Die Verhöre
Jean de Ligny et de Luxembourg fürchtete, je weiter das Jahr fortschritt, desto mehr, daß ihm seine Gefangene eines Tages entführt würde. Er war nur selten in Beaurevoir anwesend, und seine drei Damen waren der Jungfrau zu sehr geneigt, als daß sie gewissenhafte Hüterinnen hätten sein können. So bat er im November 1430 seinen Lehnsherrn, Philipp den Guten, er möge ihm gestatten, die Pucelle d'Orléans, die ja nun den Engländern gehöre, an einen sicheren Ort zu bringen. Der Herzog von Burgund war einverstanden. Johanna solle in das feste Schloß zu Arras geführt werden, aber sie werde dort nur einen kurzen Aufenthalt nehmen, denn ihre Überführung nach Rouen, dem Ort des Prozesses, stehe bevor. Es war im November, als Johanna eines Tages in die Hände der Engländer, die sie zu begleiten hatten, gegeben wurde; in die Hände feindlicher Soldaten. Jean d'Aulon wurde mit Johanna zugleich davongeführt, aber was konnte er, der selber ein Gefangener war, zu ihrer Sicherheit beitragen? Daß der Jungfrau auf der Reise nichts geschah, verdankte sie dem strengen Befehl, die kostbare Gefangene lebend und gesund im Königsschloß zu Rouen abzuliefern. Die Tage waren kurz, und man ritt nur bei Tageslicht, immer in der Sorge, es könne ein Überfall zur Befreiung des Mädchens ausgeführt werden; aber ungefährdet gelangten die Engländer von einem Nachtquartier zum andern. Johanna wußte nicht, wo sie sich befand, der Dezember war angebrochen. Eines späten Nachmittags sah sie die Türme einer starken Festung vor dem grauverhangenen Himmel aufragen, sie spiegelten sich in der bleifarbenen Somme, an deren Ufer die Reisegesellschaft entlang ritt. Das Meer war nahe, ein winterlicher Sturm brauste Johanna entgegen, Salzgeschmack auf ihre Lippen bringend. Sie fragte, wie das Schloß heiße. Crotoy, an der Mündung der Somme. Die Begleitmannschaft führte Johanna aufwärts zum Tor, und dann sah sie - das Meer.
Zum ersten Male in ihrem Leben erblickte Johanna die See, eine graue, wogende Masse, die sich mit dröhnendem Rauschen an den äußersten Mauerwerk brach. In der Ferne schien das Meer unbewegt, auf dem die englischen Schiffe zur französischen Küste daher zu kommen pflegten. Das Meer, von dem Alencon, ihr Beau Duc, so oft erzählt hatte, denn diese gleiche Festung, deren Tore sich für einige Tage vor ihr öffneten, hatte fünf Jahre lang den jungen Alencon als englischen Gefangenen beherbergt. Er war in fürstlichem Gewahrsam gehalten worden; wie beruhigt war Johanna, als der Kommandant der Festung auch ihr ein Gemach und keinen Kerker anwies. Als sie wenige Tage später weiter zog, wird sie sorgenvoll mit d'Aulon besprochen haben, ob man ihr auch im Königsschloß zu Rouen eine würdige Unterkunft zuweisen werde, war sie doch die Gefährtin eines Königs und der Höchsten seines Landes gewesen. Würde man sie von Damen bewachen lassen wie in Beaurevoit? In dem gleichen Komplex der Burg, in den Johanna geführt wurde, lebte in königlichen Gemächern der Knabe, Heinrich VI., umgeben von seinen Hofbeamten und Räten, unter denen Warwick die hervorragendste Gestalt war, umgeben von Dienern, deren Wappenröcke die englischen Löwen und die französische Lilie zeigten. Unter dem Baldachin mit den gleichen Emblemen seines Doppelkönigtums sitzend, mit großem Pomp dem hohen Adel dieser Provinz und den normannischen Untertanen dargestellt, wußte der achtjährige König kaum etwas von der Jungfrau aus dem Volke, die ihm so nahe war und die dereinst seinen Königsglanz in der Erinnerung der Menschen himmelhoch überstrahlen sollte. Jetzt, in diesem Dezember 1430, war sie in alle Tiefen der Mißachtung gestoßen. Man hatte Johanna sogleich von d'Aulon getrennt und nicht in das bewachte Frauengemach, das das Schloß besaß, sondern in eine Turmkammer aus mächtigen unverputzten Steinen geführt. Der Raum lag in einem der Türme, die rückwärts ins Land schauten. Doch davon sah Johanna nichts, denn nur durch einen hochgelegenen Mauerschlitz drang spärliches Licht. Mit keinem Blick vermochte sie die Außenwelt, die Freiheit, zu erspähen. Johanna mag der Herzschlag gestockt haben, als sie sah, was die Feinde ihr bereiteten. Eben noch war sie frei durch das Land geritten, sie hatte ihre jungen Glieder bewegen dürfen; jetzt hatten rauhe Hände sie auf eine Schütte Stroh niedergedrückt, Soldaten ihre Füße gepackt, einen kurzen Holzbalken dazwischengepreßt und um die Knöchel eine Kette gelegt, die an der Mauer befestigt wurde. So sagten später einige Zeugen aus, andere erwähnen den Knüppel nicht, aber sie sprechen von einer zweiten Kette um ihren Leib. Von nun an waren ständig englische Soldaten um Johanna, die sie verhöhnten, mißhandelten und ihre Unberührtheit bedrohten. Einmal wurde sie, als man ihre Hilfeschreie hörte, vom Grafen von Warwick gerettet. Gefesselt, im Halbdunkel, rohen Gesellen ausgeliefert, fern den Tröstungen der Kirche, fragte sie sich wohl, ob sie auch vom König und von allen Franzosen, denen sie ihr Leben geweiht hatte, verlassen sei. In den langen Tagen und Nächten ihres Dahindämmerns müssen bittre Zweifel sie bedrängt haben: warum hatte der König sie nicht ausgelöst, warum hatte die Stadt Orléans nicht den Engländern und Burgund die Summe hingetragen, die sie hätte freimachen können? Warum hatte Reims, das sie gefeiert hatte wie ein Kind der Stadt, Karl nicht bestürmt, sie mit Gewalt dem Feinde zu entreißen? Und all die andern Städte, die ihr die Befreiung dankten? Compiègne, wo sie zum letztenmal im Namen Gottes ihre Standarte entfaltet hatte? Wenn die Jungfrau in dunklen Stunden das Verhalten der Ihren nicht begriff, so hatte sie die Welt der Großen doch zur Genüge kennengelernt, um die Schwierigkeiten, die ihre Freunde hinderten, zu ahnen. Vielleicht, daß sie im Geheimen für sie wirkten? Aber wenn auch die Menschen sie verließen, so war doch der Himmel offen für ihr Gebet, für ihr Vertrauen. Gewiß, ihr würde Hilfe aus der seligen Höhe kommen. Ihr Kerker wurde licht und warm, wenn ihre Heiligen, Margarete, Katharina und Michael, zu ihr traten und sie lautlos mit ihnen reden konnte. Ein Trost, den ihr Glaube schuf, ein Trost, der ihr Wirklichkeit bedeutete, an dem sie reifte, der sie unverletzlich machte, ihr Heiligstes, vor dem jede Menschenfurcht und jedes Todesgrauen dahinschwand. Ein Glaube aber auch, der sie zur Demut und zur Selbstprüfung zwang, zum Begreifen, daß der Mensch nicht durch irdische Triumphe, sondern durch Leiden der göttlichen Gnade näherkommt. Sie lernte ihre Leiden zu tragen wie ein Geschenk des Himmels. Die Zeugen im Rehabilitationsprozeß, die Johanna in ihrer Gefangenschaft gesehen, erzählen von ihrer übermenschlichen Fassung und ihrem seligen Vertrauen, in dem sie ausrufen konnte: «Jesus und meine Heiligen werden mir helfen!» Johanna war jung und voller Lebenskraft, sie wollte nicht sterben; sie wollte keine Märtyrerin sein, hatte sie doch nicht um Glaubensfragen gekämpft wie die Hussiten, von denen man ihr so viel erzählt hatte, oder wie die Lollarden oder die Albigenser, von denen sie auch gehört, Menschen, die von der Kirche um ihrer Irrtümer willen verfolgt wurden. Sie fühlte sich einig mit der christlichen Glaubenslehre, sie war Gottes Kind, sie hatte Gott nie gekränkt. Mit welchen Beschuldigungen konnte die Kirche sie zur Hexe erklären? Sie war unschuldig, die Kirche mußte sie freisprechen! Die Eisenketten würden fallen, sie würde die Sonne wiedersehen und heimkehren in das Land, das ihrem König gehörte. Mit Ungeduld erwartete sie das erste Verhör. Aber es dauerte drei lange Wintermonate, während Eiseskälte in ihrem Kerker herrschte und sie, angeschlossen an die Mauer, fast ohne Nahrung auf dem Stroh lag, so daß sie Zeit hatte, über das Rätsel ihrer Mission, die so rasch ein Ende gefunden hatte, nachzugrübeln.
Erst Ende Februar 1431 wurde sie zum ersten Verhör geholt. Welcher Glaube an den göttlichen Beistand, welcher Schatz an rnoralischer Stärke, welche Quelle physischer Kräfte waren ihr eigen, daß sie ungebrochen, ja, geistig gewachsen vor ihre Richter treten konnte. Am 21. Februar löste Jean Massieu, ein einfacher, freundlicher Priester im Dienste der Richter, ihre Ketten und führte sie hinaus ins Licht, in die freie Luft, zu Bewegung und Aufatmen. Johanna war glücklich, über mehrere Höfe gehen zu müssen, bevor sie die königliche Kapelle erreichte, in der die Sitzung abgehalten wurde. Noch gestern hatte man ihr den kirchlichen Beistand verweigert; jetzt, da sie über die Schwelle der Kapelle trat, muß es ihr gewesen sein, als käme sie in den Himmel. Es leuchtete wohl die erste Frühlingssonne durch die bunten Scheiben und spielte auf den kostbaren Geräten des Altars, fing sich im Licht der Ewigen Lampen und ließ die Kronen der Heiligenfiguren aufleuchten; Johanna sah nur den geweihten Ort. Das Gemurmel der vielen Männer, die auf ihr Erscheinen gewartet hatten, mag ihr wie das ferne Rauschen des Meeres erschienen sein, das sie im November in Crotoy hatte brausen hören. Die vier Herren, die das geistliche Gericht präsidierten unter ihnen, auf dem Thron des Vorsitzenden, Monseigneur Pierre Cauchon, der Bischof von Beauvais - waren in ihre leuchtenden Gewänder und Mitren gekleidet. Die dreiundvierzig Beisitzer, Äbte berühmter Klöster, Professoren der Theologie, Doktoren beider Rechte und der Medizin, Domherren des Kapitels von Rouen, Mönche, Notate, Gerichtsdiener, sie waren eine dunkle Masse, in der Johanna noch keine Personen zu unterscheiden vermochte. Wahrhaftig, die raunenden, murmelnden Beisitzer waren wie das Meer, dem Johanna, schmal und blaß, in ihrem abgetragenen jünglingsgewand, auf der kleinen Insel ihrer Unschuld gegenüberstand [66], Pierre Cauchon stellte der hohen Versammlung das Mädchen Johanna, das in seiner ihm geraubten Diözese gefangen worden war, mit den Worten vor: «Das Mädchen ist verschiedener Vergehen gegen den rechten Glauben angeklagt, wovon die ganze Christenheit Kenntnis hat. Der allerchristlichste König und Herrscher, unser König Heinrich VI., hat sie uns übergeben, um einen Prozeß in Sachen des Glaubens gegen sie anzustrengen.» In Sachen des Glaubens? denkt Johanna erschrocken. Gewiß wollte man sie wieder wie darnals in Poitiers, und seitdem so oft, über ihre Stimmen, ihre (Räte) ausfragen; aber keinem Menschen vermochte sie zu erklären, was es mit ihnen für eine Bewandtnis hatte, verstand sie doch selber dieses Wunder nicht. jetzt hörte sie den Fürsten der Kirche sagen: «Johanna, nun leistet den Eid auf die Evangelien, daß Ihr alle Fragen, die wir Euch stellen, wahrheitsgemäß beantworten wollt.» Sehr höflich und in aller Einfachheit sagte Johanna: «Ich weiß nicht, worüber Ihr mich befragen wollt. Es gibt vielleicht Fragen, die ich nicht beantworten werde.» Eine allgemeine Bewegung der Bestürzung über die selbstbewußte Antwort verursachte ein leise wogendes Geräusch.
Der Bischof von Beauvais blieb ruhig. Er erklärte, es handle sich um Glaubensfragen. Nun war das arme Kind sicher, daß es seine geheimsten, heiligsten Erfahrungen vor diesen Männern ausbreiten sollte. Nie, nie würde sie das tun! In ihrer bekannten Heftigkeit rief sie aus: «Ich schwöre, die Wahrheit auf Fragen nach meiner Herkunft und nach allem, was ich tat, seitdem ich nach Frankreich kam, zu sagen. Was aber meine göttlichen Offenbarungen - (mes rélévations de par Dieu> - angeht, so habe ich darüber nie gesprochen, noch sie irgend jemandem außer Karl, meinem König, anvertraut. Ja, wolltet Ihr mir den Kopf abschlagen, so würde ich nicht davon reden können, denn meine geheimen Ratgeber, meine Stimmen, haben es mir untersagt.» Das summende Geräusch steigerte sich, und der Bischof begann, sich zu ärgern. Johanna solle schwören, daß sie die Wahrheit über ihren Glauben sagen werde. Ja, für ihren Glauben wolle sie gerne zeugen. Johanna kniete nieder, preßte die Hände auf das Evangelium und schwur, die Fragen, die den christlichen Glauben beträfen, wahrheitsgemäß beantworten zu wollen. Über ihre Offenbarungen kein Wort des Versprechens. Cauchon ging darüber hinweg und stellte eine Reihe von Fragen über Johannas Herkunft, ihre Eltern, ihr Dorf, ihre religiöse Erziehung. Jede Antwort kam kurz und klar von Johannas Lippen. Die Schreiber hielten jedes ihrer Worte fest. Erst als der Bischof der Jungfrau befahl, das Vaterunser aufzusagen, packte die Erregung sie von neuem. Seit drei Monaten hatte sie nicht beichten dürfen, keine Absolution von Priesterlippen erhalten. Jetzt ist ihre Stunde gekommen, und sie ruft mit der ganzen Sehnsucht eines frommen Menschen aus: «Nehmt mir die Beichte ab, und ich will es Euch gerne aufsagen!»
«Ihr sollt mir das Vaterunser sogleich aufsagen», schreit Cauchon sie ungeduldig an; und Johanna in trotziger Unerschrockenheit: «Wenn Ihr mich in der Beichte hört, will ich es Euch gerne sagen.» Ein grollendes Murmeln geht durch die Versammlung der Richter und Beisitzer. Hat man je eine solche Unverfrorenheit gehört? Cauchon scheint eine Art Bewunderung für Johannas Widerspenstigkeit empfunden zu haben. Was für ein Mädchen! Geduldig begann er von neuem - «Ich fordere Euch noch einmal auf, das Vaterunser zu sagen. Würdet Ihr es vor Würdenträgern Eurer Partei tun?» «Nein, es sei denn, sie hörten mich in der Beichte an.» Müßiges Gerede! Wie sollte sie in ihrem Kerker mit Geistlichen zusammentreffen? Keiner wurde zu ihr gelassen, und sie durfte ihr Gefängnis nicht verlassen, um in die Kirche zu gehen. Der Bischof machte sie darauf aufmerksam, daß sie eine Gefangene sei; kein Schritt aus dem Gefängnis sei ihr erlaubt, sie stehe unter diesem Verbot. «Dieses Verbot erkenne ich nicht an», rief Johanna erregt aus. «Wenn es mir gelingt zu entfliehen, so soll mir niemand vorwerfen können, ich hätte mein Wort gebrochen. Ich erhebe Einspruch gegen die Fesseln und Fußeisen, die man mir angelegt hat!» Cauchon erinnerte sie - mit echter oder gespielter Sanftmut? - daran, daß sie versucht habe, aus anderen Gefängnissen auszubrechen; da habe man ihr eben Eisenfesseln anlegen müssen. Johanna, die endlich reden und sich verteidigen darf, ruft wie außer sich: «Es ist wahr, ich habe anderswo zu entkommen versucht, und jetzt noch täte ich das gleiche! jeder Gefangene hat ein Recht zur Flucht!» Das war zuviel! Cauchon winkt den Gerichtsdienern. «Bringt das Mädchen zurück und schließt die Eisen gut. Und dann, erschöpft aufatmend: «Für heute schließen wir die Sitzung.» Die eiligen Federn der Schreiber hörten auf zu kreischen. Die Herren erhoben sich, laut durcheinander redend, lachend zum Teil über dieses unbändige Mädchen, das sich in seiner Kühnheit selber die Grube grub. Während Johanna in ihrem Kerker, von neuem gefesselt und ausgelacht von den Soldaten, noch zitternd vor Erregung, in ihre Arme schluchzte, das <Brot und Wasser der Pein> ablehnend, das der Schließer ihr gebracht, setzten sich die hohen Herren der Theologie und des Rechts im Festsaal zum Essen nieder. Bei Fisch und Wildbret, Kapaun und Königsbrot, dem guten Wein aus Bordeaux und Honigkonfekt wollte das Gespräch über die Pucelle nicht ruhen. Ein herrlicher Prozeß kündete sich an. Eine Vorstellung, die unterhaltender zu sein versprach als das beste Mysterienspiel. Was würde das Mädchen morgen alles vorbringen? Man war gespannt. Als Monseigneur Pierre Cauchon sich zurückzog, kündigte er den Herren an, daß man sich morgen zu früher Stunde in der Rüstkammer hinter dem großen Schloßsaal versammeln würde. Auf die Sitzung des Gerichtshofes vom 22. Februar 1431 waren die Herren mit Recht gespannt gewesen, denn heute gedachte man, die Frage der <Stimmen> und der <Visionen> ernstlich zu behandeln. Der oberste Richter Pierre Cauchon verzichtete an diesem Tage auf ein Rededuell mit der Jungfrau; der rechte Mann, der sich in dem heutigen heiklen Thema auskannte, war der Magister Jean Beaupére, ein heller Kopf und geschickter Fragesteller. Die Professoren der Theologie hatten in dieser Zeit einer neuen, mutigen Naturforschung begonnen, Ursache und Wesen der sichtbaren und hörbaren Erscheinungen zu studieren, denn mit der lapidaren Erklärung, <sie stammen von Gott> gaben sich die gelehrten und zu ernsthafter Prüfung geneigten Männer nicht zufrieden. Zu viele Schwindler und Schwindlerinnen versuchten, die Welt zu täuschen. Es gab zwar begnadete Menschen, die echte Visionen erlebten, doch galt es, zwischen Krankheitserscheinungen und himmlischen Eingebungen zu unterscheiden [67] An diesem 22. Februar 1431, am zweiten Sitzungstag, führten die Gerichtsdiener die Angeklagte in die große Rüstkammer, in ein wahres Schatzhaus kriegerischer Ausrüstung. Auch hier war Johanna in einer Umgebung, die ihr lieb und vertraut war. Schwerter, Schilde, Helme, Halsbergen, Panzer, Sporen, Handschuhe lagen, säuberlich geordnet und geputzt, aufgestellt und gestapelt um sie her. Darunter waren sicherlich auch silberne Rüstungen für die jungen Prinzen. Wo war ihre eigene silberne Rüstung, die sie in Saint-Denis der Jungfrau Maria geweiht hatte? Aufbewahrt? Gestohlen? Zu Geld gemacht? Dahin - wie ihr kriegerischer Ruhm! Zerstreut beantwortete sie die ersten Fragen des Magisters Beaupére; es war nur ein unverbindliches Geplänkel, dann schoß er die gefürchtete Frage wie einen Pfeil auf sie ab: «Wann vernahmt Ihr Eure Stimmen zum erstenmal?» Zum erstenmal ... Da sieht Johanna, die seit Monaten im dunklen Kerker liegt, zurück in ihre lothringische Heimat. Vor ihrem inneren Auge dehnen sich die saftigen, hügeligen Wiesen bis hin zu den fernen Bergen, bis zum Wald, der wie eine grüne Mauer die Welt des Krieges lange Zeit ferngehalten hatte. Da ist der kleine Fluß, der spielerisch seinen Weg um winzige Halbinseln und um die starken Wurzeln der Weiden sucht. Schön war die besonnte Weite, schön der Baum der Feen, an den sie mit den Freundinnen Kränze gehängt, wo sie getanzt und gesungen hatte. War nicht auch das Elternhaus schön, wenn auch eng und dunkel? Aber der Garten, der bis zur Mauer des Friedhofs reichte, war hell gewesen und hatte von Kräutern und Blumen geduftet, über denen die Bienen summten. Der breite Mittelweg war mit weißem Sand bestreut, der Schatten eines Kirschbaumes ging darüber hin wie der Zeiger einer Sonnenuhr; und wenn dann die Glocken klangen, die des Morgens, zu Mittag und des Abends zur Messe riefen, so zwangen die Töne, die wie vom Himmel kamen, der umhegte Friede des Gartens und die Schönheit der sommerlichen Welt sie in die Knie, und eine Hingerissenheit, eine brennende Sehnsucht nach etwas Hohem, Reinem, Großem hatte ihr fast das junge Herz gesprengt. Sie war aufgewachsen unter den grauenvollen Berichten über eine Welt da draußen, in der gemordet und geschändet, gefoltert, geschunden, geraubt, gehungert wurde; aber hier in diesem Garten, der das Tönen der Glocken aufnahm wie eine dargebotene goldene Schüssel, hier war ein Stück Himmel auf Erden gewesen. In Sekundenschnelle waren die geliebten Bilder an Johannas innerem Auge vorübergezogen; noch konnte sie sich nicht von ihnen losreißen, so antwortete sie wie aus einem Traum heraus, was ihr heiligstes Geheimnis war: «Wann ich meine Stimmen zum erstenmal vernommen? Als ich dreizehn Jahre alt war, hörte ich eine Stimme, die von Gott kam, um mich zu leiten. Das erstemal empfand ich große Furcht. Die Stimme kam zur Mittagsstunde; es war im Sommer, im Garten meines Vaters. Ich hatte den Tag zuvor gefastet. Ich habe die Stimme gehört, mir zur Rechten, von der Seite der Kirche her.» Johanna schaute über die Köpfe der Männer aufwärts, wie es ihre Gewohnheit war. Ihr Atemholen benutzte der Magister zu einer neuen Frage, ob die Stimme von einem Glanz begleitet war. «Fast immer begleitete sie eine große Helligkeit. Dieses Licht kommt von der selben Seite, von der man die Stimme vernimmt.» Hat Johanna genau diese Worte gebraucht? Die Seite, von der <man> die Stimme vernimmt? Dieses <man> klingt wie die Wiedergabe eines theologisch geschulten Schreibers, dem es bekannt war, daß viele Visionäre ihre Erscheinungen, vor allem den Eindruck von Licht, immer von der gleichen Seite erhalten. Indessen fuhr der Magister Beaupére bei dem atemlosen Lauschen der etwa fünfzig anwesenden Theologen und Gelehrten fort: «Wie konntet Ihr dieses Licht erkennen, wenn es von der Seite kam?» Johanna hörte nichts mehr; sie sprach in seliger Erinnerung über alle Einwürfe hinweg. Man meint ihre leise, ergriffene Stimme zu hören, wenn sie erzählt «Mir schien die Stimme erhaben, ich glaubte, daß sie mir von Gott geschickt war. Beim dritten Anruf wußte ich, es war die Stimme eines Engels. Die Stimme hat mich immer recht geleitet, und ich habe sie immer verstanden... Sie sagte mir, es sei notwendig, daß ich, Johanna, nach Frankreich ginge und zwar so, daß mein Vater nichts von meinem Aufbruch wisse. Die Stimme hieß mich nach Frankreich gehen, und ich konnte nicht mehr bleiben, wo ich war. Die Stimme befahl mir, die Belagerung von Orléans aufzuheben. Sie hieß mich, Robert de Beaudricourt in Vaucouleurs aufzusuchen, daß er mir Leute gebe, die mit mir kämen.» Hier haben wohl die weisen Männer gelächelt, daß die himmlische Stimme sogar den Namen des Stadthauptmannes einer kleinen, entlegenen Festung wußte, den Johanna aus zahlreichen Erzählungen des immer näher rückenden Krieges kannte. Es war wohl eher eine innere Stimme, die zu ihr sprach; aber woher kamen dem Mädchen das Wissen und der Wille, die diese <innere Stimme> entstehen ließen?
Es war kein Alltagswesen, das vor ihnen stand. Man mußte mehr hören. Wie sagte die Jungfrau? «Ich antwortete, ich sei ein armes Mädchen, das nichts vom Reiten und von der Kriegsführung verstehe... Ich sagte zu meinem Onkel, ich müsse nach Vaucouleurs gehen, und er brachte mich dorthin. Als ich in Vaucouleurs ankam, erkannte ich Robert de Beaudricourt, und dennoch hatte ich ihn nie gesehen. Ich erkannte ihn durch die Stimme, die sagte mir, daß er es sei. Ich sagte zu ihm, Robert, daß ich nach Frankreich gehen müsse. Einmal hat er mich abgewiesen, das zweitemal hat er mir die Leute gegeben. Die Stimme hatte mir vorausgesagt, daß es so kommen werde.» Die Richter und Beisitzer ließen Johanna erzählen, ohne sie zu unterbrechen. Man sieht sie in ihren Priestergewändern und Talaren dasitzen, den Ellbogen auf die Armlehne des Sessels oder auf das Knie gestützt, diewange in der Hand und still zuhören, denn was ihren Ohren geboten wurde, war der Bericht von Dingen, die selten auf Gottes Erdboden geschehen. «Nachdem ich Vaucouleurs verlassen hatte», sagte Johan na mit ihrer ruhigen, sanften Stimme, «erreichte ich Saint-Urbain und übernachtete in der Abtei. Ich war in Männerkleidern. Beaudricourt hatte mir ein Schwert gegeben, ich hatte keine anderen Waffen.» «Wer hat Euch geraten, Männerkleidung anzulegen», unterbrach der Magister scharf. Diese Manneskleider, die eine satanische Schamlosigkeit verrieten! Jede Dame trug Kleider, die sogar die Fußspitze bedeckten, und Bäuerinnen Röcke, die über die Knöchel hinunterreichten. Schon der Apostel Paulus hatte gegen die perverse Neigung, Kleider des anderen Geschlechts zu tragen, gewettert. An den Höfen gab es Männer, die in Frauenkleidern erschienen, aber Frauen, die Männertracht anlegten, eine solche Schamlosigkeit war noch nicht gesehen worden, sie konnte nur eine Eingebung der Hölle sein!
Johanna schwieg verwirrt; der Magister berührte roh ihr Schamgefühl, er hatte recht in seiner Empörung. Und doch wußte sie, daß sie nichts anderes hatte tun können, denn als Mann gekleidet zu sein, wenn sie unter Männern lebte. Wie sollte sie von der Gefährdung ihrer Keuschheit reden? Mehrmals mußte der Magister, schließlich schreiend, fragen: «Wer, wer hat Euch diesen Rat gegeben?» Johannas Ruhe war aufreizend, als sie endlich mit fester Stimme sagte: «Damit belaste ich keinen Menschen.» Dann verfiel sie wieder in ihre beschwingte Erzählung, die sie in eine unfaßbare Seligkeit zu entführen schien, zu einem Wunder, das sie nachträglich kaum noch begriff: «Robert de Beaudricourt hatte meine Begleiter schwören lassen, daß sie mich sicher geleiteten. Zu mir sagte Robert: <Geh, geh, und es möge geschehen, was geschehen soll!>» Dann erzählte sie - jeden Tag, jede Stunde erinnernd von ihrem Ritt nach Fierbois, vom Brief an den König, der Ankunft in Chinon und der ersten Begegnung mit dem Dauphin am Hofe. Wie sie ihn, der sich unter den Höflingen versteckt hielt, dank ihrer Stimme erkannt habe. «Halt!» Hier unterbrach sie der Magister und fragte, wieder um das interessante Problem kreisend: «Als die Stimme Euch Euren König bezeichnete, war da ein Licht an jener Stelle?» «Übergeht das, fahrt fort», rief Johanna herrisch. Aber der Magister ließ sich nicht ablenken. In die Totenstille der Versammlung hinein flüsterte er, von der magischen Ausstrahlung der Jungfrau in seinem verleugneten Aberglauben berührt. «Ist es vielleicht ein Engel gewesen, den Ihr über Eurem König gesehen habt?» Johanna hatte damals nichts Überirdisches gesehen, das Mysterium ihrer Sendung hatte sich nie in sichtbaren Zeichen vor den Menschen offenbart; aber wie sollte sie vor diesen Gelehrten ihre Gottgesandtheit beweisen? Der Zorn packte sie, und es kam zu einem lauten Wortwechsel zwischen ihr und dem Frager. «Verschont mich», schrie Johanna auf. «Übergeht das! Ehe der König ans Werk ging, hatte er selbst mancherlei Erscheinungen und herrliche Offenbarungen.» «Welche Erscheinungen? Welche Offenbarungen?» «Ich werde es Euch nicht sagen! Schickt zum König, und er wird Euch antworten. Meine Stimme hatte mir versprochen, der König werde mich bei meiner Ankunft empfangen. Die auf meiner Seite waren, wußten wohl, daß mir die Stimme von Gott geschickt war. Die Stimme selbst konnten sie sehen und erkennen. Das weiß ich, ich bin dessen sicher. Der König und andere mit ihm konnten die Stimme vernehmen und schauen, die auf mich zukam. Charles de Bourbon war dabei und zwei oder drei andere.» Konnte man eine Stimme <schauen>? Hier wird Unruhe, Räuspern und Gemurmel ertönt sein, denn Johanna stellte plötzlich Behauptungen auf, die den frommen Herren nun gar zu märchenhaft erscheinen mußten. In den unzähligen Berichten über den König und die Jungfrau, die doch durch ganz Frankreich und über die Grenzen des Landes gedrungen waren, hatte man nie davon gehört, daß eine ganze Gruppe von Höflingen Johannas Erscheinungen mit ihr zugleich erblickt hätten. Es hat später auch kein Chronist von diesem Sichtbarwerden der <Stimmen> erzählt, doch Johanna verwickelte sich im Laufe des Prozesses mehr und mehr in ihre Behauptungen, die sie jetzt, am zweiten Tag der Verhandlungen, in ihrem überreizten Zustand unüberlegt hervorstieß. Später veränderte sie die Erzählung, widerrief sie und scbmückte sie dann wieder aus. Die erste Begegnung mit Karl VII. ist der einzige Punkt, an dem Johanna in Verwirrung und Widerspruch geriet. Der Magister wischte ihre seltsame Beschreibung beiseite. Zur Sache. «Vernehmt Ihr oftmals jene Stimmen?» «Es gibt keinen Tag, an dem ich die Stimmen nicht höre. Und ich bedarf ihrer!» Johannas Glaube war rein und unerschütterlich; sie hat ihn mit ihrem Tod besiegelt. Keine wissentliche Unehrlichkeit kann einen Schatten auf ihr sittliches Wesen werfen. Beaupere ließ Johanna in ihre kalte Dunkelheit zurückführen; er war dem Mysterium ihrer Stimmen, die ihr die Macht verliehen hatten, Tausende zu lenken, nicht um einen Schritt näher gekommen, aber der Eindruck der Begegnung mit der Jungfrau muß für alle Anwesenden sehr stark gewesen sein, denn nach dieser Sitzung beschloß der Bischof von Beauvais, einen Tag der Ruhe einzulegen, auch wollte er weitere Beisitzer zuziehen.
21. Kapitel
Am 24. Februar 1431, als man Johannas Ketten aufschloß, um sie abermals vor ihren Richter Pierre Cauchon zu führen, versammelten sich zweiundsechzig Beisitzer in der Rüstkammer. Es dauerte eine Weile, bis die Gefangene von Jean Massieu, der sie vom Turm zu holen und zurückzubringen hatte, erschien. Was war geschehen? Jean Massieu war der Jungfrau wohlgesinnt. Er wußte um ihre Sehnsucht nach kirchlichem Beistand, und da mußte er sie nun zu jeder Verhandlung an einem Ort vorüberführen, wo sich außen an der Mauer einer Kapelle ein Tabernakel in einer Nische befand. Das Bild der Jungfrau, wohl in Holz geschnitzt und bemalt, vor das die Frauen der Burg frische Blumen zu legen pflegten. Es riß Johanna zu dem heiligen Bilde hin, und Jean Massieu erlaubte ihr, sich davor niederzuwerfen und im Gebet die Jungfrau um Hilfe anzuflehen. Als er, verspätet, mit der Angeklagten in der Rüstkammer erschien und Johanna auf ihren Platz geführt war, nahm einer der nächsten Mitarbeiter Pierre Cauchons, der Promotor am Gericht, Jean d'Estivet, den Priester Massieu beiseite, befragte ihn über die Verspätung, erfuhr von dem Gebet vor dem Tabernakel und geriet in Zorn. Estivet war nicht auf Seiten der Engländer, aber er hatte in ihrem Interesse zu handeln, wie der gesamte Gerichtshof. Johanna sollte, schuldig oder unschuldig, auf Befehl Bedfords und Winchesters als Hexe überführt werden, wie durfte Massieu da gestatten, daß sie sich vor aller Augen, auf den Knien liegend im Gebet zeigte! Der Promotor fuhr Massieu an: «je te ferai mettre en telle tour que tu ne verras lune ni soleil d'ici à un mois!» «Ich lasse dich in einen Turm werfen, wo du weder Mond noch Sonne siehst, von heute bis in einem Monat!» Massieu wurde aber nicht eingekerkert. Wer hielt die Hand über ihn? Immer und immer wieder diese Hinweise auf ein Doppelspiel! Inzwischen hatte der Dialog zwischen dem Bischof von Beauvais und Johanna begonnen. je tiefer man sich in das Frage- und Antwortspiel vertieft, je mehr drängt sich die Erkenntnis auf, daß der Bischof Johanna ein Benehmen suggerieren wollte und ihr Antworten in den Mund zu legen versuchte, die sie - nicht als Hexe - aber als schuldig vor der Kirche erweisen mußten. Die Kirche pflegte keine Todesurteile zu vollstrecken, sie überließ Strang oder Verbrennung der weltlichen Gerichtsbarkeit, aber die Kirche durfte Schuldige bei Wasser und Brot lebenslänglich einkerkern. Der Bischof sah, wie jeder Franzose, voraus, daß die Engländer nicht mehr lange ihre Fremdherrschaft ausüben würden. War die Jungfrau einmal in seiner Gewalt, so hätte er die Möglichkeit gehabt, ihr, nach dem Abzug der Engländer, die Freiheit zu schenken. Er mußte Johanna, was ihre Stimmen und Visionen betraf, der Lüge überführen, danach hatte sie öffentlich zu widerrufen und war damit der Strafe der Kirche anheimgegeben. Johanna scheint jedoch nicht geahnt zu haben, daß ein Helfer ihr gegenübersaß, denn sie durchkreuzte in ihrer Ehrlichkeit alle Hilfsversuche. Pierre Cauchon stand unter dem Druck der ständigen Beobachtung durch Warwick und dessen Spione; er durfte Johanna, wenn die Vermutung seiner Hilfsbereitschaft richtig ist, diese nicht bekanntgeben, aber bis zum Schluß des Prozesses steigern sich die Hinweise auf sein Bemühen, die Angeklagte in die Gewalt der Kirche, das bedeutete, in die Gewalt Frankreichs, zu bringen. Aber Johanna mußte reden, sich widersprechen, Eide schwören, die sie nicht zu halten vermochte. Cauchon spielte mit verdeckten Karten, aber am Ende des Spiels durchschauten die Engländer empört seine Taktik und seine Trümpfe. An diesem 24. Februar begann Cauchon wieder mit dem Befehl, die Jungfrau solle beschwören, daß sie jede Frage, die man ihr stelle, beantworten werde. Johanna schwieg verwirrt, und Cauchon fuhr leicht gereizt fort: «Hier, sprecht den Eid, Johanna! Bedingungslos! Sprecht den Eid! Wollt Ihr wohl endlich den Eid sprechen?» Und Johanna sagte in ihrer ruhigen Vernunft: «Laßt mich reden. Bei meiner Seligkeit, Ihr könnt mich Dinge fragen, die ich nicht sagen will, die ich nicht wahrheitsgetreu beantworten kann, besonders solche, die meine Offenbarungen berühren. Ihr könnt mich zwingen kundzutun, was ich versprochen habe zu verschweigen. Ich würde wortbrüchig werden.» Und dann, wie in plötzlichem Verstehen: «Ist es das, was Ihr wollt?» Und nun in ihrer ganzen mutigen Überzeugung: «Hütet Euch, die Ihr Euch meine Richter nennt! Ihr ladet Euch eine schwere Last auf, aber Ihr belastet auch mich zu sehr.» Daß Johanna den Eid so hartnäckig verweigert, wo es um ihre Stimmen geht, deutet darauf hin, daß sie im Grunde ihres Herzens die Art ihrer Stimmen nicht begriff und in ihrer bedingungslosen Ehrlichkeit keinen Meineid leisten wollte. Sie konnte wohl ihre Stimmen als von Gott kommend darstellen, da sie keine andere Erklärung besaß; aber einen Eid darauf leisten, diese Last durfte sie ihrem Gewissen nicht auferlegen. In Tränen rief sie aus «Ich habe hier nichts zu schaffen! Ach, daß man mich doch zu Gott zurückschickte, von dem ich gesandt bin!» Dann ist es, als wolle der Bischof die Jungfrau zwischen seinen Worten die gute Absicht erraten lassen. «Ich rate Euch, Johanna», sagte er beschwörend, «ich fordere Euch auf zu schwören! Wenn Ihr es nicht tut, dann lauft Ihr Gefahr, daß wir ohne weiteres von den Vergehen überzeugt sind, deren man Euch anklagt.» Dem Vergehen, mit höllischen Mächten im Bunde zu sein. «Übergeht das» fleht Johanna. Aber Cauchon immer dringender: «Zum letztenmal, ich flehe Euch an, schwört! Wenn Ihr Euch weigert, Johanna, versetzt Ihr Euch in eine schlechte Lage!» Mit anderen Worten: Ihr verderbt Euch die Chance, die Ihr habt. Johanna versteht ihn nicht; sie sagt schließlich erschöpft: «Ich bin bereit zu schwören und die Wahrheit über das zu sagen, was ich weiß, sofern es den Prozeß angeht.»
Cauchon, ebenfalls erschöpft, überläßt Magister Beaupére das Fragen, und es geht weiter im üblichen Hin und Her über die <Stimmen>, wann sie erscheinen, ob mit einem Lichtschein, ob die Stimme ein Gesicht und Augen hat, ob es ein Engel ist, der zu ihr spricht; und dazwischen Johannas ausweichende Antworten und Ausrufe, durch die sie sich scheinbar vor allzu phantasievollen Erzählungen retten will
«Ich sage es Euch nicht»; «muß ich es Euch sagen?»; «ich kann Euch nicht alles sagen»; «Euch werde ich es nicht sagen». Und merkwürdig, aber zeitgemäß, der Ausruf:«Und wenn ich keinen Wein bis Ostern trinken dürfte!»
Einmal im Verlauf dieses langen Verhörs machte der Magister, der wohl absichtlich vom Bischof als Befrager eingesetzt war, eine jähe Wendung, als wolle er Johanna eine Entlastung in den Mund legen: «Johanna, seid Ihr gewiß, im Stande der Gnade zu sein?» «Wenn ich es nicht bin, möge Gott mich dahin bringen; wenn ich es bin, möge, Gott mich darin erhalten!» Sie hatte wohl die gefalteten Hände unter ihr erhobenes Kinn gedrückt, eine Geste, die von den Zeitgenossen beschrieben wird. «Ich wäre der traurigste Mensch auf Erden», fährt sie fort, «wenn ich nüch nicht in der Gnade Gottes wüßte. Wenn ich in der Sünde wäre, käme die Stimme nicht, denke ich. Möchte doch jedermann das in gleicher Klarheit erkennen wie ich.»
Das war eine schöne Aussage, darauf ließ sich kein Hexentum erbauen. Rasch wechselte der Magister das Thema, um den entlastenden Eindruck nicht zu verwischen. jedenfalls liegt dieser Schluß nahe, wenn man den Bischof, seinen Vorgesetzten, als eine der wohlwollenden Gestalten des Prozesses ansieht. Beaupére stellt nun freundlich einige unwichtige Fragen, die eine ganze Reihe selbstverständlicher und allgemein bekannter Dinge heranziehen: «Seid Ihr in Eurer frühen Jugend mit anderen Mädchen draußen im Freien herumgesprungen?» Oder. «Hielten die Einwohner von Domr6my zu den Burgundern?» «Habt Ihr die Burgunder gehaßt?» Und was der Fragen mehr sind; aber schließlich muß er die heikle Geschichte des Feenbaumes anschneiden, dieses Überbleibsels aus der Heidenzeit, der mit Johannas Jugend in Verbindung gebracht war. Als ginge der Magister nur widerwillig an dieses Thema heran, sagte er zur Jungfrau: «Und dieser Baum, Ihr wißt, der nahe beim Dorfe war?» «Der Baum der Feen», sagte Johanna träumerisch, «nahe dabei ist eine Quelle. Man sagt, daß die Kranken dorthin gehen, um das Wasser zu trinken, um gesund zu werden. Das habe ich selber gesehen. Es ist ein großer Baum, wo der Maien grünt, <le Fay> genannt. Manchmal wand ich dort mit andern Mädchen Kränze für das Bild Unserer Lieben Frau von Domrémy. Die Alten erzählten, daß die Feen dort ihr Wesen treiben, aber ich habe niemals Feen bei dem Baum gesehen... Es ist auch ein Wald dort, man nennt ihn den <Bois Chesnu>. Man sieht ihn von der Türe meines Vaterhauses. Als ich vor den König kam, fragte man mich, ob es in meiner Heimat einen Wald gebe, den Bois Chesnu, denn von dort sollte nach alten Weissagungen ein Mädchen kommen, das Frankreich errettete.» Alle Anwesenden kannten die Weissagung Merlins, des Zauberers, wer hätte sie nicht gekannt? Die englischen Beisitzer atmeten auf: jetzt endlich kam man dem Teufelsspuk näher. Merlin, der Alte, geisterte durch den Bois Chesnu und heidnische Gespenster um den Baum der Feeri. Morgen würde man fortfahren und das Mädchen der Gemeinschaft mit Hexenwerk und Zauberei überführen. Jetzt hatte man sie im Netz ihrer eigenen Worte gefangen. Aber es gab am nächsten, dem gefährdeten Tag keine Verhandlung. Es war etwas außergewöhnlich Wichtiges geschehen. Johanna war erkrankt. Wie sie selber glaubte: vergiftet. Sie erbrach - multum vomitum - wie es in den Akten heißt, und war zu Tode elend. Hatte sich im Geheimen etwas ereignet? Johanna rief den Herren, die den Arzt Tiphairie zu ihr brachten, ohne Zögern entgegen: ihre Krankheit sei die Schuld des Bischofs von Beauvais! Der hohe Herr hatte ihr tatsächlich einen Fisch aus seiner Küche geschickt. Menschenleben wurden ohne Skrupel vernichtet, und es fiel niemandem ein, sich gegen das Spiel mit fremdem Leben aufzulehnen. Wenn die Vermutung richtig ist, daß Karl VII. durch Cauchon mit einer Vergiftung Johannas Leben zu enden versuchte, so wäre es aus zwei Gründen geschehen: einerseits wollte er sie davor bewahren, durch das Verbranntwerden unsäglich zu leiden und ihre Auferstehung beim jüngsten Gericht zu verlieren, denn ein in Asche zerfallener Leib war für alle Ewigkeit ausgelöscht und verloren [68] Der zweite Grund war die zwingende Notwendigkeit, daß die Jungfrau nicht zur Hexe gestempelt wurde, denn Karls VII. Königtum stand und fiel mit dem Glauben seines Volkes und aller Welt an die Gottgesandtheit der Jungfrau. Wenn er Johanna nicht mit Gewalt befreien konnte - und das war nicht möglich - dann lieber ihr <natürlicher) Tod als ihre Verurteilung und Verbrennung als Hexe. Hatte Pierre Cauchon den Auftrag erhalten, die Jungfrau durch einen raschen Tod vor der unvermeidlichen Verbrennung zu retten? In Louviers, das in nächster Nähe von Rouen lag und von La Hire gehalten wurde, war der Bastard von Orléans eingetroffen. Die Engländer durften aber nicht wagen, die Franzosen zu vertreiben, solange Johannas Bann nicht gebrochen war. Der Bastard und La Hire waren Freunde Johannas. Karls VII. Biograph, du Fresne de Beaucourt, gibt die Summen an, für die Jean d'Orléans im März 1431 dem König quittierte, Summen, die angeblich der Bezahlung einiger Söldner und der Reisekosten Orléans' gedient hatten. De Beaucourt glaubt, es könne sich um die Finanzierung einer gewaltsamen Befreiung gehandelt haben, doch bezweifelt er zugleich, daß die Herren hätten erfolgreich sein können. Aber man darf annehmen, daß die beiden Männer - wenn man sie als Helfer in Karls Auftrag gelten läßt - Mittelsmänner in Rouen hatten oder solche durch Bestechung zu gewinnen wußten, Männer, die die Verbindung zu Cauchon herstellten. Louviers muß für Karl eine besondere Bedeutung besessen haben, denn er bedachte die Stadt später mit so vielen Privilegien, daß sie den Ehrennamen <Louviers-le-Franc> erhielt. Der Erzbischof von Winchester und Lord Warwick, die beide im Schlosse zu Rouen residierten, hatten sofort bei der Nachricht von Johannas Erkrankung vermutet, daß sie vergiftet worden sei. Warwick ließ seinen eigenen Arzt, Guillaume de la Chambre, kommen, nicht den Doktor Jean Tiphaine, der Johanna behandelte und sie liebte und verehrte. Warwick sagte zu seinem Arzt, mit aller Strenge, ohne zu wissen, daß dieser der Sohn des Leibarztes der Königin Marie von Frankreich war: «Unser König will sie auf keinen Fall eines natürlichen Todes sterben lassen, sie ist ihm zu kostbar; so teuer, wie er sie bezahlt hat! Sie kann nur durch das Gericht sterben und muß verbrannt werden. Tut alles, was nötig ist, um ihre Gesundheit wiederherzustellen. Seid sehr vorsichtig, wenn Ihr sie zur Ader laßt, sie ist schlau und könnte selber ihren Tod herbeiführen.»* (*Rehabilitationsprozeß, Band III, S. 51: Aussage des Guillaume de la Chambre.)
Warwick rechnete also offensichtlich mit der Möglichkeit, daß ihm Johanna durch einen gewaltsamen Tod entzogen werden könnte. Die Wichtigkeit für die beiden Parteien, ob Hexe oder Gottgesandte, ist gar nicht hoch genug anzuschlagen. Was immer geplant sein mochte, Johanna erholte sich, und am 27. Februar konnte Magister Beaupére in aller Freundlichkeit sagen: «Nun, Johanna, wie geht es Euch seit Samstag?» «Ihr seht es ja, so gut es eben gehen kann.» Dann muß die Gesellschaft der dreiundfünfzig Beisitzer wieder die immer gleichen Fragen über die <Stimmen> vernehmen und Johannas unwillige, abweisende Antworten. Die Jungfrau muß schließlich ihre beiden Heiligen, Katharina und Margarete, bei Namen nennen. «Wieso wißt Ihr, daß es diese beiden Heiligen sind, könnt Ihr sie unterscheiden?» Johanna weiß nicht mehr, wie sie erklären soll, was nur in ihrer frommen Vorstellung, besteht. Sie will nicht lügen, sie vermag nicht zu sagen, was Wahrheit und was ein inneres Bild ist, sie kann sich nur hinter einem imaginären Verbot verbergen. Indessen werden die Fragen des Magisters immer drängender; und immer hartnäckiger antwortet sie: «Ich darf es nicht sagen», «ich sag' es Euch nicht», «Ihr werdet keine Antwort bekommen» und ähnliche Wendungen. Sechsmal, siebenmal wählt sie das Schweigen, oder sie bittet ihre Richter, das Protokoll von Poitiers kommen zu lassen, wo man sie schon einmal von Theologen prüfen ließ; aber dieses Protokoll wollen die England-Hörigen gar nicht sehen. Es hätte ja die Jungfrau von dem Verdacht der Hexerei freigesprochen. Cauchon wäre wahrscheinlich glücklich gewesen, das Entlastungsschreiben zu besitzen. Vielleicht gelang es ihm, es einzusehen, und es wurde dann von englischer Seite vernichtet.
Von den vielen Akten, die sich erhalten haben, ist gerade dieses erste, äußerst wichtige Dokument der Verteidigung der Unschuld Johannas verschwunden. Immer wieder verlangte sie das Protokoll von Poitiers. Wer hat es, schon zu ihren Lebzeiten, vernichtet? [70] Wie wenig weiß man von den Hintergründen des Prozesses, aus dessen Einzelheiten man auf ein weitverzweigtes geheimes Spiel schließen darf. Was immer mit dem Protokoll von Poitiers geschehen war, die Engländer wollten nichts anderes als die Verbrennung Johannas als überführte Hexe. Je eher, je besser. Warwick drängte wütend auf ein rascheres Verfahren; aber der Bischof von Beauvais schien keine Eile zu haben. Bis zur völligen Erschöpfung ließ er die immer gleichen Fragen stellen, immer wieder von vorne. Man kam nicht vom Fleck. Es war nun fast ein Jahr seit Johannas Gefangennahme vergangen. Wenn der Herzog von Luxemburg, Philipp von Burgund, der Bischof von Beauvais die Verurteilung und den Feuertod wirklich gewollt hätten, so wäre Johanna schon lange nicht mehr am Leben. Bedford und Warwick kämpften ohne Erfolg gegen den zähen Widerstand einer ganzen Gruppe von Richtern, die sich offensichtlich nur eine Maske des Einverständnisses mit den Engländern vorhielten. Der Druck, den die englische Besatzungsmacht ausübte, gestützt von Burgund, der in Paris scheinbar die Universität überwachte, muß jedes offene Hervortreten für Johanna gelähmt haben. An diesem Verhandlungstag des 27. Februar 1431 war man noch bei den Heiligen und ihrem Äußeren. Johanna sollte erzählen. Man hörte sie, in ihrer Scheu vor Geständnissen über dieses Thema zögernd, sagen. «Ihre Häupter waren gekrönt mit schönen, reichen und kostbaren Kronen.» Die beiden Heiligen waren zu ihren Lebzeiten Töchter des Nahen Orients gewesen und hatten niemals Kronen nach frühgotischer Art getragen; aber Johanna sah ihre Heiligen, wie sie in den Kirchen aus der Hand frommer Holzschnitzer hervorgegangen waren. An dem Umstand, daß die heiligen Frauen im Jenseits ihr Kostüm gewechselt hatten, stieß auch der Magister sich nicht; er selber sah die Bewohner des Himmels, wie die gotischen Meister sie darzustellen liebten. Seine Wißbegierde ließ ihn auch nach dem Alter der Heiligen und ihren übrigen Gewändern fragen. Johanna verweigerte die Antworten; aber als man ihr das Geständnis entriß, sie habe den heiligen Michael im Kreise von Engeln gesehen, fragte der Magister ungläubig: «Habt Ihr den heiligen Michael und die Engel leibhaft und wirklich gesehen?» «Ich habe sie mit meinen Augen gesehen, wie ich Euch alle sehe. Als sie mich verließen, weinte ich, denn ich wünschte, sie hätten mich mit sich fortgenommen.» Nach diesem Aufschrei, der ihre Gequältheit verriet, weil man sie zu Aussagen zwang, die sie gar nicht machen wollte, verbarg sie sich wieder in ihrem Schweigen. Man kam nicht weiter. Wieder versuchte der Magister es mit einem Schock, mit der ganz unerwarteten Frage, die aber zum zweiten Mal aufgegriffen wurde: «Ist es Gott, der Euch geboten hat, Mannskleider anzulegen?» «Das Gewand ist gleichgültig», stammelte Johanna, «es ist nebensächlich.» Sie wußte ja im Grunde, daß von dieser Frage geradesoviel abhing wie von der Frage der <Stimmen>. Sie fügte hinzu, daß nichts, was sie getan, ohne das Geheiß Gottes und seiner Engel geschehen sei. Den Magister interessierte diese fromrne Versicherung gar nicht, er blieb mit beiden Füßen auf der Erde: «Haltet Ihr diesen Rat, Mannskleider zu tragen, für erlaubt?» «Es war Gottes Befehl», wiederholte Johanna, hartnäckig. Jetzt wurde der Magister ärgerlich; er schrie die Jungfrau an: «Es war Robert de Beaudricourt, der es Euch befahl!» «Niemals» rief Johanna erschrocken aus. In ihrem Anstand wollte sie niemanden in ihren Prozeß hineingezogen wissen. Zweimal bekräftigte sie, daß sie nur nach Gottes Willen gehandelt habe. Damit war man wieder bei den <Stimmen> angelangt, und die Mühle mahlte weiter, immer das gleiche Korn. Wieder ertönte die Frage, ob Johanna zugleich mit den Stimmen, die sie mit den Ohren höre, mit den Augen ein Licht erblicke. Da bricht Johannas Witz und Geist durch, und sie sagt ironisch: «Sicher, es war viel Licht überall. So ziemt es sich auch. Das ganze Licht ist nicht für Euch alleine da.» Die Richter haben vermutlich geschmunzelt. Ein englischer Adliger, der unter den Beisitzern war, soll nach einer der Verhandlungen ausgerufen haben: «Wahrhaftig, das ist eine vorzügliche Frauensperson! Wenn sie doch nur Engländerin wäre!» Es könnte an diesem Tag gewesen sein, da die Jungfrau besonders schlagfertig war. Als der Magister die Frage wiederholte, ob bei Johannas erster Begegnung mit Kar1V11. ein Engelüber ihm geschwebt habe, sagte Johanna in dem Realismus, der ihre ursprüngliche Natur war: «Wenn er dort war, so weiß ich es nicht; ich habe ihn nicht gesehen.» Eine ganz unbefriedigende Antwort. Johanna solle sagen, ob sie wenigstens ein Licht gesehen habe. Darauf Johanna, wahrscheinlich mit ihrem bekannten klugen Lächeln: «Das will ich meinen. Mehr als dreihundert Ritter waren in dem Saal, und fünfzig Fackeln brannten - abgesehen von dem Licht des Geistes.» Der Magister ging lieber rasch zum Wunder des Schwertes von Fierbois über. Johanna sagte in aller Offenheit aus, aber sie deutete mit keinem Wort auf ein <Wunder> hin: «Als ich in Tours war, habe ich ausgeschickt, ein Schwert zu suchen, das in der Kirche Sainte-Cathérine de Fierbois hinter dem Altar liegen sollte, und man hat es sogleich gefunden, ganz rostig.» «Woher wußtet Ihr, daß dort ein Schwert war?» «Durch meine Stimmen habe ich gewußt, daß es dort war. Ich ließ der Geistlichkeit des Ortes schreiben und bat sie, es mir zu überlassen.» Der Geistlichkeit, die schon vor ihrem Kommen von ihr gewußt hatte, mit der Johanna einen Tag lang bei Beichten, Messen und Gesprächen in freundschaftlichem Verkehr gestanden war. «Sie haben es mir geschickt», fuhr Johanna fort, «es war eingegraben, nicht tief. Gleich nachdem man es gefunden hatte, rieben die Geistlichen es ab, und der Rost ging mühelos herunter.» Es war das Schwert, das behext wurde und die mutigen Engländer lähmte! «Welchen Segen habt Ihr über das Schwert gesprochen oder sprechen lassen?» rief der Magister begierig aus, denn jetzt mußte er sich für die englische Ehre besorgt zeigen. «Keinen! Ich hätte gar nicht gewußt, wie man das macht.» Vom Schwert von Fierbois ging man zur Standarte über. Die Jungfrau mußte sie genau beschreiben. Was ihr lieber gewesen sei, die Fahne oder das Schwert, wollte der Magister wissen. «Meine Fahne» Sie rief es in Begeisterung aus. «Sie war mir viel lieber, hundertmal lieber als das Schwert! Ich trug meine Fahne, selbst wenn ich angriff!» Wie mag Johanna dagestanden sein, hochaufgerichtet, mit strahlenden Augen, noch einmal durchglüht von ihrem Siegesglück. Und dann, in stiller Würde: «Niemals habe ich einen Menschen getötet.» Darauf entspann sich ein Gespräch über kriegerische Begebenheiten vor Orléans. Die englischen Beisitzer neigten sich vor, sie spitzten die Ohren. Jetzt endlich würden die Richter das Mädchen der Hexenkünste beschuldigen! Magister Beaupére, der wußte, was von ihm erwartet wurde, rief der Angeklagten drohend zu: «Habt Ihr Euren Leuten nicht zugerufen, daß Ihr die Pfeile, Bolzen und die Steine der Schleudermaschinen auffangen würdet?» «Nein! Wir hatten mehr als hundert Verwundete. Aber ich habe meinen Leuten zugerufen, sie sollten nicht weichen und sie würden die Belagerung aufheben.» Wieder war das Teufelsmädchen der Schlinge ausgewichen! Aber sie brachte auch hier wieder ihre Heiligen ins Gespräch. Dieser blasphemische Hochmut! So warf der Magister Johanna eine präzise Frage, einen Waffenstillstand betreffend, wie einen Stein vor die Füße, über den sie stolpern sollte: «Habt Ihr mit Euren Stimmen Rat gepflegt, ob sie dem Aufschub von zwei Wochen zustimmten?» Und Johanna in gespielter Ahnungslosigkeit: «Ich kann mich nicht erinnern.» Genug für heute. Auch nach diesem Verhör vom 27. Februar 1431 konnte Monseigneur Pierre Cauchon kein Vergehen feststellen, auf das sich ein Todesurteil aufbauen ließ. Die englischen Herren waren höchst ärgerlich. Dem Gerichtshof mußte es doch möglich sein, das listige Mädchen der Zauberei, zum mindesten des Ungehorsams gegen die Kirche zu überführen! Der Bischof solle das Schisma und die beiden Päpste zum Mittelpunkt einer Befragung machen, hier bestehe für jedermann so viel Verwirrung, daß die Angeklagte sich niemals heil durch das Gestrüpp würde winden können. Der 1. März wurde für die nächste Verhandlung angesetzt, und zwar wollte Monsigneur Cauchon sie selber leiten.
22. Kapitel
Am 1. März 1431 waren dreiundfünfzig richtende Männer um den Bischof von Beauvais, Pierre Cauchon, versammelt. Die Befragung versprach anregend, aufschlußreich, sogar erheiternd zu werden. Ein eben neunzehnjähriges Mädchen sollte Fragen beantworten, die den höchsten Kirchenfürsten schlaflose Nächte bereiteten. Man hatte sich wieder in der Rüstkammer versammelt. Der Bischof von Beauvais, auf seinem erhöhten Thron, sehr prächtig gekleidet, begann freundlich: «Johanna, redet uns von Unserm Herrn Papst. Welcher, glaubt Ihr, ist der rechtmäßige?» «So, gibt es zwei?» Johanna war sehr erstaunt. Hier werden die hohen Herren gelacht und die Köpfe geschüttelt haben. Seit mehr als fünfzig Jahren war die Christenheit zerrissen. Konzil nach Konzil wurde berufen, Papst gegen Papst aufgestellt. Zeitweise hatte es ihrer drei gegeben. Nicht einmal der Krieg zwischen England und Frankreich, auch nicht die Türkengefahr noch die Uneinigkeit im Deutschen Reich kamen der Wichtigkeit des vergangenen Schisma und der Reformen gleich; und dieses gute Kind war ahnungslos über den Lauf der Welt geblieben, obgleich es sich unter die Großen der Welt gemischt hatte. Oder spielte es nur die Ahnungslose in seiner Schlauheit? Die Jungfrau hatte ja einmal dem Grafen von Armagnac Antwort geben müssen, welchen der drei Päpste er anerkennen solle. Johannas briefliche, recht vage Antwort wurde nun verlesen, und man fragte sie, ob das ihre Antwort sei. «Zum Teil, nicht ganz. Ich wußte nicht, was ihm antworten.» Wie hätte sie es auch wissen sollen? Nein, die Päpste eigneten sich auch nicht als <stumbling block>, wie die Herrn Engländer sich ausdrückten. Nun versuchte man, sie durch einen ihrer herausfordernden, siegesgewissen Briefe, den man verlas, einzuschüchtern. Die Jungfrau nannte sich darin den <Kriegsherrn> Frankreichs und wandte sich drohend an den König von England, an den Herzog von Bedford, an den Earl of Suffolk, an Lord Talbot und andere Kriegsgewaltige. Wenn der Brief nach der Verlesung keinen zornigen Aufruhr verursachte, dann nur deshalb, weil die meisten der Forderungen der Jungfrau nicht beachtet worden waren, und ihre Drohungen den Himmel zu keiner Rache an England veranlaßt hatten. Johanna war gereizt, sie verkündete auch jetzt noch die Vertreibung der Engländer aus Frankreich, «ehe sieben Jahre um sind». Im übrigen würde es sie zornig machen, wenn die Befreiung sich noch so lange hinzöge. «Ich weiß es durch meine Offenbarung, so sicher, wie Ihr alle vor mir seid!» Es waren ihre leidenschaftlichen Wünsche, die ihr Offenbarungen eingaben. Nicht sieben, sondern zweiundzwanzig Jahre sollte es noch dauern, bis der Hundertjährige Krieg im Jahre 1453 sein Ende fand mit der Kapitulation von Bordeaux. Noch ein kleines Hin und Her der Weissagungen über die Daten des Kriegsendes. Der Krieg, dessen Ausgang noch niemand kannte, war ein heißes Eisen. Wenn Pierre Cauchon Johanna hätte schwer schaden wollen, so hätte er dieses Thema, zu dem Johanna sich so unvorsichtig äußerte, nur fortzusetzen brauchen; aber er lenkte rasch ab und ließ den beauftragten Richter zu der Frage der Heiligen zurückkehren. Nach einigen, schon mehrmals gestellten Fragen wollte der Richter jetzt wissen, ob die Heiligen Haare hätten. Johanna antwortete in aller Ruhe: «Das will ich meinen.» Damit war das Zwiegespräch ins Rollen gekommen. Der Richter fuhr fort: «Haben sie lang herabhängendes Haar?» «Davon weiß ich nichts. Ich weiß auch nicht, ob sie Arme oder andere Gliedmaßen haben, doch sprechen sie schön und deutlich, und ich habe sie völlig verstanden.» «Wie konnten sie sprechen, wenn sie keine Glieder hatten?» [71] Die Fragen des Richters berührten Johannas Offenbarungen kaum, deshalb antwortete sie mit ihrem vielgerühmten Mutterwitz. Das Verhör dieses Tages scheint auch den Richtern ein erheiternder Zeitvertreib gewesen zu sein, denn was an diesem ersten Märztage gefragt wurde, stand in keinem Verhältnis zu dem Wissen und dem Forschergeist der Mitglieder der berühmten Universität von Paris. Aus welchem Grunde die Erscheinungen sprechen konnten, das wußte Johanna nicht. «Ich halte mich an Gott», sagte sie resigniert. «Die Stimme <der heiligen Katharina> ist schön, innig und demütig, sie spricht die Sprache Frankreichs.» «Spricht die heilige Margareta nicht englisch?» «Warum sollte sie englisch sprechen, da sie nicht auf seiten der Engländer ist?» Gute Antwort! «Trugen die Heiligen außer den Kronen goldene Reifen oder anderes auf ihren Häuptern?» nämlich den <Heiligenschein> in Reifen- oder Strahlenform, wie Johanna ihn von Gemälden oder Holzschnitzereien kannte. Johanna in ihrer Klugheit antwortete vorsichtig: «Davon weiß ich nichts.» Nun wandte der Richter sich den Versprechungen zu, die der Jungfrau von den heiligen Frauen gemacht worden seien. Warum quälte man sie so? Was sollte sie antworten? Immer häufiger ruft sie aus: «Ich weiß es nicht» oder «Ich erinnere mich nicht» oder «Das gehört nicht zum Prozeß». Das Heiligste ihres jungen Lebens, das sie nie hatte preisgeben wollen, entreißt man ihr durch heuchlerische Fragen. «Eure Stimmen haben Euch gesagt», tönt es zu ihr hernieder, «daß Ihr, noch ehe drei Monate vergangen sein werden, befreit würdet.» «Ich weiß nicht, wann ich befreit sein werde, jene, die mich von dieser Welt ausstoßen möchten, könnten immerhin auch vor mir gehen müssen!» Will das Mädchen drohen? So wird er, Monseigneur Pierre Cauchon, ihr auch eine drohende Frage stellen: «Was habt Ihr mit Eurer Alraune getan?», diesem Attribut der Hexerei. [72] In der Unschuld eines Mädchens, das von der angeblichen Entstehung einer Alraune nichts weiß, antwortete Johanna: «Ich habe keine Alraune, noch habe ich je eine gehabt. In der Nähe unseres Dorfes soll es eine geben, doch habe ich sie nie gesehen. Man sagt, es sei gefährlich sie aufzubewahren; ich weiß nicht, wozu sie dient.» Der Bischof wendet sich lieber den Heiligen wieder zu. Er will wissen, wie das Aussehen des heiligen Michael ist. Johanna sagt, sie habe keine Krone auf seinem Haupte gesehen und von seinen Gewändern wisse sie nichts. «War er nackt?» «Meint Ihr, Gott habe nichts, ihn zu kleiden?» «Hatte er Haare?» «Warum sollte man sie ihm abgeschnitten haben?» «Hatte er eine Waage?» «Ich weiß es nicht. Ich habe eine große Freude, wenn ich ihn sehe. Es scheint mir, wenn ich ihn sehe, dann bin ich nicht im Stande der Todsünde.» Johannas Antworten ließen sich nicht zu der Schuld verknüpfen, die sie der kirchlichen Gerichtsbarkeit ausliefern mußte. Aber das immerfort kreisende Rad lächerlicher Fragen und nichtssagender Antworten muß einem bestimmten Zweck gedient haben. Dieser Zweck war Zeitgewinn, und Zeitgewinn konnte nur Johanna dienen und niemandem sonst. Welche Bemühungen verbargen sich hinter den öffentlichen Gerichtssitzungen? Jean d'Orléans und La Hire befanden sich immer noch nahe Rouen in Louviers; am 14. März sprach Johanna von ihrer Überzeugung, aus dem Kerker befreit zu werden, vielleicht daß «irgend ein Aufruhr während des Prozesses entsteht, oder daß ich durch einen großen Sieg befreit werde.» Daß Johanna sich weigerte, ihre Männerkleidung abzulegen, obgleich gerade diese <Schamlosigkeit> ihr als einer der stärksten Anklagepunkte immer wieder vorgehalten wurde, zeigt, daß sie auf ein Entweichen rechnete, das nur in Männerkleidern möglich war. Der stärkste Hinweis auf ein Komplott, das ihrer Befreiung galt, ist das Auftreten eines gewissen Loiseleur.
Nicolas Loiseleur pflegte, von einem nicht genannten Datum an, bei einbrechender Dunkelheit in Johannas Kerker zu erscheinen. Er war ein Priester, der mit Wissen Pierre Cauchons Johannas Vertrauen erringen sollte. Er gab sich vor ihr als ein Schuhmacher aus Lothringen aus und sollte sie - angeblich - über religiöse Fragen aushorchen. Dieses <Aushorchen> war aber bei Johannas offner Sprache bei der fast täglichen Befragung gar nicht nötig, auch hätte Johanna einen Mann, der nicht Lothringer war, sofort an der fremden Aussprache ihres heimatlichen Dialekts erkannt. Die offen besprochene Rolle eines Aushorchers sollte wohl viel eher die Engländer täuschen. Er könnte ein Bote zwischen Louviers und Rouen gewesen sein, der Johanna von einem <Aufruhr während des Prozesses> oder von einem <Sieg über die Engländer> gesprochen hat. Nach einiger Zeit gestand er Johanna, daß er Priester sei und ihr die Beichte abnehmen dürfe; sie war ja seit Monaten ohne jeden kirchlichen Trost geblieben. Wenn Loiseleur ihr als Beichtiger dienen durfte, so konnte es nur mit der Erlaubnis des Bischofs geschehen. Die Notare Manchon und Boisguillaume, vielleicht auch Cauchon selber, verbargen sich in einem Seitengemach hinter einem Spionenloch in der Mauer, durch das sie Johanna sehen und hören konnten.*
(*»... une chambre prouchaine, ou estoit ung trou par lequel on pouvoit escouter, affin qu'ilz peussent rapporter ce qu'elle disoit ou confessoit audit Loyseleur ... pour trouver moien de la prendre captieusement« (Quicherat: Prozesse, Band II, S. 332)
[74] Boisguillaume, einer der Lauscher, sagte im zweiten Prozeß aus, welchen Rat Loiseleur der Gefangenen gab: sie dürfe den Theologen, die den Prozeß führten, kein Vertrauen entgegenbringen, wenn sie es täte, würden sie sie vernichten. Sollten diese Worte, denen Cauchons Leute zuhörten, Johanna in die Schuld hineintreiben, die er, der Bischof, brauchte, um sie unter seine schützende Gewalt zu bekommen? Die Rolle eines allergemeinsten Verräters, in der man Loiseleur meistens beschreibt, hat dieser Mann bestimmt nicht gespielt, sie wäre ohne jeden Sinn und Zweck gewesen, die Gründe zu seinem Erscheinen sind nie aufgeklärt worden, aber sie werden von langer Hand vorbereitet und wohldurchdacht gewesen sein. Um Zeit und immer wieder Zeit vergehen zu lassen, befahl der Bischof von Beauvais den Richtern und Doktoren beider Rechte, eine Woche lang die Protokolle zu studieren, während er im Kreise der bedeutendsten Gelehrten in seiner fürstlichen Residenz Rat zu pflegen gedachte. Die englandfreundlichen - oder englandfürchtenden Theologen hielten es für ratsam, die Gerichtssitzungen nicht zu unterbrechen, aber Pierre Cauchon bestand darauf, daß man die nächsten Verhöre in Johannas Gefängnis verlegte. Dort konnten sich nur wenige Männer versammeln. Zum Leiter des nächsten Verhörs wurde Jean de la Fontaine, ein Magister der freien Künste, gewählt, ein Mann, der im Begriffe stand, seine Tätigkeit beim Prozeß niederzulegen, weil er mit dem Verfahren gegen ein offensichtlich unschuldiges Mädchen nicht einverstanden war. Neben zwei sonst nicht genannten Personen, nahmen Magister Nicola Midi und Jean Massieu an der Befragung im Kerker teil, zwei Männer, die sich als Freunde Johannas gezeigt hatten. Pierre Cauchon hatte also wohlwollende Frager abgesandt. Als die Männer in Johannas halbdunklen Kerker traten, befreiten sie die Angeklagte von ihren Ketten, und Nicola Midi begann ein unbefangenes Gespräch über die Gefangennahme in Compiègne, über Johannas Wappen, ihre Pferde, ihren Geldbesitz und schließlich über den einen Punkt, an dem die Jungfrau sich in Widersprüche zu verwickeln pflegte: das <Zeichen>, das der König von ihr empfangen habe.
Bei dem Zwiegespräch, das sich nun entwickelte, zeigte Johanna sich als eine solche Phantastin, daß die Männer wohl an eine Verwirrung ihres Geistes zu glauben begannen. Dem Fernerstehenden scheint es, als habe sich Johannas Phantasie in Erinnerungen an das Hofleben geflüchtet, in dem sie während der Wintermonate, wie es Sitte war, dem Vorlesen der Ritterromane gelauscht hatte, in denen die Wunderdinge um den Gral und um Engel, die heilige Gefäße und Salböl vom Himmel bringen, erzählt werden. Sie hatte wohl auch von kostbaren Kleinodien und geheimnisvollen Zeichen gehört, die ihr frommes, einfaches Gemüt mit unvergeßlichen Bildern bereichert hatten. Jetzt, an diesem 10. März nach dem <Zeichen> gefragt, antwortete sie: «Es ist schön und schätzenswert, glaubwürdig und gut und das Kostbarste, das es gibt.» «Aber besteht das Zeichen immer noch?» «Aber ja! Es wird tausend Jahre und mehr bestehen. Es ist in der Schatzkammer des Königs.» «Ist es aus Gold, aus Silber? Ein kostbarer Stein? Eine Krone?» «Ich sage Euch darüber nichts mehr, man könnte kaum etwas so Reiches wie das Zeichen beschreiben.» «Welche Ehrerbietung habt Ihr dem Zeichen bezeugt, als es zu Eurem König kam? Kam es von Gott?» «Es war ein Engel von Gott, der das Zeichen dem König übergab. Und ich dankte Unserm Herrn viele Male. Und die Geistlichen hörten auf, mich zu bedrängen, sobald sie das Zeichen erkannt hatten.» La Fontaine überhörte diesen Vorwurf, der seinem Drängen galt, und fragte ruhig weiter. Vermutlich waren alle Anwesenden wißbegierig, wie Johanna das Märchen noch ausspinnen würde. «Aber wie konnten die Geistlichen glauben, daß es ein Engel war?» «Durch ihre Gelehrsamkeit und weil sie Geistliche waren.» Eine Antwort, die nur ein Kind des Volkes geben konnte, dem gelehrte Männer als höhere Wesen erschienen. Das Verhör bricht hier ab. Es beginnt am Tage darauf wieder mit der Frage des <Zeichens>. Dieses Mal war der Stellvertretende Inquisitor, Bruder Jean Le Maitre, der Befrager. Wie der Engel die Krone überbracht habe, wollte er wissen. «Sie wurde einem Erzbischof übergeben, dem von Reims, glaube ich. Der Erzbischof hat sie empfangen und dem König gebracht. Ich war selbst dabei.» «Wohin wurde sie gebracht?» «In das Gemach des Königs im Schloß Chinon.» «Kam der Engel, der sie brachte, von oben oder von der Erde?» «Er kam von oben, er trat durch die Türe ein.» «Ging er, während er sich näherte, auf der Erde bis zum Eingang des Gemachs?» «Als er vor den König kam, machte er ihm die Ehrenbezeugung, indem er sich vor ihm verneigte, und sagte, der König erhalte das gesamte Königreich Frankreich mit der Hilfe Gottes und meiner Anstrengungen. Ja, von der Türe ab ging er, auf den König zukommend, auf dem Boden.» «Wie groß war der Abstand zwischen der Schwelle und dem König?» «Ich meine, sicher die Länge einer Lanze. Als der Engel kam, begleitete ich ihn und ging mit ihm über die Treppe zum Gemach des Königs. Der Engel trat zuerst ein, und ich sprach zum König: <Sire, hier ist Euer Zeichen, nehmt es an).» «Wo erschien er Euch denn?» «Ich war fast immer im Gebet, daß Gott dem König das Zeichen sende. Ich war in meiner Herberge bei einer Bürgerfrau, nahe beim Schloß von Chinon, als er kam. Und dann gingen wir gemeinsam zum König. Er war von andern Engeln begleitet, die niemand sonst sah.» «Sahen alle, die dort beim König waren, den Engel?» «Ich denke, daß der Erzbischof von Reims, die Herren d'Alencon und de La Trémoille und Charles de Bourbon ihn sahen.» Sogar der Sire de la Trémoille hatte Augen für den Engel gehabt, er, der doch ein ausgemachter Teufel in Menschengestalt war. Jean Le Maitre fuhr fort: «Waren nicht noch andere in Begleitung des Engels und ihm im Aussehen ganz ähnlich?» Johanna nimmt spontan die anregende Frage auf und antwortet wie in Trance: «Sie ähnelten einander sehr, manche hatten Flügel, manche trugen Kronen, andere nicht. Und in ihrer Schar waren die heilige Katharina und die heilige Margareta. Zusammen mit den anderen Engeln geleiteten sie diesen einen Engel bis in das Gemach des Königs.» «Sandte Gott seinen Engel um Euretwillen?» «Er kam um einer großen Sache willen. In der Hoffnung, daß der König dem Zeichen glaubte. Es ging um die Hilfe für Orléans und den König und um die Rettung des Herzogs von Orléans.» «Aber warum bediente er sich gerade Eurer?» «Es gefiel Gott, durch eine einfache <Magd>, <une simple pucelle>, die Feinde des Königs zurückzuschlagen.» «Ist Euch gesagt worden, woher der Engel die Krone nahm?» «Sie ist durch Gott gebracht worden. Es gibt keinen Goldschmied dieser Welt, der sie so schön und reich zu machen wüßte. Wo er sie hergenommen, da verweise ich auf Gott.»... «Als der König und die mit ihm waren das Zeichen gesehen hatten und den Engel auch, der es herbeigetragen hatte, fragte ich den König, ob er zufrieden sei. Er antwortete: <Ja>. Da ging ich zu einer kleinen Kapelle, die ganz nahe war, und da hörte ich sagen, daß nach meinem Aufbruch mehr als dreihundert Personen das Zeichen gesehen hätten. Und daß Gott es denen von meiner Partei erlaube, das Zeichen zu sehen; das geschah um meinetwillen, damit man aufhöre, mich mit Fragen zu quälen.» Diese Drohung schüchterte Le Maitre wiederum nicht ein; er fragte Johanna: «Habt Ihr und der König dem Engel keine Ehrerbietung erwiesen, als er das Zeichen brachte?» «Ich wohl; ich kniete nieder und entblößte mein Haupt.» Die Herren, die im Gefängnis um Johanna herumstanden, werden nicht gewußt haben, ob sie über Johannas Phantasien lachen oder zürnen sollten. Der Bischof selbst mußte es hören. Die würdigen Männer, die Johanna in ihrem Kerker umstanden, werden gedacht haben: Im Grunde erzählt das wunderbare Mädchen seine eigene Geschichte, und es sollte wirklich der Augenblick kommen, da Johanna, in die Enge getrieben, ausrief : «L'ange c'etait moi!» «Der Engel war ich.» Pierre Cauchon erschien, neugierig gemacht, am 12. März, begleitet von sechs Theologen und Doktoren nebst einem Sekretär in Johannas Gefängnis. Le Maitre sagte, sichtlich angeregt: «Beginnen wir wieder. Johanna, hat der Engel, der das Zeichen brachte, gesprochen?» «Ja. Er sagte dem König, er solle mir den Befehl übertragen, und das Land werde bald gerettet sein.» Ein redender Engel? Die Herrn Gelehrten tauschten Blicke. Das gute Kind! So sprach man nicht von einer Vision, sondern von einem plötzlichen, durch die Angst eingegebenen Einfall. In scheinbarem Glauben an Johannas Worte fuhr Jean Le Maitre fort: «War es derselbe Engel, der das erste Mal erschien, oder ein anderer?» «Es war immer der gleiche; nie hat er mich verlassen.» Darauf der Frager mit leisem Spott: «So hat Euch der Engel nie im Stiche gelassen, außer als Ihr gefangen genommen wurdet?» «Ich glaube, es war das Beste, daß ich gefangen wurde, da es der Wille Unseres Herrn ist.» Der Bischof von Beauvais ließ Johanna keinen Tag ruhen.
Am 14. März, schon zu früher Stunde, rasselten die Schlüssel wieder außen an der eisenbeschlagenen Türe; die Soldaten mußten den Raum verlassen, und die Herren traten ein. Dieses Mal war es ein ungenannter Richter, der die Fragen zu stellen hatte. Als neuer freundlicher Geist war Bruder Ysambert de la Pierre zugezogen worden, der von nun an wahrhaftig wie ein Engel vom Himmel - Johanna bis zu ihrem letzten Augenblick hilfreich zur Seite stehen sollte. Heute wollte der Bischof Johannas Selbstmordversuch, wie er es sah, untersuchen. Der Frager sagte zu der Gefangenen: «Wolltet Ihr Euch töten, als Ihr vom Turm in Beaurevoir sprangt?» «Nein, als ich sprang, befahl ich mich Gott an. Ich glaubte, durch den Sprung den Engländern zu entrinnen und ihnen nicht ausgeliefert zu werden.» Der Frager behauptete nun, die Damen von Beaurevoir hätten zu Protokoll gegeben, Johanna habe, als sie die Sprache wiederfand, Gott und die Heiligen gelästert und ihnen geflucht. «Das ist mir nicht erinnerlich», sagte die Jungfrau ruhig; es scheine ihr undenkbar, daß sie je, auch bei halber Besinnung, Gott geleugnet habe. Die heilige Katharina wird nun wieder in das Verhör einbezogen. «Wenn ich ein Anliegen an die heilige Katharina habe, so halten sie und die heilige Margareta sogleich Rücksprache bei Unserm Herrn, und dann geben sie mir auf seinen Befehl die Antwort... die heilige Katharina hat mir versichert, ich würde Hilfe empfangen, ...auch sagte sie mir: <Nimm alles auf dich, habe keine Angst vor deinem Martyrium, du wirst am Ende in das Paradies eingehen.> Und das versichern mir meine Stimmen unbedingt. Ich nenne Martyrium die Drangsal und die Widerwärtigkeiten, die ich im Gefängnis erdulde, und ich weiß nicht, ob ich noch mehr erleiden muß; aber ich vertraue auf Unsern Herrn.» Die anwesenden Priester waren sehr erschrocken: Johanna glaubte, daß sie allein geradewegs in das Paradies eingehen werde? «Ich glaube fest, daß ich gerettet werde, wie meine Stimmen mir gesagt haben. Ich glaube es so fest, als ob ich schon dort wäre.» «Das ist eine Antwort von großem Gewicht», sagt der Richter erschüttert; diese Antwort kann das Mädchen vernichten. Trotz dieser trüben Aussicht gehen Tage und Wochen hin, und nichts Entscheidendes ereignet sich. Graf Warwick erschien bald bei den öffentlichen Sitzungen, bald bei den Verhören im Kerker; er war zornig und voller Ungeduld; der Bischof solle sich beeilen und den Prozeß abschließen. Das Hexenmädchen mußte sterben, daran war nicht zu rütteln, der Form war jetzt genug getan. Es seien noch die theologischen Fragen zu behandeln. Zeitverschwendung! Davon verstehe das Mädchen nichts. Man würde es belehren. Aber sogleich. Noch heute. Gewiß, man würde heute nachmittag beginnen.