Heinrichs V. Spaziergang

6. Kapitel

...war nicht von Glück begünstigt. Der heiße, trockene Sommer war in einen Herbst übergegangen, der Tag und Nacht schwere Regengüsse auf die verdorrte Erde niedersandte. Nach ein bis zwei Wochen hatte sich das Land in einen Morast verwandelt. Die Felder waren abgeerntet, die Bauern geflohen; oft hatten sie ihre Höfe selber niedergebrannt, um dem Feind keine trockene Unterkunft zu lassen. Heinrich V. hatte bei Todesstrafe das Plündern verboten; er führte Geld mit sich, um jede Verpflegung zu zahlen, doch gab es nichts zu bezahlen. Nur in Klöstern konnte man hin und wieder Brot und Wein erhalten; oder ein wenig Wild erlegen, einen Fischzug tun; nach jeder Nacht blieben Tote zurück, die an der Seuche gestorben oder verhungert waren.
Man zog wider Willen die Somme aufwärts, immer nach Osten, denn die Franzosen hatten alle Brücken abgebrochen; man entfernte sich vom Ziel, von Calais, anstatt sich ihm zu nähern. Dieser Marsch bis zu einem Übergang über die Somme, den Heinrich an einer breiten, versumpften Stelle mit Todesverachtung dem Strom abzwang, ist als einer der entsetzlichsten Hungermärsche, den Soldaten je gemacht, in die Geschichte eingegangen. Hätte der junge König nicht für sich, um des guten Beispiels willen, mit zähem Mut und strengster Enthaltsamkeit nur das Nötigste an Nahrung und Bequemlichkeit, und stets als letzter genommen, die ganze Heeresmasse wäre demoralisiert dem Untergang ausgeliefert gewesen. Das Vorbild des Königs rettete das Heer. Erst Ende Oktober traf Heinrich V. plötzlich auf die feindliche Armee. Er und die Seinen, von Schmutz verkrustet, mager, blaß und über die Maßen müde. Ihm gegenüber eine Zeltstadt, bunt, strahlend; der Gewohnheit entsprechend, mit Fußböden aus Bohlen, mit Tischen, Betten, Sesseln eingerichtet; im Hintergrund Küche, Ställe, Vorratsräume. Heinrich schlug sein Lager so nahe auf, daß er die französischen Ritter sehen, lachen und fluchen hören konnte; sie feierten ein großes Fest in der Vorfreude des Sieges über die zerlumpten englischen Haufen. Am nächsten Tag, am 25. Oktober 1415, sollte die Schlacht stattfinden; die Engländer benutzten die Nacht zur Ruhe; die Bogenschützen hatten neue Sehnen aufgespannt und hielten die Bogen unter den Mänteln, an den Körper gedrückt, trocken. Beim ersten Dämmerschein läßt der König die Messe lesen, dann ißt man, was noch vorhanden ist, der letzte Wein wird verteilt; Heinrich wird in die mitgeführten Festgewänder gekleidet und setzt den Helm mit der geschlossenen Königskrone auf sein Haupt. Der Morast zwischen den Armeen war knietief. Die Franzosen standen in dreiunddreißig Linien hintereinander; da rechts und links Wälder lagen, war der Raum eng. Das Fußvolk, das die Ritter verachteten, hatte man hinter die letzte Linie geschickt. Es würde einen herrlichen Zweikampf zwischen Rittern geben, nur Lanze und Schwert sollte gelten! Es drängte einen jeden dieser Helden - die immer noch nichts von der neuen Zeit verstanden hatten - in der vordersten Reihe zu kämpfen, aber die Ehre, als erste mit dem englischen Adel zusammenzutreffen, fiel den Herzögen und Grafen zu. Je nach ihrem Rang wählten sie ihren Gegner aus, den sie an seinen Farben und Standarten erkannten. Wer würde mit dem König selber ringen? Burgund und Armagnac waren nicht erschienen, ebensowenig Karl VI. oder der junge Dauphin Louis, aber der Connetable D'Albret, die Herzöge von Orléans, von Bar, von Alencon, von Bourbon, die Grafen von Eu, Vendôme, Richemont, Nevers und andere hohe Herren hatten sich frühzeitig in der vorderen Reihe aufgestellt, schwer gepanzert, sie selber wie auch ihre Pferde, eine bunte, von Edelsteinen und Goldstoffen glitzernde Ritterschar. Ihnen gegenüber, die englischen Bogenschützen, barfuß, ohne Panzer, nur die Lederhauben mit Eisenbändern verstärkt; am Gürtel Streitäxte und Messer. Heinrich hatte mit den Franzosen durch seinen Gefährten Fastolf einen Vergleich eingehen wollen, aber der Connetable D'Albret, seines Sieges gewiß, hatte nur mit Spott geantwortet.
Nun wohl, so würde man kämpfen und zugrunde gehen. Mit gellendem Kriegsgeschrei stürzten die rauhen Männer aus Wales und von der englischen Seeküste vorwärts. Heinrich sprengte mit den Rittern nebenher; aber wie vor einem gespenstischen Alpdruck hielten die Engländer noch einmal an; die strahlende Fürstenschar rührte sich nicht; kein Roß hob ein Bein, die Herren wanden sich auf ihren Sätteln, man hörte ihr Fluchen, sah sie den Pferden die Sporen geben. Welcher Teufel hielt die Feinde gebannt? Jetzt erriet man es: Die gepanzerten Pferde mit ihrer schweren Last waren vier Hufe tief im Morast eingesunken und vermochten sich nicht zu rühren. Heinrich V. war nicht der Mann, wehrlos festgehaltene Gegner abzuschlachten; er wartete auf halbem Wege, bis die französischen Knappen und Knechte den Pferden und ihren Herren zu Hilfe kamen. Inzwischen aber drängten die hinteren Linien französischer Ritter, die noch trockenen Boden unter sich hatten, nach; so wälzte sich die viel zu dichte Masse von Roß und Reiter auf dem schmalen Terrain vorwärts. Heinrich hatte bei der ersten Bewegung des Feindes mit lauter Stimme den Angriff befohlen. Jeder Bogenschütze stemmte augenblicklich seine zugespitzte Stütze in den Boden, in Sekundenschnelle waren die mannshohen Bogen gespannt, die Pfeile aufgelegt worden. Der Führer, der alte Thomas von Herpingham, hatte seinen Stock in die Luft geworfen, brüllend: «now strike», und eine Wolke von Pfeilen flog den Franzosen entgegen. Auf französischer Seite stürmte die gesamte Reiterschar, gefolgt von den Söldnern, vorwärts, ein Gedränge, ein Schieben und Stoßen entstand, daß die Ritter ihre Lanzen nicht einlegen konnten. Zwei- bis dreitausend Mann hätten hier kämpfen sollen, aber fünfzigtausend waren in Bewegung geraten. Die englischen Bogenschützen waren rechts und links in die angrenzenden Wälder ausgewichen und beschossenvon dorther, gut gedeckt, das völlig disziplinlose Durcheinander der französischen Ritter und Söldner. Die Herren sind vom Pferd gesprungen, um mit dem Schwert zu kämpfen; ihre ledigen Rosse zerstampfen, vom Pfeilregen scheu gemacht, wie rasend den sumpfigen Boden und drängen nach rückwärts; sie finden keinen Durchgang und trampeln das eigene Fußvolk nieder. Die englischen Herren halten wie eine Mauer mit den nackten Schwertern die vorwärts stürzenden Franzosen auf. Auf beiden Seiten kämpfen die Höchsten der Armeen in vorderster Linie. Heinrich V. ist ein gefürchteter Ritter, der Herzog von Alencon nicht minder; sie lassen nicht von einander; ein wuchtiger Streich Alencons, und Heinrichs Königskrone bricht gespalten auseinander; Triumphgebrüll unter den Franzosen. Ein Ring von Feinden bedrängt den König, sein eigener junger Bruder, Humphrey of Gloucester, und die Lords seiner Umgebung stehen ihm bei. Da stürzt Gloucester mit zerschmettertem Arm zu Boden, das Blut strömt durch die Beuge der Rüstung, Heinrich schreit zornig auf, dringt auf den Angreifer seines Bruders ein. Humphrey atmet noch, die Franzosen wollen ihn als kostbare Beute unter den Kämpfenden hervorziehen, aber der König steht mit gespreizten Beinen über seinem todwunden Bruder - Achilles, der Patroklos verteidigt - bis die Seinen ihn zwischen seinen gepanzerten Füßen herausschleifen und in Sicherheit bringen. Heinrich läßt sein Schwert den Tod bringen, wohin es trifft, aber den Herzog von Alencon vermag er lebend gefangen zu nehmen. Nach Rittersitte streckt er dem Überwundenen die Hand entgegen, denn zwischen ihnen ist jetzt Friede.
Da trifft ein Pfeil den Herzog von Alencon in die Nackenbeuge und, wie gefällt, sinkt er zu Heinrichs Füßen tot zu Boden. Das Kampfgedränge wird hitziger, dichter, Hunderte, Tausende von Männern fallen. Da erscheint zur Hilfe der Franzosen der Herzog von Brabant mit seinen Getreuen; ihr Weg war lang gewesen. Noch ritten die Herren ungepanzert daher, da sehen sie die Gefahr ihrer Verbündeten. Hinein in die Schlacht! Die Ritter der Gefolgschaft wollen sich panzern, aber der Herzog will keine Minute verlieren. Er reißt sein schweres Standartentuch an sich, schneidet es mit einem Schwertschlag von der Stange, ein Schlitz in die Mitte, über den Kopf geworfen, damit das starke Tuch auf seinen Schultern ruhe, und sprengt mit einem gellenden Kriegsruf mitten hinein ins Getümmel, wo der Schwertkampf am dichtesten ist. Der Herzog von Brabant steht bald in einem Ringwall von Leichen erschlagener Engländer, da erreicht ihn das Geschick, von einem Pfeil zu Tode getroffen, fällt er auf seine Feinde nieder. Er hatte den schönsten Tod gefunden, den ein Mann jener Zeit sich wünschen konnte: bevor die Schwäche des Alters ihn erreichte, war er dahingegangen, ein Held, dessen Freundschaftstat durch Jahrhunderte nicht vergessen wurde. Stunde um Stunde währt das Gemetzel. Mitten im Kampf entdecken englische Ritter unter einem Leichenhaufen zwei Verwundete; man zieht sie hervor. Die Wappen auf den Schilden? Einer der von Wunden Bedeckten ist der junge Herzog Karl von Orléans. Ein großer Fang! Das Blut fließt durch seinen Panzer, er wird davongetragen und neben seinen Vetter Bourbon gelegt. Den andern schwerverwundeten Edelmann erkennt man als den Bretonen, Arthur de Richemont. Die Führer der Franzosen waren gefallen, unter ihnen der Connetable D'Albret; da gaben die letzten französischen Ritter den Kampf auf. Das Fußvolk war schon in heller Flucht begriffen. Der frühe Abend sank auf das Schlachtfeld nieder; Heinrich V. hatte einen Sieg errungen, der noch erstaunlicher war als die Siege von Crécy und Poitiers. Aber Heinrich war kein übermütiger Sieger, er war ein Mensch und litt unter dem, was die Kampfesfurie ihm zu leisten befohlen hatte. Zuerst führte er die Überlebenden seiner Armee in das verlassene Lager der Franzosen; er ließ sie essen und trinken nach Herzenslust; aber plündern war auch weiterhin streng verboten. Und dann Schlaf, nichts als Schlaf. Die Nachtruhe war indessen nur kurz. Kaum, daß der Oktobertag ein wenig Licht gab, ließ Heinrich das Schlachtfeld säubern. Die Verwundeten hatte man schon am Abend vorher ins Lager geschleppt, ihnen beigestanden, so gut es ging, aber viele waren in den Nachtstunden verblutet. Das Schlachtfeld bot einen furchtbaren Anblick, unzählige Leichen lagen nackt im Morast; Heinrich wurde von Wut gepackt: Wer hatte die Tapferen geschändet? - Man fand die Ruchlosen, sie waren nicht weit gekommen: französische Söldner, die berüchtigten »brigands«, und Bauern aus der Gegend, denen der Krieg alles genommen hatte. Der König ließ Massengräber ausheben, in denen Franzosen und Engländer miteinander begraben wurden. Ein Wall von Dorngestrüpp rings um die Grabstätte, hoch aufgeschichtet, war eine Wehr gegen die Wölfe. Sechzehnhundert Engländer lagen unter dem Boden und zehntausend Franzosen. An Gefangenen zählte man fünfzehnhundert. Mit dieser Menschenmenge, Gefangenen und englischen Truppen, aber wohlversehen mit den Vorräten der Feinde, zog Heinrich nach Calais, um von dort über die Narrow Seas in die Heimat zurückzukehren. «Wie nennen wir diesen Sieg?» hatte Heinrich V. am Morgen nach der Schlacht gefragt. Man zeigte ihm die nahe Burg von Azincourt. Er verstand den Namen als »Agincourt«, und so blieb für alle Zeiten der große, fast wunderbare Sieg vom 25. Oktober 1415 für das englische Volk »der Sieg von Agincourt«. Ein Siegesbote war schon auf jagendem Pferd vorangeeilt, hatte im englischen Calais ein Schiff gefunden, das mit dem herbstlichen Ostwind hinüber nach Dover geblasen wurde. Wieder ein Pferd, und nach London und die Glücksworte herausgeschrien, die uralten Worte: «Wir haben gesiegt!» «Nänikekamen!», unter denen der Marathonläufer einst in Athen zusammenbrach. «Victory, Victory!», wie der englische Herold nach rechts und links unter das Volk schrie. Der Widerhall des Triumphgeschreis, der sich von London durch das ganze Land verbreitete, war himmelstürmend; wie wollte man den König, King Harry, empfangen! Der König fuhr derweil mit seinen höchsten Gefangenen im gleichen Schiff über den rauhen Kanal. Herzog Karl von Orléans, der Sohn des schmählich ermordeten Ludwig von Orléans, war ihm vertraut, denn Karl hatte vor sieben Jahren Isabella, die junge Witwe Richards II. von England, geheiratet.[10] Karl von Orléans fürchtete die englische Gefangenschaft nicht; er war von Natur ein Dichter, ein Freund der Künste, ein Hasser des Krieges; in England durfte er in Ruhe das Eintreffen des Lösegeldes, das seine gute Stadt Orldans auf bringen mußte, abwarten. Als der junge Herzog über die Wogen des Kanals fuhr, ahnte er nicht, daß seine Gefangenschaft fünfundzwanzig Jahre dauern sollte. Im Königsschiff fuhren auch der Herzog von Bourbon und der Marschall Boucicaut, ihre wappengeschmückten Schilde hingen neben dem des Königs und seiner Brüder außen am Bord des Bootes. Die Küste von England... Was sah man Dunkles hinter dem schäumenden Wogenrand? Es bewegt sich! Eine Menschenmenge!
Anderthalb Jahrhunderte nach dieser triumphalen Landung des Lieblingshelden von England, Heinrichs V., rief Shakespeare, der die Chronisten gut studiert hatte, durch den Chorus aus:

»... Englands Küste seht,
Umpfählt die Flut mit Männern, Weibern, Kindern;
Sie überjauchzen das tiefstimm'ge Meer,
Das, wie ein mächt'ger Marschall, vor dem König
Den Weg zu bahnen scheint: so laßt ihn landen,
Und feierlich seht ihn nach London ziehen«[11]

London hat viele Siegeseinzüge gesehen, aber keiner soll von einem derartig frenetischen Jubel umbraust gewesen sein wie Heinrichs V. Zug durch die Straßen der Stadt, hin zur Westminster Abtei, wo das Tedeum gefeiert werden sollte. Alle Häuser waren geschmückt, die Gassen mit den letzten Herbstblumen und buntem Laub bestreut. Fenster und Dächer besetzt mit Menschen in ihren Festkleidern. Die Peers of England und ihre Gemahlinnen, die dem König entgegengezogen waren, trugen ihre Kronen auf dem Haupt, Hermelin und Zobel über ihren bunten Gewändern. Die Dienerschaft in der Livrée des Hauses umgaben die Herrschaften. Ihnen voraus ritt der König in großem ornat; auch er mit der Krone. Das Reichsschwert wurde ihm vorausgetragen und in den Händen seiner Brüder, den Herzögen von Gloucester, von Bedford und von Clarence, sah man den verbeulten Helm, die blutverkrustete und eingedrückte Rüstung des Siegers von Azincourt; sein schartiger Schild war herausfordernd mit den Lilien von Frankreich bemalt. In der Westminsterabtei sollten die Trophäen als Reliquien auf bewahrt werden.
Eine fünffache Übermacht hatte der König besiegt! Wie man sich um ihn drängte, um nur seine Sporen, seinen Mantel zu berühren; Frauen und Mädchen hätten sich angesichts seiner jungen, herben Schönheit gern vor die Hufe des Rosses geworfen, aber auch seine Ritter und die Bogenschützen wurden bejubelt; es war ein Geschrei, daß die »Minstrels«, die, je fünf an der Zahl, musizierend und singend dem Zug voran und nebenher zogen, fast überschrien wurden. Berittene Posaunenbläser jagten den langen Königszug hinauf, hinunter, das Feuer der Begeisterung noch mehr schürend; die Glocken aller Kirchen Londons läuteten hinein, dumpfe, helle, melodische, schrille Töne; viele junge Menschen begannen zu tanzen und ihren Reigen zwischen die langsam vorwärts dringenden Pferde zu schlingen, und jeder, jeder, der dem König in sein strahlendes Antlitz schaute, fühlte sich von dem Glück, dem Ruhm, dem Stolz des Siegers von Azincourt bis ins Herz getroffen, auch wenn der eine oder andere den Sohn verloren hatte, heute gönnte man dem Kriegsgott jeden Tribut. Aber der König, kaum achtundzwanzig Jahre alt, war gealtert; sein Antlitz war bei aller Fröhlichkeit hager und blaß. Die körperliche Leistung und die geistige Anstrengung, durch die er hindurchgegangen war, konnte das jubelnde Volk nicht ermessen; es bedachte auch an diesem Tage noch nicht, daß der einzigartige Sieg nur geringen Erfolg gebracht hatte. Die Normandie war nicht zurückgewonrien, nur Harfleur besaß eine englische Besatzung; der Kriegsruhm war allerdings wiederhergestellt, aber der Kanal stand noch nicht unter Heinrichs Kontrolle, und sein Heer war zu einem Haufen halbkranker Männer zusammengeschmolzen. So baute er in den Monaten nach seiner Rückkehr auf die Insel mit kühlem Kopf, still und zäh, eine neue Armee auf, dabei die Ereignisse in Frankreich aufmerksam verfolgend. Heinrich V. war als realistischer Stratege und Politiker hoch begabt. Nie lenkten überspannte Ritterideen sein Handeln, die seine französischen Standesgenossen immer wieder ins Unglück rissen. Den Berichterstattern des Königs fehlte es nach dem Sieg bei Azincourt nicht an Stoff über die Verhältnisse jenseits des Kanals. Der neuaufgenommene Bürgerkrieg zerriß das unglückliche Land, dank der freventlichen Unbekümmertheit der Großen um Leiden und Niedergang des Volkes. Johann von Burgund und Bernhard von Armagnac, die sich zu weit von Paris, ihrer Beute, zu entfernen gewagt, fanden sich Ende Oktober 1415, nach der Niederlage von Azincourt jeder auf sich selbst gestellt; ihre Feinde und Freunde waren gefallen oder in englischer Gefangenschaft. Die Unglücksbotschaft erreichte beide, als sie nicht in der Stadt anwesend waren. Wer zuerst in den Toren war, besaß Paris und damit die Herrschaft über Karl VI. Armagnac gewann das Rennen, obgleich Burgund keine Stunde verloren hatte und mit zehn Mann, die zufällig um ihn waren, zu dem erstrebten Ziel, dem unendlich wichtigen, galoppiert war. Zu spät, zu spät! Bernhard VII. hatte sich schon an Stelle des gefallenen D'Albret zum Connetable von Frankreich aufgeschwungen, »ein Teufel unter der Haut eines Menschen«. Aus Rache an Burgund, der ihm seit Jahren die Herrschaft über den König und den Dauphin streitig machte, wütete Armagnac in Paris. Jeder, der in Volk und Adel zu Burgund gehalten hatte, dem Mörder Orléans', wurde auf scheußliche Weise hingeschlachtet. Die Pariser ließen sich in ihrer Todesangst Geld erpressen, soviel Armagnac verlangte; es bedurfte nicht einmal der Lüge, er wolle in Genua eine Flotte anwerben, um Barfleur von der Seeseite aus anzugreifen. Isabeau, die Königin, »the great whore«, wie die Engländer sie nach der biblischen »Großen Hure Babylon« nannten, thronte wie ein böser Geist über dem wahnwitzigen Treiben in ihrer Hauptstadt und griff nicht ein, denn sie rechnete mit dem Sieg ihres Geliebten, Johanns von Burgund, des Mörders ihres einstigen Lieblings, Ludwigs von Orléans; Burgund hatte sich jenseits der Mauern von Paris zum Herrscher aufgeworfen. Im Namen des Königs verbot er allen Städten, dem Usurpator Armagnac Steuern zu bezahlen und Lebensmittel zu schicken. Auch die Bauernschaft wurde mit Vernichtung bedroht, falls sie nicht gehorche. Der Winter des Jahres 1415 nahte, und Paris, in dessen Gassen die Todesangst umging, sah nun auch das Schreckgespenst der Hungersnot auftauchen. Hunger bei bitterster Kälte in den Häusern, da die Bauern kein Holz zur Stadt fahren durften. Und überall Mord und Verfolgung! Im Dezember traf die verstörte Bürgerschaft ein neuer Schlag: der Dauphin war tot! Hatte eine Krankheit ihn hingerafft? War er ermordet worden? Wer konnte es wissen. Das Volk munkelte sogleich, Johann von Burgund habe den jungen Prinzen umgebracht, aber das war törichtes Geschwätz. Ludwig war ja Burgunds Schwiegersohn gewesen, das kostbare Bindeglied zwischen dem Herzog und Paris. Nach wenigen Tagen hatten Eilboten die unerwartete Nachricht vom Tode des Dauphin nach Anjou gebracht. Yolandas Gedanken über dieses Ereignis sind nicht bekannt; ihre Trauer wird gemäßigt gewesen sein, denn jetzt stand nur noch Johann, der in Holland lebte, als neuer Dauphin zwischen dem wahnsinnigen König und ihrem Schwiegersohn Karl. Der junge Karl war über den Tod seines Bruders sehr erschrocken. Möchte doch Johann am Leben bleiben! Es hieß, der Bruder weigere sich, das sichere Holland zu verlassen. Er, Karl, würde auch in der fernen Provence bleiben, wo die Menschen unter ihrem blauen Himmel freundlich und glücklich waren. Aber schon im nächsten Jahr, 1416, wurde er grausam aus seinem Traum des Friedens gerissen. Der alte Herzog von Berry, der letzte Bruder Karls V., war gestorben und nun wurden ihm, dem ängstlichen Knaben, der nichts von Ehren und Ämtern wissen wollte, alle Privilegien und Pflichten des alten Herzogs aufgeladen. Karl weinte und wehrte sich, er wollte seine zweite Mutter, Yolanda, nicht verlassen, er fürchtete sich vor dem schrecklichen Paris, vor dem Teufel von einem Armagnac, der sein Verbündeter sein würde, er fürchtete sich auch vor Burgund, vor der Königin, vor seinem wahnsinnigen Vater. Der Abschied vom Zauber des Südens zerriß ihm das junge Herz. Seine Verzweiflung war so groß, daß sein Schwiegervater, Herzog Ludwig II. von Anjou, zu seinem Schutz mit ihm nach Paris ritt. Karl hieß nun Generalkapitän von Paris, er wurde zum Herzog von Touraine erhoben und nahm einen Platz im Rat des Königs ein. Yolanda hatte ihn schon seit einem Jahr den Regierungsverhandlungen von Anjou folgen lassen, wer konnte wissen, was dem Knaben noch bevorstand? jetzt bemühte sich der freundliche, besonnene Ludwig von Anjou, ihm mit gutem Rat beizustehen; er war der Fels, an den Karl sich klammerte, aber auch dieser Halt wurde ihm genommen. Im strahlenden Frühling 1417 starb Ludwig II. von Anjou, Yolandas Gemahl, an einer Krankheit, die er schon seit Jahren unter großen Leiden erduldete. Das Schicksal schien den schwachen, unwilligen Königssohn zum Prügelknaben ausersehen zu haben. Kaum war sein guter Schwiegervater gestorben, da ging auch Karls letzter Bruder, der Dauphin Johann, dahin. Karl, der später als siebenter seines Namens über Frankreich herrschen sollte, stand nun als dritter »Dauphin« des wahnsinnigen Vaters vor dem Volk von Paris.
Keineswegs bejubelt, galt er doch als Puppe in den Händen des verhaßten Armagnac; seine Mutter Isabeau war die Agentin Burgunds und förderte die heimlichen Verbindungen, die dieser zu England hinüberspann. Isabeau residierte in Vincennes und führte dort ihr schamloses Leben. Karl war sehr allein, denn niemand nahm Anteil an seinem Dasein; er war eine Schattengestalt, von der keiner Taten erwartete. Da floh er zu seinem wahnsinnigen Vater, zu Karl VI., dem Bien-aimé, dem »Narren«, der ebensowenig wie sein Sohn Karl eine Verbrechernatur unter Verbrechern war, zwei lebensferne, untüchtige, verstörte Gemüter. Karl und sein Vater hielten sich aneinander, einer suchte des andern Hilfe. Waren einmal die Türen hinter ihnen geschlossen, so spielten sie zusammen Karten, stunden- und tagelang; wenn man sie für einige Zeit vergaß. Sie lachten auch über die Narren und Zwerge des Königs, saßen mit offnem Munde bewundernd vor den Kunststücken der Gaukler, aßen sehr viel und tranken noch mehr. Sie wußten nicht, was draußen geschah, sie wollten nichts wissen, nur kein Wort über die Schlächtereien, die in der Stadt vor sich gingen. Nach einiger Zeit erschien Yolanda in Paris; sie mußte und wollte ihre Hand im Spiele haben. War sie, wie so viele flüsterten, Schuld am Tod der beiden früheren Dauphins? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Yolanda von Anjou war eine Frau ihrer Zeit. Ein Mensch, der störte, war so leicht beseitigt. Karl, ihr Schwiegersohn, war der einzige Königssohn, der nicht unter burgundischen Einfluß geraten war. Nur Karl konnte, als zukünftiger König, Anjou vor Burgund und England schützen; nur er vermochte, dank seiner neuen Macht, Yolandas größte Feindin, Isabeau, unschädlich zu machen. So predigte Yolanda dem jungen Karl, er habe in die Geschehnisse einzugreifen, die Partei Armagnac-Orléans müsse an der Macht bleiben, er solle seine Mutter gefangen setzen lassen, aber Karl war nicht geneigt, seine Hand gegen die Mutter zu erheben; doch war er machtlos gegen die Überredungskünste seines Erziehers, Gérard Machet, den Yolanda an seine Seite beordert hatte. Machet war ein gelehrter Theologe und der Beichtvater des Dauphin; es wurde ihm nicht schwer, dessen Zögern in einen Entschluß umzuwandeln.
So wurde eines Tages die Königin Isabeau in Vincennes aufgegriffen, in einen Planwagen geladen und nach Tours gebracht, wo sie in harter Gefangenschaft gehalten wurde. Welche Illusion der Partei Armagnac-Orléans, daß Isabeau, die »Hexe«, die Ränkeschmiedin, nicht Mittel und Wege finden würde, ihrem Buhlen, Johann von Burgund, Nachricht zu senden, wo sie sich befand! Es dauerte auch nicht lange, und Johann ohne Furcht konnte dem Volk außerhalb von Paris die arme, vertriebene Königin zeigen, während seine Späher, die ohne Schwierigkeit in die Hauptstadt gelangten, den Bürgern innerhalb der Mauern das unerhörte Verbrechen des Dauphin bekannt gaben. Am 20. Mai 1418 öffnete der junge Leclerc, der Sohn des Torhüters, den Burgundern, die ihn bestochen hatten, die Seitenpforte des Haupttores. Er hatte seinem Vater den Schlüssel unter dem Kopfkissen fortgestohlen. Die Burgunder schlängelten sich in langer Kette in den dunklen Stunden des beginnenden Tages durch den engen Zugang. Als die Sonne aufging, beschien sie schon ihre ersten mörderischen Rachetaten. Den Hof packte eine kopflose Angst, jeder war vor Burgund schuldig, vor allem der Dauphin. Man mußte ihn retten. Einige beherzte Männer aus seiner Umgebung stürzten in sein Schlafgemach, der Dauphin wurde rauh geweckt, und bevor er noch begriffen hatte, was geschehen war, hatte man ihn schon in eine Decke gewickelt, zum Ankleiden war keine Zeit. Wie ein Toter wurde er zu einer Hintertüre hinausgetragen, durch die Gassen, die von Toben und Schreien erfüllt waren, und durch das schlechtbewachte Tor hinaus ins Freie. Karl war gerettet. Erst nach achtzehn Jahren sollte er Paris wiedersehen. Sein getreuer Gérard Machet war dem Dauphin abhanden gekommen, auch er hatte entfliehen können. Verkleidet gelangte Machet in Tag- und Nachtritten bis nach Lyon, wo er als einfacher, namenloser Prediger untertauchte. Auch Yolanda vermochte zu entkommen, aber ihrer Tochter Marie gelang die Flucht nicht mehr. Paris mußte furchtbar für seine Unterstützung Armagnacs und die Vertreibung der Königin büßen. Bernhard VII. wurde schon am ersten Tage des Blutbades in seinem Bett im Schlaf erstochen. Wenn Bernhard VII. gewütet hatte, so erstickten nun die wieder aufgetauchten Cabochiens das Leben selber in Blut. Burgund hatte alle Mitläufer des Herzogs von Armagnac in so viele Gefängnisse und Verliese werfen lassen, wie sich nur in Türmen, Schlössern, in der Bastille und in Kellern finden ließen. Am 12. Juni 1418 erstürmte der aufgehetzte Pöbel alle diese Gefängnisse und schlachtete die gefangenen Bürger auf bestialische Weise hin. In einer einzigen Nacht kamen sechzehnhundert Menschen um, die nichts verbrochen hatten, als daß sie in ihrer Todesangst dem derzeitigen Herrn von Paris geschmeichelt hatten. Johann von Burgund erschrak vor dieser entfesselten Mordlust. Er wollte Paris nicht entvölkert sehen; was nützte ihm eine menschenleere Stadt? Er warf sich den Cabochiens mit seiner ganzen Autorität entgegen; allein ritt er in eine blindwütende Menge hinein. An diesem Tag trug er seinen Namen mit Recht: Jean sans Peur, Johann ohne Furcht. Es gelang ihm aber nicht, die Flut des Mordens, die auch auf die Straßen und Bürgerhäuser übergriff, zum Stehen, zum Verebben zu bringen. Da griff er nach einer List.
Er ließ ausstreuen, die Armagnacs hätten sich unter ihrem Herzog, der noch lebe, im Schloß von Montlhéry verschanzt, man müsse das Nest ausräuchern, bis keiner übrigbliebe. Auf das Tor! Und auf nach Montlhéry! Die davonstürmende Mordbande rannte jedoch geradenwegs in die Truppen Burgunds hinein, die keinen der Cabochiens überleben ließen. In diesem Herbst 1418 war es höchste Zeit, daß man für Paris eine Atempause in all den Greueln erreichte, denn Heinrich V., dem der Bürgerkrieg in Frankreich sehr gelegen kam, stand schon seit einem Jahr auf dem Kontinent. Er hatte Caen im Sturm genommen, die untere Normandie in wenigen Monaten erobert, und jetzt, im Herbst 1418, hatte er mit vierzigtausend Mann die Seine überschritten und begonnen, Rouen zu umzingeln. Burgund mußte mit Heinrich V. verhandeln, bevor England halb Frankreich an sich riß. Ein guter Teil der Normandie, von der Wilhelm der Eroberer über das Meer zur Insel der »Blauen Bretagne« ausgezogen war, lag wieder in englischer Hand. Heinrich und seine Adligen, von denen so viele normannische Namen trugen, liebten das Land ihrer Herkunft, es war ihre Heimat; so erlebte nun nach der Besetzung keine Provinz in Frankreich so gute Zeiten wie die Normandie. Nachdem auch das heldenhaft verteidigte Rouen sich ergeben hatte, fiel die ganze Provinz in Heinrichs Hand. Er war bereit, sich mit diesem Gewinn zu begnügen und mit Frankreich, nicht einen Waffenstillstand, sondern einen Frieden zu schließen. Das englische Volk begann ungeduldig zu werden: der Kriegslorbeern seien genug errungen, der König solle heimkehren, er müsse heiraten, das Land wolle einen Prince of Wales sehen. Heinrich verlangte es auch nach seiner Insel, seinen Schlössern, seinen Wäldern, nach Frieden und Frohsinn; es verlangte ihn auch nach der Braut, die er in seiner Phantasie liebte: Katharina, Karls VI. und Isabeaus jüngster Tochter.
Seit seiner Thronbesteigung war eine Gesandtschaft nach der andern aus fremden Ländern bei ihm eingetroffen, in der Hand Bilder der Prinzessinnen, die ihre Eltern auf dem englischen Thron zu sehen wünschten. Aus den nordischen Ländern, aus Deutschland, aus Böhmen, Ungarn, zeitweilig sogar aus Burgund trafen die Heiratsangebote ein. Eine Mitgift überbot die andere, aber Heinrich hatte sich in das Abbild der fünfzehnjährigen Prinzessin von Frankreich verliebt. Nach Azincourt war ihm zwar Katharina ferner denn je, aber jetzt, im Frühling 1419, da er Frieden mit Frankreich suchte, durfte er wieder auf sie hoffen. Johann von Burgund sollte der Heiratsvermittler sein. Es kam am 29. Mai 1419 in Melun zu einem festen Eheversprechen. Aber dann schwenkte Burgund plötzlich im Juli zur Partei Armagnac über, zu seinen Todfeinden! Welchen Verrat führte dieser undurchsichtige Mann im Schilde? Der König sah sich in einer Falle. Wollte man ihm die Braut wieder entziehen, wollte Burgund ihn zur Fortsetzung des Krieges zwingen? In diesen Monaten äußerster Verworrenheit in Politik und Privatdingen, im Herbst 1419, durchschlug das Schicksal den gordischen Knoten, der Heinrich unentwirrbar dünkte.