Die Gründe, die Burgund im Sommer 1419 von einem Verrat zum andern führten, wurzelten in der gefährlich wachsenden Macht der Armagnacs, die ganz Südfrankreich bis über die Loire hinauf beherrschten und als Trumpf den Dauphin Karl »besaßen«. Karls Umgebung, die aus klugen und besonnenen Männern bestand, gedachte Burgund durch einen Friedensschluß mit Karl aus dem englischen Bündnis zu lösen. Die Universität und die Bürger von Paris hatten eine Gesandtschaft an Karls Hof in Bourges geschickt; sie flehten den zukünftigen König an, zu seinem geisteskranken Vater zurückzukommen und ihm und der Stadt beizustehen. Regnault de Chartres, der Erzbischof von Reims und Kanzler des Landes, drängte den jungen Karl, unterstützt von dem ausgezeichneten Jean Juvenal des Ursins, von Yolanda von Anjou, vom Marschall Rochefort, von Barbazan, dem Urbild des »Chevalier sans reproche«, einem der fähigsten Heerführer der Zeit, und vom klugen Gérard Machet, er müsse den Zug nach Paris wagen.[12] Er wurde gewagt, aber endete schon vor Tours, dank Karls Abneigung, die emsige, blühende Stadt einer vernichtenden Belagerung auszusetzen. Man kehrte heim nach Chinon, dem herrlichen Schloß an der Loire. Karl wollte mit Burgund verhandeln. Der Rat willigte ein unter der Bedingung, daß der Herzog der Bretagne zum Vermittler zwischen Karl und Johann von Burgund eingesetzt werde, um dem Dauphin zu seiner angestammten Stellung in der Hauptstadt zu verhelfen. Ein Hohnlachen Burgunds war die Antwort. Niemals würde er den Griff lockern, in dem er Paris und die königliche Familie hielt! In einem Traktat, das der Dauphin unterschreiben sollte, stellte er ihn vor die vollendete Tatsache: der unabänderlichen Vormachtstellung Burgunds über Paris. Zum Trost wurde Karl die Prinzessin Marie d'Anjou, seine Braut, unter sicherem Geleit zurückgegeben. Den Friedenstraktat, der Karl seine Hauptstadt vorenthielt, unterschrieb er nicht. Burgund geriet in helle Wut über den Widerstand des »Kleinen« und streute aus, der Dauphin sei im geheimen englandfreundlich und paktiere mit Heinrich V. [13] Sofort wandte sich die Gunst der Pariser von Karl ab, ahnungslos, daß Johann ohne Furcht sie zynisch belog, wie er Heinrich V. belog. Burgund dachte nicht daran, die Engländer fallenzulassen; er wollte ihnen nur so lange Rätsel aufgeben, bis er mit Karl einen festen Vertrag geschlossen hatte, der ihn, Johann, zum eigentlichen König von Frankreich machte. So schlug er das Städtchen Montereau an der Yonne für eine Begegnung vor. Der Tag des Vertrages sollte der 10. September 1419 sein. Karls Berater waren außer sich über die durchsichtige »Friedensbereitschaft« Burgunds. Ein Vertrag konnte unabsehbare Folgen haben. Johann war ein notorischer Verräter; er würde den Dauphin in seinen schlau ausgelegten Netzen fangen. Isabeau, Karls Mutter, war Burgunds Geliebte, sein Vater war nicht fähig zum Regiment. Johann würde sich mit England das französische Land teilen und den Dauphin beseitigen, wie er Ludwig von Orléans beseitigt hatte. Der Dauphin aber war aus Bequemlichkeit zu jeder Art von Friedensschluß bereit, darum ballte sich der Widerstand gegen Burgund erst recht zusammen. Johann ohne Furcht erriet ohne Mühe die Wut, die ihm entgegenschlug, vor allem, weil die Anhänger Ludwigs von Orléans, des Ermordeten, unter den Beratern des Dauphin waren. Deshalb ließ er die Unterredung mit aller erdenklichen Umsicht vorbereiten. Ein sicherer Punkt schien ihm die Brücke über die Yonne zu sein, dort schwebte man auf kleinstem Raum wie in der Luft. Bis in alle Einzelheiten wurde die Sicherheit der beiden hohen Personen vorbereitet. Karl wohnte in einem festen Haus inmitten der Bürger, Johann im Schloß, dessen Mauern aus den Wassern des Flusses aufstiegen und das mit mächtigen Türmen gegen die Stadt gesichert war. Auf dem Höhepunkt der gewölbten Brücke war ein schöngeschmückter Pavillon errichtet worden, auch hatte man an beiden Enden der Brücke Schranken gebaut, damit kein Verräter den geheiligten Boden einer unverletzbaren Zone betreten könne. Daß feierliche Schwüre der Urfehde für die Dauer der Unterredung abgegeben wurden, war selbstverständlich. Trotzdem soll man Burgund in letzter Stunde gewarnt haben; der Mord an Orldans sei ungesühnt, den Armagnacs dürfe er nicht trauen, aber Johann war wie immer ohne Furcht. Der Gedanke an eine Verletzung der beschworenen Sicherheit war so ungeheuerlich, so sehr entgegen dem höchsten ritterlichen Gesetz, daß der Herzog den jungen Karl nicht für fähig hielt, es zu brechen. Was ihn selber betraf... aber er wollte ja nicht das Leben des Dauphin, sondern seine willenlose Gefolgschaft. Burgund irrte sich nicht, Karl hegte loyale, unbefangene Absichten. Er würde tun, was von ihm erwartet wurde, er ließ sich schieben. Als Burgund dem jungen Karl am 10. September 1419 auf den Planken über der frischströmenden Yonne entgegentrat, wurde die Schranke zwischen ihm und seinen zehn Begleitern geschlossen; daß sie zwischen Karl und seinen Rittern offen blieb, konnten die Burgunder wegen der Wölbung der Brücke nicht sehen. Die Besprechung zwischen dem älteren und dem jüngeren Fürsten hatte begonnen, aber da wurden sie von den Armagnacs, den alten Gefährten Ludwigs von Orléans, umringt. Die Degen sind gezogen, Johann erkennt die Gefahr, er öffnet den Mund, um nach seinen Begleitern zu rufen, aber schon stoßen die Klingen zu und blitzt die Streitaxt Tanneguy de Chastels auf, in Sekundenschnelle saust sie hernieder auf Johanns ungeschütztes Haupt, er bricht in die Knie und liegt mit gespaltenem Schädel und vielfach durchstochen zu Füßen seiner Angreifer. Ein alter Holzschnitt zeigt den Dauphin mit betend aneinandergelegten Händen, halbabgewandt, am gegenüberliegenden Geländer lehnend; er scheint wie gelähmt vor Schrecken. Und es muß ihn in Wahrheit wie ein Todesstoß getroffen haben, daß von seiner Seite ein nie zu verzeihender Treuebruch begangen worden war. Seine Gefolgschaft war schuldig, o Gott, und hatte ihn schuldig gemacht! Sie hatte ihm die Ehre abgeschnitten; nie würde die Welt ihm diesen schmählichen Verrat verzeihen! Die Brücke hatte sich mit Gepanzerten gefüllt. Das Entsetzen der Burgunder war so groß, daß sie, kopflos, nicht wußten, was zu tun war. Keiner schritt zur Rache; sie knieten ratlos um das zerschmetterte Haupt ihres großen Herzogs. Die Mörder schlichen rasch davon, den fassungslosen Dauphin mit sich ziehend, bevor die Burgunder sich ermannten und auch ihn erschlugen. Karl verbarg sich in einem Turmzimmer seines Quartiers wie ein Geächteter. Ohne zu essen, ohne zu trinken saß er regungslos in einem dunklen Winkel, zermalmt von den quälenden Gedanken über die Kette des Unheils, die nicht abreißen wollte. Seine Umgebung konnte ihm nicht verhehlen, daß die Empörung in der Stadt unter hoch und niedrig wie ein verhehrendes Unwetter ausgebrochen sei und daß die Schreckenskunde sich wie springendes Feuer in der Umgegend ausbreite. Schuld und Schande dieses unerhörten Verbrechens wurden einzig auf den Dauphin gehäuft. Aber wäre das Attentat wirklich von ihm vorbereitet worden, so hätte er augenblicklich nach der Ermordung Burgunds seine Eltern, die in Troyes weilten, holen müssen, um mit ihnen in Paris einzuziehen, bevor der Sohn des Gemordeten sich der Hauptstadt vergewisserte. Ehe die Schreckernkunde nach Dijon gelangte, konnten zwei bis drei Tage vergeben. Karl aber blieb wie geschlagen in Montereau, Tag und Nacht neben Gérard Machet am Betstuhl kniend, nicht fähig, einen Entschluß zu fassen oder die Schuldigen hinrichten zu lassen. Währenddessen geriet Paris in eine mörderische Erregung, man sandte Männer aus, den Dauphin zu fangen. Die Kunde drang bis in das Haus zu Montereau. Wo sollte er sich verbergen? Er mußte fliehen. Aber nicht zu seiner Mutter Isabeau, die Geliebte des Ermordeten, verleugnete ihren Sohn; mochte er verkommen, wo er wollte. Es gelang Karl, verkleidet nach Nemours zu entweichen. Hier blieb er bis zum 20. November (1419) und erging sich schriftlich und mündlich in tausend Erklärungen, Entschuldigungen, Protesten. Niemand glaubte ihm. Auch seine EItern beschuldigten ihn offen als Eidbrüchigen und Mörder. Das Wort »die Brücke von Montereau« flog durch das ganze Land, ja weit über seine Grenzen hinaus und mit ihm die Schande des Dauphin. Das Schicksal schlug fort und fort auf den armen jungen Menschen ein, der so gar nicht befähigt war, die Grausamkeiten, die mit seiner hohen Stellung verflochten waren, abzuwehren. Nach dem Mord an Jean sans Peur brach er unter der Last eines Verbrechens zusammen, das er niemals gewollt hatte. Er sprach davon, seine Würde als Thronfolger von sich zu werfen, in ein Kloster zu gehen, oder zum König von Schottland, dem traditionellen Verbündeten der Könige von Frankreich, zu fliehen. Aber seine Bundesgenossen im Süden des Landes zwangen ihn, der Flut, die sich gegen ihn erhoben hatte, standzuhalten. Der Bürgerkrieg, der hatte verlöschen wollen, war von neuem ausgebrochen. Mehr als die Hälfte Frankreichs wandte sich vom Dauphin ab. Der Mord auf der Brücke von Montereau, das Hinschlachten des mächtigsten Landesfürsten, der dem königlichen Blut der Valois angehört hatte, riß den Abgrund zwischen den »Bourguignons« und den »Armagnacs« weiter auf, denn je vorher. In Städten, Dörfern, Schlössern, Gehöften und unter den umherstreifenden Banden, überall nördlich der Loire raunte, erzählte, schrie man vom mörderischen, wortbrüchigen Dauphin. Der Held dieses verworrenen jahresendes 1419 war Philipp, der Sohn des Ermordeten, der neue Herzog von Burgund mit dem Zunamen »der Gute«, ein schöner, temperamentvoller Mann von fünfundzwanzig Jahren, der in seiner stürmischen Art jetzt nur eines kannte, offen zu den Engländern überzugehen, Heinrich V. aus seiner Verwirrung über die Abkehr des ermordeten Jean sans Peur zu reißen und mit ihm, dem König von England, gegen die Partei des Dauphin, die Armagnacs und die Orléans, zu ziehen. Philipp von Burgund besaß nun, da das Volk den Dauphin verworfen hatte, die unbestrittene Herrschaft über Paris; denn jedermann wollte »Burgunder« sein, um nicht als früherer »Armagnac« niedergemetzelt zu werden; die Denunziation blühte wie noch nie. Niemand wußte, was jetzt geschehen würde; man hielt sich still und erwartete ein neues Blutbad. Daß der sehr junge Saint-Pol, der Neffe des neuen Herzogs von Burgund, Kommandant von Paris wurde, ging noch hin, daß aber der junge Mann in diesem November 1419 zu Heinrich V. gesandt wurde, ließ große Dinge ahnen. Saint-Pol sei im Namen des Königs, der Geistlichkeit, der Universität und der Bürger mit fürstlichem Gefolge abgereist, so hieß es unter den Leuten, die an den Absichten der Großen rätselten. Sollte Paris an die Engländer ausgeliefert werden? Mußte Karl VI., der »Vielgeliebte«, der »Verrückte«, zu allem ja und Amen sagen? Hatte Gott Frankreich ganz verlassen? Der junge Saint-Pol wurde sehr freundlich und in allen Ehren vom englischen König empfangen, und dann begannen lange Verhandlungen, in denen sich Heinrich V. als Verbündeter Burgunds bereit erklärte, die Partei des »Sogenannten Dauphin« zu vernichten und die Thronfolge des jungen Karl zu hintertreiben. Aber er, Heinrich, stelle Bedingungen: seine Vermählung mit Katharina, der jüngsten Königstochter von Frankreich, solle sobald als möglich vollzogen werden. Ferner erhebe er, als Schwiegersohn Karls VI., für sich und seine Nachkommen Anspruch auf die französische Krone, da ja nun kein männlicher Nachfolger für den französischen Thron vorhanden sei. Während Karls VI. Lebzeiten werde er, Heinrich V., die Regentschaft übernehmen. Unterhändler jagten zwischen dem englischen und dem französischen Hof hin und her. Isabeau war mit allen Bedingungen einverstanden, solange sie ihrem verhaßten Sohn schaden konnte. Jetzt geschah das Unerhörte, daß sie in vertraulichem Kreise erklärte, Karl sei ein Bastard, von ihr geboren, vom königlichen Blut der Valois, aber ein Sohn Ludwigs von Orldans, des Bruders des gesalbten Königs. Wie Wellen verbreitete sich das schamlose Geständnis vom Königspalast unter das Volk von Paris, hinaus ins Land, in alle Provinzen und Herzogtümer; es drang zu den fremden Höfen, von Savoyen bis Ungarn, von Venedig bis Kastilien. Daß Könige ihre Bastarde anerkannten, sogar stolz auf ihre große Kinderschar waren, daran nahm die Zeit keinen Anstoß, daß aber eine Königin, eine Frau, ihren Ehebruch öffentlich proklamierte, ihren Sohn als Bastard erklärte, das schlug jeder Sitte ins Gesicht. »Die Frau«, »die Herrin«, galt immer noch, trotz der Laster, die eingerissen waren, als die Unberührbare, der Ehrfurcht gebührte, als das Idol der Männerwelt. Weder Adel noch Volk faßten diesen Verrat an der Würde der Weiblichkeit, und als die Eingeweihten gar erfuhren, daß Isabeau für die Wahrheit - oder die Lüge - ihrer Aussage vom König von England eine Pension von zweitausend Goldfranken im Monat verlangte und erhielt, war sie für alle Zeiten als Monstrum unter den Weibern gerichtet. Man pflegt über Tote nichts Schlechtes zu sagen, als aber die Königin Isabeau fünfzehn Jahre nach dem Vertrag von Troyes einsam starb, ohne daß ein Bischof ihren toten Leib nach Saint Denis begleitete, gab man ihr die Grabinschrift, die, ins Deutsche übersetzt, heißt:
«Königin, schuldige Gattin und noch schuldigere Mutter.
Nachdem sie das Königreich den Engländern ausgeliefert hatte,
Gegenstand der Verachtung und des Abscheus der Franzosen,
ruht hier Isabella von Bayern« [14] [14]
In ganz Nordfrankreich war man jedoch geneigt, zunächst die Augen vor dem Bösen zu schließen und zu bejubeln, was nicht gerade Mord und Totschlag war. Wenn nur die Großen die Kleinen in Ruhe ließen! So nahm man es widerspruchslos hin, als am 12. Mai 1420 in Troyes ein Vertrag geschlossen wurde, in dem Karl VI., »Le Bien-aimé, »Le Fou«, Krone und Königreich für immer seinem »Sohn«, Heinrich V. von England, und dessen Erben übergab. Es hieß, der König von England werde sofort die Regentschaft antreten, mit der Erlaubnis, alle ungehorsamen französischen Untertanen zu strafen und zur Unterwerfung zu zwingen [15] Mit Karl, dem »Soit-disant dauphin«, dem »Sogenannten Dauphin«, dem Mörder Johanns von Burgund, dürften weder Heinrich noch Philipp, der in Troyes anwesend war, jemals in ihrem Leben Frieden schließen. Und dann wurde Heinrich V. der schönen Katharina, die eine leidenschaftliche Liebe zu ihm gefaßt hatte, am 21. Mai 1470 in der Kathedrale von Troyes angetraut. Der feierliche Einzug in Paris konnte aber noch nicht stattfinden. Man rechnete mit sechs Monaten, um eine fürstlich ausgerüstete Gefolgschaft vorzubereiten. Am 1. Dezember dieses Winters 1420 standen von früh an trotz der Kälte Tausende außerhalb und innerhalb von Paris am Weg, auf dem Heinrich V. von Lancaster, König von England und Regent von Frankreich, zwischen Karl VI. und Philipp von Burgund in die Stadt einziehen sollte. Hinter Heinrich ritten seine Brüder, die Herzöge von Gloucester, von Bedford und von Clarence, andere Herzöge und Grafen, unter ihnen Richard de Beauchamp, Earl of Warwick, der Vertraute des Königs, ein Mann, der als einer der siegreichsten Heerführer in Frankreich bekannt war. Unter einem Jubel ohnegleichen zog der einstige Feind vorbei, das Volk wollte glauben, daß Heinrich V., dessen Menschlichkeit viel gerühmt wurde, ihm kein schlechter König sein werde; auch war er ja der Gatte der schönen Katharina, sie konnten durch ihre Ehe beiden Ländern einen einzigen König geben; es würde Friede sein, und das Land erblühen. Der junge König war schön, freundlich und ein großer Kriegsheld; seinen Namen schändeten kein Mord und kein Laster. Es ging wie helles Licht von diesem blonden Haupt unter der Königskrone aus, wie hätte man nicht jubeln sollen? War nicht sogar Karl, der Verrückte, neben ihm genesen? Er grüßte und lächelte wie ein gesunder Mann. Auf dem Höhepunkt des Hochzeitsfestes wurde Heinrich von Karl VI. als »seul fils du roi« als einziger Sohn des Königs, ausgerufen. Da habe sich aber kein Applaus erhoben, erzählen die Chronisten, die Tafelrunde sei, verstummt über diesem Verrat am eigenen Sohn, in beklommener Stille verharrt, nur die Musikanten hätten fröhlich weitergespielt.[16] Für Heinrich V. wurde dieses Jahr zum glücklichsten seines Lebens. Er hatte Katharina nach England gebracht, und nun verlebten sie auf Heinrichs Schlössern den Frühling, den Sommer und den Herbst, im Zauber englischer Landschaft, umjubelt vom Volk, wo immer sie sich zeigten; sie waren jung, sie liebten einander und waren glücklich über die bevorstehende Geburt ihres ersten Kindes. Würde es der Knabe sein, der einmal die Doppelkrone von England und Frankreich tragen sollte? Heinrich hatte nicht die Absicht, so bald nach Frankreich zurückzukehren. Sein Bruder Clarence hatte den Oberbefehl über die englischen Truppen, die die früheren Besitzungen für die Krone zurückerobern sollten. Der Krieg schleppte sich jedoch hin, ohne bedeutende Schlachten, nur durch Plünderungen von beiden Seiten und kleine Scharmützel am Leben erhalten. Da traf im Herbst 1421 die Unglücksbotschaft in England ein; der Herzog von Clarence sei in Anjou, dem Lande Yolandas, geschlagen worden und sei in der Schlacht gefallen. Das Kriegsglück drohe sich zu wenden. Die Banden des Sogenannten Dauphin hätten Nimes und Béziers genommen, das Heer verlange Heinrichs Führung.[17] Beendet der schöne Traum von Liebe und Frieden. Trotz Katharinas Tränen zögerte Heinrich nicht, sein Königsschiff zu besteigen, um hinüber in sein Land Frankreich zu fahren. Von den breiten, gewölbten Segeln schimmerten die Lilien Katharinas neben den Löwen Heinrichs, Valois und Lancaster, vom gleichen Wappenschild umfaßt. Zwei Länder unter einem Willen. Heinrichs V. Erscheinen in Frankreich brachte das Kriegsglück wieder auf die Seite der Engländer, denn er selber war der Inbegriff des Sieges, sein Ruhm stand im Zenit. Es war der Ruhm eines maßvollen, gerechten und wohlwollenden Mannes. Man nannte ihn die bedeutendste Persönlichkeit im Europa seiner Zeit. Doch fehlten am englisch-französischen Hofe viele der besten Adelsnamen des Landes. Nachdem Heinrichs Bruder Clarence in Anjou geschlagen und gefallen war und der Süden noch einen Rest von Kraft zeigte, gingen manche große Herren zum Dauphin über. Allen voran der Herzog von Bourbon, der Heinrichs Gefangener gewesen, sodann der junge Herzog von Alencon, dessen Vater unter der ausgestreckten Hand Heinrichs V. bei Azincourt von einem englischen Pfeil zu Tode getroffen worden war, auch die tapferen Männer La Hire und Xaintrailles, zwei bedeutende Heerführer. Aus dem Tagebuch des «Bourgeois de Paris» ersieht man, wie das nationale Gefühl in den Franzosen zu erwachen begann. Gerade durch das feindliche Hin und Her zwischen Norden und Süden lernten sich die Franzosen kennen; die gemeinsame Not des Landes begann sie zu verbinden. Heinrich V. war nicht blind für die Wandlung und für die Gefahren, die seinem Doppelkönigtum drohten. Philipp von Burgund war kein sicherer Verbündeter; er spielte ein Doppelspiel wie sein Vater. Beleidigungen flogen nun zwischen ihm und Heinrich, dem (Regenten) von Frankreich, hin und her. Die Sorgen stiegen um Heinrich von Tag zu Tag. Was am Hofe und im Felde von der tiefen Verwahrlosung Frankreichs erzählt wurde, ließ ihn fast den Aufgaben, die seiner warteten, erliegen; wie Wogen wollten sie über ihm zusammenschlagen. Er führte einen doppelten Krieg: den Krieg Englands zur Rückgewinnung der alten Provinzen auf dem Festland und den Bürgerkrieg als Regent und zukünftiger König von Frankreich gegen den Dauphin und den ungehorsamen Süden. Über das französische Chaos und über ein verarmtes England sollte er herrschen, über zwei Länder, die einander »zu Tode brachten«. Heinrichs Gesundheit schwand sichtlich dahin. Das Gift des Vertrages von Troyes war ihm ins Blut gedrungen, dieses wahnwitzigen Vertrages, dessen böser Geist Isabeau gewesen war. Im Dezember 1421 kam die Kunde zu Heinrich, daß Katharina ihm im Schloß Windsor einen Sohn geboren habe, einen Prinzen von Wales und Dauphin von Frankreich. Der König soll sehr glücklich über die Geburt des neuen Heinrich, der einst der Sechste seines Namens sein würde, gewesen sein, aber er sagte zu seiner Umgebung, daß er hoffe, das Schicksal werde ihm ein langes Leben verleihen, damit er den Erben zweier Königreiche für seine dornige Aufgabe erziehen könne. Möge es ihm doch vergönnt sein, bald nach England zurückzukehren! Aber der Krieg zog sich hin. Vor Orléans hatte Heinrich kein Glück gehabt, und doch mußte man diese Stadt gewinnen, um von hier aus den Süden für die Krone zu erobern.
1422 kam Katharina zu ihrem Gemahl nach Paris. Die Königin erschrak beim Anblick des hageren, farblosen Antlitzes ihres Gatten; er war wie ausgehöhlt von der Last des Daseins. Heinrichs Arzt verhehlte Katharina nicht, daß man den König vor jeder Anstrengung schützen müsse, damit das zarte Gehäuse nicht zusammenbreche. Der Sommer 1422 war ungewöhnlich heiß und Heinrich fast nicht fähig, sich in der Gluthitze unter der Rüstung aufrecht zu halten. Die Ärzte versuchten, ihn zu überreden, bis zum Herbst den Kämpfen fernzubleiben. Trotzdem verließ Heinrich Senlis, wo er an der Seite der geliebten Frau Erholung gesucht, um Philipp von Burgund beizustehen, der die Belagerung seiner Stadt Cosne durch die Armagnacs aufzuheben versuchte. Alle widerrieten dem König, sich der Hitze und den Seuchen auszusetzen, aber er wollte und konnte seiner Bündnispflicht nicht ausweichen, doch gelangte er nur bis Corbeil. Hier brach er zusammen und mußte sein Heer unter der Führung seines liebsten Gefährten, John Talbot, dem Sieger von Melun und Meaux, weiterziehen lassen. Zurück nach Paris. Zu Wasser brachte man den kranken König nach Charenton; von hier wollte er zu Pferd den Wald von Vincennes erreichen - Schatten und Stille. Nach wenigen Minuten des Rittes sank Heinrich ohnmächtig vom Pferd. Man trug ihn auf einer Bahre den langen Weg zum Schloß durch den Bois de Vincennes. Er war sehr krank und schien unerträgliche Schmerzen zu haben. Die Ärzte waren ratlos welche Krankheit sie zu behandeln hatten. War es Dysenterie? War es ein Krebsgeschwür am Magen? Heinrich, der schon sehr abgemagert war, verfiel zu einem Skelett unter gelber, straffer Haut. Er wollte nicht, daß man die Königin beunruhige. Wie sollte sie auch mit ihren Frauen und einer kleinen Eskorte durch das ausgehungerte, von Banden terrorisierte Land von Senlis zu ihm nach Vincennes reiten? Wenn er sterben mußte, so wollte er allein sterben. Nur kurze Zeit dauerte diese letzte, entsetzliche Leidenszeit, der Tod kam unerwartet rasch, als die Freunde des Königs ihn noch ferne wähnten. Einige lechzende Atemzüge an einem erstickend heißen Abend, und Heinrich V. war davongegangen. Es war der 31. August des Jahres 1422, Heinrich war nur fünfunddreißig Jahre alt geworden. Sein Nachfolger, Heinrich VI., war ein Kind von neun Monaten, ein König in der Wiege und Dauphin von Frankreich. Der Tod ging um. Während England und die Königin Katharina noch in Leid und Jammer die Beisetzung in der Westminster Abtei vorbereiteten, diese Trauerfeier für die ganze Nation, die ihren Lieblingshelden verloren hatte, starb im Oktober in Paris Karl VI., »Le Bien-aimé«, »Le Fou«. Er ging dahin in völliger Verlassenheit, schon fast vergessen. In seiner letzten Umnachtung hatte er seit Jahren jedes Wasser zum Waschen verweigert, so hatten die Hofleute und seine Verwandten den völlig verwahrlosten, von Schmutz verkrusteten Mann, dem man nur noch Lumpen zu seiner Bekleidung gönnte, geflohen. Seiner Überführung in die Königsgruft von Saint-Denis folgte fast niemand. In Windsor wurde nun über der Wiege des kleinen Heinrichs VI. eine zweite Krone befestigt, die eines Königs von Frankreich.