Der Dauphin - Karl VII

8. und 9. Kapitel

Im Herbst des Jahres 1422, während sich der Dauphin Karl sehr munter, sehr zufrieden und ahnungslos über das Geschehen in Paris, in seinem Lieblingsschloß, Mehun sur Yèvre, befand, schlug am 30. Oktober die Nachricht vom Tode des geisteskranken Karl VI. wie ein Stein in das ruhige Wasser des Hoflebens von Mehun ein. Der Dauphin war völlig verstört; jetzt sollte er die Rolle eines Königs von Frankreich spielen, er, von nun an Karl VII., den der feindliche Norden des Landes auch weiterhin den Sogenannten Dauphin nennen würde, er, der auch in den Augen seiner Anhänger nur «vielleicht» ein echter Dauphin war. Die Herzogin Yolanda wollte von diesen Zweifeln nichts wissen. Mit großem Pomp und viel Umtrieb veranstaltete sie die Ausrufung ihres Schwiegersohnes zum König von Frankreich. Weitumher sollte alles Volk von seiner Anerkennung hören. Karl unterstützte Yolandas Bemühen keineswegs. Er litt, wenn der Hof ihn mit königlichen Zeremonien umgeben wollte. Wer war er denn? Er wußte es nicht. Niemand konnte es wissen. Er haßte das »König-spielen«, denn es blieb ihm nicht verborgen, daß man ihn im ganzen Lande bemitleidete oder verhöhnte, sich zu ihm oder sich gegen ihn stellte, ihn als Bastard erklärte oder als echten, aber von der eigenen Mutter geschändeten Königssohn. Er verkroch sich mehr denn je bald in diesem, bald in jenem Schloß - wie der Chronist Monstrelet sagt: «Toujours cachés ès château méchantes places et maniére des petites chambrettes, incapable de se montrer et d'ouir les pleintes du pauvre peuple» - und ließ die Männer, die gierig nach der Herrschergewalt griffen, Entscheidungen treffen. Die Mörder Burgunds hingen ihm an wie die Kletten, der Sieur de Louvet hatte sich zum Finanzminister aufgeschwungen und den tüchtigen Le Magon verdrängt. Der schlimmste seiner Günstlinge, die er aber sämtlich haßte und fürchtete, war der berüchtigte Pierre de Giac; ihn hatte Karls Mutter Isabeau an den Hof nach Bourges geschickt, wohl wissend, daß ihr Sohn und seine besseren Räte ohnmächtig den teuflischen Ränken dieses Menschen gegenüberstehen würden. [18][18] Karls Mißmut und sein scheues Wesen vertieften sich mehr und mehr: «Das kam daher, daß er sich selbst mißtraute, und weil er ein wahres Grauen vor den Verbrechen, die in seiner Umgebung begangen wurden, empfand. Daher seine Apathie, obgleich er für geistige Arbeit begabt war, daher seine systematische Untätigkeit, obgleich er klug mit seinen Räten verhandelte und fähig war, die beste Partei zu erkennen, daher sein Mißtrauen und seine Härte, obgleich er von Natur zur Sanftmut neigte.»* (*Michelet: Histoire de France, Band V)
Jean Chartier, der Hofhistoriker und Geheimsekretär Karls VII., schreibt hingegen, daß der König von Anbeginn seiner Herrschaft neue Kriegsrüstungen gegen die Engländer, die Räuber seines Königreiches, betrieb. Es gibt eine Aufzählung der Dinge, die Karl durch junge Ritter für sich anschaffen ließ: Vollblutpferde, kostbare Zelte, Schabracken, eine neue Rüstung, Helme, Schwerter, Banner für die Herolde und mehrere Wappenröcke. Es wurde sogar eine Gruppe von Lanzenreitern in den königlichen Farben zusammengestellt. Trotz aller umsichtigen Vorbereitungen blieb der Dauphin schließlich zur Empörung des jungen Adels ruhig in seiner »guten Stadt Bourges«, aber daran war Karls Liebesfrühling schuld. Yolanda hatte ihn, im Sommer 1422, mit ganz unziemlicher Eile ihrer Tochter Marie d'Anjou antrauen lassen. Die Herzogin brauchte den königlichen Schwiegersohn gegen die immer näher rückende englische Gefahr. Jetzt, in Bourges, im Sommer 1423, sah man der Niederkunft der jungen Königin entgegen. Am 3. Juli wurde Karl ein Sohn geboten, «nommé Loys (Louis) en remembrance de Saint-Loys». Das Kind war der spätere Ludwig XI., der einer der klügsten, aber auch einer der grausamsten Könige von Frankreich werden sollte. Die Geburt hatte im größten Saal der königlichen Residenz, dem erzbischöflichen Palais zu Bourges, unter der Regie Yolandas stattgefunden. Die Wände waren mit «drap d'or de Chypre vermeil» ausgeschlagen, der Betthimmel, die Kissen und Decken bestanden ebenfalls aus drap d'or, Goldbrokat. Den Augen der Gebärenden gegenüber hing eine Tapisserie, die dem Herzog von Orléans, Karls Vetter, gehörte, die Geburt der heiligen Anna darstellend. Der junge Herzog Jean von Alencon, ein anderer Vetter des Dauphin, der mit vielen Herren und Damen während der Geburt im Saale anwesend war, wurde zum Paten des Knaben erwählt, dessen Erscheinen dröhnenden Applaus, jubelnde Trompetenstöße und Glockengeläute von allen Kirchen hervorrief. Die kleine Dauphine überlebte es. In diesen Familien- und Volksjubel hinein fiel die Nachricht wie ein kalter Wasserguß: die Franzosen und ihre schottischen Verbündeten seien vor Cravan elend zusammengeschlagen worden; vorher sei Melun an die Engländer verlorengegangen. Karl war enttäuscht; er hatte nicht daran gezweifelt, daß seine lieben Schottländer unter John Stuart, Earl of Darnley, und Lord Douglas siegen würden. Eingesponnen in sein Eheglück schrieb er nur, wie mit leichter Hand, in einem offiziellen Brief. «Bei den Gefallenen handelt es sich lediglich um eine kleine Anzahl Adliger, im übrigen um Schotten, Spanier und andere ausländische Söldner, die sich vom Lande ernähren, »par quoy le dommage n'est pas si grant«. » Die lästigen Banditen waren allerdings zum Teil vernichtet, aber der soeben erwählte Connetable, Arthur de Richemont, der Bruder des Herzogs der Bretagne, von Yolanda und Louvet mit Karl versöhnt, stellte eine neue Armee auf. Richemont und sämtliche Räte Karls drängten ihn zum Kampf gegen England und Burgund. Der Weg nach Reims müsse erkämpft werden; es sei des Volkes wegen von höchster Bedeutung, daß der König sich salben und krönen lasse. Die heilige Handlung in Reims - ein Wunschtraum, den der Dauphin mit müder Handbewegung beiseite schob. Niemals würde er, der »Bastard«, sich den Schmähungen des Volkes aussetzen! Aber den Krieg solle Richemont neu aufnehmen. Daneben erwog Karl eifrig, wie er mit Philipp von Burgund in Verhandlungen treten könnte. Er, Karl, war kein Mörder; könnte er doch Philipp den Guten, der keineswegs <gut> war, von seiner Unschuld am Mord von Montereau überzeugen. Er wußte wohl, daß es schwer war, solange es ihm nicht gelang, die Mörder rücksichtslos zu bestrafen und abzuschütteln. Dieser Krieg, den man ihm immer wieder aufdrängen wollte! Kriege kosteten Geld. Trotz Louvets Falschmünzerei war der Staatssäckel leer bis auf den Boden, schon hatte man die Kronjuwelen veräußert; es war nur noch ein kleines Rinnsal, das dem Finanzminister aus den verarmten, geplünderten Provinzen an Steuern zufloß. Karl selber war bettelarm, seine Wämser waren geflickt, das Volk sang spöttische Lieder darauf. Die Hofköche kauften auf eigene Kosten ein und ernährten den jungen Mann, den man König nannte, aus Gnade und Barmherzigkeit. Die Schlösser, außer Mehun und Chinon, waren kaum möbliert und im Winter nur spärlich mit Holz für die Kamine versehen. Die letzten Söldner wurden nicht mehr entlohnt, aber wie immer hielten sie sich am Volke schadlos. Der Dauphin wußte es, doch er ließ in seiner Ohnmacht die Flut des Elends über sich dahinrollen und flüchtete in seine Privatkapelle, viele Stunden, ja ganze Nächte im Gebet zubringend. Warum mußte er die Pflichten eines Königs tragen, wenn er doch kein König war und ihm die Hände machtlos vor der Riesenaufgabe, die er bewältigen sollte, niedersanken? Richemont tröstete ihn damit, es gehe dem kleinen Gegenkönig, Heinrich VI., nicht besser, auch er sei noch nicht in Reims gesalbt und gekrönt und kein echter König von Frankreich; noch gehe das große Schachspiel Zug um Zug weiter. Der Knabe Heinrich sei nichts als eine Figur, die von seinen Onkeln Bedford und Gloucester hin und her geschoben werde. Der Herzog von Gloucester residierte als Protektor Englands auf der Insel, und der Herzog von Bedford führte als Regent in Paris die französischen Regierungsgeschäfte. Katharina, die Königinwitwe, war von ihren allmächtigen Schwägern beiseite geschoben worden. Katharina hatte nicht in die Wirren und in die Verwahrlosung ihrer französischen Heimat zurückkehren mögen, sie wollte ihren kleinen Sohn, das einzige Gut, das ihr von dem geliebten Gemahl geblieben war, in England erziehen, aber dann nahm man ihr auch das Kind, um es in Gloucester House aufwachsen zu lassen. Um nicht in Verzweiflung zu versinken, rettete Katharina sich durch eine rasch geschlossene Ehe in einen Schein von Glück. Ihr erwählter Schutz und Freund war ein Edelmann aus Wales, Owen Tudor. So war Katharina, der die Würde einer zweifachen Königin zugefallen war, als Gattin eines Mannes von einfachem Adel in den Hintergrund der politischen Bühne getreten. Katharina gebar ihrem Gatten Owen Tudor, dem sie sehr zugetan war, einen Sohn, der Edmund getauft wurde, aber auch dieses Glück, das die Großen des Landes für unwürdig der Witwe Heinrichs V. erklärten, wurde der jungen Frau zerstört. Man zwang sie, sich in das Kloster Bermondsey zurückzuziehen, und hier starb die französische Königstochter, von ihrem Schicksal einer vierfachen Beraubtheit zerbrochen. Zwei Gatten und zwei Söhne waren ihr in kurzer Frist genommen worden [20]. Der bedeutendste Mann auf der Bühne der zusammengekoppelten Länder England und Frankreich war John of Bedford; er stand seinem verstorbenen Bruder Heinrich V. kaum an militärischem Genie nach. Als die Kriegspartei an Karls Hof im Mai 1424 einen neuen Anlauf im Krieg gegen die Engländer erzwungen hatte, stand John of Befords Armee wohlgerüstet bereit, auch ihrerseits den Krieg neu aufzunehmen. Das Ziel des Regenten war nicht weniger und nicht mehr als die Eroberung Südfrankreichs. Danach sollte der kleine Heinrich in Reims gekrönt und gesalbt werden, um endlich über ein geeintes Frankreich zu herrschen. Das Glück war mit Bedford und seinen Heerführern Salisbury und Talbot. Am 17. August 1424 trafen die Engländer bei Verneuil auf die Franzosen, deren beste Truppen die Schotten unter Douglas und Buchanan waren. Die Söldnerscharen Karls waren nicht viel wert, sie flohen bald nach allen Richtungen, so wurden die tapferen Schotten von ihren Erzfeinden, den Engländern, fast bis zum letzten Mann niedergemacht. Der Regent Bedford hatte einen großen Sieg errungen, dem man beinahe die Bedeutung des Sieges von Azincourt beimaß. Unter den französischen Adligen, die an der Seite der Schotten unermüdlich ausgehalten hatten, war auch der sehr junge Jean, Herzog von Alencon. Er geriet in englische Gefangenschaft, wurde in der Festung Crotoy an der Mündung der Somme in Gewahrsam genommen und durfte angesichts des Kanals während der nächsten fünf Jahre auf sein Lösegeld warten, das seine Familie und sein Herzogtum nur mit größter Mühe aufbrachten. Bedford beabsichtigte, nach dem Sieg bei Verneuil einen raschen Vorstoß nach Orléans zu unternehmen, die Loire zu überschreiten und den lächerlichen »Roi de Bourges« mit seinem ganzen Günstlingsschwarm zusammenzuhauen. Aber so leicht, wie Bedford es wünschte, war Frankreich nicht zu unterwerfen. Einerseits spielte ihm sein Bruder Gloucester in Flandern so törichte Streiche, daß er dem Norden nicht den Rücken kehren durfte, und andrerseits begann Philipp von Burgund, der in bezug auf Flandern äußerst empfindlich war, sofort als sein Verbündeter zu wanken und mit dem Sogenannten Dauphin Verhandlungen aufzunehmen. Drei Jahre lang kümmerte Burgund sich nur um das gefährdete Flandern. Bedford durfte Paris nicht verlassen. Diese Phasen des englisch-französischen Krieges, der zu ewiger Fortdauer bestimmt schien, bezeichnen fast nur Kriegs- und Plünderungszüge ohne Sinn und Verstand. Die englischen Adligen dachten an nichts anderes als an Beute, <plunder> genannt, und wie sie ihre geraubten Schätze am raschesten über den Kanal bringen konnten. Ihre Gier nach Gold und Besitz war unersättlich. Was kümmerten sie Frankreichs Leiden? Was bedeutete ihnen dieser Bürgerkrieg, dessen Ziel ihnen völlig gleichgültig war, solange die englischen Provinzen nicht verloren gingen? Von Seiten ihrer Gegner wurde das Land ja auch nicht geschont. Die Armagnaken benutzten den hin- und widerwogenden Krieg um die Vormacht in Frankreich, um ihrerseits zu rauben, was noch zu rauben war. Die Häuser wurden niedergebrannt, so gründlich, daß ein Chronist schreiben konnte, von Ost bis West und von Nord bis Süd sei, außer in den Städten, kein Haus mehr zu finden. Das letzte Vieh wurde abgeschlachtet, die Bauern an den Bäumen aufgeknüpft, Kinder und Alte umgebracht, Mädchen und Frauen wurden vergewaltigt und mitgeschleppt. Wer entweichen konnte, versuchte die Städte zu erreichen, aber diese, die selber eine hungernde Bevölkerung bargen, schlossen ihre Tore vor den Unglücklichen. In Paris starben in den Jahren um 1426 hunderttausend Menschen an Hunger und Seuchen. Die Wölfe kamen bis vor die Tore, weil das ebene Land wieder wie in alten Zeiten ihr Jagdrevier geworden. Die Wälder wurden dichter und dichter. Die Bauern hausten in ihrem Schutz. Wehe, wer in ihre Hände fiel. Die Chronisten berichten von Menschenfresserei und von den tiefen und weiten Höhlen unter der Erde, die die Menschen sich als Schlupfwinkel gegraben hatten; listig lockten sie von hier aus Umherstreifende an. [21] Die kleinen Städte, die in reichem Aufblühen gewesen, oft eine herrliche Kathedrale umgebend, sanken zu Ruinensiedlungen nieder. Wenn ihre Bürgerschaft niedergemetzelt war und eine neue Pest sich wie eine Wolke von den verwesenden Leichenhaufen erhob, floh der Rest der Bevölkerung ebenfalls in die Wälder, stieß hier mit den vertierten Scharen der Bauern zusammen, schloß sich ihnen an oder zog mit der nächsten «Bande», raubend und plündernd, durch das Land. Schon lange wagte niemand mehr, die Äcker zu bestellen. In wenigen Jahren verwilderten die üppigen Fluren Frankreichs. In den rauchenden Trümmern der Dörfer und in den hohen, stolzen Kirchen war es totenstill, und es hatte doch hier froher Gesang die kirchlichen Feiertage begleitet, und Tanz und Schmausereien die Hochzeiten und die Kindtaufen. Das einfache Volk war bei aller Unwissenheit ein gesittetes Volk gewesen, das stetig aufwärts stieg. Auch die Herren und Damen des Adels, sofern sie nicht am Hofe lebten, hatten wohlwollend über die Dörfer ihres Landbesitzes und die Städtchen und Marktflecken, die sich an ihren Burghügel schmiegten, geherrscht. Aber jetzt ritten von den Burgen keine festlich gekleideten Herren und Damen mehr hernieder: zur Reiherbeize an den sumpfigen Flußufern, zur Jagd in die gehegten und gepflegten Wälder, zu Turnieren oder Sängerfesten an den Hof ihres Lehnsherren. Eine ganze Generation adliger Männer war gefallen; Frauen und Kinder von plündernden Horden erschlagen oder hinter die Mauern der wenigen sicheren Städte geflohen. Die Bevölkerung Frankreichs war auf ein Drittel ihrer früheren Anzahl zusammengeschmolzen, und noch war kein Ende des Elends, des Hungers und der Seuchen abzusehen. Wie eine schweflige Wolke, die den Himmel von der Erde trennte, lag ein wüster Hexen- und Teufelsglaube über all dem Leid und all der Ratlosigkeit. Die Visionäre, Besessenen und wahrsagenden Jungfrauen hatten sich in den letzten zwei Jahrzehnten noch vermehrt. Um 1425 sollen es ihrer Tausende gewesen sein. Eine neue Prophezeiung, die auch Merlin zugeschrieben wurde, ging von Mund zu Mund: <Frankreich wird durch eine Frau ins Unglück gestürzt und durch eine Frau gerettet werden.> Der Dauphin soll durch diese Prophezeiung neuen Mut gefaßt haben.* (* Du Fresne de Beaucourt: Histoire de Charles VII.)
Die Frau, die Frankreich ins Unglück geführt, war Karls Mutter, die Königin Isabeau, aber wer war die Frau, die das Königreich retten konnte? War es Yolande d'Anjou, von der Karl öfters gesagt hat, er sei König von Yolandas' Gnaden? Oder war eine Unbekannte auf dem Weg zu ihm? Wann brach die verheißene bessere Zeit an? Der Himmel schien kein Erbarmen zu kennen; noch herrschten in Karls nächster Nähe Verrat und Mord. Der Connetable de Richemont hatte Louvet vertrieben, den Sieur de Giac, den »Diener Satans«, in einem Sack ertränken lassen. Le Camus de Beaulieu war unter den Augen des Dauphin mit einer Axt erschlagen worden. An Stelle des Ermordeten hatte Richemont jetzt einen Mann gesetzt, der am Mord des Sieur de Giac beteiligt gewesen und dessen Witwe geheiratet hatte einen Unmenschen ohne Gewissen und von zynischer Gesinnung, den hochadligen, allen Fürsten verwandten Georges, Duc de La Trémoille, den größten Grundbesitzer und den reichsten Mann weit umher. Sein Geld allein würde den Dauphin zu seinem ohnmächtigen Werkzeug machen! Was bedeutete die Heranziehung La Trémoilles zum einflußreichsten Mann am Hofe Karls VII.? La Trémoille, der sechs Jahre lang die unbegrenzte Macht über Karl ausüben sollte, war am burgundischen Hof erzogen worden, einst von Jean sans Peur aus den Klauen der Cabochiens gerettet, am berüchtigten Hof der Königin Isabeau war er einer ihrer Lieblinge gewesen, der Anführer der Orgien, von denen das Volk munkelte; ein Mann, vor dem es sich bekreuzigte wie vor dem Bösen. La Trémoille, der Genosse des Todfeinds des Dauphin, wurde vom Connetable de Richemont, dem bretonischen Fürstensohn, einem Mann, der zwischen den Parteien hin und her schwankte, der noch vor wenigen Jahren der Verbündete Englands gewesen, zum ersten Minister des <Königs> gemacht. Wollte man den Armen einkreisen, mit List und Verrat? Ihm die Hände binden, bis er völlig wehrlos war? Oder wollte Richemont durch eine seiner Kreaturen die Friedens-Partei brechen, der er nur zum Schein gedient hatte? Wollte er Yolandas Einfluß vernichten? Rätsel über Rätsel! Wenn Richemont glaubte, in La Trémoille eine Stütze für eigene Pläne gefunden zu haben, so war er in einem schweren Irrtum befangen. Der neue Minister und Beherrscher Karls sollte den Connetable sehr bald vom Hof verdrängen und ihm jeden Einfluß auf den Dauphin verwehren. Die Herzogin Yolande d'Anjou, die mit Herz und Verstand über dem jungen Karl gewacht, die ihm die Liebe zum Verhandeln und zum Frieden eingepflanzt hatte, warnte, drohte, flehte, er solle sich gegen La Trémoille, den Mann aus dem feindlichen Lager, wehren. Karl wollte den unheimlichen Gesellen gar nicht in seiner Nähe haben, er hatte zu Richemont gesagt: «Beau cousin, vous me le baillez, mais vous en repentirez, car je le connais mieux que vous»* (*»Lieber Vetter, Sie zwingen ihn mir auf, aber Sie werden es bereuen, ich kenne ihn besser als Sie.«)
Karl sollte Recht behalten; wenn er sich aber trotz seiner klaren Einsicht nicht gegen La Trémoille wehrte, so war seine Schwäche gegenüber seinem Conseil schuld. Der Connetable Arthur de Richemont, Regnault de Chartres, der Erzbischof von Reims und Kanzler der Schattenregierung, der Bischof von Laon und der allmächtige Arzt Cadart, Tanguy du Chastel und der Hofastrologe, dieser ganze Schwarm von Männern, der sich an dem neuen Königtum festgesogen hatte, drängte auf die Einsetzung La Trémoilles als Minister, der wohl als böser was ging sie das an? - aber als allmächtiger Dämon auf den Schultern des schwachen Dauphin reiten würde und seine Befürworter auf die eine oder andere Weise belohnen mußte. Vom Dauphin selber war ja keinerlei Vorteil zu erringen. Yolanda sah ihr Werk vernichtet. Ohne Unterbruch hatte sie drei Jahre an Karls Hof gelebt, wo immer er sich auch auf hielt. Jetzt, im Juni 1424, ging sie davon, in ihr bedrohtes Land Anjou zurück, ihre Tochter Marie und die kleinen Kinder mit sich nehmend. Karl und seine Schwiegermutter schieden nicht im Zorn, das ist bezeugt; er eilte oft zu seiner Familie,aber die Resignation angesichts der Übermacht der herrschsüchtigen Männer wird diese beiden Guten unter so vielen bösen Gestalten in Trauer und Beschämung versetzt haben Richemont war die eigentliche Unglücksfigur in Karls VII. Nähe; er hatte in allem versagt. Die Bretagne war unter seinem Bruder, dem Herzog dieses Landes, zum englischen Bündnis zurückgekehrt, Burgund hatte er nicht mit Karl versöhnen können, die Armee war völlig desorganisiert, er hatte es nicht verstanden, dem Finanzminister das nötige Geld für die Söldnerscharen zu entlocken, der Bürgerkrieg wütete schlimmer denn je, und nun hatte er noch den Teufel in Menschengestalt über die gesamte verfahrene Administration gesetzt. Karl zog sich auch jetzt in seine Gemächer und in seine eigene Kapelle zurück. Hier kniete er vor dem getreuen Machet, oft in Tränen der Ratlosigkeit, verzweifelt, weil Gott sich von Frankreich gewandt. War es seine Schuld? Was hatte er verbrochen? Auch Schwäche kann ein Verbrechen sein. Jetzt, da Karl sich jede Macht hatte entwinden lassen, wußten weder er noch Machet, woher ihnen Hilfe kommen sollte, es sei denn, daß Gott selber sich erbarmte. Immer wieder verlangte Karl, man solle ihm erlauben, sich in ein Kloster zurückzuziehen. Ihm graute vor seiner Umgebung von Männern, die ihn wie gefräßige Wölfe umlauerten. Keinen Finger konnte er rühren, keinen Befehl erteilen, denn es gehorchte ihm ja niemand, ihm - dem »Bastard«.

9. Kapitel

In dieser Zeit der tiefsten Entmutigung des Königs und des tiefsten Elends des Volkes, da der Feind sich immer näher an die Loire herankämpfte, und die Schändlichkeit am Hofe zu Bourges sich immer frecher gebärdete, in diesem Jahre 1424 war <die Frau, die Frankreich retten sollte>, noch fern, aber sie lebte, sie wuchs heran, sie war ein Mädchen von zwölf Jahren. Noch fünfmal mußte es Frühling werden, und die Jungfrau Jeanne d'Arc aus dem Dorfe Domrémy wird vor den Dauphin treten wie ein Engel vom Himmel. Es war zur Osterzeit, als eine fremde Gewalt von ihr Besitz ergriffen hatte, die sie auf Wege leiten sollte, wie sie von einem Mädchen aus dem einfachsten Volk wohl nie zuvor und nie seither beschritten wurden. Johanna, das Kind, an der Schwelle ihrer Mädchenzeit, wurde von Stimmen und Visionen heimgesucht. Einmal um Mittag, als sie übermäßig gefastet hatte und im Garten ihres Vaters kniete und betete, erschien ihr ein Licht zur rechten Seite, und sie hörte eine Stimme, die ihr befahl, <gut und brav> zu sein. Sie hat später ausgesagt, daß sie sehr erschrocken gewesen sei, daß ihr Schrecken aber im Laufe der nächsten Monate noch zugenommen habe, als zu den <Stimmen> <Visionen> kamen. Sie sah die heilige Katharina, die heilige Margarete und den heiligen Michael, doch schwieg sie über ihre mystischen Erfahrungen vor jedermann, auch vor ihrer frommen Mutter. Das Erschrecken wich bald einem wundersamen Vertrauen; Johanna begann ihre Heiligen zu lieben. Sie weinte, wenn sie von ihr gingen und wäre gern mit ihnen gen Himmel gefahren. Immer deutlicher wurden die Befehle im näch sten und in den folgenden Jahren - sie solle die Stadt Orléans befreien und den Dauphin nach Reims zur Krönung führen. Im Anfang, so erzählte die Jungfrau später, habe sie sich gewehrt, sie sei nur ein einfaches Mädchen, sie könne nicht reiten und wisse nicht mit Männern der großen Welt umzugehen, aber die Heiligen hätten ihr Mut gemacht und versprochen, ihr hilfreich zur Seite zu stehen. Wie lassen sich die Stimmen und Visionen, an deren Echtheit Johanna bis zu ihrem letzten Atemzug festhielt, erklären? Im Laufe von fünfhundert Jahren wurde manche Auslegung versucht; die Kirche glaubte nicht an Johannas Visionen, und seither hat auch die hochentwickelte Psychologie keine endgültige Erklärung gegeben. Johannas integrer Charakter erlaubt es nicht, sie des Betruges zu zeihen; man kennt <geistige Ausnahmezustände> aus uralten und mittleren Zeiten, aus allen Erdteilen und bei allen Religionen; was sie aber entstehen läßt und fördert, ist noch nicht bis auf den Grund erforscht.[24] [24] Bei der Prüfung der Ausnahmezustände Johannas ist mehrfach ausgesprochen worden, daß das heranwachsende Mädchen dank der Erschütterung der Entwicklungsjahre und in dem diesen Jahren eigentümlichen Drang zu lieben, sich zu opfern, sich hinzugeben und anzubeten, aus sich heraus Gestalten und Stimmen schuf, denen sie glaubte, weil sie ihnen glauben wollte. Diese Erklärung legt sich ohne Fuge an die Tatsache, daß Johanna nur das sah, was sie kannte, und nur hörte, was ihren geheimen, genialen Wünschen entsprach. Auf die Frage, warum sie sich ihrer großen Mission gewidmet habe, konnte sie vor Gericht in aller Nüchternheit antworten: «Parceque j'avais pitié de la France*.» (*Weil ich Mitleid hatte mit Frankreich«)
Und die Heiligen? Sie traten zu ihr, geschmückt mit Kronen und kostbaren Mänteln, wie sie, in Holz geschnitzt oder auf Bildtafeln gemalt, in den gotischen Kirchen und Kapellen dargestellt waren. Johanna weilte oft in der Kirche von Domrémy oder in der Kapelle von Bermont, die Augen aufwärts gerichtet zu den Figuren der Heiligen. Es wird auch beschrieben, daß sie mit gefalteten Händen, mit ausgestreckten Armen, auf dem Steinboden kniend, einem gespannten Bogen gleich gewesen sei, von dessen Sehne der Pfeil entfliegen sollte. Hin zu dem Ziel, das sie sich, ohne es zu wissen, selber gesetzt hatte. Die Heiligen waren eine Verbrämung ihres unbegreiflichen Wunsches, dem Dauphin, dem beschimpften, dem bedrängten, Hilfe zu bringen und Hilfe dem Lande Frankreich, das sie nicht kannte, dessen Sprache sie nicht redete, denn ihr war nur die Sprechweise Lothringens vertraut. Daß Frankreich des Mitleids wert war, das wußten auch die Ihren und die Nachbarn im Dorfe, lebten sie doch in einer apokalyptischen Zeit. Der große Krieg war noch nicht bis Domrémy gekommen, aber die vielen Herren auf ihren Burgen, der Kommandant Robert de Beaudricourt in Vaucouleurs, der Hauptmann La Hire, der junge Sohn Yolandas von Anjou, René, Herzog von Bar, Robert von Saarbrücken, der Graf von Savoyen, die Dame d'Ogiviller und schließlich burgundische und armagnakische Banden lieferten sich kleine Privatkriege, raubten Vieh, Möbel, Pferde, verbrannten Dörfer und drangen plündernd bis zu den Burgen vor. Das Volk war in ewiger Angst, keine Nacht brachte ruhigen Schlaf, immer standen die Wachen auf dem Kirchturm, lauschten in die Ferne, ob waffenklirrende Scharen nahten, sie spähten nach dem Feuerschein am Horizont, ihr Auge versuchte tagsüber die finsteren Waldränder zu durchdringen, ob aus ihnen Feinde hervorbrächen. Wie oft ertönte die Sturmglocke! Dann sprang alles halbbekleidet von den Betten auf, riß die Kinder an sich, löste das Vieh von den Stricken und eilte davon, dem schützenden Kastell entgegen, das, von zwei Armen der Meuse umspült, auf einer Insel lag. Johanna kannte von Jugend auf alle Greuel des Krieges; schon mit vierzehn und fünfzehn Jahren schleppte sie mit ihren Brüdern Verwundete in das Haus ihrer Eltern und pflegte sie; nur selten noch gingen die jungen Mädchen zum Baum der Feen, um dort zu tanzen und Kränze in die untersten Zweige zu hängen oder von der heilenden Quelle zu trinken, jetzt waren alle Hände nötig, um die zerstampften Felder neu zu bebauen, die verstreuten Schafherden zu sammeln, die halbniedergebrannten Häuser wieder bewohnbar zu machen. Und über allen Kriegsschrecken und Nöten des täglichen Lebens schwebten, wie eine brandige Wolke, die Berichte vom Zerfall des Landes Frankreich, der Bedrängnis des Dauphin, dem der Fluch des Bastardtums anhaftete, aber auch, wie aufzuckender Sonnenschein, die Prophezeiung.
Eine Jungfrau wird kommen, die Frankreich errettet, sie wird kommen aus dem Bois Chesnu, aus dem Lande Lothringen. Johanna lauschte jedem Wort, aber sie schwieg; sie hoffte, sie glaubte und bereitete sich in ihrem Innern, eines Tages in aller Heimlichkeit davonzugehen. Wie es geschehen sollte, das wußte sie nicht, aber ihre Heiligen würden sie nicht verlassen. Der Krieg dehnte sich immer weiter aus. Im Sommer 1428 waren die <Goddams>, wie das Volk die englischen Feinde nannte, die so schamlos fluchten, im Begriffe, Orléans zu umzingeln; die starke Festung, den Schild, der Südfrankreich schützte. Am Hofe des Dauphin, der sich in Chinon eingerichtet hatte, schätzte man die feindliche Macht auf zehntausend Mann. Bote um Bote traf aus Orléans ein, die flehentlich um Truppen baten. Die Engländer hätten begonnen Forts zu bauen und die Stadt immer mehr gegen die Zufuhr von außen abzuschließen. Karl geriet bei den Klagen der Abgesandten nicht nur in Verlegenheit, nein, sein Gewissen machte ihm schwere Vorwürfe. Die Stände hatten ihm Geld zur Aushebung neuer Truppen bewilligt, aber La Trémoille hatte ihn verleitet, mit dem Geld der Bürger und Bauern einen glänzenden Hof einzurichten und den Rest der Steuern zu verjubeln. Dieser <glänzende> Hof, den die Königin Marie und die Herzogin Yolanda verlassen hatten, war jedoch nur von einer Welt bevölkert, die aus Kurtisanen und vergnügungssüchtigen Frauen, deren Männer im Krieg waren, von schönen Knaben, trinkfesten Männern und Gestalten, <an deren Händen Blut klebte>, bestand. Allen Lastern wurde gefrönt, und der Dauphin sollte der bacchantische Anführer der Ausschweifungen werden, das war La Trémoilles Ziel. Auf wessen Wunsch? Burgunds? Isabeaus? Es gelang La Trémoille jedoch nicht, seinen Herrn ganz zu beherrschen.
Karls angeborener Anstand, seine Liebe zu Frankreich, seine Gottesfurcht rangen mit dem bösen Geist und rangen sich frei - halbwegs frei, wie es Karls gebrochenem Wesen entsprach. Er litt unter La Trémoille, aber mit welchen Mitteln sollte er diesen bösen Geist vertreiben, den ein böser Hof hielt und stützte? Es war nicht gut, daß seine Familie und die Frauen und Kinder der Höflinge sowie des Adels der Umgegend hinter den Mauern Orléans lebten. Karl suchte immer mehr im Aberglauben einen Halt, den die Welt ihm nicht zu geben vermochte. Zum Glück stand ihm Gérard Machet, sein Beichtiger, der aufrechte, wohlgesinnte Mann, auch jetzt zur Seite und schützte ihn sowohl vor dem Einfluß von Astrologen und Wundertätern wie vor den Verirrungen des höfischen Lasterlebens. Die einzig guten Stunden erlebte der Dauphin in dieser Zeit, die einer letzten Nacht entgegenzugehen schien, im Umgang mit seinem Halbvetter, dem Bastard von Orléans, dem späteren Grafen Dunois, dem einstigen Schützling der frühverstorbenen Valentina Visconti, auch La Hire war ihm lieb, ebenso Gobert Thiebault, einer seiner Minister und ein naher Freund Gérard Machets. In diesem kritischen Sommer 1428 tat Karl, was in seinen unsicheren Kräften stand, er sandte fünfhundert altbewährte Krieger unter de Gaucourt, dem der Bastard von Orléans und La Hire sowie der Bandenführer Xaintrailles zur Hilfe kamen nach Orléans. Vor seinem Kanzler, dem Erzbischof von Reims, Regnault de Chartres, einer überragenden und äußerst ehrgeizigen Persönlichkeit, fürchtete sich Karl wie vor einem strengen Lehrer, aber auch der Kanzler hatte sich nach Orléans zurückgqzogen und kam, wie die andern Freunde, nur hin und wie i der nach Chirion, um das Neueste aus der belagerten Stadt zu erzählen. Die Bürger von Orléans, die bereit waren, ihre Stadt bis zum Äußersten zu verteidigen, hatten sich bewaffnet und übten sich im Kriegshandwerk. Aber in ihren Augen waren die Engländer viel stärker, weil sie einen unbeschränkten Nachschub an Verpflegung, Munition, Belagerungsmaschinen und Material für ihre Maurer und Zimmerleute erhielten. Auch beobachteten die Bürger, daß man die englischen Soldaten warm und trocken unterbrachte, sie mußten nicht mehr in Regen und Morast kampieren wie früher; die Dysenterie würde nicht aufkommen können. In Orléans sah man die neumodische Vorsicht nicht gern. Die Seuche unter den Belagerern pflegte die beste Verbündete der Eingeschlossenen zu sein. Der Graf von Salisbury befehligte die Belagerung; Talbot, <der englische Achilles>, William de la Pole und Glasdale waren siegesgewohnte und zuversichtliche Führer ihres Fußvolkes, ihrer Artilleristen und Bogenschützen. Wenn die Besatzung und die Bürger Orléans' voller Sorgen in die Zukunft sahen, so waren Salisbury, seine Offiziere und der letzte Mann im Heer überzeugt, daß Orléans über kurz oder lang falle und man dann den Süden Frankreichs erobere, den Sogenannten Dauphin, diesen Bastard, gefangen nehmen und den kleinen König, Heinrich VI., in Reims salben und krönen lassen könne. Der siebenjährige Knabe lebte noch bei seinem Oheim Gloucester in London. Aber John of Bedford, der Regent Frankreichs, gedachte, den kleinen König nach Paris zu holen, dann sollte die Krönung rasch vollzogen werden. Einem gesalbten König von Frankreich, auch wenn er Engländer war, würde das Volk nicht zu widerstehen wagen, der Gesalbte stand unter Gottes Schutz und Segen; seine Truppen mußten siegreich sein. Der Süden und der Südosten Frankreichs zitterten, daß Orléans, das letzte Bollwerk, falle und die Flut der englischen Plünderer sich über die Provinzen ergösse, die schon so namenloses Greuel durch die eigenen Söldnerbanden, die Armagnaken, erduldeten. Auch für Yolande d'Anjou und ihren Sohn, Ludwig III., war Orléans' Bestand der Inhalt ihrer Gebete. Am Hof von Chinon hielt man eine gespielte oder leichtfertige Zuversicht aufrecht und ergötzte sich an den Geschichten, sei es über Freund oder Feind, die von den herüberkommenden Heerführern erzählt wurden und jedes Ritterherz entzückten. Karl VII., fünfundzwanzig, zart und schmal, erbaute sich gern an den Heldentaten, die andere Männer vollbrachten; je unfähiger er sich fühlte, selber gepanzert in die Schlacht zu reiten und die Rauheiten des Kriegerlebens zu ertragen, desto vergnügter konnte er in das schallende Gelächter seiner Freunde einstimmen, die es den Engländern gar nicht übel nahmen, daß sie ihre Forts um Orléans <Paris>, <Rouen > und <London> nannten und von dorther Steinkugeln im Gewicht von hundertzwanzig bis hundertsechzig Pfund über die Mauern der belagerten Stadt schleuderten. Sie trösteten den Dauphin damit, daß die Verteidiger die Geschosse kommen sahen, sich rasch an die Innenmauer drückten und nachher laut zu den Engländern hinüberspotteten, sie hätten nur Tennisbälle geworfen. In Orléans besaß man ebenfalls Geschütze, vor allem die berühmte Couleuvrine, die Maitre Jean aus Lothringen kunstvoll gegossen hatte. Maitre Jean bediente sein Geschütz selber, er vermochte damit zu zielen und brachte täglich ein bis zwei Feinde um. Die Engländer, die unter Glasdale eine dreifache Bastille im Süden der Stadt besetzt hielten, empfanden eine heillose Wut auf Maitre Jean, den Teufelskanonier. Die Bogenschützen versuchten ihn beim Laden zu erwischen und zu töten. Maitre Jean hatte Humor. Mehrmals fiel er um wie tot und ließ sich von seinen Gefährten, die laut jammern mußten, als Leiche davontragen, während die Engländer in ein Triumphgebrüll ausbrachen. Am nächsten Tag stand er jedoch wieder frisch und fröhlich an seiner Couleuvrine; die Engländer starrten herüber und brachen dann lachend in tosenden Applaus aus. Einmal hatte Maitre Jean sein Geschoß zum Abfeuern bereit gemacht, da rief ihn seine Frau zum Mittagessen heim; sein kleiner Sohn blieb draußen. Während dieser Ruhepause besuchte der Befehlshaber, Lord Salisbury, seinen tapferen Glasdale, um nach Orléans hineinzusehen. Mit stolzer Handbewegung wies Glasdale hinüber: «Mylord, Sie sehen Ihre Stadt Orleans» Bumm... das halbe Gesicht von Salisbury war fort. Der kleine Sohn des Maitre Jean hatte den Schuß im Spiel ausgelöst. Salisbury war tot; die Empörung hätte bei den Engländern groß sein dürfen, aber ihr sportlicher Geist ließ sie die Tat des Knaben und das Kriegsglück der Leute von Orléans bewundern. Es herrschte keine Gehässigkeit zwischen den Belagerern und Belagerten. Die Ursache mochte sein, daß der Besitzer der Stadt Orléans und des umliegenden Landes, Herzog Karl von Orléans, immer noch, seit dreizehn Jahren, in England als befreundeter Gefangener weilte, mit seinen Gedichten Engländer und Franzosen gleichermaßen entzückte und keineswegs darauf drängte, daß seine Stadt das Lösegeld schickte. So tauschten denn in altgewohnter ritterlicher Gesinnung die Befehlshaber von hüben und drüben Geschenke aus. Zuerst hatten die Franzosen ihr Kammerorchester den englischen Herren geschickt, weil dieser Herbst 1478 gar so grau und trübselig war. Dagegen sandte der Earl of Suffolk Körbe voller Feigen, Trauben und andere Früchte dem Bastard von Orléans, und dieser erwiderte die Aufmerksamkeit mit einem Pelzmantel. Manchmal wurden auch Turniere vor den Mauern der Stadt von den englischen und französischen Adligen, oder auch Duelle, unter den kritischen Blicken der Kenner ausgefochten. Der Adel betrachtete sich immer noch als internationale Kaste; man führte wohl Krieg gegeneinander, aber zwischen den Schlachten sparte man nicht an Beifall für den Sieger im sportlichen Wettkampf oder auch in der Schlacht. Dann brach das Jahr 1429 an. So hochmütig die Bürger von Orléans die Engländer als ungefährliche Spielkameraden behandelten, so sicher wußten sie, die Bürger, daß ihnen nun bald Eingeschlossenheit, Hungersnot und vielleicht Vernichtung drohten. Die Lebensmittel wurden rarer, obgleich der Ring um die Stadt auch jetzt noch nicht geschlossen war. Noch lag kein Riegel über der Loire, aber das verwüstete Land vermochte die Lücken nicht zu nutzen, da es kaum etwas zu geben hatte.
Im Februar kam jedoch ein großer Tag. Späher brachten den Belagerten die Nachricht, ein langer Wagenzug mit Munition und Lebensmitteln nähere sich dem englischen Lager. Dreihundert Karren, vollbeladen! La Hire wollte dieser Karren wegen keine Schlacht riskieren, aber die Armagnaken, die als Hilfstruppen in der Stadt lagen, waren nicht zu halten, sie stürzten sich trotz des Verbotes auf den Wagenzug, der von schwerbewaffneten Engländern verteidigt wurde. Es kam zu einem Gefecht; die meisten Armagnaken beschränkten sich darauf, die Kisten gierig zu zerschlagen, um den Inhalt zu rauben, sie wurden jedoch von den Engländern daran gehindert und mußten hinter die Mauern Orléans' fliehen - mit leeren Händen. Der Feind hatte seine Munitionskisten gerettet, aber was weithin verstreut auf dem Boden lag, waren nicht Leichen, sondern Heringe! Die Fische hätten die englischen Soldaten in der bevorstehenden Fastenzeit ernähren sollen; jetzt verwandelte die Vorfrühlingssonne sie rasch in eine stinkende Masse. Die Bürger von Orléans spotteten und lachten über die <Heringsschlacht>. Doch viele der Heerführer lachten nicht, ja sie verließen die Stadt, für die sie keine Hoffnung mehr sahen, um nicht in englische Gefangenschaft zu geraten. Ein Getreuer der aushielt, war der Bastard von Orléans, er wollte seinem gefangenen Halbbruder Karl die Stadt erhalten, so lange er es vermochte. Am 18. Februar 1429 verließ Regnault de Chartres, der Erzbischof von Reims und höchster Ratgeber des Dauphin, die Stadt, in der er sich sicher gewähnt hatte, und begab sich nach Schloß Chinon. Auch die Frauen und Kinder des Adels wurden weiter in den Süden geschickt. Da senkte sich eine verhängnisvolle Entmutigung auf Bürger und Besatzung; die Abwehr schwieg, der Verteidigungswille erlahmte, es wurde still in den Gassen von Orléans.