen Urwassern oder Tehom schwebt. So ganz
konnten diese.Kräfte also nicht geleugnet werden .-^lit diesen*
beiden Urkräften, dem Wasser und dem weiblichen Geist oder der Geistin, wie Frauen die Ruah auch nennen, werden die beiden äußersten Pole weiblicher Wirklichkeit beschrieben. Sie charakterisieren den Beginn allen Seins. Geist und Wasser physikalisch ausgedrückt.-Energie und Materie, sind die zwei Seiten derselben Medaille, aus der die Bausteine des Lebens hervorgehen. Der schaffende Gott ist demnach das Geschöpf dieser uranfänglich weiblichen Kräfte - mythologisch gesprochen der Sohn der Göttin. Erschaffendes weibliches Prinzip und geschaffenes männliches, das ist das Grundmuster des matriarchalen Weltbildes, das im Patriarchat in sein genaues Gegenteil verkehrt und damit streckenweise absurd wird. So zum Beispiel wenn Adam nicht mehr von Eva geboren wird  sondern er ihr vorausgeht und sie aus ihm entsteht. Oder wenn Zeus seine Tochter Athene aus dem Kopf gebiert. Oder aber wenn es von dem ägyptischen Gott Amun-Re heißt, er nahm seinen Phallus in die Hände, erzeugte Lust und schluckte sein Sperma, um dann schließlich die Schöpfung auszuspucken.
Hier im 3. Jahrtausend v.Chr. ist Schöpfung bereits ein Akt einsamer Onanie. Allen diesen Schöpfungsvorstellungen ist die Tatsache gemeinsam, daß ihnen kein Anteil an der Realität zukommt. Für sie gibt es kein konkretes Vorbild in der Natur; sie sind ganz einfach männliche Kopfgeburten und keine Beschreibung eines zu beobachtenden Phänomens.
Die Erwähnung der weiblichen Grundkräfte des Lebens,Wasser und Geist oder Ruah, zeigt, wie lebendig die Erinnerung an das matriarchale, an das ursprüngliche Weltbild zur Zeit der Abfassung des Textes noch gewesen sein muß. Wo es um Schöpfung neuen Lebens geht, bedarf das Männliche des
Weiblichen. Das gilt aber nicht nur auf physisch-biologischer Ebene. An vielen Stellen der Bibel klingt es noch durch, daß die Selbsterneuerung des Männlichen nur durch die Hereinnahme weiblicher Kräfte geschehen kann. Eigentlich geht es aber um mehr als um die Integration des Weiblichen. Es geht
vielmehr um eine umfassende Erneuerung. Wo Menschen in der Bibel von der Ruah ergriffen sind, da geschieht an ihnen etwas grundsätzlich Neues, etwas Unvorhergesehenes. Da bleibt nichts beim alten.
Die Notwendigkeit einer Neuwerdung des Mannes erklärt Jesus dem Pharisäer Nikodemus in einem nächtlichen Gespräch: »Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, daß jemand aus Wasser und Geist geboren werde, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen« (Johannes 3,5). Hier verweist Jesus auf die beiden weiblichen Urkräfte, die am Beginn der Schöpfung stehen. Zum Reich Gottes hat das Alte, das Patriarchale, keinen Zugang. Das drückt der Evangelist Johannes auch noch an anderer Stelle ganz unmißverständlich aus, wenn er sagt, daß die Zugehörigen zum Reiche Gottes nicht vom Willen eines Mannes geboren sind (1,13). Sie müssen eine geistige Erneuerung erfahren haben. Das Alte muß vergeben.
Was aber mutet Jesus einem Mann wie Nikodemus eigentlich zu, wenn er von ihm eine Neugeburt aus Wasser und Geistin verlangt? Wie wir wissen, ging es Nikodemus als Pharisäer darum, durch das Einhalten kultischer Reinheitsvorschriften ein besonders frommes, Gott wohlgefälliges Leben zu führen.
Die so wichtig genommenen Reinheitsvorschriften aber richteten sich in besonderer Weise auch gegen das weibliche Geschlecht, das bereits in vorchristlicher Zeit als kultisch unrein galt.
Göttlichkeit und Weiblichkeit waren in diesem Weltbild zu extremen Gegensätzen geworden. Eine Erneuerung konnte sich also nur ereignen, wenn das Göttliche und das Weibliche wieder zu einer Einheit zusammengefügt wurden. Nicht an den göttlichen Vater erinnert Jesus daher den Pharisäer, sondern an die beiden weiblichen Urkräfte, denen die Schöpfungsmacht also die Möglichkeit der Erneuerung, zukommt. Daß Jesus selbst keinen Anteil an patriarchalen Strukturen hat, veranschaulichen Matthäus und Lukas, indem sie die Schwangerschaft der Maria als von der Heiligen Ruah bewirkt beschreiben. An Jesus sollte von Anfang an das Männlich-Patriarchale keinen Anteil haben. Das hatten die Evangelisten ganz eindeutig der Botschaft Jesu entnommen. Bei Markus sagt er nämlich daß es im Reich Gottes wohl Beziehungen geben wird, die jenen zu Schwestern, Brüdern und Müttern ähneln, nicht aber Vaterbeziehungen. »Im Reich Gottes soll es«, so schreibt Jürgen Moltmann, »für alles reichlich irdischen Ersatz geben aber nicht für den Vater.« Das aber heißt nichts Geringeres als »Patriarchale Herrschaft darf es in der neuen Familie nicht mehr geben, sondern nur noch Mütterlichkeit, Brüderlichkeit und Kindschaft vor Gott dem Vater«, wie es bei Moltmann heißt.[1] Doch möchte ich der Brüderlichkeit auch noch die
Schwesterlichkeit hinzufügen, die wohl bei Markus, aber nicht bei Moltmann vorkommt.
Wie sehr Jesus die Verkündigung des Neuen durch das Weibliche am Herzen lag, wird auch noch an anderer Stelle des Markusevangeliums deutlich: »Wahrlich, ich sage euch! Alle Sünden werden den Menschen vergeben, auch die Gotteslästerungen, womit sie Gott lästern; wer aber den heiligen Geist (= die Heilige Ruah) lästert, der hat keine Vergebung ewiglich sondern ist schuldig des ewigen Gerichts« (Markus 3,28f.)! Wir haben es hier mit der wohl radikalsten Aussage Jesu zu tun in der er ganz klare Grenzen zieht zwischen Gott und der Heiligen Ruah. Die Lästerung Gottes, auf die ja in Israel die Todesstrafe stand, kann vergeben werden, für die Lästerung des Weiblich-Göttlichen aber gibt es keine Vergebung. Mit diesen Worten zeigt Jesus einen ganz wichtigen Zusammenhang auf, den wir auch in der christlichen Religionsgeschichte nachvollziehen können: Wo die weiblich-göttlichen Kräfte negiert oder diffamiert werden, da werden gleichzeitig die vergebenden Kräfte verdrängt und zur; Unwirksarnkeit verdamrnt, denn damit werden zugleich die männlich-richtenden Kräfte immer rigoroser hervorgehoben. Das läßt sich insbesondere im Zeitalter der Frauenverbrennungen in der anbrechenden patriarchalen Neuzeit beobachten, in der gleichzeitig den Gläubigen die Vergebung gegen bare Münze verschachert wurde. Die Unterscheidung, die Jesus bei Markus macht zwischen der Ruah und Gott, wird bereits bei Paulus wieder verwischt, der schreibt: ».. .denn der Herr ist der Geist« (2. Korinther 3,17). Solche Verwischung der von Jesus gemachten Unterschiede, die für uns Frauen meines Erachtens höchst relevant sind, hat in der christlichen Traditionsgeschichte Schule gemacht. Sie ist bis in unsere Zeit höchst wirksam. Das möchte ich an einem weiteren Beispiel veranschaulichen.
Alle Evangelisten berichten davon, daß sich bei der_Taufe Jesu der Himmel öffnete und die Heilige Ruah in Gestalt einer Taube auf ihn herabschwebte. Dabei ertönten die Worte: »Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden« (Markus 1,11). Würde ich Sie jetzt fragen, wer Jesus hier als Sohn bestätigt, so erhielte ich wohl mit Sicherheit die Antwort: Hier spricht Gott, der Vater Jesu, obwohl in dem Text weder von Gott noch vom Vater die Rede ist, sondern eben von der Heiligen Ruah, die in Gestalt einer Taube erscheint. Wie am Beginn der Schöpfung schwebt sie hier über den Wassern des Jordan und zeigt den Beginn der Neuwerdung des Menschen, genauer gesagt, des Mannes an.~ Auch hier wird er als Geschöpf des Weiblichen, als Sohn der Ruah verstanden. Mit recht intim klingenden Worten nennt sie ihn ihren geliebten Sohn, an dem sie Wohlgefallen hat. In anderen christlichen Texten, die nicht in den Kanon aufgenommen wurden, werden die Worte der Ruah noch etwas umfassender wiedergegeben. Sie zeigen, daß eine lange Zeit des Wartens dieser Anerkennung Jesu als ihres geliebten Sohns vorausgegangen war. Im gnostischen Hebräerevangelium lauten die Worte der Ruah:

»Mein Sohn, in allen Propheten erwartete ich dich, daß du kämest und ich ruhte in dir.
Denn du bist meine Ruhe, du bist mein erstgeborener Sohn,
der du in Ewigkeit herrschest.«

Die Sehnsucht der göttlich-weiblichen Kraft nach dem erneuerten, nicht-patriarchalen Mann kommt hier ganz klar zum Ausdruck. Doch kein vorheriger Prophet konnte ihrem Maßstab für Erneuerung standhalten. Erst mit Jesus geschah die von ihr ersehnte Radikalität männlicher Erneuerung.
Inzwischen gibt es keinen Zweifel mehr, daß sich hinter den Worten der Ruah Worte der alten Weisheitsgöttin verbergen. Den Juden war sie als Chochma und Schechina bekannt. Griechen, aber auch frühchristliche Gemeinden verehrten sie als Sophia. Ruah und Chochma, Heilige Geistin und Weisheit erscheinen beide unter dem Symbol der Taube, unter jenem alten Liebes- und Friedenssymbol orientalischer Göttinnen, das auch in unserer Zeit durch die Friedensbewegung wieder neu an Bedeutung gewonnen hat. Folglich ist es auch verständlich, daß die Evangelisten diese Weisheitsgöttin mit der Ruah identifizieren.
Schließlich verweist die Identität ihrer Symbolik auf ihren inneren Zusammenhang. Daß das Wirken der Heiligen Geistin in den frühchristlichen Gemeinden zugunsten eines Law-and-order-Denkens zurückgedrängt wurde, gilt heute in der Theologie als erwiesen. Daß dieser Verdrängungsprozeß auch innerhalb der Theologie selbst stattfand, bestätigt Karl Barth, der kurz vor seinem Tode bereute, nur eine Theologie und eine Christologie, nicht aber eine Pneumatologie, eine Lehre vom Heiligen Geist, geschrieben zu haben. Im Rahmen einer männlich gedachten Trinität wußte man mit der Ruah nichts anzufangen. Hier muß die männliche Seele gespürt haben, daß sie für weibliche Kräfte nicht zuständig ist - und schon gar nicht die Seele eines Theologen. Wäre er zugleich ein Poet, so sähe es vielleicht anders aus.
Die Tatsache des Verdrängens der Göttin, des Ignorierens weiblicher Kräfte und Fähigkeiten, wird aber bereits in einem vorchristlichen Mythos thematisiert, der die Heimatlosigkeit des Göttlich-Weiblichen im Patriarchat beschreibt. In dieser Menschheitsepoche, in der »Der Mensch mit der gut geschaffenen Welt nichts anzufangen weiß«,[2] irrt die Weisheitsgöttin auf der Erde umher und sucht eine Bleibe bei den Menschenkindern. Niemand nimmt sie auf, und so kehrt sie unverrichteter Dinge wieder zurück in ihre himmlischen Wohnungen. In dieser alten Form, schreibt Ernst Haenchen, »hat der Weisheitsmythos einen traurig resignierenden Sinn, göttliche Weisheit hat die Welt geschaffen, aber die Menschen wollten von solcher
Weisheit nichts wissen. Darum ist das Leben so unglücklich geworden, wie wir es kennen«. Die Klage darüber, daß die Weisheit in unserer patriarchalen Gesellschaft keine Bleibe hat, wird auch in der Gegenwart geführt. So sagt ein berühmter Filmstar von unserer Zeit, daß man in ihr älter werden kann,
ohne auch nur ein bißchen weiser zu werden. Auch Gabriel Marcel und Max Horkheimer stimmen darin überein, daß sie den Untergang der Weisheit in unserer heutigen Lebens- und Geisteswelt beklagen. Schließlich gab es bis in die Romantik hinein noch Dichter und Philosophen, die von der Weisheit als ihrer Lehrmeisterin inspiriert wurden. Kirche und Theologie haben es nicht vermocht, der Weisheit im Christentum eine Bleibe zu verschaffen.
Bei den frühen Christen sah das noch anders aus. Für sie nimmt der Weisheitsmythos mit der Geburt und Taufe Jesu eine Wendung. Wenn es in der Weisheitsliteratur des Jesus Sirach noch hieß, die Weisheit habe in Israel eine bleibende Stätte gefunden, ereignet sich für die Schreiber der Evangelien
die Einwohnung der Weisheit in Jesus. Diese Einwohnung tritt bei der Taufe ganz offen zutage, als Jesus von dieser Weisheit als ihr geliebter Sohn bestätigt wird, dessen Fleischwerdung sie bereits in unzähligen Propheten erhofft hatte. Obwohl diese Einwohnung der Weisheit in Jesus einerseits von verschiedenen neutestamentlichen Schreibern thematisiert wird, können wir doch gleichzeitig auch hier die Verdrängung dieser Botschaft feststellen.
Schauen wir uns einmal an, wie sich dieser Verdrängungsprozeß vollzog.
Im Prolog des Johannes, der sich am ersten Schöpfungsbericht des Alten Testaments orientiert, heißt es zu Beginn: »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.« Die einleitenden Worte: Im Anfang... sind durch den Schöpfungsbericht (l.Mose 1) bereits vorgegeben. Das gleiche gilt von der Vorstellung, daß die Erschaffung des Neuen auf der Grundlage des göttlichen Wortes geschieht. Die weibliche Ruah, von der wir im biblischen Schöpfungsbericht noch lesen, wird im Prolog des Johannes nicht mit übernommen.
Nicht Wasser und Geist, weibliche Kräfte, stehen am Beginn der Neuschöpfung, sondern Gott und Logos - eindeutig männlich definierte Kräfte. Daß dieser Geschlechtsumwandlung wiederum ein Prozeß der Verdrängung des Weiblichen zugrunde liegt, hat Ernst Haenchen in seinem Johannes-Kommentar gezeigt. Er weist nach, daß der Schreiber des Prologs einen ihm bereits vorliegenden Hymnus verarbeitet hat. Dieser Hymnus enthielt anstelle des Logos ursprünglich die Weisheit, die ja bereits in früheren Generationen werbend durch die Welt zog und keine Aufnahme fand. In korrigierter Form könnte der Prolog ursprünglich etwa gelautet haben:

»Im Anfang war die Weisheit;
sie war die uranfängliche Gottheit.
Alle Dinge sind durch sie geschaffen,
nichts entstand ohne sie. In ihr war das Leben,
und das Leben war das Licht der Menschen.
Und das Licht scheint in der Finsternis,
und die Finsternis hat's nicht begriffen.
Sie war das wahrhaftige Licht, das alle Menschen erleuchtet,
die in diese Welt kommen.
Sie war in der Welt, und die Welt ist durch sie gemacht,
doch die Welt kannte sie nicht.
Sie kam in ihr Eigentum, und die Ihren nahmen sie nicht auf.
Wie viele sie aber aufnahmen, denen gab sie Macht,
Kinder der Weisheit zu werden,
die an ihren Namen glauben.
Und die Weisheit wurde Fleisch und wohnte unter uns,
und wir sahen ihre Herrlichkeit,
eine Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes
voller Gnade und Wahrheit.
Und von ihrer Fülle haben wir alle genommen
Gnade um Gnade.«

Eine mögliche Parallele zu diesem korrigierten Hymnus finden wir in den Weisheitssprüchen des Alten Testaments (8,22ff.), wo es von der Weisheit heißt: »Im Anfang, ehe Gott etwas schuf, war ich da...«
Genau wie die Ruah gehört auch die Weisheit an den Beginn der Schöpfung, denn sie existiert »von Ewigkeit her«, wie es auch heißt. Doch hat der Verdrängungsprozeß weiblicher Ursprungskräfte auch vor der Weisheitsliteratur nicht haltgemacht. Die matriarchale Vorstellung von weiblicher Schöpfungsmacht und männlicher Geschöpflichkeit wird hier wiederum in ihr Gegenteil verkehrt. Die Weisheit wird nunmehr als »Erstling Gottes« bezeichnet, die wie ein Kind vor ihm spielt. Sie ist sein Geschöpf. Das patriarchale Weltbild krankt daran, daß es die allenthalben feststellbare Priorität des Weiblichen nicht stehenlassen kann und fast zwanghaft dem Männlichen Priorität verschaffen muß.
Wenn ich sie jetzt fragen würde, mit wem sich Jesus wohl identifiziert hat, wer ihm am nächsten stand, sozusagen seine Basis war, dann käme mit Sicherheit die einstimmige Antwort: mit Gott seinem Vater selbstverständlich; denn sagte er nicht: »Ich und der Vater sind eins«? Nun, ich will diese Worte, die Johannes überliefert, nicht in Abrede stellen, doch möchte ich darauf hinweisen, daß sie einen Raum einnehmen, der ihnen in keiner Weise zukommt. Exegeten haben längst festgestellt, daß Jesus in der frühchristlichen Gemeinde als Träger der Weisheit angesehen und teilweise sogar mit ihr identifiziert wurde. Paulus weiß, daß in Christus die Schätze der Weisheit verborgen ruhen (Kolosser 2,3; 1. Korinther 1,24-30), und auch die Evangelisten lassen die Weisheit immer wieder durch Jesus hindurchscheinen. Bereits bei seiner Geburt kommen die Weisen aus dem Morgenlande und bezeugen ihn so als den wahren Weisen.
Von dem Kind Jesus heißt es Lukas 2,40ff., daß es erstarkte, indem es mit Weisheit erfüllt wurde. Sein Zunehmen an Weisheit bildet auch den Rahmen zur Geschichte des zwölfjährigen Jesus im Tempel. Schließlich fragte bei Markus 6,2ff. die Menge erstaunt: »Woher hat er diese Weisheit und Kraft?« Ja,
er wird sogar mit dem Urbild des Besitzers der Weisheit, Salomo, verglichen und als diesem überlegen angesehen (Matthäus 12,38). Auch eine ganze Reihe von Selbstaussagen Jesu wurden inzwischen als ursprüngliche Weisheitsworte erkannt.
Wenn Jesus die Mühseligen und Beladenen zu sich ruft und ihnen Ruhe für ihre Seelen verheißt, so greift er auf ältere Worte der Weisheit zurück, die ja in ihm nach langem Suchen endlich ihre Ruhe findet.
Schon in den älteren Weisheitstexten heißt es, daß der Weise bei ihr als seiner Geliebten Ruhe findet (Jesus Sirach 6 und 51; Weisheit 8,16). Wenn Jesus seinen Nachfolgern das sanfte Joch und die leichte Last verheißt, so greift er Symbole auf, derer sich vor ihm bereits die Weisheit bedient. Mit Jesus tritt sie nunmehr an die Stelle des von den rechtgläubigen Männern seiner Zeit entstellten Gesetzes.
Als letztes Beispiel für die Übernahme von Weisheitsworten sei noch das Jerusalem-Wort genannt, mit dem Jesus ausruft: »Jerusalem, Jerusalem, das die
Propheten tötet und die steinigt, die zu ihm gesandt sind; wie oft habe ich deine Kinder sammeln wollen, wie eine Henne ihre Küchlein unter ihre Flügel sammelt, und ihr habt nicht gewollt!« (Matthäus 23,37-39).
In dieser Identifizierung Jesu mit einer Henne zeigt sich die wohl auffallendste Verbindung zur Weisheit-Sophia einerseits wie auch zur Hauptgöttin Ägyptens Isis-Maat andererseits. Auf vielen Abbildungen sehen wir Isis, wie sie mit ihren weilen Flügeln nicht nur den  Pharao beschützt, sondern alle, die ihrer in besonderer Weise bedürfen. Wenn Exegeten hinsichtlich der Ähnlichkeit von Weisheits- Worten und jenen der Isis-Maat immer wieder vor einem Rätsel stehen, so ließe sich die Lösung sehr rasch finden. Dazu müßten Exegeten allerdings über ihren theologischen Tellerrand blicken; denn inzwischen gibt es eindeutige Belege dafür, daß die jüdische Weisheitsliteratur ägyptischen Ursprungs ist.
Es gibt eine Fülle von Übereinstimmungen in den Aussagen, die von der jüdischen Weisheit und von den ägyptischen Göttinnen Maat und Isis gemacht werden. Leider kann ich auf sie hier nicht weiter eingehen.
Statt dessen will ich noch auf jene Übereinstimmungen hinweisen, die sich zwischen der ethischen Lehre Jesu und den Weisheitslehren aufzeigen lassen.

Am auffallendsten ist wohl die Tatsache, daß Jesus und die Weisheit gleichermaßen sich mit ihren Belehrungen ausschließlich an das männliche Geschlecht wenden. Dahinter steht aber nicht der übliche Sexismus, den wir ansonsten auf fast jeder Seite der Bibel antreffen können. Dahinter steckt vielmehr das Wissen, daß die Weisheit weiblich ist. Ihren Ursprung hat sie in den Weisungen der Mutter. Schließlich geht es in der neuen Lehre Jesu darum, weibliche Werte und Verhaltensweisen wie auch das matriarchale Weltbild dem männlichen Geschlecht als etwas auch für Männer des Patriarchats Verbindliches vor Augen zu führen. Das Neue ist also im Grunde genommen das ganz Alte. Die alttestamentlichen Weisheitstexte sagen ganz klar, daß der Ursprung der Weisheit weiblich ist, wenn sie sie als mütterliche Weisung verstehen, während der Vater als Vermittler von Ge- und Verboten angesehen wird. Ein Gebot aber tritt kategorisch auf, ihm entspricht der Gehorsam, eine im Patriarchat besonders gezüchtete Tugend der Untertanen. Eine Weisung hingegen ist als ein Rat zu verstehen. Rat aber besagt, daß die Weisung für das Handeln unter Rücksprache mit dem eigenen Wohlbefinden des Menschen vor sich geht. Die Weisheit will keinen Untertanengeist, sie will den mündigen Menschen, der die Verantwortung für sein Handeln übernimmt, da es aus seinen eigenen Schlußfolgerungen hervorgeht. Sie verweist die Menschen weder an Priester und Propheten noch an die Einhaltung eines
Gesetzes, sondern ausschließlich an die eigene Vernunft und Wahrnehmungskraft, die sie zu ihrem eigenen Wohlergehen nutzen können. Denn, so lehrt die Weisheit: »Ein barmherziger Mann tut sich selber Gutes, aber ein unbarmherziger betrübt sich und sein eigen Fleisch« (Sprüche 11,17). Diese
fSelbstverantwortlichkeit des Menschen, nimmt auch in der Lehre Jesu einen zentralen Stellenwert ein, doch wurde sie schon recht bald verdrängt, da sie seinen männlichen Nachfolgern wohl kaum Gelegenheit bot, ihre Machtgelüste voll auszuleben, wie sie es ja später taten. Nicht sein Kreuz ist bei Jesus
das Zentrum der Schuldvergebung, sondern die eigene Vergebenshereitschaft. »Vergebt einander, so wird euch vergeben. Richtet nicht, so werdet ihr nicht gerichtet. Seid barmherzig, so werdet ihr Barmherzigkeit erlangen. Mit welcherlei Maß ihr meßt, werdet ihr gemessen werden.« Das ist der Kern der Vergebungslehre Jesu. Von der sündenvergebenden Kraft seines Blutes hat er selbst wohl noch nichts gewußt.
Wenn Jesus in der Bergpredigt die Friedfertigen, Sanftmütigen, Demütigen und Gerechten seligpreist, so betont er damit nicht nur typisch weibliche Verhaltensweisen als heilsrelevant, sondern knüpft damit wiederum an Weisheits-Worte an, die lehren:

»Die Weisheit ist bei den Demütigen. - Gut hilft nicht
am Tag des Zorns, aber Gerechtigkeit errettet vom Tod.«

Oder:

»Die Gerechtigkeit der Frommen wird sie erretten,
aber die Verächter werden gefangen in ihrer Bosheit« (Sprüche 11).

Ganz deutlich wird hier gesagt, daß nicht ein bestimmter Glaube dem Menschen Heil oder Unheil bringt, sondern ausschließlich sein eigenes Verhalten. Jesus übernimmt diese Lehre, wenn er verkündet, daß nicht alle, die zu ihm sagen »Herr, Herr«, in das Reich Gottes gelangen, sondern jene, die
den göttlichen Willen tun (Matthäus 7,21). So lehrt auch die Weisheit, daß dem Menschen vergolten wird nach dem, was seine Hände verdient .haben - und nicht etwa sein Glaube. (Sprüche 12,14) Genau wie Jesus "sagt" die Weisheit: »Die Seele, die da reichlich segnet wird[ gelabt, und wer reichlich
tränkt, der wird getränkt werden« (11,25). Woher soll auf dieser Welt das Heil kommen, wenn es keine Menschen gibt, die es verwirklichen? Es kann nur durch den erneuerten, von patriarchalen Strukturen befreiten Menschen kommen, nicht aber durch ein außerirdisches Wunder.

Lassen Sie mich noch ein weiteres Beispiel für die Herkunft der Lehren Jesu aus der Weisheitsliteratur anführen. Wenn Jesus sagt: »Eure Rede sei ja, ja, nein, nein, was darüber ist, das ist vom Übel« (Matthäus 5,37), so lehrt die Weisheit entsprechend: »Wo viele Worte sind, da geht's ohne Sünde nicht ab;
wer aber seine Lippen hält, ist klug« (Sprüche 10,19). Oder: »Wer seinen Mund bewahrt, der bewahrt sein Leben; wer aber mit seinem Maul herausfährt, der kommt in Schrecken« (Sprüche 13,3). Bewahrung des Lebens, das ist das Ziel der Weisheit, dem auch Jesus sich verschrieben hat. Er will dem Schwachen helfen, dem Unterdrückten Schutz und Stütze bieten, das Kranke heilen und das Heile stärken, kurz: er will dem Leben dienen - als Diener der Weisheitsgöttin, deren Hymnus mit dem Appell endet: »So höret auf mich, meine Kinder. Wohl denen, die meine Wege halten. Wer mich findet, der findet das Leben. Wer aber an mir sündigt, der verletzt seine Seele. Alle, die mich hassen, lieben den Tod« (Sprüche 8). Das Verletzen der Seele und folglich auch anderer wird hier als ein Grundübel des selbstentfremdeten, von seinem eigenen Urgrund getrennten und daher sündigen Menschen angesehen. Auch unser Wort »Sünde« beinhaltet ja dieses Abgetrenntsein. Das »Verletzen der Seele ist wie der Tod auf Raten«, denn ganz allmählich tötet es das Innere des Menschen ab. Durch das Verletzen der Seele wird die Erfahrung von Heil, von Ganzheit, verhindert.
In diesen Zusammenhang gehört meines Erachtens auch das unbeugsame Auftreten Jesu gegen die Lästerung der Ruah, die wir mit der Weisheit gleichsetzen könnten. Diese Lästerung der Weisheit, das offenkundige Zuwiderhandeln gegen ihre Lehren über die tieferen Zusammenhänge des Lebens erweist sich in letzter Konsequenz als lebensvernichtend. Unsere ökologische Krise ist wohl die offenkundigste Veranschaulichung dieser Lästerung, für die es keine Vergebung geben kann, da es einfach unmöglich ist, zerstörtes Leben wiederherzustellen.
Wurde die Weisheit im Prolog des Johannes durch den Logos, so wird sie seit der Neuzeit durch die Wissenschaft verdrängt Als Nachfahrin des Logos lautet ihr Grundsatz gemäß Galilei: »Alles messen, was zu messen ist, und alles meßbar machen, was es nicht ist.« Diese männliche Vermessenheit wird, als menschliche Hybris deklariert, auch von Gabriel Marcel als einer der Hauptgründe für den Untergang der Weisheit in der Neuzeit angesehen. Ihm ist wohl kaum zu widersprechen.
Doch kehren wir zurück zu Jesus als dem Gesandten und Sohngeliebten der Weisheit, der im Christentum zum ausschließlichen Gesandten Gott-Vaters wurde. Nur mit Hilfe dieser ausschließlichen Identifizierung mit dem Männlichen war es möglich, ihn in einen strengen Weltenrichter zu verwandeln,
obwohl er selbst doch von sich gesagt hatte: »Ich richte niemanden!« Bis heute ist für Theologie und Kirche die Männlichkeit Jesu von größter Bedeutung. Dasselbe gilt für den fast ausschließlichen Gebrauch männlicher Symbole und Sprachbilder für das Göttliche. Dabei beruft man sich mit stereotyper Monotonie auf die Tatsache, daß Jesus Gott seinen Vater genannt habe, und will nicht wahrhaben, daß Jesus auch von der Heiligen Ruah als von seiner Mutter gesprochen hat. Doch war die siegreiche Kirche nicht bereit, solche Aussagen Jesu in den Kanon aufzunehmen, da sie das patriarchale Welt- und Gottesbild der Kirchenväter in Frage gestellt hätten. Aber der Prozeß der Vermännlichung des Göttlichen beginnt bereits im neutestamentlichen Kanon. Der erste Evangelist, Markus, benutzt den Begriff Vater nur viermal für das Göttliche, während Johannes, der letzte Evangelist, 104mal von diesem Begriff Gebrauch macht.
Bereits hier spüren wir die Tendenz der Schreiber von so wenig Vater wie nötig bis zu so viel Vater wie möglich. Daneben gibt es noch eine weitere Tendenz, die parallel zu dieser Vermännlichung des Göttlichen zu beobachten ist. Häufiger als von Gott als Vater spricht Jesus bei Markus vom Reich Gottes, bei Matthäus vom Reich der Himmel. Im Hebräischen haben wir es hier mit einem Femininum zu tun, nämlich mit der Malkhut oder mit der Schechina. Von ihr ist bei Markus 14mal die Rede, bei Johannes hingegen nur noch zweimal in einem einzigen Satz. Hier macht sich also - wie im Prolog des Johannes - der Logos, das Männliche, auf Kosten des Weiblichen breit, wie übrigens überall auf der Welt.

Schauen wir uns nun die Aussagen, die Jesus von dieser Malikhut oder Schechina macht, etwas genauer an, so können wir wiederum einen engen Zusammenhang mit der Weisheit wie auch mit der Ruah feststellen. Zuerst einmal fällt auf, daß die Symbolik, mit der Jesus die Schechina beschreibt, im wesentlichen weiblich ist. Er vergleicht sie mit einer Perle, einem der ältesten Symbole für Weiblichkeit überhaupt.  Er beschreibt sie in Bildern der Fruchtbarkeit und Fülle, eine weibliche Symbolik, die auch im Hinblick auf die Weisheit und Ruah recht häufig vorkommt. So werden beispielsweise Liebe,
Friede, Freude, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit als Früchte der Ruah bezeichnet3. Das allmähliche Ausbreiten der Schechina wird mit der Zubereitung eines Sauerteiges durch eine Frau verglichen, und auch die Suche nach dem Verlorenen, der sich ja auch die Weisheit verschrieben hat, beschreibt Jesus im Bild einer Frau, die lange nach einem verlorenen Groschen gesucht hat und schließlich die Freude über das Gefundene mit ihren Nachbarinnen teilt.
Spricht Jesus von der Schechina als von einem »Schatz im Acker«, so heißt es von der Weisheit: »... sie ist den Menschen ein
unendlicher Schatz« (Weisheit 7,14). Schließlich heißt es auch noch, daß die Weisheit den Menschen die Schechina zeigt, denn in der Weisheit Salarxips lesen wir: »Aber die Weisheit errettet die aus aller Mühsal, die sich an sie halten. Sie leitete den Gerechten geradewegs und zeigte ihm das Reich Gottes
und gab ihm zu erkennen, was heilig ist« (10,9f.). Das Wissen um das Heilige wird als ein zutiefst weibliches Wissen dargestellt. Es drückt sich bis heute in dem bei Frauen weitaus häufiger und stärker zu beobachtenden Bedürfnis nach Religiosität und Spiritualität aus.

Ruah, Sophia und die Schechina bilden eine innere Einheit, sie sind sozusagen die weibliche Trinität, die sich unterschwellig durch die Bibel zieht und darauf wartet, entdeckt zu werden. Es fällt nicht schwer, in ihr die triadische Göttin wiederzuentdecken, die allen patriarchalen Männergöttern vorausgeht. Im Bild der Großen Göttin werden die drei Aspekte des Weiblichen folgendermaßen veranschaulicht:

Da ist zunächst der jungfräuliche Aspekt unabhängiger, eigenständiger Weiblichkeit. Als jungfräuliche Göttin der Jagd durchstreift sie den Kosmos, die Wälder und die Wiesen. Ungebunden lebt sie
nach eigenen Werten und Vorstellungen, denn sie braucht sich nicht den Bedürfnissen eines Kindes oder Mannes anzupassen. Sie gibt sich keinem Mann hin, sondern prüft ihn auf Herz und Nieren, ob er sich als künftiger Vater und Bewahrer des Lebens eignet. Auch von der Ruah heißt es, daß sie das menschliche Herz prüft und auf seine Tauglichkeit für das Reich Gottes, die Malkhut, erforscht. Auch den jungfräulich ungebundenen Aspekt finden wir in ihr wieder, wenn es heißt, sie weht, wo sie will, und tut es dem Wind gleich, von dem niemand weiß, woher er kommt und wohin er geht (Johannes 3,8).

Der zweite Aspekt ist der der fruchtbaren Mütterlichkeit. Hier binden sich die weiblichen Kräfte an das neue Leben, sie nähren und umsorgen es und verhelfen ihm so zum Wachstum. Biblisch gesprochen haben wir es hier mit dem Reich Gottes, der Malkhut oder Schechina zu tun, die mit dem nährenden und heilenden Handeln Jesu auf die Erde gekommen ist und von der Jesus in Bildern von Fruchtbarkeit und Wachstum spricht.

Der dritte Aspekt der triadischen Göttin ist jener der alten Weisen. Sie ist »die Herrin der kosmischen Ordnung und die ewige Weisheit in Person«.[4] Sie führt den Menschen durch den Tod hindurch und verhilft ihm zu neuem Leben, in das sie ihn immer wieder einweist und ihn zum rechten Leben ermahnt.
Wer sich von ihr führen läßt, verharrt nicht im Tode; denn sie will für den Menschen das Leben, wie es ja auch die biblische Weisheit von sich sagt. Hier haben wir es mit einer uralten Weisheit zu tun, die alle Religionen der Menschheit einmal durchzog und die auch vor der jüdisch-christlichen Bibel nicht haltmachte, die folglich also auch nicht in den Bereich des Heidnischen abgeschoben werden kann. Dennoch wurde der weibliche Aspekt religiöser Wahrheit aus den Seelen der Menschen verdrängt.
Unsere Welt ist dabei, an der Verdrängung dieser Wahrheit zugrunde zu gehen. Männliche Herrscher bestimmen seit Jahrtausenden das Geschick dieser Erde. Sie entscheiden über Leben und Tod von Mensch und Tier sowie der Natur; sie legen fest, was gut und böse, was richtig und falsch ist, und drängen das Weibliche in ein machtpolitisches Abseits. Nach dem Prinzip: »Wie auf Erden, also auch im Himmel« projizieren sie ihr Wunschbild von einsamer Männerherrschaft an den Himmel. Sie behaupten, Gott sei Herrscher, Richter, König und Vater, und verleugnen gleichzeitig das Göttliche als Göttin, Richterin, Königin und Mutter, da sie nicht integrieren, sondern nur abspalten wollen. Um männliche Macht auf Erden legitimieren zu können, mußten sie sie auch im Himmel etablieren.

Statt auf die Heilsbotschaft der Weisheit zu hören, die das Lauschen auf die Stimme der Natur wie auch auf die eigene innere Stimme fordert, reduziert sie ihre Heilsbotschaft auf eine »Heilsgeschichte«, die sich nur den Herrschenden zu offenbaren scheint, nicht aber den Schwachen und Unterdrückten. Statt sich um das Gleichgewicht der Natur zu sorgen scheren sie sich nur noch um das nukleare Gleichgewicht, das jede Seite zu der anderen Lasten auslegt. Statt sich an weiblichen Werten wie Sanftmut, Barmherzigkeit, Friedfertigkeit und Gerechtigkeit als Ausdruck ihrer Weisheit zu orientieren, verherrlichen sie aggressive Selbstbehauptung, die Unerbittlichkeit des Gesetzes und militärische Stärke als Ausdruck männlichen Imponiergehabes. Statt sich der Herrschaft zu enthalten und sich, wie Jesus es ihnen im Namen der Weisheit nahelegt, des Dienens zu befleißigen, verherrlichen sie männliche Gewalt- und Machtausübung über alles. Statt dem Weiblichen den ihm gebührenden Anteil am Göttlichen zukommen zu lassen und die vernichtende Einseitigkeit ihres androzentrischen Gottesbildes, das die Welt mit Hunger und Schwert erobert hat, einzugestehen, schauen sie lieber zu, wie eine männliche Trinität sich an die andere reiht. Vergewaltigung, Völkermord und Krieg nennt Mary Daly .[5]  die patriarchale, höchst unheilige, dafür aber um so realere Trinität. Auf eine andere Variante der patriarchalen Trinität verweist Robert v. Ranke-Graves, der schreibt: »Obgleich der Westen nominell christlich ist, werden wir in der Praxis von einem unheiligen Triumvirat (Drei-Männer-Gremium, C. M.) regiert, bestehend aus Pluto, dem Gott des Reichtums, Apollon, dem Gott der Wissenschaft, und Merkur, dem Gott der Diebe und Händler. Um alles noch zu verschlimmern, toben offene Zwietracht und Eifersucht zwischen diesen Dreien, wobei Merkur (der Gott der Diebe und Krämer, CM.) und Pluto (der Gott des Reichtums, CM.) einander Rückendeckung geben, während Apollon (der Gott der Wissenschaft, C. M.) die Atombombe wie weiland einen Donnerkeil handhabt. Denn nachdem seine Philosophen im 18. Jahrhundert das Zeitalter der Vernunft einläuteten, hat Apoll den vakanten Thron des - zeitweise indisponierten - Zeus... eingenommen .«.[6]

Neben dieser patriarchalen Trinität des Profitdenkens, der Ausbeutung der Armen sowie des Umsetzungszwangs vernichtender wissenschaftlicher Entdeckungen ließen sich noch eine Reihe weiterer Triumvirate anführen. Doch ist ihnen allen gemeinsam, daß Kirche und Theologie ihnen bei weitem nicht so entschieden entgegentreten, wie dies bei der trinitarischen Göttin geschieht. Auf ihre Verdrängung wird nach wie vor allergrößter Wert gelegt, obwohl sie doch ein ganz wesentlicher Bestandteil der christlichen Überlieferung ist. Doch scheint sie sich selbst in Erinnerung zu bringen und dem patriarchalen Todestrieb zu trotzen. Wie anders sollten wir die Tatsache deuten, daß ausgerechnet im Zeitalter des Feminismus die triadische Göttin die theologische Bühne betritt und sich in der Gestalt der dreigestaltigen »Protennoia«.[7]  vorstellt. Bei ihrer Selbstoffenbarung als androgyne Göttin handelt es sich um einen gnostischen Text, der in koptischer Sprache verfaßt wurde. 1945 gab der Wüstensand Oberägyptens ihn frei - oder sollte ich lieber sagen, daß Mutter Erde ihre geistigen Dimensionen ins Bewußtsein der Menschen rückte? Immerhin dauerte es noch über 30 Jahre, bis der Text auch in deutscher Sprache vorlag. Ich zitiere jetzt einige Verse aus der Selbstoffenbarung der Allgöttin, die sich in dreifacher Gestalt darstellt. Die Ähnlichkeit ihrer Worte mit jenen der Sophia ist unüberhörbar:

Ich bin das Haupt des Alls,
die ich vor einem jeden da bin.
Ich bin der Ruf einer leisen Stimme,
die ich vom Uranfang an im Schweigen bin.
Ich bin der Raum, in dem jeder Ruf erklingt,
und der verborgene Ruf, der in mir ist,
ist in dem unerreichbaren, unmeßbaren Gedanken
des unermeßlichen Schweigens.
Ich kam herab in die Mitte der Unterwelt.
Ich ging leuchtend auf über der Finsternis.
ich ließ das Wasser hervorsprudeln.
voll des Rufes.
ich bin mannweiblich,
Ich bin Mutter und Vater
bei mir selbst wohnend
mich mit mir selbst vereinigend
und mich selbst liebend.
Weil das All durch mich Bestand hat.
bin ich der Mutterschoß der Erkenntnis des Alls,
die ich gebäre das Licht,
das der Nacht und das des Tages.
Ich bin der zukünftige Äon.
Durch mich kommt die Gnosis,
die ich in den unaussprechlichen
und unerkennbaren Äonen bin..
Ich bin die Erkenntnis und das Wissen,
die ich einen Ruf aussende
aufgrund eines Gedankens.
Ich bin der wahre Ruf,
rufend in einem jeden,
so daß sie mich erkennen durch sie (die Gnosis)
weil ein Same in ihnen ist.
So hört denn auf mich, ihr Kinder der Einsicht,
hört auf die Stimme der Mutter eures Erbarmens
denn ihr seid gewürdigt worden, das von Ewigkeit her
verborgene Mysterium zu empfangen.
Ja, das Ende dieses Äons und des ungerechten Lebens
ist nahe herbeigekommen;
und es ist erschienen der Anfang des Aons des Lichtes,
in dem es kein Wanken und keine Erschütterung mehr gibt.
Ich bin die Erfüllung des Alls,
- nämlich Meirothea, die Herrlichkeit der Mutter -
die ich erschallen lasse eine rufende Stimme
in den Ohren derer, die mich erkennen.
Und ich lade euch ein in das Licht,
das erhaben und vollkommen ist.[8]

Hier haben wir es wohl mit der höchsten Form einer Vergeistigung der Mutterreligion zu tun. Keine Pseudo-Geistigkeit eines theologischen Rationalismus, der sich außerhalb der diesseitigen Wirklichkeit in ein intellektualistisches Jenseits flüchtet Hier wird nicht durch die Macht des Wortes alles usurpiert,
an sich gerissen, sondern integriert, vereinigt. Diesseits und Jenseits   Kosmisches und Irdisches, innen und außen, männlich und weiblich, Rufen und Schweigen bilden ein großes ganzheitliches Gefüge. Hier entscheidet nicht die Macht des Wortes über richtig und falsch, Sein und Nicht-Sein, nein sie ist die Macht des Schweigens und führt daher die Menschen in die Stille die unbedingt nötig ist, um ihre leise Stimme zu vernehmen die nicht in einer Heiligen Schrift ihren Niederschlag gefunden hat, sondern sich in jedem Menschen, der sich als von ihr geboren erlebt, als ihr Anruf ereignet.