... sie muß eine Hexe sein
Am Nachmittag des 14. März versuchten die Herren, Johanna von ihrem Stande in der Todsünde zu überzeugen. Der eine unter ihnen zählte ihre Verbrechen an den Fingern her: «Ihr habt Paris an einem Feiertag angegriffen. Ihr habt das Pferd des Monseigneur de Senlis genommen. Ihr habt Euch vom Turm in Beaurevoir gestürzt. Ihr tragt Männerkleider. Ihr habt den Tod des Franquet von Arras gebilligt - und Ihr meint, keine Todsünde begangen zu haben!» Johanna verteidigte sich in ihrer unbefangenen Offenheit gegen jeden Punkt der Anklage. Man ließ es für heute damit bewenden; aber als am nächsten Tag sieben Ankläger zum Verhör kamen, sagte Johanna ruhig, da die Herren ihr vorwarfen, sie habe sich gegen den Glauben vergangen: «Die Geistlichen sollen meine Antworten genau untersuchen, dann möge man mir sagen, ob sich etwas darin findet, das gegen den christlichen Glauben verstößt. Wenn ich etwas getan habe, das böse und gegen den christlichen Glauben ist, den Unser Herr verordnet, so wollte ich es nicht aufrechterhalten und wäre bestürzt, dawider zu handeln.» Aus allem, was die Jungfrau sagte oder tat, ging stets ihr Anstand und ihre vornehme Gesinnung hervor. Diese Sittlichkeit ihres Charakters schlug ihre Ankläger immer wieder mit Stummheit. So verlief auch dieser fünfzehnte März ergebnislos. Erst am siebzehnten März erschienen die Befrager wieder im Gefängnis.
Warum brachte man Johanna nicht vor das versammelte Tribunal? Wollte man sie den feindlich gesinnten Männern fernhalten? An diesem 17. März 1431 sind nur Freunde um Johanna. Darunter Nicole Midi, Jean de la Fontaine, Jean Massieu und <der Engel>, Ysambert de la Pierre. Johanna hätte sich vielleicht lieber dem großen Tribunal ausgesetzt, damit sie durch die Höfe und über die Grasflächen zwischen ihrem Turm und der Rüstkammer hätte gehen dürfen. Sicher schien jetzt schon die Sonne voll hinter die hohen Umfassungsmauern. Johanna ermattete in ihrem dunklen Kerker; ihre körperliche Widerstandskraft begann zu brechen, eine Krankheit entwickelte sich in ihr, und der gute Doktor Tiphaine mußte geholt werden, um dieses kostbare Leben, dessen Tod den Engländern die Ehre zurückgeben sollte, zu retten.
Der Richter, der dieses Verhör des 17. März zu leiten hatte, erkundigte sich zuerst nach dem heiligen Michael, seiner Gestalt, seiner Größe, seiner Kleidung. Johannas Ausruf: «Er erschien mir als ein hochadliger Herr», deutet wieder auf die ritterliche Welt hin, die sie am Hofe kennengelernt hatte. Vielleicht dachte sie auch an Alencon, ihren Beau Duc, diesen <wahren Edelmann>, wie man den französischen Ausdruck, den Jeanne benutzte, <un trés vrai prud'homme>, auch übersetzen kann. Der Herzog von Alencon war ja wie Sankt Michael in strahlender Rüstung mit Helm und Schwert und fürstlichem Mantel an ihrer Seite in die Schlacht geritten. In liebender Ekstase rief sie: «Ich glaube an die Worte und Werke des heiligen Michael, der mir erschienen ist, ebenso fest, wie ich glaube, daß Unser Herr die Passion und den Tod für uns erlitten hat. Das, was mich geführt hat, ist der gute Rat, der Trost und die Lehre, die er mir anvertraut und gegeben hat!»
Ein Zwischenruf des Richters: «Johanna, unterwerft Ihr Eure Worte und Werke, seien sie gut oder böse, dem Entscheid Unserer Heiligen Mutter, der Kirche?» Es ist eines der erschütterndsten Verhöre; die Jungfrau ist schon wie von der Erde gelöst. Hingerissen zu der übersinnlichen Welt, die ihr so wahr wie die irdische erscheint, ruft sie, in ihren Ketten, die nicht bei jedem Verhör gelöst wurden, auf dem Stroh kniend aus:
«Ich liebe die Kirche und möchte sie mit aller Inbrunst für unsern christlichen Glauben stützen. Mich könnte man nicht davon abkehren oder hindern, in die Kirche zu gehen oder zur Messe. Was meine Werke und meinen Auftrag angeht, so muß ich mich auf den König des Himmels berufen, der mich zu Karl, dem rechten Sohn Karls, dem König von Frankreich, gesandt hat und der selbst König von Frankreich sein wird. Und Ihr werdet sehen, daß sehr bald den Franzosen ein großer, von Gott geschickter Auftrag zuteil wird, wie sehr auch immer das ganze Königreich Frankreich davor erzittern wird. Ich sage das, damit man sich entsinnt, daß ich es verkündet habe, wenn es eintrifft!»
Als wolle er Johanna aus der Trance erwecken, ruft ihr der Richter nochmals zu: «Unterwerft Ihr Euch dem Entscheid der Kirche, Johanna?» Sie ist zurückgekehrt aus der Welt ihres Glaubens. In der Ahnungslosigkeit des frommen Laien sagt sie: «Es scheint mir, daß Unser Herr und die Kirche ein und dasselbe sind. Das ist ganz einfach! Warum macht Ihr mir Schwierigkeiten? Ihr?!» Nun ist man endlich bei Johannas Stellung zur christlichen Kirche angekommen. Die anwesenden Theologen, Mönche und Doktoren wissen sehr gut, daß dieses ungelehrte Kind aus dem Bauernstand nichts vom Aufbau der Kirche, nichts von der Fachsprache der Gottesgelehrtheit weiß. Hier, wenn irgendwo, muß sie straucheln. Aber Jean de la Fontaine, der schon erklärt hat, er wolle sich von dem Prozeß zurückziehen er ist der vermutliche Befrager dieses Tages: Jean de la Fontaine bemühte sich, diesem unwissenden Kind Erklärungen über die geistige Struktur der Kirche zu geben. Es könnte sein, daß er sich neben Johanna ins Stroh gesetzt hat oder auf einen niedrigen Hocker, den man ihm zuschob. «Verstehst du, Johanna, die <triumphierende> Kirche, das ist Gott, die Heiligen, die Engel und die geretteten Seelen. Die (streitende> Kirche, das ist Unser Heiliger Vater, der Papst, Stellvertreter Gottes auf Erden, die Kardinäle, die Prälaten der Kirche, die Geistlichkeit und alle guten Christen und Katholiken. Und diese vereinigte Kirche ist unfehlbar, sie ist geleitet vom Heiligen Geist. - Wollt Ihr Euch also der streitenden Kirche beugen?»* (*«L'église militante c'est Notre Saint Pere le Pape, le vicaire de Dieu sur cette terre, les cardinaux, les prélats de L'église, le clergé et tous les bons chrétiens et catholiques; et cette L'église réunie ne peut errer, elle est gouvernée par le Saint Esprit.» (Raymond Oursel: Le Procés de Jeanne d'Arc. In lateinischer Fassung bei Quicherat: Prozesse, Band I)
Nein! Oh, nein! Die triumphierende Kirche, die siegende Kirche, das war ihre Kirche! Und in freudiger Erregung ruft sie aus: «Ich bin zum König von Frankreich gekommen durch Gott und die Jungfrau Maria, durch die Heiligen des Paradieses, durch die siegende Kirche in der Höhe. Auf ihren Befehl bin ich gekommen! Dieser Kirche unterwerfe ich alle meine Handlungen, die ich vollbracht habe oder vollbringen werde.» Von der Belehrung Johannas über die Kirche sagte im zweiten Prozeß, im Jahre 1456, der Magister Guillaume Manchon aus: «Sie verwechselte die Kirche mit dem Tribunal der Theologen; nach Ansicht aller verstand sie nicht, um was es ging, obgleich Jean de la Fontaine und zwei Predigermönche sich bemühten, sie über die Pflicht ihrer Unterwerfung unter <die Kirche> aufzuklären. Manchon gibt auch zu Protokoll, daß de la Fontaine wegen seiner Freundlichkeit im Verkehr mit der Jungfrau in Lebensgefahr stand und entfloh. Maitre Jean Lohier, der in Rouen weilte, um seine Meinung über den Prozeß abzugeben, verließ die Stadt ebenfalls. «Il se retira sans plus attendre». Ein Prozeß ohne Kläger und Verteidiger, der nur von Richtern geführt wurde, die aus persönlichem Haß oder aus Angst ihren Spruch fällten, das gefiel dem ehrlichen Magister Lohier durchaus nicht. Aber noch saß La Fontaine Johanna gegenüber und ging ablenkend auf verschiedene altbekannte Einzelheiten ein und fragte, da er ja nun einmal fragen mußte, ob Johanna ihre Heiligen umarmt habe. Ja, das habe sie getan. Ob sie gut gerochen hätten? ja, sie röchen gut. Wo sie sie umarmt habe, oben oder unten? Johanna habe ihre Knie umfaßt, wie es sich geziemte. Aber das waren Fragen zum Zeitvertreib. Kehren wir zum Gehorsam gegen die Kirche zurück. «Johanna, Ihr habt zu Monseigneur de Beauvais gesagt, daß Ihr ihm und seinen Beisitzern antworten wolltet wie Unserem Heiligen Vater, dem Papst, selber. Und dennoch habt Ihr Euch bei mehreren Verhören geweigert auszusagen. Würdet Ihr uneingeschränkter antworten im Angesicht Unseres Heiligen Vaters als in Gegenwart von Monseigneur de Beauvais?» «Ich habe auf alles geantwortet, so gut ich konnte. Wenn mir etwas ins Gedächtnis kommt, was ich nicht gesagt habe, so werde ich es gern nachholen.» La Fontaine noch einmal dringlich: «Glaubt Ihr, gehalten zu sein, dem Stellvertreter Gottes, dem Papst, die volle Wahrheit auf alle Fragen des Glaubens und des Gewissens zu sagen.» «Führt mich zu ihm, und ich will ihm alles sagen, was ich beantworten soll.» Johanna wußte nicht, daß es das Unternehmen eines Lebens bedeutete, von Rouen nach Rom zu reisen; der Heilige Vater war für sie so unerreichbar wie Gott im Himmel. Mit dem nächsten Tag, dem Passionssonntag, begann die heilige Osterzeit. Johanna, did seit ihrer Kinderzeit und sogar während der Kriegshandlungen gewohnt gewesen war, täglich, manchmal mehrmals am Tag die Messe zu hören, zu beichten, die Absolution zu empfangen, in der Kirche zu beten, die Bilder der Heiligen zu bekränzen, all ihr Tun von frommen Handlungen umrankt zu sehen, sehnte sich mit ihrem ganzen Wesen nach der Teilnahme an dieser festlichen Zeit, die alle Welt in Freuden vereinigte.
Frühlingsanfang: Sonne, sprießende Halme auf den Ackern, junge Tiere, wasserreiche Bäche, Spiele im Freien. Das Leben, das im Winter erstarrt gelegen, begann von neuem. Ach, daß sie nach Hause könnte. Fort aus diesem kalten Dunkel, fort aus der ewigen Bedrohung durch die Soldaten, fort von den schrecklichen Verhören, in denen man ihre Worte entwürdigte und falsch auslegte. So stark wurde Johannas Heimweh und die Sehnsucht nach Luft und Licht, nach Freiheit für ihre jungen Glieder, nach der Liebe ihrer Eltern, daß sie ein einziges Mal, entgegen ihrer sonstigen Weigerung, bei einem Verhör bereit war, die Männerkleider abzulegen. «Gebt mir Frauenkleider», rief sie aus, «damit ich heimgehe zu meiner Mutter!» Aber das war nur ein kurzes Niedersinken in Mutlosigkeit. Sie durfte die Männerkleidung nicht aufgeben. Als junges Weib gekleidet, würde sie rasch von ihren Wächtern überwältigt sein.
Es war eine traurige Osterzeit; alle ihre Bitten, die Messe hören und beichten zu dürfen, wurden abgewiesen. Am Palmsonntag, den 25. März 1431, erschien Monseigneur de Beauvais in Person, gefolgt von den wichtigsten Richtern, inJohannas Kerker und sagte in aller Ruhe und Freundlichkeit zu ihr: «Johanna, Ihr habt schon mehrere Male, und besonders gestern im Hinblick auf die Feierlichkeit dieser Zeit und dieser Tage, uns gebeten, heute am Palmsonntag die Messe hören zu dürfen. Wir fragen Euch nun: Wollt Ihr, wenn wir es Euch gestatten, die Männerkleider ablegen und Frauenkleider anziehen, so wie Ihr es in Eurer Heinut gewohnt seid und wie sie die Frauen dort tragen?» Pierre Cauchon hätte der Jungfrau nicht freundlicher eine Brücke bauen können: das Kleid ihrer Heimat sollte sie anlegen. Er mußte auf den Wechsel ihrer Tracht bestehen. Männerkleider für eine Frau waren so über alle Massen anstößig, daß man Empörung unter den Andächtigen voraussehen mußte, wenn ein Mädchen, als Mann gekleidet, in der Kirche erschien; auch bedeutete es eine Entweihung des Heiligtums, wenn man einen unsittlichen Anblick erlaubte. Und wo hätte Johanna sitzen sollen? Bei den Frauen oder bei den Männern? Oder glaubte sie, die Priesterschaft würde ihr zu Ehren einen Gottesdienst für sie alleine abhalten? An diesem 25. März war auch Thomas de Courcelles anwesend, der spätere Freund Karls VII., der dem toten König dereinst die Grabrede halten sollte. Auch er ermahnte die Jungfrau, weibliche Kleider anzunehmen, sie schade sich selbst mehr, als sie wisse. Die andern Herren unterstützten ihn, aber Johanna blieb fest:
«Ich bitte Euch, in diesen Männerkleidern, in denen ich bin, die Messe hören und den Leib des Herrn an Ostern empfangen zu dürfen. Man könnte es mir doch erlauben, ich wünsche es so sehr!»
Hinter Johannas hartnäckiger Weigerung, auf die Männertracht zu verzichten, müssen besondere Gründe gelegen haben. Die Angst vor den Soldaten allein kann es nicht gewesen sein, denn man hätte sie gewiß zur Stunde des Umkleidens und des Ganges zur Kathedrale geschützt. Man darf auch annehmen, daß die Wächter, wenn sie wirklich darauf Lust hatten, Johanna ihre Mädchenehre zu rauben, sie es im Laufe der viermonatigen Gefangenschaft, da sie zu fünft nächtelang mit dem Mädchen allein waren, hätten tun können. Man findet in keiner Quelle ein Wort der Erklärung oder nur der Vermutung über Johannas unausgesprochene Gründe. Hatte sie <fixe Ideen>, geistige Störungen, die sich nur hin und wieder äußerten? Auch ihre Erzählung des Engels, der das <Zeichen> brachte, ist mit Johannas sonstiger Wahrheitsliebe und ihrem guten Verstand gar nicht zu vereinen. Keiner ihrer Richter hat auch nur ein Wort davon geglaubt, ebenso unbegreiflich erschien ihnen die Kleiderfrage. In fast jedem Verhör wurde sie angeschnitten und ungelöst bis zum nächsten Male beiseite geschoben.
Am 27. März berieten die Herren Gelehrten gruppenweise über die Anklagepunkte. Als sie sich dann zusammensetzten, fand es sich, daß sämtliche Gelehrte darin einig waren, daß die <Visionen und Stimmen>, an die Johanna glaubte, ihrer Einbildung entsprungen seien oder einem Lügengeist oder gewollter Gaukelei zu ihren Gunsten. Die höchsten Mitglieder des Gerichtes zogen die siebzig Punkte, die sie aufgestellt hatten, auf zwölf Artikel zusammen, um sie den Doktoren beider Rechte, die aus Paris gekommen waren, vorzulegen.
Am 28. März wurde Johanna vor das Tribunal geführt. Massieu, der Gute, führte sie über die sonnigen Höfe; er wird ihr wohl abermals einen Kniefall vor dem Tabernakel erlaubt haben und wird sehr langsam gegangen sein, um diesem Schatten von einem Mädchen das Sonnenglück einige Augenblicke länger zu gönnen. Nachdem Johanna im Saal eingetroffen war und sich, schmall und grau, in ihrer abgetragenen Jünglingstracht auf die Holzbank gesetzt hatte, kündigte der Promotor an, er werde nun die siebzig Anklagepunkte verlesen. Wenn die Angeklagte sich weigere, auf einzelne Feststellungen einzugehen, so sollten sie als anerkannt gelten. Hier griff der Bischof von Beauvais ein. Wenn Johanna in ihrer Unbildung und Unwissenheit den Beistand eines Theologen wünsche, so dürfe sie ihn selber bestimmen. Die Jungfrau schaute von einem Gesicht zum andern. Da waren harte, zynische, von Studien ausgemergelte und genießerische Züge. Da waren aber auch die Gesichter der freundlich gesinnten Männer, doch waren sie ihr alle, ob Feinde oder Wohlwollende, schon sehr fern gerückt. Nahe war ihr nur der göttliche Schutz. Sie bedankte sich höflich für das Anerbieten und für die bisherige Belehrung, aber dann schloß sie fest:
«Ich gedenke nicht, mich von Gottes Rat zu trennen.»
Danach wurde sie, nach einer ersten Zusammenfassung, schuldig erklärt als Hexe und Zauberin, Wahrsagerin und falsche Prophetin, die böse Geister beschwöre und mit ihnen im Bunde sei; als abergläubisch, die Schwarze Kunst betreibend, in Sachen unseres katholischen Glaubens falsch denkend. Das Register war lang. Es kamen auch die Worte darin vor: Lästerin Gottes und seiner Heiligen, den Frieden störend, Kriegshetzerin, die nach Menschenblut dürste, die Ehrbarkeit und Schicklichkeit ihres Geschlechts verletzend, Verführerin von Volk und Fürsten und manche andere Anklage, <weswegen sie rechtsgültig bestraft und gebessert werden soll>. <Gebessert?> Konnte man die Jungfrau in ihrem Starrsinn <bessern>? Das Mädchen müsse öffentlich widerrufen, oder es sei dem weltlichen Gericht zur Verurteilung zu übergeben. Das hieß: entweder sie bleibt in den Händen der Kirche, die französisch ist, oder wir liefern sie der Wut der Engländer aus. Johanna mußte widerrufen, wenn sie vor dem Tode bewahrt werden sollte. Die Kirche würde ihr die Absolution erteilen, ihr jedoch ewige Kerkerhaft auferlegen. Aber alle diese Franzosen, die unter englischem Druck standen - wie wenige mochten überzeugte Freunde des Landesfeindes sein - die Franzosen wußten, daß einmal die Zeit kommen mußte, da ihr Land vom Feind erlöst sein, daß sogar die Normandie sich zu Frankreich bekennen würde, und damit die Befreiungsstunde der Jungfrau geschlagen hätte. Johanna saß hilflos in ihrem Kerker. Warum die Freunde ihr nicht klarmachten, was sie zu tun hatte und was die Kirche für sie im Sinne hatte, dieses Schweigen Johanna gegenüber könnte die Vermutung, daß sie heimliche Freunde hatte, über den Haufen stürzen; aber wenn man bedenkt, wie offen und undiplomatisch Johanna zu reden und zu handeln pflegte, so fürchteten die Wohlgesinnten mit Recht, daß ihre schützende Absicht rasch den Engländern verraten sein würde und sie, die <Verräter an der englischen Sache>, die fürchterlichste Rache würden erdulden müssen. Seit dem Tage der Verlesung ihrer Sünden aß und trank Johanna nicht mehr; sie wollte sterben. Tag und Nacht flüsterte es um sie, dröhnte es im Gewölbe, raunte es hinter den Pfeilern und lachte in den Ecken; ein teuflischer Chor: Hexe, Zauberin, die böse Geister beschwört, Lästerin Gottes und seiner Heiligen! Friedensstörerin; Mädchen, das die Schicklichkeit ihres Geschlechts verletzt. Und wieder von vorne: Hexe! Zauberin... Alles, was sie als böse und verächtlich verabscheut und von sich gewiesen hatte, das hängte man ihr nun um wie schmutzige Lumpen. Warum traten ihre Heiligen nicht zu ihr und nahmen sie fort zu Gott? Warum schwiegen sie? Warum kam ihr König nicht, sie mit einem Heer zu befreien? Wo war ihr lieber Alencon? Wo der Bastard von Orléans, d'Aulon, Xaintrailles, La Hire? Hatte sie den Jubel und die Dankbarkeit des Volkes, den fanatischen Mut des Heeres, Karls Tränen in der Kathedrale von Reims nur geträumt? Oder waren Neid und Haß ihrer Feinde am Hof so stark gewesen, daß ihr Andenken beschmutzt und ausgelöscht war? Hatte auch Gott sie verlassen? Was stand ihr bevor? Zu verbrennen wie ein Reisigbündel! Nein, nein! Lieber geköpft werden, aber nicht brennen! Doch Hexen wurden verbrannt. Wo waren ihr Vater, ihre Mutter, ihre Brüder? Wußten sie nichts von ihrem Schicksal und bebauten ruhig ihr Feld?
Johanna wurde krank. Sie glühte im Fieber und trank nun wieder, so viel man ihr nur zu trinken brachte. Ihr magerer Körper zehrte sich ab zu Haut und Knochen; sie versuchte nicht mehr, sich zu erheben. Da zog ein neuer Friede in ihr Herz: der Tod im Gefängnis war die verheißene Erlösung! Bald, bald würde sie bei ihren Heiligen im Paradiese sein. Ihre letzte Kraft gehörte nun dem Gebet. Aber mit der Ruhe des Herzens kehrte die fast erloschene Lebenskraft zurück. Der beauftragte Arzt, Jean Tiphaine, der fünfundzwanzig Jahre später über Johannas Krankheit und Seelenzustand in tiefem Mitleid sprach, ein kluger Mann, hatte wohl begriffen, daß nur die grauenhafte Angst vor dem Verbrennen sie dem Tode nahegebracht hatte. Wie kräftig war jedoch ihr Geist, wie mächtig ihr Glaube, daß der Wahnsinn, der so viele Gefangene befiel, ihr fernblieb. Nach zwei Wochen der Krankheit konnte Jean Tiphaine dem Bischof von Beauvais berichten, man könne die Gefangene wieder verhören. Während Johannas Krankheit hatten die Professoren und Gelehrten nochmals Punkt für Punkt die Anschuldigungen gegen die Jungfrau geprüft. Es blieb dabei: man erklärte ihre <Erscheinungen> als unglaubwürdig. Nur eines könne man noch versuchen, ihr mit <heilsamen Ermahnungen> zuzusetzen; vielleicht daß sie dann öffentlich abschwören würde. Es wurden sogar mehrere Ermahnungen vorgesehen; die erste war in einem drängenden, guten, flehenden Ton gehalten.
Am 19. April trat Monseigneur Cauchon mit einer Reihe von Gelehrten zu Johanna in das Gefängnis. Er sagte zu ihr «Alle diese Gelehrten sind zu Euch gekommen, um Euch beizustehen und Euch zu trösten in Eurer Krankheit. Während vieler Tage seid Ihr in schwerwiegenden Fragen des Glaubens geprüft worden. Eure Antworten aber haben viele, den Glauben gefährdende Aussagen enthalten. Da Ihr ungelehrt seid und nicht schreiben könnt, wollen wir Euch einige wohlwollende Gelehrte zur Seite geben, die Euch sorgfältig unterrichten und Euch mit ihrem Rat behilf lich sein werden.» Der Bischof wandte sich dann an die Herren, die mit ihm gekommen waren, sie bittend, bei ihrer Treue im wahren Glauben, Johanna guten Rat zuteil werden zu lassen. Und sich wieder an Johanna wendend: «Wenn Ihr andere kennt, die für diese Aufgabe geeignet sind, so sind wir gerne willens, sie Euch zur Seite zu geben.» Und dann in einer Dringlichkeit, hinter der Johanna den Wunsch zu echter Hilfe hätte erraten können: «Ja, Johanna, wir Geistliche sind berufen, geneigt, willens, bereit, uns um jeden Preis der Förderung des Heils Eurer Seele und Eures Leibes anzunehmen, als handle es sich um unsere Nächsten oder um uns selber. Beherziget diese heilsame Ermahnung!» Immer deutlicher werdend, fügt der Bischof hinzu: «Bedenkt, wenn Ihr Euch aus Eigensinn und Unerfahrenheit widersetzt, müssen wir Euch fallen lassen. Seid eingedenk der Gefahr, die sich für Euch daraus ergibt!» Und nun die Worte, bei denen man annehmen möchte, der Bischof habe sich zu Johanna niedergebeugt, sie um die Schultern gefaßt und ihr fest in die Augen geblickt: «Das fügen wir hinzu, um Euch, Johanna, davor zu bewahren, mit allen unsern Kräften und unserer ganzen Neigung.»
Man spürt Cauchons <Neigung>, seine Sorge um dieses verstörte, verwirrte Kind. Um die Welt will es nicht sagen, daß es sich der Kirche unterwirft, das heißt, dem Urteil, daß ihre <Stimmen> Einbildung sind. Mit überredender Geduld erinnert Cauchon die Jungfrau an ihre eigenen Worte: «Einmal habt Ihr in Eurem Prozeß gesagt, wenn Ihr etwas getan oder gesagt hättet, das gegen unseren christlichen Glauben sei, so wolltet Ihr es nicht aufrechterhalten. Ihr habt behauptet, göttliche Offenbarungen durch die Stimmen der Heiligen empfangen zu haben. Wenn irgendeine Frauensperson herbeikäme und versicherte, Offenbarungen von Gott zu haben, glaubtet Ihr ihr? Könnt Ihr Euch überhaupt vorstellen, daß Gott einer Person Dinge offenbaren könnte?» «Ihr wißt es wohl; Ja, sicher!» Der Bischof ging resigniert davon; jedenfalls hat er die Szene verlassen und das Wort einem der gelehrten Herren übergeben. Dieser muß ebenfalls ein Freund Johannas gewesen sein, denn er schlug ihr vor, nachdem sie auch ihm mit einer ausweichenden Antwort die Unterwerfung unter die Kirche verweigert hatte, <eine große und schöne Bittprozession vorzubereiten>, um sie in den rechten Seelenzustand zurückzuführen. Ob sie das wolle? Ja, der Gedanke sei schön, daß die Kirche und die Gläubigen für sie beteten!
24. Kapitel
In einem großen, prunkvollen Zimmer, nahe dem Festsaal sollten die Sachverständigen am 2. Mai dem Tribunal und den Beisitzern Erfolg oder Mißerfolg ihrer Belehrung der Angeklagten kundtun. Der Bischof von Beauvais leitete die Verhandlung, zu der Johanna im gegebenen Moment zu erscheinen hatte. Die Richter hätten nach dem Gesetz die Jungfrau als Ketzerin verurteilen können, aber Pierre Cauchon wollte Johanna ja - vermutlich - vor dem Feuertod erretten. Um diesen Ausgang zu verhindern, entfalteten er und seine Gesinnungsgenossen ein immer erneutes Bemühen, Johanna zum Widerruf zu bewegen, denn der Widerruf, der sie nur als Betrügerin stempelte, würde für sie ja das Leben bedeuten, wenn auch in der Gefangenschaft der Kirche. Ihr Beharren auf der Göttlichkeit der Stimmen, einer Blasphemie, machte sie zur Ketzerin, zu einem Werkzeug der Hölle. Johanna mußte abschwören! Anders konnte man sie nicht vor der Rache der Engländer bewahren. Als Pierre Cauchon die Sitzung eröffnete, sagte er zum Tribunal und den sechzig Beisitzern, er sei der Überzeugung, man müsse die Angeklagte nochmals belehren, bevor man zur letzten Beschlußfassung übergehe. Er rief in den Saal hinein, und es ist nicht nötig, ihn der Heuchelei zu bezichtigen: «Für uns, die wir im Dienste Gottes leben, ist es Pflicht zu versuchen, ihr barmherzig zu zeigen, was in ihren Worten und Werken falsch ist.» Deshalb wolle er, der Bischof von Beauvais, vor den versammelten Herren das Mädchen nochmals befragen und ermahnen lassen. Das Amt des Befragers und Ermahners wurde dem Erzbischof von Evreux, Jean de Châtillon, übertragen Johanna wurde von Bruder Massieu hereingeführt; sie war noch schwach von ihrer Krankheit,aber weder unsicher noch verschüchtert. Monseigneur Jean de Châtillon begann, die Jungfrau mit allerlei Ermahnungen zu überschütten. Johanna, die ein Schriftstück in seiner Hand sah, antwortete auf seine Schlußfrage, ob sie sich zu ändern und zu bessern gedenke, ungeduldig: «Verlest Euer Schriftstück, und ich werde Euch antworten. Ich vertraue mich in allem Gott an, meinem Schöpfer, ich liebe ihn von ganzem Herzen.» Aber die Ermahnungen! Eine Antwort bitte! Johanna, unbeugsam wie bei jeder Verhandlung. «Ich vertraue auf meinen Richter, das ist der König des Himmels und der Erde.» «Johanna! Ihr müßt Euch der Streitenden Kirche unterwerfen» «Ich glaube wohl an die Kirche hier auf Erden, und daß sie nicht irren und fehlen kann, aber all mein Tun und Sagen stelle ich Gott anheim, der es mich hieß. Ich unterwerfe mich Ihm, ich überlasse mich Ihm, Ihm selbst!» Die letzten Worte waren ein Schrei der Angst. Da fuhr Jean de Chatillon auf, während unter den Anwesenden Unruhe und Gemurmel entstand: «Ihr wollt sagen, daß Ihr keinen Richter auf Erden habt, selbst nicht unsern Heiligen Vater, den Papst?» Johanna mit erhobener Stimme. «Ich kann Euch nicht mehr darüber sagen. Ich habe einen guten Meister, unseren Herrn, dem ich mich in allen Dingen unterstelle und niemand anderem.» «Wenn Ihr die Kirche nicht anerkennt, so seid Ihr eine Ketzerin, und Ihr werdet zum Feuertod verurteilt!» «Ich kann Euch nichts anderes sagen. Und wenn ich das Feuer sähe, so sagte ich Euch nichts anderes.» Die Reden der <Verstocktheit> gingen noch eine Zeitlang weiter, bis der Erzbischof das Nutzlose seines Bemühens einsah. «Was habt Ihr noch zu dem Punkt Eurer Kleidung hinzuzufügen?» fragte er, ohne Hoffnung, irgend etwas Neues zu erfahren. «Ich will gern ein langes Frauenkleid und eine Haube tragen», sagte Johanna ruhig, «um in die Kirche zu gehen und den Leib des Herrn zu empfangen, wie ich es schon gesagt habe, vorausgesetzt, daß ich es gleich nachher wieder ablege und anziehe, was ich jetzt trage. Sobald ich das erfüllt habe, wofür ich von Gott gesandt bin, werde ich wieder Frauenkleider anlegen.» Mit tötender Monotonie geht die Verhandlung weiter, bis der Erzbischof von Evreux, ein erfahrener, gerechter Mann, überredend zu dem armen Kind sagt: «Seht, Johanna, wenn Euch die Kirche fallen läßt, so seid Ihr in großer Gefahr des Leibes und der Seele. Euch steht das ewige Feuer für die Seele und das zeitliche Feuer für den Leib bevor.» Johanna, erschrocken und drohend: «Wenn Ihr mir antut, was Ihr sagt, so wird es Euch übel bekommen an Leib und Seele.» Mein Gott, das Kind redet sich um den Hals! Pierre Cauchon fährt dazwischen, seine Stimme ist laut vor Erregung und hallt wider von dem hohen Gewölbe; die Versammlung lauscht atemlos: «Seht Euch vor, was Ihr sagt! Bedenkt Euch ein letztes Mal! Einmal wird unsere Geduld am Ende sein.» Johanna findet kein Wort; sie schweigt erschrocken. Ein rascher Wink des Bischofs an die Wächter, und das trotzige junge Weib wird zu seinen Ketten zurückgeführt. Das Tribunal geht ratlos auseinander. War dieses Mädchen wirklich nicht zu brechen? War ihre bedingungslose Unterwerfung unter die Kirche - ihr Widerruf - nicht zu erzwingen? Es gab noch das Mittel der Folter. Man könnte ihr die Werkzeuge nur zeigen und ihr erklären, was ihr bevorstand; auch Männer pflegten bei diesem Anblick zusamrnenzubrechen. Vielleicht daß Johanna ebenfalls in der Angst zu Kreuze kriechen würde und ihre Visionen ableugnete?
Um die Folterszene schweben geheimnisvolle Vorgänge. Einerseits wollte Pierre Cauchon Johanna einschüchtern und so den ersehnten Widerruf erzwingen, andererseits gehörte eine Folterung zum Theaterspiel, das man vor den mißtrauischen Engländern aufführte. Am 9. Mai geleitete Jean de Châtillon eine Gruppe von Richtern und Theologen in die Folterkammer. Johanna war von den freundlichen Geistern Nicolas Loiseleur und Jean Massieu hereingeführt worden in diesen Ort des Grauens, zwischen dessen Mauern und Gerätschaften noch das Brüllen und Röcheln der Gequälten zu schweben schien, ein Ort, der auch das Herz des Mutigsten in Todesangst vergehen ließ. Aber Johanna, der man das Gräßliche ankündigte - zwei Knechte standen rechts und links von ihr bereit zur Tat - Johanna blieb unerschüttert; sie sei nicht bereit, sich zu unterwerfen; sie habe ihre Stimmen befragt, ob sie verbrannt werde, und sie hätten sie geheißen, sich auf den Herrn zu verlassen, er werde ihr helfen. Dieses Mal könnten es die Stimmen des guten Loiseleur und des hilfreichen Massieu gewesen sein, die ihr die nötigen Worte gesagt haben, denn ihre Ruhe angesichts der Folterwerkzeuge ist kaum anders zu erklären als durch ihr Wissen, es würde ihr nur gedroht werden. Johanna war ein Menschenkind, wenn auch ein außerordentliches; ihre spätere Angst und ihr Zusammenbrechen vor dem drohenden Feuertod werden zeigen, daß sie vor dem alles niederreißenden Grauen nicht gefeit war. Noch beredter als die Szene in der Folterkarnmer enthüllt die nachfolgende Beratung das Verhalten des Bischofs von Beauvais und seiner Gesinnungsgenossen. Raoul Roussell, der weder Theologieprofessor noch Richter war, sondern Schatzmeister der Kirche von Rouen, erhob den ungewöhnlichen Einwand gegen eine doch noch vorzunehmende Folterung, er halte es für verkehrt, einen so gut geführten Prozeß durch ein solches Verfahren zu verderben. Aber die Folterung war ein anerkannter Teil kirchlicher Prozesse. Erstaunlich, daß alle anwesenden Geistlichen die Folterung, <die peinliche Befragung> ablehnten. Mit drei Ausnahmen! Wer waren aber die drei Befürworter der Folter? Niemand anderes als Johannas Gönner, der spätere Freund Karls VII., Thomas de Courcelles, Nicolas Loiseleur und ein unbekannter Lizentiat des kanonischen Rechtes. Wenn irgendeine, dann wurde diese Sitzung für die Engländer <gespielt>, die jedes Sitzungsprotokoll erhielten. Kardinal Henry Beaufort, Bischof von Winchester, sein Neffe john of Lancaster, Herzog von Bedford, und der große Warwick ertrugen das Hinauszögern des Feuertodes kaum noch; sie wollten endlich der Welt verkünden dürfen, daß Karl VII., der sich fälschlich <König> nannte, durch Hexerei und Teufelskünste gesiegt habe und gekrönt worden sei. Wozu dienten diese immer neuen Befragungen? Der Bischof und das Tribunal glaubten ja nicht an die Gottgesandtschaft der Jungfrau, was konnte das Eingeständnis des Mädchens, es habe gelogen, noch ändern? Hatten die Herren etwa Mitleid mit der Hexe, oder waren sie Opfer ihrer Zaubereien? Gut, man würde sich beeilen; aber die Abordnung, die an die Universität von Paris gesandt worden war, um den letzten, höchsten Entscheid über Johannas Schuld oder Unschuld zurückzubringen, mußte noch angehört werden.
Am 19. Mai empfing Monseigneur Cauchon die Abgesandten zu einer Gerichtssitzung in der Kapelle des bischöflichen Palastes. In Paris hatten die Gelehrten Jeanne d'Arc, die ganz Westeuropa behext hatte, auf Grund der zwölf Artikel, die aufgestellt worden waren, in allen Punkten für schuldig erklärt.
Was tun, werden die wohlmeinenden Richter in Rouen gedacht haben; es waren die Männer, die auch die Folter verworfen hatten. Was tun? Es wurde eine kurze Beratung gehalten, bei der man sich auf den Entschluß einigte, der Domherr, Pierre Maurice solle Johanna ein allerletztes Mal ermahnen, ihre Irrtümer durch einen Widerruf einzugestehen und sich der Kirche und ihrer Buße zu unterwerfen. Erst am 23. Mai begab sich der Bischof von Beauvais mit seiner Gefolgschaft in einen kleineren Saal, der nahe dem Gefängnis lag. Da gab es für Johanna keinen Weg ins Freie, keinen Blick zum Frühlingshimmel hinauf; sie mußte nur einige Schritte durch einen düsteren Gang tun. Ergeben in ihr Schicksal, kaum noch teilnehmend, ließ sie das Redegeplätscher eines langen lateinischen Textes über sich ergehen. Und nun die zwölf Schuldartikel, die Pierre Maurice auf französisch vorlas; ein jeder begann mit den Worten: «Du hast gesagt...»
- Der erste handelte von Johannas Visionen und Stimmen.
Von diesen seien die Professoren der Universität Paris der Meinung, daß sie Aberglauben und Sinnestäuschung seien, böse, und vom Teufel. Bestimmt haben die Professoren zu Paris gewußt, daß Visionen möglich sind. Die Kirchengeschichte erzählte ja von vielen unleugbaren Beispielen; aber die Universität von Paris war den Engländern, solange sie die Besitzer der Hauptstadt des Landes waren, untertan. In dem Schreiben an Bedford oder den kleinen König unterschrieb sich die Universität: <Eure demütige Tochter>. Die Professoren hatten gewußt, welche Antwort von ihnen erwartet wurde. - Zu dem Bericht über den Irrtum ihrer Visionen schwieg Johanna, sie war des Redens müde. Dann hörte sie die Worte: «Du hast gesagt», und nun folgte die Erzählung über das <Zeichen>, und wie der heilige Michael und die Engel mit Johanna die Treppe hinaufgestiegen seien und sie bis in das Gemach des Königs begleitet hätten, «und der Engel überreichte dem König die Krone aus kostbarstem Gold, und der Engel verneigte sich vor dem König und erwies ihm seine Reverenz». Johanna schwieg auch jetzt.
- Der fünfte Anklagepunkt behandelte die männliche Kleidung und <die Haare, die über den Ohren kurzgeschnitten sind>. Es ist ein langer Artikel; Johanna hörte, immer noch schweigend, dem allzu Bekannten zu; aber als zum Schluß die Worte an ihr Ohr drangen «Dadurch machst du dich der Entweihung deiner selbst schuldig, indem du den Brauch der Heiden nachahmst.» Hier wird Johanna fragend den Kopf gehoben haben:
<den Brauch der Heiden?> Was wußte sie von der Entartung Griechenlands und Roms zur Zeit des Niederganges, gegen den der Apostel Paulus in seinen Briefen gewettert? Man hatte ihr nie erklärt, daß ein Bibelwort der Grund zu der Empörung war, mit der man ihre so notwendige Männerkleidung wie eine Todsünde verdammte.
Ein Artikel nach dem andern wurde verlesen. Johanna war erschöpft. Einmal hörte sie den Satz:
- «Du hast gesagt, deine Heiligen sprächen französisch und nicht englisch, da sie nicht von der Partei der Engländer seien; und nachdem du verstanden, daß die <Stimmen> für deinen König waren, hättest du die Burgunder abgelehnt.» War das ein Verbrechen?
Als der gelehrte Herr zum zwölften Mal das schreckliche Wort sagte: «Du hast gesagt», lauschte Johanna, um zu wissen, mit welcher Sünde die Anklageschrift schließen würde.
- «Du hast gesagt, du wolltest dich nicht auf das Urteil der Kirche auf Erden verlassen noch auf sonst einen Menschen auf der Welt, sondern nur auf Gott allein. Was diesen Artikel angeht, so sind die Gelehrten der Meinung, daß du irrgläubig über die Autorität der Kirche denkst und bis auf diesen Tag ketzerisch und hartnäckig verstockt bist.»
Johanna hat entmutigt den Kopf gesenkt. Was sollte sie noch sagen? Im Saal herrscht tiefes Schweigen; die Herren warten, aber die Jungfrau schweigt. Da neigt sich der Domherr Pierre Mautice rnitleidig zu dem ratlosen Mädchen hernieder und sagt, großmütig auf ihre einzigartige Laufbahn eingehend:
- «Johanna, teuerste Freundin» - er redet sie wie eine Gleichstehende an, wie eine adlige Dame, das <du> der Anklagepunkte läßt er fallen: «nehmt an, der König hätte Euch eine Festung anvertraut und Euch verboten, jemanden einzulassen. Da kommt einer, der erklärt, er komme von der Partei des Königs. Wenn er Euch kein Sendschreiben vorweisen kann, dürft Ihr ihm nicht glauben. Ebenso vertraute unser Herr Jesus Christus die Herrschaft seiner Kirche dem Heiligen Petrus und dessen Nachfolgern an. Er verbot, jemals solche, die in Seinem Namen kämen, aufzunehmen, wenn sie nichts anderes als ihre Behauptungen erbrächten.»
Und dann, in unverkennbarem Helferwillen, in Worten, die zeigen, daß er Johanna keineswegs als Ketzerin ansieht, sagt er in aller Eindringlichkeit zu ihr:
- «Johanna, ich rate Euch, ich beschwöre Euch, ich fordere Euch auf bei der Inbrunst, die Ihr dem Leiden Eures Schöpfers entgegenbringt, ändert Euch! Kehrt auf den Weg der Wahrheit zurück, gehorcht der Kirche, unterwerft Euch ihrer Entscheidung!»
Johanna schüttelt den Kopf und ruft dann wie in Verzückung aus:
- «Wenn ich vor der Verurteilung stünde und sähe das Feuer glühen, den Henker bereit, das Feuer zu schüren, wenn ich selbst im Feuer wäre - ich sagte nichts anderes, als was ich im Prozeß gesagt; ich würde es aufrechterhalten bis in den Tod.»
Der Schreiber hat wohl auch hier, wie er es mehrmals tat, auf den Rand seines Pergamentes geschrieben: <responsio superba>. Durch das Gemach aber ging ein Seufzen der Resignation. Nun denn, so konnte man nur auseinandergehen. Morgen würde vor allem Volk die Urteilssprechung erfolgen.
25. Kapitel
Bis in den Tod... bis in den Tod... Es ist Nacht im Kerker. Die Wachen schlafen; aber Johanna sitzt in tödlicher Angst, im Grauen vor dem Kommenden, aufrecht. Eine einzige Fackel brennt im Ring an der Mauer. Wenn sie ihre Hand in die Flamme hielte, nicht einen Augenblick lang würde sie den Schmerz ertragen. Brennen - bei lebendigem Leibe. Möchten doch ihre Heiligen sie entrücken! Aber der Verstand sagt ihr, daß kein Wunder zu ihrer Rettung geschehen wird. Nur Stunden trennen sie von dem Furchtbaren. Jetzt fühlt sie den Wahnsinn, den sie oft durch ihren Glauben vertrieben hatte, heranschleichen. Eine panische Angst, die sie im dichtesten Schlachtengewühl nicht empfunden hatte, greift nach ihr. Könnte sie sich doch töten. Aber wie? Wie? In dieser Nacht vermochte sie nicht zu beten, kein Trost kam ihr von Gott und ihren Stimmen. Jean Beaupére, der am frühen Morgen in ihren Kerker trat, hat über ihre Verstörung, über ihr tränenüberströmtes Gesicht ausgesagt. Er hatte Mitleid mit Johanna; und doch mußte er ihr verkünden, daß das Schafott schon gezimmert sei, auf dem sie verbrannt werden sollte. Das unglückliche junge Menschenkind konnte nur aufstöhnen. Da sagte der Magister in einem letzten Versuch, die Unglückliche zu beraten: «Wenn Ihr eine gute Christin seid, so unterwerft alle Eure Taten und Worte unserer heiligen Mutter, der Kirche, und besonders den kirchlichen Richtern.» Nach Beaupéres Aussage murmelte Johanna: «Ich werde es tun.» Je näher die Verurteilung rückte, desto deutlicher erscheinen die Bemühungen Pierre Cauchons und einiger der Doktoren, Johanna vor dem Äußersten zu retten; und sie waren doch selber mehr denn je in Gefahr, von Warwick ins Verlies geworfen zu werden, wenn sie sich nicht als gehorsame Verbündete zeigten. An diesem Morgen, da Jean Beaupére Johanna durch die Angst vor dem Feuer zum Abschwören bewegen wollte, trat auch Nicolas Loiseleur bei ihr ein und wiederholte die dringende Mahnung, sich der Gnade der Kirche zu unterwerfen.
- «Tut, was man von Euch verlangt», sagte er, und es scheint, als hätte er gehofft, sie möchte das Spiel durchschauen. «Ihr seid in Lebensgefahr! Wenn Ihr Euch der Kirche unterwerft, geschieht Euch nichts. Zieht weibliche Kleider an. Wenn Ihr tut, was ich Euch sage, geschieht Euch kein Unglück. Ihr seid dann in den Händen der Kirche!»
Loiseleurs Worte waren nicht die Worte eines Verräters. Wäre er ihr Feind gewesen, so wäre es sein Vorteil gewesen, daß sie nicht widerrief. Und doch hat man ihn wegen seiner Ermahnung der <falschen Versprechungen> bezichtigt. Er tat nur, was in diesen letzten Tagen und Wochen immer wieder versucht wurde: Johanna zum Widerruf zu bewegen, um sie in den Händen der Kirche behalten zu können. Man darf bei den Überredungen zum Abschwören der <Stimmen> und <Visionen> nicht außer acht lassen, daß die französischen Geistlichen ja nicht an Johannas Stimmen und Visionen glaubten und nicht der Meinung waren, sie zu einem Verrat an Gott zu bewegen, nur zum Eingeständnis, daß sie in einem Irrtum befangen war. Warum sprachen die Wohlmeinenden auch jetzt nicht offen zu Johanna? Weil sie wußten, daß die Jungfrau sich in ihrer leidenschaftlichen Gläubigkeit niemals zu einem abgekarteten Spiel hergeben würde. Johanna hat sicherlich begriffen daß eine Gruppe von Männern ihr helfen wollte, aber sie wartete auf die Hilfe ihrer Heiligen. Während Nicolas Loiseleur Johanna noch dringend zuredete, traten englische Soldaten in ihren Kerker, schlossen die Ketten auf und packten sie an den Armen, um sie hinauszuführen. Schon jetzt brachte man sie fort? Kam denn keine himmlische Hilfe? Hatte sie sich geirrt? War ihr Glaube an die Stimmen Wahn gewesen? Sie wollte nicht über die Schwelle treten und stemmte die Füße auf den Boden, aber die Soldaten stießen sie vorwärts ins Freie und hoben sie unsanft auf einen Karren. Schon jetzt, beim Verlassen des Turmes, war höhnisches Geschrei um sie. Als sie dann durch die Gassen fuhr, wurde das Brausen von Stimmen immer lauter, es schlug ihr wie ein Druck auf die Brust, daß ihr das Herz fast versagte. Beschmutzt, verwahrlost kauerte sie wie ein verfolgtes Tier auf den Brettern des Karrens - und war doch einmal in silberner Rüstung auf dem edelsten Pferd des Königs bei flatternden Standarten und Trompetenschall dem französischen Heer vorangeritten und hatte dem großen Krieg die siegreiche Wendung gegeben. Was hatte sie verbrochen, daß sie so tief stürzen mußte? Da war die Volksmenge! Der Karren war durch das Tor zum weiten Friedhofsplatz des Klosters Saint-Ouen gefahren. Man schrie ihr nicht zu, man beschimpfte sie nicht, aber es war ein drohendes Brausen, das von den Tausenden aufstieg. Drohung gegen die Engländer, Drohung gegen die eigenen Landsleute, die die Heldin von Frankreich nicht zu schützen wußten. Drohung aber auch von Tausenden, die in dem verängstigten Mädchen eine Hexe sahen, Drohung der Engländer gegen alle, die diese Verdammung nicht teilten. Jeden Augenblick konnte ein Aufruhr losbrechen. Aber die Bewaffneten standen bereit, mit dem Gesicht zur Menge gekehrt. Auf diesem ummauerten Friedhof wurden auch die Jahrmärkte abgehalten. Manchen Gaukler, manch wildes Tier im Käfig, manchen Wunderdoktor hatten die Bürger hier schon bestaunt; aber ein Bauernmädchen aus dem fernen Lothringen, das mit dem König gesprochen, getafelt hatte, mit ihm ausgeritten war, so etwas hatte man noch nicht gesehen. Das Mädchen mußte tapfer gewesen sein, es hatte Orléans entsetzt, es hatte Stadt nach Stadt erobert! Wie armselig schaute es aus. Wie hatte man es zusammengeschlagen! Armes Kind. Auf einer Estrade, westlich des Kirchentores, angelehnt an den stolzen Kirchenbau, saßen und standen dichtgedrängt die wichtigsten Herren der Kirche und der gesamte Hof des jungen Königs. Der Bischof von Beauvais war eingekeilt zwischen dem Grafen Warwick und dem greisen Bischof von Winchester. Auch der Bischof von Norwich saß auf der Estrade. Scharf beobachtende Feinde rings umher. Pierre Cauchon konnte nichts mehr für Johanna tun. Würde sie widerrufen? Er hatte ihr Angst einjagen lassen. Ein kurzer Widerruf war vorbereitet, er steckte im Ärmel Magister Erards, der, neben Johanna stehend, ihr die allerletzte Mahnrede halten sollte. Wenn sie widerrief, mußte das Schriftstück sofort zur Stelle sein und sofort unterschrieben werden, bevor die Engländer sich von ihrer Verblüffung erholt hatten. Johanna war von der Karre gehoben worden. Jetzt stieg sie, ein schmaler Knabe, die kleine Leiter zur zweiten Estrade hinauf. Ein Bericht des Bruders Juan de Lenozoles, Erards Gehilfe, sagt, daß sein Herr nur mit Widerwillen seine Aufgabe erfüllt und sich weit fort in seine Heimat gewünscht hätte. Auch Massieu, der Gute, war nicht fern und hat später von diesen erregenden Morgenstunden erzählt. Johanna war zu verwirrt, zu qualvoll in ihre Feuerangst verstrickt, als daß sie Ohren hatte für die Mahnpredigt des Magisters Erard, obgleich er sie ein Monstrum, eine Hexe, eine Ketzerin nannte. Und nun folgt eine Szene, die man dank der Aussage Massieus und de Macys im zweiten Prozeß kennt, eine Szene, die vorbereitet und einen bestimmten Zweck zu verfolgen schien. Mit erhobener Stimme rief der Magister Erard langsam und deutlich aus und wiederholte seine Worte dreimal:
«Ach, dir ist schlecht mitgespielt worden, edles Königshaus von Frankreich, das doch ein sehr christliches Haus war. Karl, der sich König nennt, ist ein Ketzer und Schismatiker, und das durch die Worte und Taten einer infamen Frau. Ach, es ist ein großer Jammer.»
Erard zeigte mit dem Finger auf Johanna und rief ihr laut zu, als wollte er sie zum Geständnis einer geistigen Verführung durch den König - was ihre Rettung sein könnte zwingen:
«Zu Euch spreche ich, Johanna, und Euch sage ich: Euer König ist ein Ketzer und Schismatiker!» [76]
Da reckt Johanna sich auf, als halte sie noch Schwert und Standarte in der Hand, und von ihren Lippen tönt, was Erard nicht erwartet hatte:
«Bei meinem Glauben, Herr, ich schwöre Euch, bei Gefahr meines Lebens, der König ist der edelste Christ aller Christen, der am meisten den Glauben und die Kirche liebt. Er ist nicht das, was Ihr sagt!»
Erard winkte Massieu, er solle Johanna zum Schweigen bringen, die Engländer könnten über sie herfallen; aber seine Sorge war unnötig. Zu oft hatten die Engländer in diesem Prozeß und noch in Johannas Todesstunde ihren Sinn für <fairness> und <fair-play> bewiesen. Gegen Johanna, die, vom Tode bedroht, angesichts ihrer bittersten Feinde, ihren König, der sie scheinbar im Stiche gelassen, verteidigte, gegen diesen Adel der Seele in dem wunderbaren Mädchen wurde kein Straf- und Schimpfwort laut. Der Magister fährt rasch in seiner Predigt fort. Johanna ist wie eine Ertrinkende, die sich mit den Händen am rettenden Felsen, ihrem Glauben, anklammert. Die See rollt immer neu heran, die Finger werden schwach, lösen sich, sie fühlt sich sinken. All ihre Aussprüche übergebe sie dem Urteil des Heiligen Vaters in Rom, sagt sie mit versagender Stimme bei der letzten Befragung, die nun angehoben hat. Und doch, alles, was sie getan, habe sie mit Gottes Willen getan. Man solle sie zum Papst geleiten, ihm wolle sie alles erzählen. Und mit fester Stimme:
- «Weder der König, noch irgendein Mensch ist schuld an meinen Taten und Worten; wenn sie Sünde waren, so war es meine Sünde allein!»
Bei den letzten Fragen, die gestellt wurden, verweigerte Johanna die Antwort. Da stand der Bischof von Beauvais auf; jetzt blieb ihm nichts mehr als das Urteil zu sprechen und die Jungfrau dem weltlichen Gericht - den Engländern zu übergeben. Magister Erard flüsterte Johanna zu: «Wir haben großes Mitleid mit Euch, tut, was ich Euch geraten habe! Wollt ihr Euch denn umbringen? Ihr müßt abschwören!»* (*Quicherat: Prozesse Band II, S. 17 Aussage des Jean Massieu)
Es wird betont, daß Cauchon sehr langsam las, als wollte er Johanna Zeit geben, den Widerruf auszusprechen. Mehrere Beisitzer drängten sich um die Estrade und riefen leise zu ihr hinauf, es sei der letzte Moment, daß sie sich noch retten könne; Loiseleur drängte sie, dazwischenzurufen, daß sie Frauenkleider anlegen würde. Johanna hörte die Ratschläge und sah zugleich, wie der Henker mit seinem Karren nahe unter ihre Estrade rückte. Ihre Augen blickten zu ihm nieder, dann verstört zum Scheiterhaufen und wieder flehend aufwärts in den Frühlingshimmel, ob er sich nicht öffnen würde über ihr. Nichts... nichts. Nur die Stimme des Bischofs:
«Dreifach sind die Gründe, aus denen wir dich als exkommuniziert und zur Hexe erklären und den Spruch fällen, daß wir dich aufgeben und der weltlichen Gerichtsbarkeit überantworten; als ein Glied Satans bist du von der Kirche verstoßen. Somit ...»
Ein Schrei aus Johannas Mund. Oh, nicht aus der Gemeinschaft der Christen verstoßen sein! Sie schlang die Hände ineinander, hob sie und rief mit letzter Kraft ihren Richtern zu, die Worte überstürzend, wahnsinnig vor Schrecken. «Ich will alles befolgen, was die Richter der Kirche sagen und verfügen. Ich will ihrem Befehl gehorchen. Da die Geistlichen sagen, daß meine Erscheinungen und Offenbarungen nicht aufrechtzuerhalten sind, so will ich sie nicht aufrechterhalten. Ich überlasse mich dem Urteil der Richter und unserer heiligen Mutter, der Kirche!» [78] Das war der heißumstrittene Widerruf! Pierre Cauchon faltete mit bebenden Händen sein Pergament zusammen und griff nach dem lange vorbereiteten Widerruf; aber auf der Estrade hatte Magister Erard schon blitzschnell gehandelt, aus seinem Ärmel war ein kurzes Schriftstück hervorgeglitten - es sei nur von etwa sechs Zeilen bedeckt gewesen, sagten im zweiten Prozeß die Zeugen aus - er drängte Johanna zu unterschreiben; sie wußte nicht, was sie unterzeichnete. Sie habe eine Null unter das Schriftstück gesetzt, sagten die einen Zeugen, andere, es sei ein Kreuz gewesen, und wieder andere hatten gesehen, wie Magister Erard ihr die Hand führte und ein verzittertes <JEHANNE> auf das Pergament brachte. Die Zeugenberichte über den Augenblick des Widerrufs sind vielfältig, denn die Aufmerksamkeit aller wurde von dem Sturm der Wut abgelenkt, der unter den englischen Herren ausbrach. Es wird erzählt, Warwick habe den Bischof angeschrien, er lasse die Angeklagte entwischen, der ganze Prozeß sei eine Farce gewesen: «Ihr habt unserm König schlecht gedient!» [79] «Ihr lügt!» schrie Pierre Cauchon; er würde alles liegen und gehen lassen, bevor ihm nicht Gerechtigkeit widerfahren sei. Er warf seine Papiere zu Boden und stampfte darauf.
Herren vom Hof mußten den Bischof und den wütenden Warwick trennen. Der Privatsekretär des jungen Königs, Lawrence Calot,* (*Aimond de Macy, dessen Aussagen mehrfach fehlerhaft sind, erzählte im zweiten Prozeß, Calot hätte Johanna zur Unterschrift gezwungen, was nicht zutreffend sein kann, da ja gerade der Widerruf die Engländer in höchste Wut versetzte.)
lief zwischen den beiden Estraden hin und her und hetzte das Volk gegen die französischen Priester auf. Man habe die Jungfrau zum Widerruf gezwungen. Die Menge drängte sich schreiend zur Estrade, Schwerter wurden gezückt, der Abt von Longueville entfloh, denn ein Teil des Volkes, das auf die Verbrennung der Hexe gewartet hatte, tobte vor Enttäuschung, andere verprügelten diese, weil sie mit dem Feinde gemeinsame Sache machten. Söldner warfen sich auf das Volk; der Tumult wurde immer gefährlicher. Sechs Zeugen berichten von dem Aufstand auf dem Friedhof für die Jungfrau und gegen die Jungfrau! Auf der Estrade der Engländer versuchte Pierre Cauchon trotz der Drohungen um ihn her, den Tumult zu überschreien; mit dröhnender Stimme rief er die Begnadigung der Angeklagten aus. Der Widerruf sei ausgesprochen worden, die Exkommunikation aufgehoben, die Jungfrau mit der Kirche versöhnt. Aber als Kirchenbuße, zu ihrer heilsamen Sühnung, solle sie ihr Leben lang im Kerker bleiben und das Brot des Schmerzes und das Wasser der Todesangst trinken. Johanna hatte nur den Spruch ihrer Vergebung gehört. Wie erlöst rief sie aus:
«Ihr Fürsten der Kirche, führt mich in Euer Gefängnis, aber laßt mich nicht mehr in den Händen der Engländer!»
Die englischen Herren fuhren von neuem auf:
«Eher lassen wir sie in Stücke reißen, als daß wir sie Euch zurückgeben!» «Führt sie zurück, woher Ihr sie geholt!»
schrie Pierre Cauchon den Wachen zu. Johanna war vor dem Feuertod gerettet, mehr konnte er jetzt nicht tun. Dann versuchte auch er eiligst zu entweichen, aber er sah sich von drohend gezogenen Schwertern umringt. Warwick selber mußte ihn schützen, so wütend er war. «Ihr habt Johanna entwischen lassen!» schrie er dem Bischof ins Gesicht. Darauf einer der englischen Ritter: «Machen Sie sich keine Sorge, Mylord, wir haben sie bald wieder!»* (* Quicherat: Prozesse, Band II, S. 376, Aussage des Jean Fave)
Auf dem Karren kauernd, erwartete Johanna, daß Jean Massieu sie nun auf einem neuen Weg zu einem kirchlichen Gefängnis führen würde; in ihrer Erregung und bei dem Geschrei von allen Seiten hatte sie die Worte des Bischofs nur halb gehört. Aber Massieu schlug den gleichen Weg ein, den sie gekommen war. O Gott, man hatte sie betrogen. Der Magister Erard hatte ihr zugeflüstert, wenn sie widerriefe, käme sie in kirchliche Obhut. Johanna, totenblaß, starr wie ein Leichnam, fuhr unter den gemeinen Soldatenschimpfworten auf ihrem Kalvarienweg dahin. Dann lag sie wieder in Ketten, angeschlossen an die rauhe, feuchte Mauer. Ein Nebel senkte sich auf sie nieder, eine Eiseskälte, in der sie tödlich allein war, getrennt von Gott und ihren Heiligen, die sie aus Angst verleugnet hatte. Stumpf, ohne Gedanken, ließ sie die Roheit ihrer Wächter über sich zusammenschlagen. Der stellvertretende Inquisitor Jean Le Maitre, de Courcelles, Loiseleur, Nicola Midi und Ysambert de la Pierre ahnten, wie schwer die Folgen des Widerrufs auf Johannas Seele drücken mußten. So begaben sie sich in den Kerker, um ihr freundlich zuzusprechen. Die Szene ist in den Prozeßakten festgehalten; es heißt dort, die Männer hätten Johanna voller Mitleid beraten: sie solle nun gleich die Frauenkleider, die Lady Bedford für sie bereithalte, anlegen, ihre Männerfrisur abrasieren lassen und eine Frauenhaube tragen. Johanna willigte stumm in alles ein. Lady Bedford, die Schwester Philipps des Guten von Burgund, war ebenso wohlmeinend, wie die Damen in Beaurevoir es gewesen. Lady Bedford hatte vor Monaten auf Wunsch des Gerichts Johannas Jungfräulichkeit bestätigen lassen. Nein, das Kind war nicht vom Teufel besessen; aber vergeblich hatte sie ihm bis jetzt ein Frauengewand aufgedrängt. jetzt endlich würde die Jungfrau ihr gehorchen. Die hohe Frau sandte ihren Haarkünstler und ihren Schneider ins Gefängnis, auch ließ sie zwei ihrerfrauen mitgehen, die Johanna vor Unschicklichkeit bewahren sollten.** (** Quicherat: Prozesse, Band II, S. 452-53)
Johanna war voller Angst, wie die Männer ihre Verwandlung hinnehmen würden; und wahrhaftig, als der Schneider Jeannotin ihr das Oberkleid überstreifen wollte, griff er nach ihrer Brust. Blitzschnell schlug die Hand der Jungfrau in sein Gesicht, und sie entwand sich ihm. Was würde ihr weiterhin geschehen? Wieder wurde es Nacht. Die Hänseleien und obszönen Späße ihrer Wächter waren verstummt, tiefe Stille war um Johanna; sie begann, sich zu besinnen. Der Morgen auf dem Friedhof stand vor ihrem inneren Auge; sie hörte wieder die Menge des Volkes - dort war der nahe Scheiterhaufen, sie sah die griffbereiten Hände des Henkers, stark und behaart. Die beschwörenden Mienen der Magister schwebten um sie, und im jagenden Klopfen ihres Herzens spürte sie von neuem die tödliche Angst vor dem Feuer. Sie war wie von Sinnen gewesen. - Und dann? Dann hatte sie aufgeschrien, es sei alles Lüge gewesen, was sie je von ihren Heiligen, von den Stimmen, von ihrer Gottgesandtheit geredet hatte! In den klirrenden Ketten warf sie sich auf ihr Gesicht: was hatte sie getan? Gott, Christus und die Heiligen verraten, aus Angst vor dem Brennen, aus Angst vor dem Tode. Ihr elender Leib war ihr wichtiger gewesen als das Eingehen ins Paradies durch das Tor der Qual. Jetzt schwiegen die Stimmen, und der Himmel war ihr verschlossen. Aber was war sie? Was waren ihre Schmerzen, ihre Verdammnis? Sie hatte das gottgewollte Werk verraten! Nun würde es überall im Lande und in der ganzen Christenheit heißen, sie sei nichts als eine der vielen Betrügerinnen gewesen; der König sei durch Betrug gekrönt, er habe recht gehabt, sie ihrem Schicksal zu überlassen. Hatten der Bischof und Erard und die freundlichen Magister sie aus Mitleid zum Widerruf gezwungen? Hätten sie doch kein Mitleid mit ihr gehabt! Was war denn ihr Verbrennungstod gegen ihren Verrat an Gott, ihren Heiligen, an ihrem König? Sie zürnte Pierre Cauchon; sie hätte ihm ins Gesicht schreien mögen, daß er, er allein schuld war an der feigen Tat, die sie begangen! Und doch - wie durfte sie ihn beschuldigen? Er schwankte wie ein Rohr zwischen Erbarmen mit ihr und der Angst vor den englischen Herren hin und her. Sie, nur sie allein war schuldig. Ihr gesamtes herrliches, gottgesegnetes, triumphales Werk hatte sie zerschlagen. War sie wahnsinnig gewesen? Johannas verstörte Seele wurde angesogen von dem Wirbel der Verzweiflung, sie niederziehend, tiefer, immer tiefer, bis das Grauen über ihren doppelten Verrat sie überwältigte. Sie verdammte sich selber, sie hätte sich das Gesicht zerreißen, sich am Boden winden mögen in ihrer wütenden Reue. Wie Sankt Petrus hatte sie ihren Herrn verleugnet, der doch immer mit tröstenden Stimmen um sie gewesen war; diese Stimmen hatte sie abgeschworen und dadurch ihren irdischen König der Schande und dem Hohn ausgesetzt. Es mag sein, daß Johanna in den Tagen, da man ihr von allen Seiten den Glauben an ihre Visionen verlachte und zerfetzte oder mit logischen Sätzen fortdiskutierte, selber gezweifelt hat, ob nicht all ihr Glück der Verbindung mit den Hohen Einbildung gewesen. [83] Aber jetzt in ihrer Entleertheit von jedem Hochgefühl wußte sie, daß <etwas>, das sie selber nicht verstand, ihr das übermenschliche Vertrauen in ihre Mission gegeben hatte und das Recht zu handeln. Es waren Tage und Nächte tiefster Verzweiflung, die über Johanna kamen. Das Weiberkleid, die Haube, diese Zeichen ihrer feigen Unterwerfung - fort damit, fort damit. Man weiß nicht, wann sie ihre Jünglingskleider, die in einem Sack im Kerker lagen, wieder anzog. Es gibt verschiedene Berichte. Der eine sagt, Johanna habe sich vor den Soldaten, sogar vor einem hohen englischen Herrn schützen müssen; der andere, es sei eine Herausforderung der Engländer gewesen, die ihr die Frauenkleider nahmen, um sie des Todes schuldig zu machen. So erhob sich außerhalb des Turmes, schon eine Woche nach dem Widerruf, ein neuer Sturm um die Jungfrau.
Am 28.Mai, einem Sonntag, als sich das Volk zur Kathedrale drängte, ging ein Gerücht, von Ohr zu Ohr geflüstert, um: die Jungfrau trägt wieder Männerkleidung. Wie sollte man diesen Ungehorsam deuten? Warum begab sie sich in neue Gefahr? Auch dem Bischof Pierre Cauchon kam die unerhörte Neuigkeit zu Ohren. Das unselige Mädchen! Was hatte es getan? Kaum gerettet, stürzte es sich zurück in die Lebensgefahr. Cauchon sandte sogleich einige Magister zu Johannas Turm; doch gelangten die Männer nicht zu ihr, denn aus dem Unterstand der Soldaten stürzten wohl zweihundert an der Zahl hervor, zogen ihre Schwerter, schrien und schimpften, die Magister seien sämtlich mit den Armagnac verbündet, Verräter allesamt! Die Wut der Engländer gegen das Tribunal, gegen die Professoren aus Paris, gegen den Bischof von Beauvais ist das klarste Zeugnis, daß die Besatzungsmacht den Wunsch der Franzosen kannte, die Angeklagte vor dem Tode zu retten, wenn auch auf dem Umweg des erzwungenen Widerrufs, auf dem Umweg der Heuchelei und der Feigheit dem Feinde gegenüber, der die Macht besaß. Die Magister und Doktoren wichen verstört vor den wütenden Soldaten zurück. Nun sandte der Bischof zwei seiner gelehrtesten Herren zu Johanna, hochstehende Würdenträger der Universität zu Paris; aber auch diese kamen blaß und zitternd, knapp dem Tode entronnen, in das bischöfliche Palais zurück. Den Sonntag über debattierten die ratlosen Herren; am Montag ließ sich jedoch der Bischof von Beauvais bewaffnete Begleiter vom Earl of Warwick geben und wanderte, also geschützt, mit einer Schar gelehrter Männer, unter ihnen Thomas de Courcelles und Ysambert de la Pierre, zu Johannas Turm. Magister Boisguillaume sollte jedes Wort, das gesprochen wurde, oder das Cauchon niederzuschreiben erlaubte, in lateinisch aufnehmen. Als die Männer in den Kerker traten, erhob die Jungfrau sich in alter, federnder Kraft von ihrem Strohlager - als Mann gekleidet. «Was soll das heißen?» schrie ihr Cauchon zornig entgegen. «Ja, ich habe die Männerkleidung wieder angenommen.» «Warum? Wer hat Euch befohlen, sie wieder anzulegen?» «Niemand. Ich selbst tat es freiwillig.» «Ihr hattet versprochen und geschworen, sie nicht wieder anzulegen!» «Ich habe sie wieder angezogen, weil Ihr nicht Euer Wort gehalten habt. Ich sollte die Messe hören und den Leib des Herrn empfangen dürfen, und Ihr versprachet mir, mich aus den Eisenfesseln zu lassen.» «Aber Ihr habt abgeschworen und versprochen, diese Kleidung nicht wieder zu tragen.» «Ich will lieber sterben, als in Fesseln zu sein! Wenn man mich zur Messe gehen läßt und mich in ein anständiges Gefängnis bringt und eine Frau bei mir läßt, dann will ich mich fügen und tun, was die Kirche mich heißt.» Hier muß Johanna von ihrer schweren Reue und ihrer eigentlichen Rückfälligkeit in den Glauben an ihre Verbundenheit mit der Welt Gottes gesprochen haben, denn nach einer offensichtlichen Auslassung fragt der Bischof: «Habt Ihr Eure Stimmen seit Donnerstag gehört?» «Ja.» «Was haben sie Euch gesagt?»
«Gott hat mir durch die heilige Katharina und die heilige Margareta den großen Jammer meines Verrats zu wissen getan, in den ich mit meiner Abschwörung gewilligt habe - um mein Leben zu retten... Wenn ich sagen würde, Gott hätte mich nicht gesandt, so würde ich mich selbst verdammen.»
Und in dem strahlenden Mut ihres Märtyrerwillens:
«Es ist die Wahrheit, daß Gott mich geschickt hat!»
Und leise, in dem Grauen vor ihrer eigenen <Schlechtigkeit>, von der die Stimmen ihr gesprochen haben:
«Es war aus Angst vor dem Feuer, daß ich das gesagt habe.»
Der Bischof rekapituliert ihre Handlungen im Moment, da sie auf dem Gerüst stand; und noch einmal sagt Johanna beschämt:
«Alles, was ich getan habe, geschah aus Angst vor dem Feuer. Was ich widerrufen habe, war gegen die Wahrheit... Ich habe nie etwas gegen Gott oder den Glauben getan, obwohl Ihr mich gezwungen habt, zu widerrufen. Von dem, was in der Abschwörungsurkunde stand, habe ich nichts verstanden.»
Hier war noch eine letzte Chance für die Jungfrau! Auf ihr <Nicht-Verstehen> hin verlangte der Abt von Fécamp am nächsten Tag bei einer Unterredung im bischöflichen Palast, Johanna den Widerruf nochmals vorzulesen und seine Erläuterung mit einer Darstellung von Gottes Wort zu bekräftigen. Dann fügte er in der ganzen Unlogik, die sein Doppelspiel verraten, hinzu: «Allerdings müssen wir Richter sie als <Rückfällige> der Ketzerei beschuldigen und sie der weltlichen Gerichtsbarkeit ausliefern.» Und danach wieder er selber: «Doch wollen wir sie bitten, mit Johanna milde zu verfahren.» Alle Anwesenden stimmten diesem Entscheid zu, auch Johannas Freunde. Man war nicht unter sich, denn an dieser Sitzung nahm Robert Gilbert, der Dekan der Kapelle des kleinen Königs Heinrich VI., teil; so stimmten alle Anwesenden dafür, Johanna der Ketzerei zu beschuldigen und sie dem weltlichen Gericht auszuliefern. Nur Ysambert de la Pierre wiederholte wörtlich das Verlangen des Abtes von Fécamp, der Angeklagten nochmals den Widerruf vorzulesen und ihn zu erläutern; das entsprach der geheimen Hoffnung der Freunde Johannas, sie möchte nun ihre <Rückfälligkeit>, den <relapse>, widerrufen, damit sie doch die Gefangene der Kirche bleiben könne. Bei der Abstimmung über diesen Beschluß schlossen sich vierunddreißig der Anwesenden der Meinung des Abtes von Fécamp an, darunter der Arzt Jean Tiphaine, Nicolas Loiseleur, Martin Ladvenu und Thomas de Courcelles. Auch der Bischof von Beauvais, der vielverschriene Pierre Cauchon, konnte sich noch nicht mit der Überantwortung Johannas in englische Hände abfinden. In seinem Zitationsschreiben an die Priesterschaft von Rouen, in dem er sie auffordern mußte, die Pucelle am kommenden Morgen um acht Uhr, Mittwoch, den 30. Mai 1431, auf den Altmarkt zu Rouen zu führen, damit sie dort für rückfällig, exkommuniziert und als ketzerisch erklärt werde, fügte er einen Satz ein, der deutlich erkennen läßt, daß die Geistlichkeit von Rouen - obwohl sie normannisch und den Engländern untertan war dennoch im geheimen auf Johannas Seite stand und mit der Überantwortung an das englische Gericht nichts gemein haben wollte. Der Satz lautet: «Wir befehlen einem jeden einzelnen von Euch, daß Ihr, ohne aufeinander zu warten oder Euch gegenseitig für entschuldigt zu halten, die besagte Johanna auffordert, in Person vor Uns zu erscheinen.» Dann wurde es Abend, und es kam die Nacht, die Johannas letztem Tag voranging. Einsam, von aller Welt verlassen, durchkämpfte sie in ihrem Kerker die Todesangst vor dem Feuer. Auf dem Rand ihrer Lagerstatt sitzend, hielt sie wohl ihr Gesicht in den verschränkten Armen verborgen, wie sie es so oft getan hatte. Würde sie heute noch zu Asche zerfallen? Vielleicht hat sie sich aufgereckt und ihre Hände betrachtet, sie vor sich hingehalten, ihre Wangen befühlt - ihr lebendiges Fleisch, warm und weich - und so bald schon nichts mehr - nichts mehr! Und am jüngsten Tag, da würde ihr Gebein nicht auferstehen können! Aber ihre Seele konnte nicht verbrennen, nein, ihre Seele nicht. War die entsetzliche Qual, die sie erleiden mußte, das Tor zum Paradies? Wenn die Sonne, die über kurzem aufging, am Abend niedersank, würde sie dort sein, wo Ruhe vor der Welt, wo Erlösung von den Menschen, wo Liebe, Barmherzigkeit und ewige Seligkeit herrschen. Hoffnung und Trost in diesen Nachtstunden, da Johannas ganzes Wesen sich dem zuwandte, was ihr Glaube umschloß. Und die Menschen in der Burg, in den Klöstern, in den Bürgerhäusern? Schliefen sie einem Schauspiel entgegen, das man ihnen schon seit langem versprochen hatte? Nein, Rouen wachte und brodelte von Unruhe. Der Mond war voll und spiegelte sich leuchtend in der Seine; er versilberte die Erlöserkirche, die weiße Mauer des Friedhofs, den unvollendeten Justizpalast, das Rathaus und die hölzerne Fleischhalle, alle Gebäude, die den Altmarkt umrahmten, als wollte er den Ort eines heiligen Geschehens schon im voraus weihen. Eine warme, helle Nacht voll blühender Kraft des jungen Sommers. Aber der Tag, den sie gebären sollte, würde von dunklen Schrecken erfüllt sein; und dennoch sollte dieser 30. Mai 1431 in die Geschichte der Menschheit als einer der hellsten Tage eingehen, weil an ihm hohe Gesinnung und Glaubensmut über alles Irren und alle Bosheit der Mitwelt triumphierten.
Auf dem Altmarkt wurden schon um drei Uhr früh die Estrade für die Richter und das Gerüst, auf dem die Jungfrau, allem Volke sichtbar, das Todesurteil vernehmen sollte, erbaut. In der Mitte des Platzes errichteten Maurer ein Postament aus Holz und Kalk, befestigten Stufen daran und zuoberst den Pfosten, an den das Opfer geschnürt werden sollte. Sie ließen ihre Lehrbuben Reisigbündel zu Haufen schichten und armesdicke Baumäste aufrecht stellen. Der Henker von Rouen, ein würdiger Mann, der unter Gebeten seines schweren Amtes zu walten pflegte, betrachtete das Werk; denn es lag in der Macht der Henker - das wird in den Chroniken aus verschiedenen Gegenden hervorgehoben - die Qual der Verurteilten zu verkürzen. Die Jungfrau würde sehr hoch stehen, damit jedermann den Tod überwachen könne. Aber hoch oder niedrig, der Wind, der hier, nicht fern vom Meer, niemals ruhte, würde ihm, dem Henker, zu Hilfe kommen. Er mußte das Feuer nur dort entzünden, von wo der Wind kam, damit der erstickende, hilfreiche Rauch das Haupt des Opfers umwehe. Die Bürger von Rouen, ebensosehr von Schaulust wie von Mitleid bewegt, hatten keinen Schlaf gefunden. Seit einem halben Jahr war das wunderbare Mädchen unter ihnen, und die höchsten geistlichen und weltlichen Herren zankten sich um ihre Schuld oder Unschuld. Die englischen Soldaten verschrien die Jungfrau als Hexe. An ihrem Sterben würde man sehen, ob sie Hexe oder Heilige war. Wer um den Altmarkt wohnte, bereitete Schauplätze an den Fenstern, Türen und auf dem Dach vor. Die englischen Herren - unter ihnen der Kardinal Henry Beaufort, Bischof von Winchester, und der Earl of Warwick - werden wohl von ihrer Ungeduld wachgehalten worden sein, endlich, ein Jahr nach der Gefangennahme des Mädchens, ihren Tod als eri klärte Hexe zu erleben, endlich aller Welt erklären zu können: die Macht des Teufels hat unsere tapferen Truppen durch Zauberwerk besiegt! Wenn es nur erst geschehen wäre! Diese französischen Kirchenfürsten und Doktoren aus Paris würden bis zum Ende versuchen, die Jungfrau zu retten. Doch das brauchten die Landesfeinde nicht zu fürchten. Monseigneur Pierre Cauchon wußte, daß Johanna verloren war, aber er wollte ihr den ersehnten Trost gewähren, zu beichten und den Leib des Herrn zu empfangen. Er sandte zu frühester Stunde die beiden Predigerbrüder Martin Ladvenu und Ysambert de la Pierre in den Kerker. Johanna saß in Ketten regungslos auf dem Rand ihres Lagers, die Hände aufgestützt, den Kopf erhoben, als lausche sie auf unhörbare Stimmen. Bruder Martin zog ihre Hände in Erbarmen an sich und sagte leise: «Johanna, Eure Sterbestunde ist gekommen», und als sie entsetzt aufschrie. «Johanna, verzagt nicht, Ihr sollt beichten, und ich werde Euch die Absolution erteilen - einer erklärten Ketzerin und Hexe - seht, die heiligen Gerätschaften werden gebracht.» Aber wie nachlässig wurden sie über die Schwelle getragen; keine Kerzen, kein Meßgewand, das Bruder Martin zustand, keine Knaben, die den Gang der heiligen Handlung begleiteten, wie es vorgeschrieben war. Bruder Martin sandte Ysambert fort, alles Nötige herbeizuschaffen. Dann wandte er sich wieder Johanna zu, die fassungslos schluchzte. «Ach, ach», rief sie Bruder Martin zu, «warum behandelt man mich so grausam? So soll mein Körper, der heil und unberührt ist, zu Asche verbrennen? Lieber siebenmal geköpft werden als verbrennen! Warum hat die Kirche mich nicht behalten? Ich klage vor Gott, dem allmächtigen Richter, daß Ihr mir bitter Unrecht tut!» Hier traten Pierre Maurice und Nicolas Loiseleur ein, um sie zu versöhnenden Worten über ihre <Stimmen> zu bewegen. Pierre Cauchon hatte sie gesandt; vielleicht, daß Johanna noch einmal im letzten, allerletzten Augenblick zurückschwenkte und ihre Stimmen und Visionen als Betrug erklärte? Eine widerspruchsvolle und verworrene Szene, die erst lange nach Johannas Tod bekanntgegeben wurde. Aber das haben die Zeugen bestätigt, daß der Bischof von Beauvais in Person, voller Sorge, noch einmal zu der Verlorenen trat. Als Johanna ihn sah, rief sie in bittrem Vorwurf aus: «Bischof, ich sterbe durch Euch!» Cauchon legte seine Hand auf ihren geschorenen Kopf: «Johanna, Ihr habt es Euch selber zuzuschreiben.» Er wußte, was er damit sagte, und daß es die Wahrheit war. Dann verließ er mit einigen der anderen geistlichen Herren den Kerker. Inzwischen hatte Bruder Ysambert das Erbetene für die letzte Messe erhalten. Die Kerzen brannten und ließen die heiligen Geräte erstrahlen, hinter den Mauerschlitzen stand der tiefblaue Himmel; kein leuchtendes Kirchenfenster hätte schöner sein können. Der düstere Kerker war zur Kapelle geworden. Johanna kniete vor Bruder Martin und empfing aus seiner Hand den Leib des Herrn, die ersehnte Gnade nach so vielen Monaten der Entbehrung. Es mag in diesem geheiligten Augenblick gewesen sein, daß die Erkenntnis in Johannas Geist auf leuchtete: nicht die irdische Befreiung, um die ich meine Heiligen so tausendfach angefleht habe, soll mir zuteil werden, sondern der Eingang in das Paradies durch das Tor des standhaften Erduldens, als ein Zeichen, daß ich Gottes Kind war und bin. Noch wagte sie kaum, sich an diesem glückseligen Wissen aufzurichten. Noch vor wenigen Augenblicken hatte sie gestanden, sie verzage an ihren Heiligen. Aber jetzt fragte sie zaghaft Pierre Maurice, der betend der Messe beigewohnt hatte: «Magister Pierre, wo werde ich heute abend sein?» «Vertraut Ihr nicht auf Gott, Johanna?» sagte er ermutigend und schien vergessen zu haben, daß sie der Verdammung durch die Kirche entgegenging. Johanna hörte aus seinen Worten, was sie selber glaubte. «Ja, ja», rief sie aus, «so Gott will, werde ich heute noch im Paradiese sein» Es war fast neun Uhr geworden; die Menge wartete seit Stunden auf das große Schauspiel. Johanna kauerte zwischen Martin Ladvenu und Jean Massieu auf dem Karren. Die Guten konnten ihre Tränen nicht zurückhalten, wenn sie auf das junge Geschöpf in seinem langen, weißen, hemdartigen Gewand blickten und auf die Frauenhaube, deren Bord sie vornübergeklappt hatte, so daß ihr Antlitz verborgen war. [84]
Ysambert de la Pierre, Johannas guter Engel, hielt sich nahe am Karren, als könnte er sie dadurch vor den Schimpfreden der johlenden englischen Soldaten schützen. Etwa achtzig Mann, mit Schwertern und Äxten bewaffnet, umgaben den Karren, als führten sie einen Mörder zur Richtstätte. Und es war doch ein Maientag, ein Tag der Jugend in all seiner strahlenden Schönheit; aber gefühllos für Menschenleid und Menschenfreude wandelte die Sonne am blauen Frühlingshimmel dahin. Vor dem Tor des Schlosses und in den nächsten Gassen war es leer und drückend still; aber ein auf- und abschwellendes Brausen drang vom Altmarkt her. Im Anblick der Menge, dieser Wand von Gesichtern, die bis über den Rand der Dächer reichte, zog Johanna sich in sich zusammen: da war der Feind <Mensch>, der sich ihres Todes freute, wie eine einzige helle Masse vor ihr: ein Gesicht schien es, das sie anstarrte - das Gesicht ihres Schicksals. Hunderte von Bewaffneten hielten die Menge von den Aufbauten fern, denn die Engländer waren nicht sicher, ob sie sich nicht plötzlich auf die Verurteilte stürzen würde, die einen, um sie zu bespeien und zu prügeln, die andern, um sie den Soldaten zu entreißen. Einen Augenblick schien es, als drohte die Erregung sich gegen die Feinde der Jungfrau werfen zu wollen. Aber die Masse Mensch überspringt auch in der höchsten Wut ihres gerechten Zornes nur selten, sehr selten den Graben der Angst vor den wenigen, die die Macht in den Händen halten; die Menge knurrt, aber sie beißt nicht. Man sah die <Pucelle d'Orléans>, wie sie in der ganzen Christenheit hieß, erst, als sie auf ihrer Estrade aufrecht stand. Nicola Midi hielt eine lange Predigt. Hörte Johanna den Inhalt? Wohl kaum; sie war in ihrer Himmelssehnsucht schon weit fort. Aber dann schien sie zu lauschen, als der Magister mit bebender Stimme zu ihr hinüberrief: «Johanna, gehe in Frieden, die Kirche kann dich nicht länger beschützen. Wir übergeben dich den weltlichen Händen!» Da warf sie sich auf die Knie, nicht von Angst gefällt; sie war schon nahe Gottes Thron, aber noch einmal zur Erde zugekehrt. Sie bat ihre Freunde und Feinde, für sie zu beten und sagte laut mit ihrer Siegerstimme, die einst Tausende mitgerissen hatte:
«Ich vergebe allen, die mir Leid angetan haben.»
Sie bat um Verzeihung für das Ungemach, das sie Franzosen und Engländern zugefügt habe. Ihre letzten, festen Worte:
«Ich wurde niemals von meinem König dahin geführt, zu tun, was ich getan habe, sei es im Guten, sei es im Bösen.»
Diese Worte eines neunzehnjährigen Mädchens, das sie alle an moralischem Mut hoch überragte, überwältigten ihre Richter so sehr, daß viele aufschluchzten und sich in Tränen abwandten. Loiseleur, der angebliche Aushorcher und Verräter, war so erschüttert, daß er stöhnend und sich die Haare raufend davonstürzte, von den Soldaten laut verhöhnt; sie hatten auch zu Johannas Worten laut gelacht, und jetzt, als die Predigt von neuem anheben wollte, rief einer der Bogenschützen zur Estrade hinauf: «He, Priester, willst du uns hier zu Mittag essen lassen?» Manchon stieß ihn fort und drängte sich, ebenfalls mit Tränen, die ihm über das Gesicht liefen, durch die gaffende Menge davon; er konnte nicht ertragen zu sehen, was jetzt kommen mußte. Ihm folgten die vor Erschütterung heiseren Worte des Bischofs: «Johanna, wir sprechen dich schuldig der Ketzerei und des Rückfalls. Sei ausgestoßen aus der Gemeinschaft der Christen. Wir stoßen dich von uns, wir entreißen dich der Kirche, wir verlassen dich. Möge das weltliche Gericht dir milde begegnen.» Ausgestoßen aus der Gemeinschaft der Christen; und doch hatte der Bischof der Ketzerin alles zu geben erlaubt, was die Kirche einem Sterbenden auf den Weg ins Jenseits zu geben gehalten ist. Ein Doppelspiel fürwahr! Aber Johanna hörte nur den grauenvollen Spruch, der sie in den Abgrund ewiger Verdammnis stieß. Als die Worte des Bischofs über der atemlosen Stille des weiten Platzes verhallten, hörte man nur noch Johannas verzweifeltes Schluchzen. Bruder Martin bemühte sich um sie, aber er vermochte sie nicht aufzuheben. Zu Füßen der Estrade stand ein englischer Wächter mit dem Beil über der Schulter. Er warf es zu Boden, bückte sich, raffte zwei Holzstäbchen auf, fand ein wenig Stroh und band sie zu einem Kreuz; er reichte es der Verdammten hinauf, und Johanna griff nach dem Kreuz wie eine Ertrinkende, küßte es, barg es an ihrer Brust und vermochte sich, von Bruder Martin gestützt, zu erheben. In keinem Bericht, der in den fünfhundert Jahren seit Johannas Tod geschrieben wurde, in welcher Sprache es sein mag, fehlt die Beschreibung der Gabe des Kreuzes aus der Hand des Feindes an die einstige Siegerin; es ist, als habe jeder der Schreibenden gespürt, wie hier hohe Gesinnung zur Sühne für viel Böses wurde. Die Unruhe auf dem Platz für und wider die Priester wurde bedrohlich. Bei andern Hinrichtungen ließ der Schultheiß der Stadt Rouen, der Sitte gemäß, das Volk den letzten Verdamrnungsspruch tun; jetzt durfte er es nicht wagen, sich an die Menge zu wenden. In Angst vor den bewaffneten Engländern gab er rasch das Zeichen mit der Hand: «Nehmt sie, nehmt sie!» ausrufend. Sofort rissen mehrere Hände Johanna von der Estrade herunter, zerrten ihr die Haube vom Kopf und stülpten ihr die Schandmitra auf das geschorene Haupt: Ketzerin - Abtrünnige Rückfällige - Teufelsanbeterin - war mit dicken schwarzen Lettern daraufgeschrieben. Wo war der Henker? Hier! Auf den Karren! Zum Scheiterhaufen! jedes andere Opfer hätte aufgeschrien vor Angst und sich angeklammert, wo es nur Halt finden konnte und sich gewunden, um das Entsetzliche noch um ein weniges hinauszuschieben. Nicht so Johanna. Von der Jungfrau war jede Furcht abgefallen, ihr Antlitz leuchtete in Verklärung. Bruder Ysambert ging neben ihr her. Allein stieg sie die Stufen zum Scheiterhaufen hinauf. Hinab stiegen von der Estrade der hohen Geistlichkeit und des englischen Hofes - stiegen, stolperten, drängten einander hinunter - der Bischof von Beauvais, der Kardinal Winchester, Warwick und die anderen Herren, so rasch sie konnten, um das Gräßliche nicht mit ansehen zu müssen. Maitre Jean Alepsée stöhnte auf: «Ich wollte, meine Seele wäre, wo die Seele dieses Mädchens ist!» Bruder Ysambert, Ladvenu und der Gerichtsdiener Massieu verließen Johanna nicht, bis sie hoch oben auf dem Schafott stand; sie rief nach einem Kreuz aus der Kirche und streckte die Hände flehend aus. Bruder Ysambert eilte davon und ergriff in der nahen Erlöserkirche ein Prozessionskreuz an langer Stange. Er hielt es Johanna hin. Einmal konnte sie es an sich drücken und küssen. Dann bog man ihre Arme zurück und schnürte sie fest an den Pfahl. Ihr Antlitz blieb auch jetzt ruhig, ihre Augen verloren das Leuchten nicht, sie lächelte wie ein Kind, das keine Gefahr kennt; man hörte sie vertraulich zu Sankt Michael, zur heiligen Katharina und zur heiligen Margarete reden. Bruder Ysambert hatte das Schafott erklettert, um ihr beizustehen. Er wußte nicht wie, aber er konnte diese Heldin ihres Glaubens nicht allein lassen. Da begannen unten, an der Seite des Reisigwalls, die Hölzer zu zischen und zu knistern, Flammen loderten auf. Johanna rief Ysambert zu, sich zu retten, und dann, in die Flammen blickend, schrie sie mehrmals in großer Not: «Jesus! Jesus! Jesus!» Jetzt blies der Wind den dichten Rauch der Jungfrau um das Haupt, er hüllte sie ein, sie war den Blicken entzogen; noch ein einziger erstickter Schrei: «Jesus!», und schon sank, zwischen den windzerfetzten Rauchschwaden sichtbar, Johannas Haupt im Tode zur Seite. [85]
Da ließ der Henker das Feuer hoch auflodern. Unter Schreien und Stöhnen des Volkes brannten die Äste und Reisigbündel nieder. Und dann befahl der Schultheiß, das Feuer auseinanderzureißen, damit die Leute den Tod der Hexe von Mund zu Mund verbreiteten, aber nur noch der nackte Pfahl war, schwarz verkohlt, zu sehen. Der Henker und der Schultheiß stöberten in der Asche, um zu sehen, ob auch nichts geblieben war, was das Volk als Reliquie an sich reißen könnte. Da - das Herz! Das Herz war nicht verbrannt! Tragt es fort, rasch! Werft es in die Seine, aber heimlich! Der Mann windet sich unbeachtet mit dem verhüllten Herzen durch die Menge, die den Platz zu stürmen beginnt. Der Henker hat den Fluß erreicht, er schleudert das, was von der Jungfrau geblieben ist, weit von sich. Die Wellen der Seine nehmen das Herz des Heldenmädchens auf und tragen es dem Meere zu, dem schönsten Grab auf dem Erdenrund. Der Henker ist davongestürzt, zu den Brüdern des Klosters Saint-Ouen, sich anklagend, sein Seelenheil sei dahin, er habe eine Heilige verbrannt. Der Henker war nicht allein in seiner Reue; auch ein Engländer schrie in einer Taverne: «We burnt a saint, we burnt a saint!»* (*»Wir haben eine Heilige verbrannt!«)
Ein gefährlicher Ausruf, wenn er bis zu den Ohren des Schultheißen drang; die Bürger flüsterten nur hinter der Hand, was sie ängstigte, was sie erschreckte und was sie glaubten. Was kümmerte das die englischen Herren am Hofe des jungen Königs? Triumphierend jagten sie ihre Sendboten aus den Toren der Stadt: die Hexe sei vernichtet; das sollten sie dem Kaiser, dem Papst, allen Fürsten der Christenheit, den Herzögen, Grafen, Prälaten und den Bürgern der Städte Frankreichs bekanntgeben. Und es drang das Triumphgeschrei bis zu Karl VII., zu seiner Gattin Marie, zur guten Königin Yolanda, zum Herzog von Alencon, zum Bastard von Orléans, zum getreuen d'Aulon, nach Orléans und nach Reims und in alle befreiten Städte; und es senkte sich wie dunkler Nebel über das ganze Land Frankreich.