Karl V.

3., 4., 5. Kapitel

... wurde 1364 in seinem siebenundzwanzigsten Lebensjahr in Reims mit dem Öl, das einst für den König Chlodwig »von einer Taube vom Himmel gebracht« worden war, gesalbt und mit der Königskrone geschmückt. Eine Krönung war ein heiliges Fest, eine mystische Handlung, an der das Volk all überall in Kathedralen, Kirchen und Kapellen betend teilnahm. Die höchsten weltlichen Würdenträger pflegten aus allen Gegenden des Landes mit Gemahlin, Kindern und großer Gefolgschaft herbeizuströmen, um das ererbte Amt während der Zeremonie auszuüben. Die geistlichen Fürsten erschienen unter der Führung des Erzbischofs von Reims, der zugleich der erste Pair des Königreiches war, Kanzler des Reiches und Erblehensherr der Krönungsstadt. Von weitumher waren Scharen des Volkes herbeigeeilt, Kranke und Gelähmte mit sich schleppend, denn wenn einmal das mystische Öl die Stirn, die Brust, die Achselhöhlen des neuen Königs berührt hatte, so besaß er die Kraft, durch Handauflegen Kranke zu heilen; Gottes Weisheit war in ihn eingegangen. Von nun an war er der erste Schiedsrichter im Lande, der Unantastbare, dessen Willen und Befehl sich die königliche Familie, die Kirche, der Adel, Bürger und Bauern zu fügen hatten. Als Karl V. vor das tiefe Mittelportal der Kathedrale hinaustrat, die hohe Lilienkrone auf dem Haupt, das Zepter in der Hand, umwallt vom prunkvollen Königsornat, eingerahmt von den steinernen Heiligen in den vielfachen Bögen, brach das Volk, das Kopf an Kopf den weiten Platz füllte, in jubelrufe aus, als sei ihm der Heiland erschienen. Viele weinten, viele knieten nieder, viele flehten um Hilfe, denn jetzt mußte des Elends ein Ende sein. Ein neuer König, eine neue Zeit! König zu sein war jedoch für einen Herrscher mit gutem Willen ein schweres Amt.
Karl besaß diesen guten Willen; er konnte sich selbst zugunsten seines Volkes vergessen. Obgleich er kränklich war, gönnte er sich von Anbeginn seiner Regierung an keine Ruhe. Die Herrschaft Karls V. sollte zu einer »großen Regierung« werden. Zum ersten Mal sieht der Betrachter des Mittelalters das Volk im Gegensatz zum Adel und dem Patriziat der Städte in den Vordergrund treten. Es gab einen König, der mit seinen bürgerlichen Räten, die gelehrte Priester oder Juristen waren, überlegte, wie man der breiten Masse die schwere Last der Steuern erleichtern könnte. Das Lösegeld für den verstorbenen König Johann mußte aufgebracht werden, aber der junge König verfügte, daß man sechs Jahre zur Beschaffung des Geldes ansetze und es durch indirekte Steuern, eine Erfindung seiner Räte, zusammenbringe. Der Warenumsatz, das Salz und der Wein, wurden besteuert, aber in so geringem Maße, daß der einzelne kaum darunter litt. Das Volk jubelte dem König zu, der Staatsschatz füllte sich jedoch nicht, da Karl, nachdem die Ehrenschuld an England bezahlt war, weiterhin Steuererleichterungen gewährte.
Und doch hatte der König das Geld bitter nötig, denn er stand im Begriffe, das Heereswesen zu erneuern. Die Armbrustschützen wurden an Zahl verdoppelt, es wurden Manöver abgehalten und für eine strenge Disziplin gesorgt. Vor allem: Schonung der Bauern, ihrer Äcker, ihrer Wiesen; auch wurde dem Adel verboten, ihre Leute oder fremde Söldner durch das Plünderungsrecht zu bezahlen. Ohne daß Karl V. es gewollt, war ihm die absolute Königsmacht zugefallen. Er wandte keine Gewalt an, aber er war ein Herrscher, dessen weises Regiment steigenden Wohlstand und Sicherheit mit sich brachte, so daß jedermann sich gern seiner sanften und doch festen Hand unterwarf. Trotz seiner unermüdlichen administrativen Arbeit fand Karl Zeit, sich des geistigen Lebens anzunehmen. Er brachte eine Sammlung von neunhundert kostbaren Manuskripten im Louvre sicher unter, die Grundlage der Bibliothéque Nationale. Da er die Wissenschaften liebte, strömten ihm die größten Gelehrten seines Landes zu, die nun die wichtigste Zelle der Universität von Paris (die aus vielen verstreuten geistlichen Schulen bestand), die Sorbonne, an die erste Stelle rückten[3]Für seinen lieben Christian Gervais war ein astronomisches Observatorium erbaut worden. Auch hatte der König Agronomen berufen, die den Ackerbau studieren und ihre Weisheit aufschreiben sollten. Vieles war in den ersten fünf Jahren seit Karls Thronbesteigung getan worden; die eiserne Sparsamkeit des Hofes und eine kluge Finanzverwaltung zeitigten nun doch bereits erste Spuren eines wachsenden Staatsschatzes, aber bei aller Sorge für sein »gutes Volk« konnte der König ihm die Wiederaufnahme des Krieges mit England nicht ersparen. Er durfte und wollte die Fremden von jenseits des Detroit nicht mehr auf seinem Boden dulden. So bereitete er denn mit aller Umsicht den neuen Angriff auf die Engländer vor. Er selber konnte weder eine Rüstung tragen, noch zu Pferde sitzen, aber er besaß »eine starke Hand« in Bertrand du Guesclin, dem vorzüglichen Bretonen, der sollte für ihn in den Krieg ziehen und mit Hilfe seiner ausgeklügelten Feldherrnkunst endlich und für immer Frankreich vom Erbfeind befreien. Alles gut und schön, aber du Guesclin drängte zuerst auf ein Bollwerk, das Paris gegen einen Überfall der Engländer zu schützen vermochte. Da ließ Karl am Tor Saint-Antoine eine Bastion mit mächtigen Rundtürmen errichten. Es ist bezeichnend für seine Volksfreundlichkeit, daß dem Prévôt der Pariser Kaufleute die Ehre zuteil wurde, den Grundstein zu legen. Wenn der weise Karl gewußt hätte, daß die Bastille, die er zum Schutze der Hauptstadt errichten ließ, zur Zwingburg der Bürger und zum Staatsgefängnis, dessen sich die königliche Willkür bediente, werden sollte! Doch er ahnte auch nicht, daß die Bastille einst zum Ausgangspunkt einer weltweiten Befreiungstat bestimmt war. Ein Jahr vor der Grundsteinlegung der Bastille, 1369, beschloß Karl V., den Waffenstillstand mit England zu brechen. Das war die Schuld oder das Verdienst der großen Herren aus Südfrankreich, die im Louvre erschienen, der Grafen von Armagnac, von Périgord, von Comminges, von Foix und des Sire D'Albret, die schwere Klage gegen Eduard, den Schwarzen Prinzen, führten. Er halte in Bordeaux Hof von so verschwenderischem Glanz, daß er Steuern gegen jedes Recht erheben müsse. Auch verfälsche er das Geld, er sauge Bürger und Bauern aus. Karl sah, daß jetzt der Moment gekommen war, Südfrankreich in Güte an die Krone zu fesseln und den Vertrag von Brétigny in den Wind zu schlagen. Der Prince of Wales gebärde sich wie ein König? Die abgesandten Herren aus dem Süden sollten sehen, daß der Louvre, zum mindesten in königlicher Gesinnung, Bordeaux nicht nachstehe. Der Adel aus dem Süden wurde so hoch geehrt, daß einer der Herren, der Sire D'Albret, die Schwester der Königin, eine Prinzessin von Bourbon, zur Gemahlin erhielt. Er war nun der Schwager König Karls V. [4] Inzwischen hatte man einen königlichen Herold samt Begleitung an den Hof zu Bordeaux gesandt, mit der gefährlichen Aufgabe, den Schwarzen Prinzen als angeklagten Lehnsmann vor den Thron Karls zu fordern. Ihn, Eduard, den Prinzen von Wales, den zukünftigen König von England, dessen Lehnsverhältnis durch den Frieden von Brétigny aufgehoben war? Den Sieger von Crécy und Poitiers? Eduard, der das Ende seines Lebens nahe wußte, hatte seine einstige kaltblütige Ruhe und seinen Sinn für Gerechtigkeit verloren. Im Taumel der Feste und in blindem Haß gegen jeden, der seinen maßlosen Gelüsten entgegenstand, versuchte er die Frucht des Lebens auszupressen, bis sie saft- und kraftlos seinen Händen entfiele. Mit einem Wutschrei beantwortete er die Herausforderung Karls V. und warf den Herold, der nach Menschenrecht, Feudalrecht und Kriegsrecht unantastbar war, in ein Verlies. Den Rest der Gesandtschaft schickte er mit der Botschaft nach Paris zurück, er werde kommen, aber in der Rüstung und mit sechzigtausend Mann im Gefolge. Im Louvre kochte die Empörung über; jetzt war von neuem Krieg! Als Hohn und Schimpf schickte Karl einen Küchenjungen mit der Kriegserklärung an Eduard III. in sein weißes Palais im Tower. Armer Knabe, er wußte genau, daß er seine Mission mit dem Tod bezahlen mußte, aber, da der König befahl - was war ein Mensch vor dem Willen des Gesalbten? Karl V. und du Guesclin hatten abermals eine neue Art der Kriegsführung ersonnen: sie ließen den Feind durch eine Wüste ziehen, damit der Hunger ihn besiege. Zwar mußte man da und dort eben Erschaffenes wieder zerstören, aber die Bauern selbst sollten in Sicherheit gebracht und entschädigt werden. Während das englische Heer durch das verheerte Land zog, hatten die französischen Truppen den Feind aus dem Hinterhalt zu belästigen, ihn nachts aus dem Schlaf der Erschöpfung zu reißen, die Brücken zu zerstören und ihm falsche Nachrichten zuzuspielen, die ihn in die Irre führten, so daß Tausende dahinsiechten, während du Guesclins Truppen frisch und gesund zum entscheidenden Kampf antreten würden.
Das galt als eine unedle Art der Kriegführung, die nicht nach du Guesclins und der andern Heerführer Herzen war. Man werde Menschen sparen, sagte Karl V., und darin hatte er Recht. Im Norden hielt Philipp der Kühne von Burgund den Herzog Johann von Lancaster, den jüngeren Bruder des Schwarzen Prinzen, nach dem neuen Kriegsplan in Schach. Für Philippe Le Hardi[5] gab es nichts Höheres als ritterliche Kühnheit im Schlachtgewühl. Dieses Zuschauen in einem Krieg »der verbrannten Erde« erschien ihm als eine entehrende Aufgabe, aber auch er mußte seinem gesalbten Herrn gehorchen, obgleich dieser sein Bruder war. Im Grunde dünkte Philipp von Burgund sich mächtiger als der König von Frankreich, hatte er doch soeben von seinem Oheim, dem deutschen Kaiser, Hochburgund zu Lehen bekommen, und Flandern, dieses »drap d'or« auf der Erdoberfläche, sollte er noch in diesem Jahr 1369 durch Heirat erwerben. Was war das verarmte, entvölkerte Frankreich gegen das blühende, satte, unermeßlich reiche Burgund? Und da stand er nun an der Nordgrenze Frankreichs und hielt ohne Mühe die Engländer davon zurück, in das öde, versteppte Land vor ihnen einzudringen. Die Engländer schoben sich hierhin und dorthin, wurden von Burgund und du Guesclin in zwei unbedeutenden Schlachten geschlagen und verhungerten im übrigen, wie es ihnen zugedacht war. Die Kunde von der »niedrigen Gesinnung der französischen Ritter« gelangte rasch nach Bordeaux an den Hof Eduards, des Prinzen von Wales; seine Krankheit hatte ihm die Sinne verwirrt, jetzt geriet er vollends außer sich und verlor den Kopf. Aus Rache für die Geschehnisse im Norden Frankreichs befahl er die Vernichtung von Limoges (1370). Dreitausend angesehene Bürger ließ er köpfen und schaute zur Beruhigung seines Blutes zu. Es stand schlecht für die Engländer. Als neue Truppen unter Sir Robert Knolles in Calais landeten und auf ihrem Marsch durch das Land, im Zorn, den Feind zu keiner Schlacht zwingen zu können, nun ihrerseits Dörfer und Weiler, die noch bestanden, verwüsteten, trösteten die französischen Herren die Bürger und Bauern, die hinter festen Mauern saßen. der Hunger werde den Feind besiegen, aber das Land könne er nicht mittragen; nach Jahr urid Tag werde es frei sein und wieder Früchte hervorbringen.
Lancaster und Knolles mußten wohl oder übel versuchen, das ferne Bordeaux zu erreichen. Mit dreißigtausend Mann machten sie sich auf den Weg. Kein Feind weit und breit; die reife Frucht auf den Feldern verbrannt; die Obstbäume gefällt; die Weinberge vernichtet; das Groß-und Kleinvieh hatte man in die festen Städte geführt, an deren Belagerung Lancaster keine Zeit verschwenden durfte. Nur vorwärts, vorwärts. Zum Glück war in den Wäldern noch Wild zu finden, und die Quellen gaben Wasser und die Flüsse Fische. Trotzdem starben die Engländer zu Hunderten, zu Tausenden. Am Ende jeder Nacht lagen Tote im ewigen Schlaf um die Wachtfeuer. Adlige Herren, deren Pferde geschlachtet waren, zogen zu Fuß, nachdem sie ihre schwere Rüstung als wertlosen Ballast fortgeworfen hatten, mit den Bogenschützen durch die glutheißen Sommertage dahin. Manche dieser hochadligen Herren näherten sich versteckten Bauernhäusern, deren helle Dächer zwischen den Bäumen zu sehen waren, um für sich und ihre Leute um Brot zu betteln. Aber die Häuser waren verschlossen, stumm und leer. Mit ihren vernagelten Läden erschienen sie wie Tote. Nur sechstausend Mann wankten wie die Gespenster durch die Tote von Bordeaux. Der Krieg versickerte ohne Siege, ohne Niederlagen. Sechs Jahre nach der Kriegserklärung durch den Küchenjungen schlossen die Könige im Jahr 1375 in Brügge einen Waffenstillstand auf nur zwei Jahre. Verzweifelt, krank und machtlos sah der Schwarze Prinz das Hinschwinden des englischen Besitzes voraus - Sein Vater, der greise Eduard III., unter der Herrschaft einer frechen Geliebten stehend, konnte keine Hilfe mehr leisten, er war dem Tode nahe.
Wenn dann auch er, der Schwarze Prinz, über kurzem diese Welt verließ, würde sein Söhnchen Richard, das jetzt zehnjährig war, König sein; König in der Gewalt seines Oheims, John of Lancaster. Weniger als ein Jahr nach dem Waffenstillstand, 1376, starb Eduard, der Schwarze Prinz, und einige Monate später sein Vater, Eduard III. Deutschland verlor 1378 Kaiser Karl IV., einen ausgezeichneten Herrscher und hochgebildetn Mann. Danach schlug der Tod noch zweimal zu, als wolle das Schicksal neue Figuren im Kampf zwischen England und Frankreich einsetzen. Zu neuen Taten, neuem Triumph und neuen Leiden. 1380 starb der Connetable Bertrand du Guesclin vor der Festung Chäteauneuf, dieser Mann, der für Frankreich mehr wert gewesen war als das größte Heer, das der König je aufgestellt hatte. Der Tod dieses bedeutenden Mannes vernichtete Karls V. letzte Lebenskraft. Er starb wenige Monate nach seinem getreuen, aufrechten und selbstlosen Ritter, ebenfalls im Jahre 1380. In der Königsgruft der Kathedrale von St. Denis wurde Karl V., wie alle seine Vorgä'nger, beigesetzt; und wie der König es gewünscht, wurden die Gebeine du Guesclins zu Füßen des königlichen Sarkophages gebettet. Karl V. hatte nur das dreiundvierzigste Jahr erreicht; sein Tod war für hoch und niedrig ein schwerer Schlag, denn sein Sohn und Nachfolger war ein Knabe von zwölf Jahren. Würden seine drei Onkel, die Herzöge von Anjou, von Berry und von Burgund ihn in der Weisheit seines Vaters erziehen.* (*siehe Stammtafel) Bald danach schon wußte alle Welt, daß Frankreich schwere Zeiten bevorstanden, denn diese wenigen Monate hatten genügt, daß der sorgsam angehäufte Staatsschatz von den drei ehrgeizigen Fürsten vertan worden war. In diesem Jahre des Neubeginns, 1380, saßen zwei Kinder, durch das Heilige Öl zur höchsten Person ihres Landes erhoben, auf den Thronsesseln Frankreichs und Englands: der zwölfjährige Karl und Richard, der elfjährige Sohn des Schwarzen Prinzen. Zwei Prinzlein, denen die höchsten Ehren erwiesen wurden, denen in Krieg und Frieden das letzte Wort zustand, die einem jungen Hof mit allem Gepränge vorstanden, denen der natürliche Boden der Kindheit unter den Füßen fortgezogen war, zwei Kinder, denen eine starke, gütige Führung nottat. Wohl standen auf beiden Seiten des Meeres Vormünder, Regenten und Erzieher den Knaben zur Seite, aber was bedeuteten diesen Ehrgeizigen die kleinen Könige, die sich so wichtig nahmen? Die Herren Onkel strichen ihnen mitleidig über den Kopf und verfolgten ihre eigene Politik, die sie so lange hatten zügeln müssen. In Paris versuchte Herzog Philipp von Burgund den göttilichen Willen des kleinen Königs Karls dahin zu lenken, daß er ihm mit Heeresmacht beistände, die aufsässigen Flamen zu bändigen.
Unter dem Stichwort einer Strafexpedition gegen Gent, der bösesten Stadt in Flandern, strömten dem jungen König und dem Herzog von Burgund die Söldnerscharen von allen Seiten zu. Die Plünderung des reichen Gent, die zu erwarten war, machte die Männer schon im voraus wie trunken. Es ist das Jahr 1382. Die königliche Armee hatte sich herausgeputzt als sei Turniertag. Philippe Le Hardi und der vierzehnjährige König ritten dem höchsten Adel voran, rittermäßig, wie es Karl VI. so gut gefiel. Ruhm- und besitzgierig näherte man sich Gent, der goldenen Stadt. Die Bürger von Gent besaßen nichts als einen kleinen Haufen Milizsoldaten, und doch zwangen sie, aus Liebe zu ihrer Stadt, todesmutig ihren Führer Artevelde, die Schlacht aufzunehmen. Aber die Genter waren keine kriegsgeübten Ritter und sie fürchteten, daß viele unter ihnen vor dem französischen Heer zurückweichen könnten. Darum faßten die Mutigsten den wahnsinnigen Entschluß, die Scharen der Bürgermiliz mit Stricken zu umschnüren, damit jede Flucht unmöglich sei. Und dann begann die Schlacht - nein, das Schlachten. Die zusammengeschnürten Menschenhaufen konnten sich vor der Menge der anstürmenden Ritter nicht auseinanderziehen und frei kämpfen; die Unseligen stolperten, fielen, rissen die Nachbarn nüt, die Stehenden trampelten die Liegenden zu Tode, bis sie selbst, zu Boden geworfen, von den Pferdehufen erschlagen wurden. Der Chronist erzählt: «Das war nicht mehr der Tumult einer Schlacht, sondern das Brüllen und Stöhnen Erstickender, das dumpfe Jammergeschrei, das Röcheln aus zerstampften Leibern, das Krachen der Knochen.» Sechsundzwanzigtausend Flamen wälzten sich in einem ungeheuren, blutenden Knäuel auf diesem scheußlichsten aller Schlachtfelder, dem von Roosbecque. Der junge König hatte sein Pferd gewendet; ihn schauderte, er wollte das Gräßliche nicht sehen, aber sein Onkel Burgund duldete keine Schwäche, auch er, Karl VI., müsse das Doppelherz der Könige haben, das harte und das weiche. In der Brust des Siegers einer Schlacht dürfe nur das harte schlagen. Und er zwang den kleinen König, das Entsetzliche anzusehen; ach, es dauerte Stunden, bis alles ruhig war, still wie der Tod. An diesem grauenvollen Tag des Jahres 1387 brach zum ersten Mal der Wahnsinn Karls VI. aus: ein Blutrausch, eine Verwirrung, die seine Begriffe verzerrten, die ihn nach Greueln verlangen ließ, die ihm bisher zuwider gewesen waren. Man befand sich in Courtrai, südwestlich von Gent, das in seiner Kathedrale seit dem Sieg des Volkes über Philipp IV. von Frankreich im Jahre 1302 sechshundert französische Degen aufbewahrte. Der Oheim Burgund sprach bitter über die Frechheit des flandrischen Volkes, daß es damals gewagt hatte, sich gegen die französische Herrschaft zu erheben und dem Kampf den Namen »Sporenschlacht« gegeben hatte, weil die französischen Ritter ihren Pferden fliehend die Sporen gegeben hatten. Das Blut schoß dem jungen verstörten König in den Kopf; er taumelte vor Wut: Strafen, vernichten wolle er das Pack, noch heute, jetzt! schrie er wie von Sinnen. «Legt Feuer, schlagt sie nieder, Männer, Weiber, Kinder!» Der Befehl des Gesalbten, der Befehl des Wahnsinnigen, er wurde ausgeführt; die Söldner stürzten sich auf die beuteverheißende Arbeit. Der Herzog von Burgund und der Adel hatten sich mit dem rasenden kleinen König auf eine nahe, hochgelegene Burg zurückgezogen. Keiner widersetzte sich dem Wahnsinnigen; mit kaltem Blut schauten die Herren von der Höhe zu, wie eine schöne, fleißige Stadt voll fröhlichem, gutherzigem Leben lichterloh brannte und in Asche sank und die Bevölkerung darin kannte man die Söldner - hingemetzelt wurde.

4. Kapitel

Karl wollte seinen »siegreichen Kriegszug« fortsetzen, er war von einer Art Tobsucht besessen, aber die Herren seiner Umgebung hatten übergenug von Regen, Kälte und versumpften Straßen. Es war Zeit, daß man zum fröhlichen Hofleben zurückkehrte, bereichert an köstlichsten Schätzen aus Flandern. Wenn Seine Majestät der König, der mit göttlicher Weisheit erfüllt war, glaubte, noch weitere Strafgerichte halten zu müssen, so waren ja die aufsässigen Pariser, die »Maillotins«, da, denen man auf die Finger klopfen konnte. In Paris aber waren die Bürger, ob Maillotins oder besonnene Männer, schon durch die Wahnsinnstaten des Königs in Flandern gewarnt, und sie beschlossen, diesen jungen Mann, der ohne Sinn und Zweck unschuldige Städte vernichtete, so weit einzuschüchtern, daß er seine gute Stadt Paris verschone. Man bereitete sich in der Universität und in den Gilden, dem König mit Pomp zur Begrüßung entgegenzuziehen, aber - bewaffnet! Mit Armbrüsten, Pfeil und Bogen, Lanzen und Schwertern, in Helm und Kettenhemd. Eine kriegerische Parade, was weiter? Der König würde, gnädig lächelnd, die Bitten um Wiederherstellung der Steuererleichterungen, die sein weiser Vater eingeführt hatte, entgegennehmen und - bewilligen, bewilligen müssen!, wenn er und seine fürstlichen Vormünder die Bürgerschaft von Paris zu jedem Kampf gerüstet sähen. Karl VI. und seine Umgebung waren verdutzt von dem kriegerischen Aufmarsch friedlicher Gilden außerhalb der Mauern ihrer Stadt. Der Einzug durch das enge Tor konnte gefährlich werden. Der Herzog von Burgund, Philipp der Kühne, raunte seinem königlichen Neffen Ratschläge zu; alles Böse, was den König zum Feind seiner Untertanen machen mußte: er dürfe sich nicht einschüchtern lassen! Gewalt gegen Gewalt. Man wolle Vergünstigungen von ihm erpressen. Eine bewaffnete Bürgerschaft: Unter Drohungen wolle sie Reformen erzwingen! Karl lächelte auf seine listig-irre Art; er hatte einen Einfall, und diesen ließ er als Befehl weitergeben. Eine Pionierabteilung, die sich auf das Brechen starker Mauern verstand, jagte dem Königs- und Bürgerzug voraus und stürzte sich mit Pickeln und Beilen auf das Pariser Tor, das schon für den Einzug des Königs geschmückt war. Was hatten die Soldaten im Sinn? Die Umwohner des Tores und das wartende Volk starrten, als beginne der Untergang der Welt. Man hob die riesigen, schweren Torflügel aus den Angeln, warf sie zu Boden, zerschlug das Tor, riß die Mauern ein. Warum, warum? Damit eine Bresche entstehe, durch die der König mit seinen Herren geschlossen in die Stadt einziehen könne. Und so geschah es. Karl VI. ritt in einer langen Linie mit seinen Verwandten und den höchsten Herren über die im Staube liegenden, ächzenden Torflügel hinweg; ihm folgte das Heer, und hinter diesem gingen sehr still, voll böser Ahnungen, die Bürger einher. Kaum war der letzte der Maillotins in der Stadt, als der Befehl erging, Wagen aller Art, jeden Helm, jedes Panzerhemd, in den Louvre zu bringen - und nun zur Hinrichtung der Schuldigen. Der Herzog von Berry, der kunstsinnigste Mann seiner Zeit, ein Lebenskünstler und Ästhet, erklärte seinem Neffen, die Bürger seien allesamt todeswürdig, da sie sich erdreistet hätten, die Ordnung der Gesellschaft anzugreifen. Eine große Zahl aufrührerischer Wirrköpfe, aber auch besonnene Männer, die eine Verbesserung der Lage erhofft hatten, wurden öffentlich geköpft. Die übrige Bevölkerung wurde zusammengerufen; von den erhöhten Stufen des Palais schauten der König und der ganze Hof auf die verängstigte, stöhnende Menschenmenge hernieder. Der Kanzler verlas die Liste ihrer Verbrechen und der Strafen, die sie erwartete. Ein Geschrei um Gnade erhob sich, dem der König in seinem starren Wahnsinn mit Vergnügen lauschte. Was würde er befehlen? Da warfen sich die Vormünder scheinheilig vor ihm auf die Knie. der König möge seinem Pariser Volk verzeihen. Der König verzieh, die Herren erhoben sich, und der Kanzler und Erzbischof von Reims verkündete, der Erlauchte wolle die Bestrafung in eine Geldbuße umwandeln. Damit war der eigentliche Zweck dieser rührenden Szene erreicht. Die Bürger waren erleichtert, daß kein Massaker befohlen wurde, doch sie mußten zahlen, viel zahlen, aber jeder, der in die Aufstände der Maillotins verwickelt gewesen, war glücklich, sich loskaufen zu können. Alle Privilegien wurden wieder zurückgenommen, die Steuern sogar erhöht, auch sollte es keinen »Prévôt« der Kaufleute mehr geben und von Reformen war nicht mehr die Rede. Der vierzehnjährige König war wie von Sinnen durch diesen Triumph. In diesem zu Ende gehenden Jahr 1382, da das Volk sich in seiner Beraubtheit und Bedrückung still verhielt, fragten sich aber doch die Herren: Was brüten sie aus, diese achthunderttausend Pariser, darunter hunderttausend waffenfähige Männer, wie Maitre Froissart errechnet hatte? Man mußte ihnen Feste geben - Hochzeiten am Hof, Turniere, Umzüge, Karnevalsbelustigungen. Beginnen wir mit einer dreifachen Hochzeit Philipp der Kühne, Herzog von Burgund, der nur den Tod seines Schwiegervaters abzuwarten brauchte, um Flandern seinem Herzogtum einzuverleiben, gedachte auch Holland, Seeland und Hennegau an sich zu bringen; diese drei Provinzen gehörten dem bayrischen Herzogshaus, aber wie weit waren sie von Bayern entfernt, wie nahe dagegen an Burgund gelegen. Der Herzog von Bayern besaß eine Reihe Kinder, das kostbarste Gut der Fürsten. Um zwei der Kinder, einen Sohn und eine Tochter, warb Philipp der Kühne für seine eigene Nachkommenschaft. Ein drittes der bayrischen Kinder, das vierzehnjährige Töchterlein Isabella, auch Isabeau genannt, war zur Gemahlin des Königs von Frankreich bestimmt. Die Verhandlungen waren vom Himmel gesegnet, und drei junge Paare, halbwüchsig oder gar noch Kinder, wurden zusammengegeben.
Als Karl VI. im Frühjahr 1385 Isabeau von Bayern heiratete, war er noch nicht siebenzehn Jahre, und sie, die Braut, zählte vierzehn Lenze. Die Hochzeit wurde mit übermäßigem Pomp zur Unterhaltung des Volkes wochenlang gefeiert; sie begriff ja auch die burgundisch-bayrische Verbindung mit ihren Festlichkeiten ein. Aber nun genug der Spielereien. Die Engländer hielten immer noch ein gutes Stück von Frankreich fest. Die Zeit war günstig, denn Richards II. Vormund, sein Onkel John of Gaunt, lag mit der englischen Flotte vor Spanien. Dieser Phantast glaubte die Krone von Kastilien erringen zu können. Karl VI. wäre am liebsten sofort mit einigen Genossen zu Schiff nach England gefahren, aber seine adlige Umgebung, die genau so kriegslüstern war wie er, wollte eine glanzvolle Invasion. So erwarb man Schiffe von allen seefahrenden Ländern und baute selber, was die Schiffszimmerleute nur fertigbringen konnten. Aber die Schiffe hatten auch schön zu sein! Karl forderte vergoldete Masten, Flaggen und Fahnen größer denn je, aus Seide und mit den Wappen des Königs und der großen Geschlechter bestickt. Oft ritt er mit seiner kleinen Gemahlin und seinem Hofstaat zu den Werften, um zu verfolgen, wie die Schiffsrümpfe bunt bemalt wurden; auch trat er in die Werkstätten der Holzschnitzer, um die fertigen Gallionsfiguren zu betrachten und den Meistern Ratschläge beim Fortgang ihrer Arbeit zu geben. Zweiundsiebzig Schiffe sollten in See stechen. Viele der Fahrzeuge wurden mit Pferden beladen, andere mit Waffen und Gebrauchsgegenständen, mit Kleidern und Betten. Man gedachte nämlich nicht, unbequem in Zelten zu wohnen, nein, eine hölzerne, zerlegbare »Stadt« wurde mitgeführt; dreitausend Schritt im Quadrat sollte sie am englischen Ufer bedecken; in ihr wollten der König und der Adel wohnen. Mochte der junge König Richard sich aufraffen aus seinem verspielten Hofleben. Der englische Adel und die Kirche fühlten sich recht gereizt durch ihn; das Land war in keiner Weise gerüstet. Seit Jahren wurde der Krieg mit Frankreich so schwach und nur »linker Hand« geführt, so daß Regierung und Parlament fürchteten, auch noch die letzten Stützpunkte auf dem Kontinent zu verlieren. Das Jahr 1385 drohte für England zu einem Unglücksjahr zu werden. Fischer berichteten von dem Bau einer großen französischen Flotte und den offnen Prahlereien der Schiffsbauer daß die Südküste Englands bald französisch sein werde! Der junge König Richard lachte über das Geschwätz, aber einsichtige Männer verfluchten die Ohnmacht des Landes, fluchten, nicht handeln zu können. Die englische Flotte lag ja mit den besten Truppen vor Spanien; man konnte so wenig nach Flandern übersetzen, um Gent, den letzten Absatzmarkt für die englische Wolle, zu schützen, wie man sich der drohenden Invasion an der Südküste zu erwehren vermochte. Aber der Himmel half der Insel, und man hatte Veranlassung, in allen Kathedralen ein Tedeum anzustimmen und das Volk mit festlichen Dankprozessionen zu unterhalten. Ein großer Sturm hatte die französische Flotte, samt der aufgeladenen Holzstadt, gegen Flandern geblasen und die meisten der herrlich bunten Fahrzeuge zerschmettert. Jetzt hätte man in Frankreich einfallen müssen! Man nahm sich in beiden Ländern Zeit; man ließ sie mit der Lösung allerlei innerer Schwierigkeiten dahingehen. Richard II. hatte sich von seinen Vormündern befreit und war zu einiger Vernunft herangereift. Jahr um Jahr erreichte er eine Verlängerung des Waffenstillstandes mit Frankreich und feierte 1396 seine Hochzeit mit Karls VI. elfjährigem Töchterchen Isabella. Hätte Richards Vernunft gedauert, so wäre es vielleicht zu einem Frieden mit Frankreich gekommen, jetzt, da die beiden Könige nahe verwandt waren; aber Richard fiel zurück in die verhängnisvollen Eigenschaften, die alle Plantagenets besaßen: unbändigen Hochmut und die Gier nach absoluter Macht. In einem Lande, das die Magna Charta besaß! Auch die unerhörte Prachtentfaltung und die Verschwendungssucht des Königs ließen den Boden unter seinen Füßen wanken. Jenseits des Kanals hatte sich die Atmosphäre ebenfalls verdüstert. Karl VI. war in neuen Wahnsinn verfallen. Das Volk begann ihn »Le Fou«, aberzugleich »Le Bien-aim« zu nennen, denn die Geisteskranken waren Gottgeliebte, denen jede Verantwortung aus der Hand genommen war. Charles, Le Bien-aimé, man bemitleidete ihn je mehr, je teuflischer die Königin und der Hof Sitte und Ordnung verhöhnten. So gab man auch dem König keine Schuld, als er auf den blasphemischen Gedanken verfiel, das Fest, das er seinem Vetter Louis d'Anjou zur Feier des Ritterschlages zu geben gedachte, in das Kloster und die Kathedrale von Saint-Denis zu verlegen.
Saint-Denis, wo die toten Könige ruhten, der Ort, der die Trauer des Landes zu sehen gewohnt war. Der Hof lachte zynisch über die Idee. Jetzt wurden unter den Augen der Gäste aus England, Deutschland und Italien im Klosterareal Turniere abgehalten und in der Kathedrale die Nächte durchtanzt und jede Liebesfreude genossen.
Das größte Bankett fand im Hof der Abtei bei strahlendem Wetter statt; stundenlang wurde getafelt, getrunken, gelacht; dann begann der letzte Ball: Herren und Damen waren maskiert; man konnte kein Ende finden, denn unerkannt waren jeder und jede frei, allen Lüsten nachzugeben. An einem letzten, wilden Bacchanal gelang es dem jungen Herzog Ludwig von Orléans, Karls VI. Bruder, die Frau seines Vetters Johann von Burgund zu verführen; Johann war siebzehnjährig und seine kleine Gemahlin kaum fünfzehn Jahre alt. Ludwig von Orléans, der auch das zwanzigste Jahr noch nicht erreicht hatte, vermochte den Triumph über seinen Vetter Burgund, der klein und häßlich, während er selbst von bestechender Schönheit war, nicht zu verbergen. Er verspottete den Betrogenen öffentlich und prahlte unter seinen Freunden mit der Mannestat, die er vollbracht. Ein Verbrechen an der burgundischen Ehre, das Verbrechen um Verbrechen zeugen sollte, denn Johann von Burgund, dem späteren »Jean sans Peur«, einer ungewöhnlich starken und begabten Persönlichkeit, war es vorbehalten, in den kommenden Jahrzehnten die Rolle des eigentlichen Königs von Frankreich zu spielen. Dem jungen Burgund war es nicht unlieb zu sehen, wie die geistige Umnachtung seines königlichen Vetters immer tiefer wurde. Ja, es kam der Tag, da Karls Verworrenheit bei einer Jagd in seinen Wäldern in offnen Wahnsinn umschlug. Ein plötzlicher Tobsuchtsanfall, und er schlug mit dem Schwert rechts und links auf seine Umgebung ein. Vier Ritter und Pagen tötete der Rasende, bevor man ihm das Schwert entwinden und ihn festhalten konnte. Der Hof war »consternée«. Dem Volk verbarg man, so gut es ging, daß nun ein wahrhaft Wahnsinniger sein Herrscher war, aber durch die Dienerschaft sickerten die Berichte über den Geisteszustand des Königs unter die Bürger von Paris und durch die Tore hinaus ins Land. Obwohl Karl auch gesunde Perioden hatte, trennte sich Isabeau, die Königin, zeitweilig von ihrem Gemahl - eine Tatsache von äußerster Wichtigkeit. Schon zu Lebzeiten der Königin und bis heute wird sie bestätigt oder verworfen, je nach dem Interesse des Beurteilers an der legitimen oder illegitimen Nachkommenschaft der Königin. Ihre zeitweilige Trennung vom König entsprang übrigens nicht dem verständlichen Wunsch, nicht noch mehr Kinder des wahnsinnigen Gemahls in die Welt zu setzen, sondern aus ihrer Neigung zu andern Männern. Das ausschweifende Leben der Königin war kein Geheimnis; es war am Hof und im Volk bekannt, daß sie die Geliebte ihres Schwagers, des Herzogs Ludwig von Orléans, war. Ludwigs Gattin, die feine, sanfte Valentina Visconti, selber eine Verlassene, nahm sich des verlassenen Königs an. Wie mit einem Kinde sprach sie mit ihm und beschäftigte ihn; sie spielten Karten miteinander, eine Zerstreuung, die kurz zuvor erfunden worden war. Jetzt, da der Gesalbte sich leidenschaftlich dieser neuen Freude ergab, begann der ganze Hof Karten zu spielen. Die Maler hatten gute Zeiten, denn jedes Blatt des Spieles mußte mit der Hand gemalt werden; ein Pack Karten kostete zehntausend Dukaten. Valentina blieb auch ohne Furcht bei dem König, wenn seine Umgebung vor den entsetzlichen Tobsuchtsanfällen floh. Karl VI. liebte seine Schwägerin in sklavischer Anhänglichkeit, wie ein Geisteskranker seine überlegene Pflegerin zu lieben vermag. Der Hof handelte weniger vernünftig als die Herzogin von Orléans, denn die Herren in Karls Umgebung beschlossen, wie früher schon, den Wahnsinn mit dem Wahnsinn zu heilen. Trinkgelage, Jagden, Maskeraden, Orgien sollten seinen verwirrten Geist von Mordgedanken ablenken. So auch ein Ball, der einer Hochzeitszeremonie folgte. Der König sollte mit fünf seiner nächsten Freunde als Satyr erscheinen, fest eingenäht in schön präparierte Ziegenfelle. Die Satyrn hatten, nach antikem Vorbild, alle Freiheit, die Frauen zu jagen und zu lieben. Der königliche Satyr ergriff die kindlich-junge Frau seines alten Onkels, des Herzogs von Berry, die fünf andern stürzten sich auf die lachenden und auf kreischenden Damen. Die Ehemänner fuhren dazwischen. Der zwanzigjährige Herzog von Orléans, Valentina Viscontis Gemahl, und seine Herren wollten sich totlachen über das Liebeschaos, aber die geheime Wut der Gefoppten gebar eine furchtbare Idee - mit Fackeln, die sie aus den Ringen an der Wand rissen, zündeten sie die Felle der Verkleideten an. Ein mörderisches Gebrüll erhob sich; die Ziegenfelle waren fest auf den nackten Leib genäht; die Unglücklichen standen in Flammen, rannten umher, fanden keine Hilfe, wälzten sich am Boden, die Gäste flohen, nur Eine warf sich todesmutig auf den König, umschlang seine brennende Gestalt mit ihrem weiten, schweren Mantel, warf ihn zu Boden und sich über ihn. Das war das vierzehnjährige Kind, die kleine Herzogin von Berry. Sie hatte Karl VI. das Leben gerettet; die fünf Gefährten des Königs, deren brennende Leiber von Dienern mit Decken beworfen wurden, starben an ihren Verbrennungen. Als das Volk von dem Unglück hörte, rottete es sich vor dem Stadtpalais, Saint-Pol, in dem der König wohnte, zusammen. Die Empörung über das Treiben am Hof war einem gefährlichen Ausbruch nahe. Feste, die das Leben des Gesalbten gefährdeten! Aber der Himmel hatte ihm einen Engel gesandt. Wo immer die junge Herzogin von Berry sich zeigte, sei es, daß sie zur Jagd ritt, sei es, daß sie sich von ihrem Palais in den Louvre begab oder mit ihren Damen eine Kirche betrat, das Volk scharte sich jubelnd um sie und betrachtete das zierliche Mädchen, das noch ein halbes Kind war, wie ein Heiligenbild. Ohne die Flammen zu fürchten, hatte es den König an sich gedrückt, umhüllt, gerettet. In allen Ländern Karls VI. sprach man von dieser Tat, und Froissart, der Hofhistoriker, bewahrte sie in seiner blumenreichen Sprache für die Nachwelt auf. Karl VI. selber aber stieg noch tiefer in den Wahnsinn hinab; im nachträglichen Todesgrauen hatte er sich von seinem Königtum losgerissen, als könne er jeder Gefahr entrinnen, wenn er nur aus seiner Haut herausschlüpfe. Er sei nicht Karl VI., wer wage das zu behaupten? Er heiße George, er gehöre niemandem, habe weder Frau noch Kinder. Er tanzte mit sich allein, wie er immer in seinen schlimmsten Stunden zu tanzen pflegte, und brütete neue Wahnsinnstaten aus; der Mann, in dessen Händen die Regierung des Landes, samt Innen- und Außenpolitik lag. Eine Regentschaft wäre nur von Gutem gewesen, wenn nicht die beiden Todfeinde, Karls Bruder Ludwig von Orléans und Jean sans Peur, der 1404, nach dem Tod seines Vaters Philipp, Herzog geworden war, um die höchste Stelle neben dem Thron gerungen hätten. Was galt ihnen das Wohl des Volkes? Was kümmerte sie der Zustand des Landes? Philippe Le Hardi hatte noch Mäßigung gekannt und eine gewisse Autorität über die junge Generation ausgeübt, aber jetzt, da er fehlte, schlug die Flamme des Hasses zwischen den Vettern hoch empor. Unbändige Herrschlust auf Ludwigs Seite, der mit Recht empfand, daß er ein besserer König wäre als sein verrückter Bruder, und ebenfalls Machtgier auf Burgunds Seite, angestachelt von der Hoffnung, jetzt endlich, nach sechzehn Jahren, Rache nehmen zu können an Vetter Ludwig, dem Verführer seiner Frau während der orgiastischen Feste in Saint-Denis, an diesem Spötter, der ihm, Johann, zum Hohn, als Devise die Worte erwählt hatte: »je l'ennuie«, - »ich mache ihn verdrießlich«.
Johann hatte sich, kaum daß er die Regierung in Burgund übernommen hatte, wozu er immerhin ein gutes halbes Jahr brauchte, mit Heeresmacht auf den Weg von Dijon nach Paris begeben. Er würde die Bürger leicht für sich gewinnen; von Lügen und Verleumdungen hatten sie sich immer noch beschwatzen lassen, nicht anders als der geisteskranke König und der Adel sich von ihm hatten beschwatzen lassen. Vetter Ludwig dürfte sich jetzt den Kopf darüber zerbrechen, wo sich ihm das angenehmste Exil biete. Das Jahr 1405 war schon weit fortgeschritten. Ludwig von Orléans hatte Zeit gefunden, sich zum Reichsverweser und Mitregenten seiner Geliebten, der Königin Isabeau, aufzuschwingen. Als der Bericht vom Herannahen einer starken burgundischen Streitmacht in Paris eintraf, drohte eine Panik auszubrechen. Wie würde Burgund die wehrlose Stadt behandeln? Ludwig von Orléans ließ alle Tore schließen und die Stadt in Verteidigungszustand setzen, soweit es möglich war, aber er fühlte mit Schrecken seine Ohnmacht einem gutausgerüsteten Heer gegenüber. Johann ohne Furcht zweifelte nicht daran, daß Paris, von ihm seit langem gegen Ludwig aufgehetzt, die Tore mit Jubel öffnen würde. Aber - die Tore waren verschlossen, von Bogenschützen besetzt. Johann von Burgund pflegte nie vor Wut zu toben, sondern wie eine kalte, reglose Schlange im rechten Moment den Kopf vorzuschnellen und den Feind mit einem tödlichen Biß zu vernichten. Nur Geduld, die Tore würden sich bald öffnen. Isabeau zitterte vor dem gewaltsamen Eindringen Burgunds, nicht ihretwegen, noch hatte kein Mann ihr widerstanden, aber Ludwig war in Gefahr, und ihre Kinder konnten ihr als Geiseln entrissen werden. Ihr geisteskranker Gemahl vermochte seinen Bruder nicht zu schützen, und auf die Bürger war kein Verlaß. Sie mußten beide fliehen, aber rasch, bevor die Flut der Feinde sich in die Stadt ergoß. Wo waren die Kinder? Ein Planwagen stand bereit, ach Gott, es war kein hoffähiges Gefährt. Isabeau selber schob ihre drei Töchter, Jeanne, Michelle und Katharina, ohne Umstände auf die Strohschütte, und nun die kostbaren Söhne, den Dauphin Ludwig, ein siebenjähriges Bübchen, seinen Bruder Johann, und wo war Karl? Eine Wärterin, die Dame de Chamoisie, kam gelaufen mit einem Kind auf den Armen, das ängstlich schrie: Seine Hoheit, der Herzog Karl von Ponthieu. Fertig, abfahren nach Tours! In dem stoßenden und rasselnden Planwagen voller Kinder und Wärterinnen fuhr ein gutes Maß Weltgeschichte mit: der kleine zweijährige Karl, der in den Armen seiner guten Pflegerin eingeschlafen war, ein »dritter Sohn« ohne große Aussichten, er sollte als Karl VII. Freund und Genosse des Lichts dieser trüben Zeit, Jeanne d'Arcs, werden. Diese Flucht im Planwagen ist wohl nur deshalb von den Historikern verzeichnet worden, weil es Karls erstes Erscheinen auf dem Welttheater war. Ein Stück Weltgeschichte durfte auch sein Schwesterchen Katharina beanspruchen, die zweifache Königin werden sollte: von England und von Frankreich. Der höchst kostbare Planwagen geriet übrigens sehr bald in burgundische Hände. Johann selber entdeckte ihn und führte lachend die unschätzbare Fracht nach Paris zurück, wo er sie im Louvre dem Schutz des alten Herzogs von Berry übergab, der dafür haftete, daß sie nicht entführt wurde. Nach Orléans und Isabeaus Flucht, die nicht geheim geblieben war, hatten sich alle Tore zum Empfang des »gnädigen Fürsten« geöffnet. Johann spürte dennoch, daß die Stadt sich ihm noch nicht ergeben hatte. Der Adel, die Universität, das niedere Volk hingen trotz allen gehässigen Verleumdungen dem fröhlichen, schönen Orléans an, der jedermann zu bezaubern pflegte. Und er, Johann? Er war klein und häßlich und bezauberte niemanden; er wußte es, aber er war klüger als sein Vetter Ludwig, der nichts als Liebesgeschichten, Ausschweifungen und sein Mäzenatentum im Kopf hatte. Vor allem gönnte Burgund ihm die Kunstsammlungen nicht, denn Dijon und die großen flandrischen Städte sollten ihren Ruhm als Kunstzentren nicht mit Paris teilen! Johann vermochte immerhin die Gilden der Handwerker durch Versprechen auf Steuererlasse und Handelsverträge auf seine Seite zu bringen. Er hatte das Heer, das Geld und seine Rachgier für sich. Es würde Orléans nicht gut tun, zurückzukommen, um ihm die Herrschaft über König und Stadt streitig zu machen.
Burgund wußte seine Gefühle zu verbergen, so kamen Ludwig und Isabeau vertrauensvoll in das scheinbar ruhige Paris zurück; Orléans glaubte sogar, Herr der Lage zu sein. Ohne in seinem Hochmut zu beachten, wie Burgund der Stadt auf alle Weise schmeichelte, erzwang er hohe Steuern von den Bürgern und prophezeite die Rückeroberung Bordeaux'. Er brach, seinem Versprechen getreu, auf, aber viel zu spät im Jahre und kam in die Regen- und Schneezeit hinein, auch ließen die Engländer sich nicht vertreiben. Der kostspielige Winterfeldzug endete in einem Rückzug nach Paris. Nun, wenn nicht Bordeaux, so würde man Calais nehmen. Johann von Burgund lachte vor sich hin. Daß eine große gut befestigte Stadt wie Bordeaux, seit Eduards III. Zeiten in englischem Besitz, nicht in wenigen Wochen zu nehmen war, das hätte er seinem Vetter vorhersagen können. Jetzt würde er, Johann, sich »aufopfern« und für ihn Calais belagern. Es war der Frühling des Jahres 1407. Ludwig, der froh war, die Freuden seines üppigen Lebens in »Pierrefond« dem »schönsten Haus Frankreichs«, das er erbaut hatte, den Sommer hindurch zu genießen, ließ Burgund ziehen. Es vergingen aber kaum zwei Monate, und Jean sans Peur, häßlicher in seiner Schadenfreude denn je, kehrte in die Hauptstadt zurück. Ohne das schöne Geld der Bürger, das vor Bordeaux nutzlos vertan worden war, hätte er Calais nicht nehmen können, er sei sehr »betrübt«. Die Bürger waren nicht betrübt, sondern wütend. Jetzt war der Boden der öffentlichen Meinung genügend aufgetaut, so daß Burgunds Anhänger den Samen des Mißtrauens und des Hasses gegen Ludwig von Orléans mit vollen Händen aussäen konnten und - dank des erfreulichen Wankelmutes der Menschen - griff eine Epidemie des Zornes auf den Aussauger Ludwig um sich. Orléans, der in sein Pariser Stadtpalais zurückgekehrt war, wehrte sich, und mit Recht, er hatte viel zum Vergnügen des Volkes beigetragen. Burgund war der Feind Frankreichs! Ludwig schmeichelte seinem wahnsinnigen Bruder die königlichen Truppen ab und versprach seinen Anhängern, Johann aus der Stadt zu jagen, dann werde man sehen, wem das Volk anhänge! Aber Ludwig vermochte nicht zu handeln; er mußte gewahren, daß der Adel, die Geistlichkeit, die Universität, die Gilden, das Volk ihm plötzlich wie eine Wand von Feinden gegenüberstanden. Die Spannung am Hof und in der Stadt wuchs. Die drei Hauptakteure: Johann, Ludwig und Isabeau waren Anfang der Dreißig, auf der Höhe ihrer Lebenskraft und nicht gewillt, auch nur einen Schritt zurückzuweichen. Die Vettern zogen immer mehr Truppen zusammen und befestigten ihre Stadtpaläste. Überfälle, Hinterhalte, Pfeilschüsse aus dem Dunkeln nahmen von Woche zu Woche zu. Der mörderische Ausbruch eines Bürgerkrieges schien nahe zu sein, die Folgen waren unabsehbar. In diesem äußerst kritischen November 1407, am zwanzigsten des Monats, beschwor der Herzog von Berry, der letzte der alten Generation, seine jungen Verwandten, Frieden zu schließen; sie dürften über ihrem Zwist England nicht vergessen. Heinrich IV., jenseits des détroit, habe einigermaßen Ruhe im Lande, er könne jeden Augenblick den Bruderzwist in Frankreich benutzen, um von neuem nach den früheren Besitzungen auf dem Festland zu greifen. Obgleich Ludwig von Orléans an diesem Tag im November krank im Bette lag, wartete der alte Herzog keinen Tag länger, um die Versöhnung der Vettern zustande zu bringen. Er führte Johann von Burgund fast gewaltsam in das Schlafgemach Orléans, zog die Vorhänge des Prunkbettes auseinander und ließ Johann die Stufen hinaufsteigen, um seinen kranken Vetter zu umarmen und zu küssen. Ludwigs Beichtiger zelebrierte dann für beide die Kommunion. Darauf rief der alte Berry die Diener herbei, ließ Tisch und Sessel, Besteck, Teller, Becher, Wein und Speisen bringen und zog sich erst erleichtert zurück, als er die beiden Todfeinde gemeinsam speisen sah. Die nächsten Tage verliefen ruhig. Die Königin Isabeau hatte in ihrem Palais Barbette ein Söhnchen geboren; Philipp wurde es getauft, doch starb es gleich nach der heiligen Handlung.[7] Ludwig von Orléans war viel um seine Geliebte. Am 23. November 1407 wurde er von einem ihm unbekannten königlichen Boten aus ihrem Wochenzimmer zu seinem Bruder, dem König, gerufen. Es ist acht Uhr abends, die Straßen sind schon leer und dunkel. Ludwig von Orléans reitet auf seinem Lieblingsroß, zwei Jäger zusammen auf einem Begleitpferd. Ludwigs Page geht mit einer Fackel voran. In einer Gasse, durch die der kleine Zug sich nähert, ist eine Frau im Begriffe, ihre Fensterläden zu schließen. Da sieht sie, wie sich aus dem Dunkeln Männer auf den reitenden Herrn stürzen; Äxte blitzen im Fackellicht auf. Der Page wirft sich vor den heruntergezerrten Herrn, er wird mit ihm zugleich in Stücke gehauen. Die Frau im Fenster ist wie erstarrt, sie vermag nicht zu schreien, so bleibt sie unbemerkt von den Verschwörern und sieht dem blutigen Mord als einzige Zeugin zu. Das Haupt des Reiters ist in zwei Teile gespalten, das Gehirn herausgequollen, die abgehackten Gliedmaßen liegen verstreut in der Gasse. Da naht ein Mann, eingehüllt in einen langen, dunklen Mantel, die Krempe des Hutes tief über das Gesicht geschlagen, er trägt eine Laterne in der Hand und bückt sich über die blutigen Reste. Die Arbeit war gut getan, die Mörder schon im Dunkeln verschwunden; die beiden Jäger Orléans' sind auch tot und werden nie mehr ein Wort reden. Der Mann verbirgt die Laterne unter seinem Mantel und die Nacht verschluckt auch ihn. So hat die Frau es später zu Protokoll gegeben. Der Tod Orléans' die Vernichtung eines so schönen, anmutigen Menschen rief in Paris eine tiefe Erschütterung hervor. Jetzt war jeder Vorwurf vergessen. Hier war ein Prinz aus königlichem Blut, einst der Stolz der Stadt, von Verräterhand gefallen. Wie hatte man doch Orléans trotz all der schweren Steuern, mit denen er das Volk belastet hatte, geliebt und bewundert! Wer die Schlächterei befohlen hatte, das wußte jedermann: Johann, der Herzog von Burgund. Seine Anhänger gebärdeten sich voller Entrüstung. Was wagte man zu behaupten? Burgund ein Mörder, der das königliche Blut eines Valois vergossen hätte? Burgund, der selber ein Valois war? Sah man ihn nicht, wie er den öffentlich ausgestellten, dicht verhüllten Leichnam seines Vetters mit Weihwasser besprengte? Hörte man ihn nicht laut den Mörder verdammen? Und trug er nicht barhaupt einen Zipfel des Leichentuches, als die Reste des Unglücklichen auf den Wagen gehoben wurden, der sie nach Saint-Denis überführen sollte? Über kurzem gestand Johann von Burgund seine Tat in heuchlerischer Würde ein. Das Volk, das er zunächst durch Erleichterung der Steuern und Getreideverteilung gewonnen hatte, mußte einer öffentlichen Vorlesung durch einen Geistlichen zuhören, der weitläufig erklärte, das Menschenrecht erlaube, Tyrannen zu töten, ja, daß solche Mörder belohnt werden müßten. Der größte Römer, Julius Cäsar, sei zur Erleichterung des Volkes auch von Mörderhand gefallen. Die Gebildeten hatten begonnen, im klassischen Geist der wiedergeborenen Antike zu denken und den Tyrannenmord ruhig hinzunehmen; das Volk dachte gar nichts und ließ sich lenken, dem Herzog von Burgund, dem wahren Herrn des Landes, applaudierend. Der alte Herzog von Berry war unverhohlen empört. Er schloß Burgund vom Rat des Königs aus, eine offene Verurteilung des Herzogs. Valentina Visconti, die Witwe des Ermordeten, hatte ihren Gemahl trotz seiner Untreue leidenschaftlich geliebt, sie hatte in ihm den begnadeten Sohn des weisen Karls V. und dessen Gemahlin, Jeanne de Bourbon, der »Sonne von Frankreich«, gesehen. Jetzt stand Valentina allein und schutzlos da, als Hüterin ihrer acht Kinder. In ihrer Güte nahm sie zu der eigenen Schar den fünfjährigen Jean, einen unehelichen Sohn ihres Gatten, den ihm Mariette d'Enghien geboren hatte, in ihren Schutz. Dieses Kind sollte unter dem Namen, »der Bastard von Orléans«, zum Grafen Dunois erhoben, in die Geschichte eingehen. Noch hatte der kleine Halbbruder im Palais Orléans nur Grund zu weinen; seine gute, vornehm denkende Pflegemutter, Valentina, starb an ihrem Kummer, an ihrer Verlassenheit und an dem Grauen über die Verworfenheit ihrer Standesgenossen. Sie hat es nicht erleben dürfen, daß ihr Enkel, der Sohn ihres Sohnes Karl von Orléans, als Ludwig XII. den Namen eines »Vaters des Vaterlandes« erhielt. Sie mußte aber auch nicht erleben, und dieses zu ihrem Glück daß Johann von Burgund, der Mörder ihres Gatten, ihre Söhne zu sich nahm, »um jeden Haß aus ihrem Herzen und jede Rachelust fortzuerziehen«. So beschlossen im zynischen Frieden von Chartres 1409. Im Traktat unterschrieb der wahnsinnige Karl VI., daß der Mord an seinem Bruder Ludwig wohlgetan gewesen sei. Die Schwurhand des Mörders, die den Frieden mit dem Hause Orléans besiegeln sollte, legte sich feierlich auf die heiligen Bücher. Ein Mann unter dem höhnisch zuschauenden Adel war jedoch nicht gewillt, dem schlauen Mörder Burgund die Herrschaft über den wahnsinnigen König und damit die Ausbeutung des Landes unbestritten zu überlassen. Das war Bernhard VII., Graf von Armagnac, der Schwiegersohn des Herzogs von Berry. Seine Wut auf Burgund war verständlich.
Bernhard von Armagnac war es gelungen, seine kindliche Tochter mit dem jungen Karl von Orléans, dem neuen Herzog, zu verheiraten, denn er, Armagnac, war von dem Gedanken besessen, den jungen Orléans an die Macht zu bringen und mit ihm über Frankreich zu herrschen. Die Vormundschaft Burgunds sollte, auf Biegen oder Brechen, ein Ende nehmen. Vor allem mußte ihm Paris entrissen werden, das er durch immer neue Privilegien zu seinem Werkzeug gemacht hatte. Armagnac hetzte zunächst den Adel auf. Sahen die Herren denn nicht, wie sie in Gefahr gerieten, ihre Vorrechte und sogar Landbesitz zu verlieren, wenn die Bürger - Burgunds Partei - das Regiment in die Hand bekämen? Da scharten sich viele der großen Familien um Bernhard von Armagnac und seinen Schwiegersohn Orléans sowie um den alten Herzog von Berry: die Herzöge von der Bretagne, von Bourbon, von Alencon, der Graf Clermont und viele andere. Armagnac selbst besaß die wilde Gascogne, nahe den Pyrenäen, sein Einfluß beherrschte aber auch das Poitou und das Limousin, die früheren englischen Besitzungen, also fast den ganzen Süden Frankreichs. Wer zu ihm, Bernhard von Armagnac, hielt, trug eine weiße Armbinde, die burgundische Partei eine blaue. Die weiße Armbinde der Armagnacs sollte zu einem gefürchteten Zeichen des Schreckens werden, so sehr, daß man ihre Träger kurz »les bandes«, die Banden, nannte. Durch die Italiener veränderte sich das Wort in »banditi«. Aber ob bandes, Banden oder banditi, die Bezeichnung sollte für alle Zeiten zu einem Schimpfwort werden. Der junge Herzog von Orléans residierte außerhalb von Paris; seit seiner Verheiratung mit der Tochter Armagnacs, 1411, war der offne Bürgerkrieg ausgebrochen. Der Süden des Landes kämpfte in alter Rivalität gegen den Norden, der Adel gegen das reiche und starke Bürgertum; neugewonnene Provinzen versuchten, sich gegen die Krone zu wehren. Das Land war gespalten in Armagnacs und Bourguignons, in die Weißen und die Blauen. Aber zu keiner Zeit des langen Bürgerkrieges, der mit unerhörter Grausamkeit geführt wurde, gab es ein klares »Hier« und »Dort«, oder ein »Für« und »Wider«. Ehrgeiz, Geldgier, Rache, schlaue Familienbindungen änderten das Bild unaufhörlich. Oft wußten die Banden, wenn sie vor einer Stadt anlangten, nicht, ob sie eine verbündete, oder eine feindliche Bürgerschaft ausrauben, vergewaltigen und hinschlachten würden; oder auf dem Zug durch das Land, wem die Bauernhöfe, die sie niederbrannten, gehörten, einem befreundeten Seigneur, oder einem befeindeten. In Paris wehrten sich die Bürger in wilder Wut gegen die Armagnaken und gegen ihre Anhänger unter den reichen Kaufleuten. Die große Gilde der Metzger, die zu Burgund hielt, stellte eine Verteidigungstruppe von fünfhundert Mann auf Ihr Feldherr war der »Ecorcheur«, der Schinder Caboche. Die »Cabochiens« wüteten entsetzlich unter den Anhängern des jungen Herzogs von Orléans-Armagnac. »Cabochien« wurde zu einem Angstwort dieser Zeit, die an Blutgier, Entmenschung, Verwilderung nicht ihresgleichen hat.

5. Kapitel

Wenn man Beschreibungen des Pariser Zustandes in dieser Zeit liest, vor allem das »journal d'un Bourgeois de Paris«[8] aber auch die Berichte der verschiedenen Hofhistoriker, so vermag man nur Mitleid mit der Bevölkerung jener fernen Epoche zu empfinden. Die Pariser Bürger hatten in ihrer Vernunft und in ihrem Fleiß um 1412 schon eine hohe Stufe der Kultur erreicht, und nun waren sie in eine Verrohung, eine Beraubtheit und Gehetztheit zurückgefallen, als sei die Zeit der Normanneneinfälle wiedergekommen, vor deren Vernichtungswut einst alles Leben dahingesunken war, bis tief in das Land hinein. Jetzt waren es Franzosen, die gegen Franzosen auf dem Rücken des Volkes ihre wütenden Kämpfe ausfochten und das Elend von der Stadt hinaus auf das Land trugen. Wo war Hilfe, wenn nicht einmal der König oder die großen Lehnsherren, denen die Landbevölkerung untertan war, ihr Schutz zu gewähren wußten? Wie immer in der äußersten Not, wenn die Führenden versagten, griff auch im fünfzehnten Jahrhundert das Volk nach mystischer Hilfe, nach Wundern, nach der Erfüllung alter Prophezeiungen. An Wirrköpfen hat es zu keiner Zeit gefehlt, und wenn dann noch alte, hundertfach wiedererzählte Sagen diesen »Propheten« zu Hilfe kamen, so war ein Fieber der Erwartung rasch geschaffen. Alle westlichen Länder besaßen die gleichen Erzählungen von guten Königen und bösen Königinnen, von hilfreichen Geistern und Riesen, die das arme Volk plagten; sogar die Wölfe, die immer wieder zum Schrecken wurden, sobald das bebaute Land und die Wälder bei Pest und Kriegszeiten verwilderten, geistern durch diese Märchen, die nie vergehen sollten; doch nennen sie kein Land, keinen Ort, keinen Namen. Da ist aber ein Sagenkreis, der im wilden Wales entstand: die Geschichten um Merlin, den Zauberer und Propheten umfassend. Da diese in enge Verbindung mit dem Erscheinen Jeanne d'Arcs gebracht wurden, ist es gerechtfertigt, einen Blick auf die Gestalt Merlins - in der gälischen Sprache hieß er Myrddhin - zu werfen und auf seine Wirkung durch alle Jahrhunderte bis an die Grenze der Gegenwart.[9] Merlin soll ein Krieger und Barde am Hofe des Königs Artus gewesen sein, der um 500 die Angelsachsen und Pikten auf der britannischen Insel bekämpfte. Ein dichtes Rankengewirr unzähliger Auslegungen umschlingt den Namen Merlin aber es scheint der Wahrheit zu entsprechen, daß es um 500 in Wales, wo das »Zweite Gesicht«, das »Hellsehen«, das (Prophezeien) bekannte mentale Zustände waren, einen Mann gab, der außerordentliche geistige Gaben besaß. Der Chronist Nennius, der im achten Jahrhundert in der »Großen Bretagne« lebte, wie man die Insel damals nannte, erzählt, Merlin sei der Sohn eines römischen Konsuls und eines christlichen Mädchens in Wales gewesen. Später verwandelte die Sage den römischen Konsul, der vielleicht nicht sonderlich beliebt gewesen war, in einen »Dämon«, sogar in den Teufel und das christliche Mädchen in eine Nonne. Merlin war also böse und gut zugleich, wie die Prophezeiungen es sind, die sich ja stets auf zweierlei Art auslegen lassen. Die Prophezeiungen Merlins müssen wohl die eine oder andere Erfüllung gefunden haben, denn sechshundert Jahre nach ihm, 1135, sammelte Gottfried von Monmouth seine Vorhersagen und schrieb 1148 »La Vita Merlini«. Hier wird er am Schluß seines Lebens als einer der »Gottesnarren« dargestellt - deren Gestammel ja als Orakel aufgefaßt wurde - einsam in tiefem Walde lebend; die Fee Viviane zieht sogar einen Zauberkreis um ihn, so daß er nie mehr seine Einsamkeit verlassen kann. Im zwölften Jahrhundert schrieb Robert de Borron ein Gedicht über Merlin, in dem er ihn mit der Tafelrunde des Königs Artus in Verbindung bringt. Auch die höfischen Epen bedienten sich seiner rätselhaften Gestalt. Und nun Merlins Prophezeiung, die von den Franzosen übernommen und in französischem Sinne ausgelegt wurde: »Es wird eine Jungfrau aus dem »Bois Chesnu« erscheinen und Frankreich aus seiner Not erretten, aus dem »Eichenwald« oder auch aus dem »Alten Wald«. Wo erhob sich dieser Wald? Jede Provinz behauptete, ihn zu besitzen. Schon zwei Jahrzehnte vor Jeanne d'Arcs Erscheinen, als die Verelendung durch den Hundertjährigen- und dann durch den Bürgerkrieg immer grauenhafter wurde, gaben sich Mädchen und Frauen als Retterinnen des Landes aus. Der »Bois Chesnu« und Merlin standen immer im Mittelpunkt ihrer lügnerischen Versprechungen. Noch zu Jeanne d'Arcs Zeit traten diese Frauen, eine nach der andern, oder auch mehrere zugleich, auf. Man kennt verschiedene mit Namen und weiß, daß sie verbrannt oder ertränkt wurden, oder als verlachte Betrügerinnen wieder in der Masse des Volkes verschwanden. Die Prophezeiung aber lebte; wandernde Mönche brachten sie in die Dörfer, Barden sangen von ihr auf Schlössern und Burgen, durch die Handelsleute geriet sie auf den Markt der Städte. So gelangte Merlins Wort auch nach Domrdmy an der französisch-lothringischen Grenze, einem Dorf im äußersten Zipfel der Champagne, das dem König gehörte und keinem seiner Lehnsleute. Domrémy lag an einer großen Heerstraße; Gutes und Schlechtes kam auf ihr gezogen; die Leute im Dorf wußten von allem, denn wer auf der Straße daher kam, ruhte gernbei den freundlichen, sanften Menschen der Champagne aus, lieber als bei den rauhen Bewohnern der nahen lothringischen Vogesen.
Vom Hause des Jacques d'Arc, eines wohlhabenden Bauern und angesehenen Mannes im Dorf, der ein Amt in der Gemeinde bekleidete, konnte man, nur eine halbe Meile entfernt, auf einem Hügel den »Bois Chesnu« erblicken. Seitdem die Erzählungen über Merlin, den Propheten, im Lande geisterten, wurde der Wald mit Respekt betrachtet, aber niemand getraute sich, tiefer in ihn einzudringen. Wölfe und Wildschweine sollten dort hausen, und - viel schlimmer Feen, heidnische Geister; hier und nirgends sonst, mußte Merlins Wald sein. Unterhalb des Bois Chesnu beschattete ein großer alter Baum eine Heilquelle, in Mondscheinnächten der Lieblingsspielplatz der Feen, der »Dames«. Jacques d'Arcs Mutter pflegte ihren Enkelkindern zu erzählen, sie habe die Feen gesehen. Aber die Retterin Frankreichs, wo war sie? Aus welchem Dorf, aus welchem Haus würde sie hervortreten? Und wie sollte ein einfaches Mädchen Frankreich retten können? Es war alles Lüge! Berichte, die von weither kamen, erzählen, daß die Engländer sich rüsteten, von neuem über das Land Frankreich herzufallen, und keine Retterin zeigte sich. Eine lähmende Entmutigung ergriff alles Volk. Und doch lag in den Armen Isabelle Romées, der Frau des guten Jacques d'Arc, seit dem 6. Januar dieses Jahres 1412 die Retterin Frankreichs. Ein Kind wie alle Kinder; es trank, es schrie, es schlief, und die drei älteren Geschwister, Jean, Pierre und Katherine, umstanden das neugeborene Mägdlein mit der Neugier aller älteren Geschwister. Nichts deutete darauf hin, daß hier eines der unbegreiflichsten Menschenkinder geboren war, die je über den Erdboden gingen. Noch wurde es mitgeschleppt, ein schreiendes Bündel, wenn das ganze Dorf vor nahenden Banden fliehen mußte, und wurde zurückgebracht, wenn die Gefahr einmal wieder vorüber war. Am Horizont sah man andere Dörfer brennen, dann dankte und betete die ganze Gemeinde in der Kirche, deren Friedhof an die Mauer des Gartens stieß, der dem Jacques d'Arc gehörte. Aus diesem Jahre 1412 ist nichts von dem Kinde Johanna zu berichten, desto mehr von seinem Partner im kommenden großen Schauspiel, dem kleinen Herzog von Ponthieu, dem späteren Karl VII. Auch Karl, ein neunjähriges Bürschchen, wurde umhergeschleppt, hier versteckt, dort versteckt, denn Johann von Burgund sammelte die königlichen Kinder ein. Die beiden älteren Söhne des wahnsinnigen Karl hatte er schon auf seiner Seite eingepflanzt. Wer die Nachfolger Karls VI. besaß, hatte die Macht im Lande. Den fünfzehnjährigen Dauphin Ludwig hatte Burgund mit seiner Tochter Marguerite verheiratet, den jüngeren Bruder Jean, Herzog von Touraine, mit seiner Nichte in Holland verehelicht. Ihm fehlte nur noch der kleine Karl. Wo war der Knabe? Armagnac und sein Schwiegersohn, Karl von Orléans, verbargen diesen letzten Trumpf in ihrer Hand in düsteren Türmen, in sicheren Schlössern, bald auf dem Lande, bald in der Stadt. Die Angst und Verwirrung, die sie dem sehr zarten Knaben bereiteten, kümmerte sie wenig. Karls geliebte Gouvernante, Jeanne du Mesnil, war vielleicht um ihn. Aus der Chronik des Jean Chartier ersieht man, daß nicht nur die Dame Jeanne, sondern alle Diener des kleinen Herzogs ihm sehr zugetan waren. Er muß ein liebenswertes Kind gewesen sein, aber es spürte wohl den Haß der Großen, der sich wie Schlingen um ihn legte. Armagnac, Orléans und Burgund standen im Begriffe, das Land vollends zu zerreißen. Jean sans Peurs Macht war ungebrochen trotz einer kurzen Achtung durch den König, die ihn wenig angefochten hatte. Hinter ihm erhob sich England als ein Verbündeter, der ihm helfen sollte, das Königshaus der Valois zu beseitigen. Wie weit griffen Burgunds Pläne aus? Was stand Frankreich bevor?
Die Königspartei, das heißt die Partei Armagnacs und Oréans, zitterte, daß der kleine Karl in Burgunds Hände fallen könnte. Isabeau, die Königin, schwankend zwischen Burgund und den Armagnac-Orléans, kannte nur ihre Getriebenheit von persönlichen Lüsten; ihre Kinder überließ sie fremden Händen. Was kümmerte sie das Schreien eines verängstigten Kindes? Es war ein Pfand in der Hand der Männer. Es lebte aber in diesem haßzerrissenen Paris eine zweite hohe Frau, und diese gedachte zu handeln: Yolanda, die Tochter Johannes I. von Aragonien, eine der besten Persönlichkeiten der ersten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts. Ihr Heimatland war bis 1412 die größte spanische Macht neben Kastilien gewesen. Als einziges Kind ihres Vaters trug sie den Titel «Königin beider Sizilien und Neapels« auch noch, als sie Gemahlin des Herzogs Ludwigs II. von Anjou geworden. Wenn Yolanda sich durch Abstammung und Ehe zu den höchsten Frauen des Kontinents zählen durfte, so auch zu den gebildetsten. Sie gehörte als Persönlichkeit ganz dieser neuen realistischen Zeit an, selbständig im Denken, ohne jede Sentimentalität gegenüber der Lebensverachtung der führenden Männer, die Mord auf Mord häuften, selber aber von untadligen Sitten, von hoher Geistigkeit, eine «Virago». Neben all ihren Vorzügen galt Yolanda von Anjou auch als die schönste Frau ihrer Epoche, und zwar war ihre Schönheit von so viel Einfachheit, Sanftmut und Liebreiz geprägt, daß man ihrem Abbild einen Ehrenplatz in einem der farbigen Kirchenfenster der Kathedrale von Le Mans gewährte. Der berühmte Juvenal des Ursins sagte von ihr: »Laquelle l'on disoit bien estre la plus vertueuse, belle et sage princesse qui feust en la chrestienité« Yolandas Gemahl, Ludwig II. von Anjou, herrschte über den größten Teil des früheren englisch-aquitanischen Reiches. Als nun im Jahre 1413 Johann von Burgund mit der englischen Freundschaft zu spielen begann, sahen Yolanda und ihr Gatte die Bedrohung Anjous durch Groß-Britannien wieder nahegerückt. Sie hatten keine andere Wahl, als sich mit der Königspartei, das heißt mit den Armagnac-Orléans, zu verbinden. Yolanda arrangierte rasch entschlossen die Verlobung ihrer kleinen Tochter Marie mit Karl, um den sich die zwei Parteien stritten. Leider war der kleine Herzog von Ponthieu nicht Dauphin! Immerhin, er war der Sohn des Königs von Frankreich. Wer konnte wissen, was die Zukunft brachte? Nach der feierlichen Verlobung der Kinder drängte es Yolanda, es war der Februar 1414 gekommen, zu ihrem Gatten in sein gefährdetes Herzogtum zurückzukehren. Karl, ihren zukünftigen Schwiegersohn, nahm sie ohne Aufhebens mit in den sonnigen, vom Kriege noch kaum berührten Süden, der dem Konig anhing. Welch ein beglückender Tausch für den Knaben. Er war schmächtig, schüchtern und nicht schön, aber von einer hilfeflehenden Frömmigkeit und Freundlichkeit gegen jedermann. Seine Mutter hatte trotzdem von jeher nur Abneigung gegen ihn gekannt. Und jetzt besaß er in der Herzogin Yolanda eine neue Mutter, die in Güte und Vernunft über ihn wachte. Auch seine kleine Braut war ein freundliches Kind. Mit ihr zusammen erlebte er einen Traum der Schönheit und des Friedens in den herrlichen Schlössern der Provence, in Tarascon oder in den Residenzen an der Loire. Er war fröhlich, er gesundete, er lachte; ein solches Leben hatte er nie gekannt, ach, daß er doch nie mehr nach Paris zurückkehren müßte! Nur Ruhe, er sollte bei seiner neuen Mutter und bei seiner Spielgefährtin Marie bleiben. Yolanda sah indessen mit Sorgen, daß das Land schweren Zeiten entgegenging. In England war Heinrich IV. aus dem Hause Lancaster, der Nachfolger Richards II., gestorben, der willensstarke Usurpator des englischen Thrones, aufgerieben von den Kämpfen mit dem Adel, mit den Schotten, mit Wales und - mit seinem Sohn Heinrich, dem Prince of Wales. In Frankreich mußte man nun gewärtig sein, daß »Prinz Harry«, wie das Volk ihn nannte, dieser junge Trunkenbold und Nichtsnutz, ganz und gar über die Schnur schlagen und nach den verlorenen englischen Besitzungen greifen würde. Die Höfe der Christenheit hatten sich seit Jahren an den Geschichten über Prinz Harry ergötzt und in diesem Jüngling, der, von erbärmlichem Pack umgeben, nichts als Schabernack trieb, das Unglück Englands und den Vorteil Frankreichs gesehen. Jetzt war Prinz Harry König Heinrich V. Die Gesandten hatten ihren Höfen oft von furchtbaren Szenen zwischen dem königlichen Vater und seinem Sohn berichtet. Nicht einmal die bewundernswerte Bravour und der strategische Instinkt, mit dem der Prinz das widerspenstige Wales für die Krone unterworfen, sei ein Grund gewesen, den König mit dem wilden Leben seines Nachfolgers zu versöhnen. Heinrich IV. habe seinen genialen Sohn nicht verstanden und sei darüber in Resignation und Verdüsterung gesunken; nein, er habe die bittre Pille nicht schlucken können, daß dieser junge Mensch, den er gezeugt, der schön, gebildet, geistreich und musikalisch war, seine Gaben vor die Säue warf. Das Volk hatte jedoch ganz anders gedacht und den Prinzen von Wales geliebt, weil er freundlich war mit jedermann und übermütigen Spaß trieb. Was wußte es von den Kämpfen der Hohen untereinander? Der junge König Heinrich V. haßte die Krone. Niemals würde sie ihm Glück bringen! Sie war von seinem Vater, Heinrich Bolingbroke, dem Herzog von Lancaster, auf krummen Wegen erworben worden, und er, der einstige Prince of Wales war gezwungen gewesen, dieser Krone Opfer um Opfer zu bringen. Jeden Sommer, den Gott werden ließ, hatte er seit seinem vierzehnten Lebensjahr ein rauhes Kriegerdasein führen müssen, und doch war ihm das Leben des Friedens über alles lieb gewesen: die fröhliche Reiherbeiz, das Fischen und Jagen, das frohgemute Treiben auf den Schlössern des Adels mit Maientänzen und Weihnachtsfahrten. Aber man hatte ihn zwischen den Kriegszügen am Hofe festgehalten. Der Ehrgeiz, der Neid und der Haß unter den Großen war ihm jedoch zum Ekel geworden, da hatte er die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen und war zum Volk hinuntergestiegen, hatte sich zum Führer ihres wüsten Lebens gemacht und geglaubt, sein verletzbares Wesen unter den rohen Burschen stählen zu können. Seit ihm im März 1413 die Bürde des Königtums aufgeladen worden, wußte er, wie sehr er seine besten Jahre vergeudet hatte; es war Zeit, das Steuer herumzureißen. Die Großen des Reiches schienen ihn als Spielball in ihren Händen zu betrachten, und seine Gesandten erzählten ihm, das Ausland begrüße ihn mit spöttischem Lächeln. Aber dann zeigte das reine Blatt im Buche der Geschichte, das aufgeschlagen war, Eintragungen, die niemand erwartet hatte. Heinrich V. hatte in einem raschen Läuterungsprozeß alle Schlacke abgestoßen und stand als verantwortungsbewußte, königliche Gestalt vor den Augen der Welt. Sein Vater hatte den Thron durch das Versprechen erworben, den Krieg mit Frankreich neu aufzunehmen, die Schande der letzten Zugeständnisse zu rächen, die verlorenen Gebiete zurückzugewinnen und - den Herren ihr standesgemäßes Vergnügen, zu kämpfen, nicht länger vorzuenthalten. Heinrich IV. hatte sein Versprechen nicht halten können, so war es denn an ihm, Heinrich V., mit der gesammelten Kraft des ganzen Landes, nach Frankreich überzusetzen, und dem Sternbild, Crécy und Poitiers, das am englichen Himmel glänzte, neue Sterne hinzuzufügen. Im Sommer 1415 hatte Heinrich V. sich vom Parlament ein stattliches Heer bewilligen lassen: sechstausend Ritter und zehntausend Bogenschützen. Eine Flotte zum Übersetzen auf den Kontinent wurde auch geschaffen. In Frankreich sprach man vom größten Heer, das je den Kanal überquert habe und erwartete die Landung in der Guyerine oder im Norden, im Ponthieu. Statt dessen erschien der englische Truppentransport unerhört kühn in der gut befestigten Mündung der Seine. Harfleur, die starke Burg nördlich des Flusses, mußte belagert werden, aber Heinrich V. verlor nur einen Monat, bis die Besatzung sich der Übermacht ergab. Nur einen Monat, aber ein Monat in glühender Sommerhitze. Wenn der Feind nicht erschienen war, um das englische Heer zu schwächen, so deshalb, weil die Vernichtung, die alle Heere bedrohte - vor allem zur Sommerszeit - auch über Heinrichs Armee kommen würde: die Seuche.
Hitze, verdorbene Speisen, niedriger, verschmutzter Wasserstand, ein trostloser Mangel an Hygiene, und die Dysenterie raffte mehr Männer dahin als die Schlacht. Heinrich wurde tatsächlich von der Seuche geschlagen, trotzdem beschloß er, mit dem zusammengeschmolzenen Heer aufzubrechen und in einem Spaziergang von acht Tagen durch Nordwestfrankreich Calais zu erreichen. Vielleicht würde man auf dem Weg irgendwo dem Feind begegnen. Die Franzosen aber blieben bei ihrer Taktik, die sie nach Poitiers erwählt hatten, die Engländer samt ihren gefürchteten Bogenschützen an Hunger und Seuchen zugrunde gehen zu lassen, anstatt ihnen die besten Männer des Landes zu opfern; zum Schluß konnte man dann den Rest erschlagen.
Wieder sammelte sich der französische Adel, um der Welt ein glänzendes Schauspiel zu geben. Dem Schwager Bernhards von Armagnac, dem Sire D'Albret, Connetable von Frankreich, strömten die Landesführer, Grafen und großen Herren zu, mit allem Pomp ihrer kostbaren Rüstungen, mit Bannern, wappengestickten Zelten, Festgewändern, Truhen voller Juwelen und kostbarem Eßgeschirr, von Knappen und Pagen umgeben, wie sie es vor fünfzig, vor hundert und zweihundert Jahren getan hatten. Von der Kostümierung des Krieges vermochten sie nicht zu lassen. Es war eine »cohue féodale« von fünfzigtausend Männern, wie es beim französischen Historiker hieß, ein »rittermäßiges Gewühl«, das im Spätherbst 1415 zwischen Azincourt und Tramecourt (im heutigen Department du Pas-de-Calais), an der einzigen Straße nach Calais, auf die Engländer wartete.