Die Verschwörung des Schweigens

KÖNIGIN. Habt Ihr mich vergessen?
HAMLET.                         Nein,...
Ihr seid die Königin, Weib Eures Mannes Bruders,
Und - wär' es doch nicht so! - seid meine Mutter
SHAKESPEARE

Laios-Jokaste ... Jokaste-Ödipus... Ödipus-Antigone und Ismene . . .

So verläuft die griechische Tragödie, die Ursprung und Ende des unglücklichen Helden umschließt, den Freud als Modell für das menschliche Schicksal gewählt hat. Aus dieser an Haupt- und Nebenfiguren so reichen Tragödie hat Freud allein den Ödipus herausgehoben, den Sohn, der der Mörder seines Vaters und der Geliebte seiner Mutter ist: Seine Gefühle, Wünsche, Gewissensbisse schildert uns Freud in aller Ausführlichkeit. Er erzählt uns immer wieder von Ödipus, aber wer kümmert sich um Jokaste, die Nebenfigur? Um sie und ihr Begehren, das sie ins Bett ihres eigenen Sohnes treibt, der Fleisch ist von ihrem Fleisch und der das Geschlecht hat, das sie nicht hat, denn sie ist eine Frau.
Kann man Jokaste, Inbegriff des alten androgynen Traumes der Menschheit, so einfach vergessen? Kann man sie einfach im Dunkel lassen - sie, die zustande bringt, was aus dem »Sein« allein sich nicht fügt, sie, die den »Mangel« behebt, sie, die die »Kastration« aufhebt?
Und doch hat Sophokles (und nach ihm Freud) genau das getan. Immerhin nicht ganz, denn wenn ihr Auftritt in der antiken Tragödie auch kurz ist, so stürzen doch die wenigen von ihr gesprochenen Worte Ödipus wie die Zuschauer in tiefste Betroffenheit: »Erfahre niemals, wer du bist!« [1]
Wußte Jokaste also etwas über die Herkunft des Ödipus, über den Tod seines Vaters und das Verbrechen, das sie mit ihrem Sohn fortwährend beging? Jokaste noch schuldbeladener als Ödipus? Ödipus als Spielzeug Jokastes und ihres Begehrens?
Sind die Jokastes inzwischen ausgestorben? Freud sagt dazu nichts. Warum dieses Schweigen um Jokaste? Ein Schweigen, das uns an die Unschuld der Mütter glauben ließ; aber können die Mütter einem Schicksal entrinnen, dem ihre Kinder nicht entgehen können?
In den Geschichten, die uns Psychoanalytikern erzählt werden, sind die Mütter offensichtlich niemals abwesend und niemals unschuldig: Geschichten der Entfremdung des Vaters von seinen Kindern - einer Entfremdung, die von den Männern gepredigt und von den Frauen bewirkt wird, die die alleinige Erziehungsgewalt über das Kind ausüben.
Da Laios abwesend ist, nimmt Jokaste bei Ödipus den ganzen Platz allein ein. Ist das nicht das klassische Bild? Und gehört dieses Bild nicht gleichermaßen zum modernen Drama wie zur antiken Tragödie?
Hat Jokaste um den Inzest mit ihrem Sohn gewußt und ihn gewollt? Und die modernen Frauen: wissen und wollen sie, was sie tun, wenn sie den ersten Platz bei ihrem Kind einnehmen? Sind sie sich bewußt, was sie ihren Söhnen und ihren Töchtern damit antun?
Wenn diese Frauen ganz selbstverständlich sagen, ihr Sohn mache gerade »seinen Ödipus« durch, denken sie da auch nur für einen Moment: »und ich meine Jokaste«? Wenn aus Ödipus ein universelles Modell des Mannes gemacht wird, sollte dann nicht Jokaste als der ewige Mythos der »Frau und Mutter« verstanden werden?
Mich als Frau und Psychoanalytikerin fesselt gerade diese Person der Handlung, die in der Freudschen Theorie fehlt. Wie könnte mir entgehen, daß diese Theorie, auf die ich mich als Analytikerin stütze, keinerlei weiblichen Bezugspunkt bietet? Wie könnte ich übersehen, daß die Männer in meiner Umgebung die Söhne Jokastes sind und die Frauen ihre Töchter? Was bedeutet das für diese Frauen und für mich? Die Freudsche Theorie ist in dieser Hinsicht neu zu durchdenken. Mir ist es nicht mehr möglich, mich von meinen Patient«innen abzugrenzen oder mich wie üblich totzustellen. Ich dulde die Trennung zwischen dem, was ich bin, und dem, was ich weiß, nicht länger, und ich stehe dazu, daß das, was ich von anderen Frauen höre, mir Einblick gibt in den weiblichen Lebenszusammenhang, den ich als meinen eigenen erkenne.
Ich werde deshalb abwechselnd über die Frauen und über mich sprechen, um uns anders gerecht zu werden, als es die Psychoanalyse bis zum heutigen Tag getan hat: es ist dringend notwendig, die Theorie des Unbewußten mit den Frauen und in ihren eigenen Worten zu überdenken. Die Zeit ist vorbei, da der Mann sich eine Frau nach seinen Maßstäben formte oder genauer gesagt: nach dem Maßstab seines Herrschaftsbedürfnisses.
Es ist offensichtlich, daß die psychoanalytische Theorie eindrucksvoll verkündet, wie eine Frau nach den Erwartungen des Mannes sein soll, aber sie gibt dabei ganz sicher nicht wieder, wie die Frau ist. Luce Irigaray sagt dazu: »Bis jetzt haben die gültigen Konzepte der Psychoanalyse, ihre Theorie, dem Begehren der Frau nicht Rechnung getragen«. [2]
 Wenn also die Frau zum bloßen Wunschbild des Mannes reduziert werden konnte, so hätte der Mann sich auf das Wunschbild der Frau reduziert sehen können, wenn die Grundtheorie das Werk einer Frau gewesen wäre! Bleibt uns nur, mit Germaine Greer zu bedauern, daß die Psychoanalyse »einen Vater hat, aber keine Mutter«!

Wenn die Frauen, die mir von sich erzählen, in dieser sexistischen Gesellschaft keinen Platz finden, so finde auch ich in der Tat keine Spur meines Begehrens in einer Theorie, die einzig auf männlichen Prämissen beruht.
Freud war der erste, der es wagte, gegen allen wissenschaftlichen Brauch egozentrisch vorzugehen. Er benutzte sich selbst als Forschungsobjekt, statt sich ein Studienobjekt in der Außenwelt zu suchen, und konfrontierte das Schema mit den großen Mythen der Menschheit: Ödipus, Moses, Michelangelo. Das Studium klinischer Fälle verbindet er mit literarischen und künstlerischen Analysen. Man spürt, daß Freud nach einem gemeinsamen Gesetz sucht, das für den heutigen wie den früheren Menschen gilt. So wird die Studie über den »Kleinen Hans« von der Untersuchung einer »Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci« abgelöst, und die Fallstudie über »Präsident Schreber« begleitet die Abhandlung über den »Mann Moses und die monotheistische Religion«.
In den meisten Fällen (ausgenommen Dora) behandelt er männliche Personen. Hat das damit zu tun, daß Freud ein Mann war und sich selbst vor allen anderen am leichtesten zugänglich? Wie hätte er bei sich Aufschluß über die Frau bekommen können, die er nun einmal nicht war?
Um SIE zu erfassen, beschränkte er sich auf die Beobachtung der Frau um 1880, auf die Kleinbürgerin, die in einer konventionellen Familie mit überkommenen, streng festgelegten Rollen lebte. Diese Frau nahm einen »gewissen Platz« ein, weniger einen »PIatz der Gewißheit«, und so haben wir es mit einer Psychoanalyse zu tun, die uns Frauen aufgrund von Beweisen (die sich Freud aus seinem Milieu und seiner Familie holte) nur einen seltsam eingeengten Raum zuweist. Am 15. November 1883 schrieb er an seine teure Martha: »Ich glaube, alle reformatorische Tätigkeit der Gesetzgebung und Erziehung wird an der Tatsache scheitern, daß die Natur lange vor dem Alter, in dem man in unserer Gesellschaft Stellung erworben haben kann, (die Frau) durch Schönheit, Liebreiz und Güte zu etwas (anderem) bestimmt.« [3]
Hier vertritt er einen Antifeminismus, wie er schlimmer nicht sein kann. Freud offenbart, daß er die sexuelle Anziehungskraft der Frau mit ihrem Platz in der Gesellschaft gleichsetzt. Von der Verwirrung, die er damit angerichtet hat, machen wir uns erst jetzt allmählich frei.
Um die soziale und sexuelle Stellung miteinander zu vermischen, waren seltsame Verdrängungen nötig, mußten unglaubliche Wege eingeschlagen werden, die schließlich alle zu jenem berühmten »dark continent« (Freud) der weiblichen Sexualität führen.
Es war nicht Freud, der die Minderwertigkeit der Frau erfunden hat, auch wenn viele Feministinnen uns das glauben machen wollen, aber er hat alles unternommen, um sie zu begründen, sie logisch schlüssig und mithin als unumgänglich darzustellen. Was mit dem Erscheinen Freuds so folgenschwer wurde, ist, daß die im Sozialen festgestellte Minderwertigkeit der Frau eine wissenschaftliche Deutung bekam und die Freudschen Gleichsetzungen in Sachen Weiblichkeit zu geflügelten Worten wurden, die jeder kennt. Das belastet die Frauen bis heute.
Benoite Groult hat recht, wenn sie sagt: »Die Frauen waren gerade dabei, die Startrampe zu erklimmen, als ein großes Unglück sie ereilte: Freud.« [4]
Was kann eine Analytikerin zu dem Freudschen Versuch sagen, die Frau an den Mann anzupassen? Nichts anderes, als daß Gott Eva aus der Rippe Adams genommen und Freud die weibliche Sexualität aus der männlichen Libido abgeleitet hat: ist der Mythos nicht immer derselbe? Handelt es sich dabei nicht um männliche Phantasmen in einer patriarchalischen Kultur , in der der Mann mehr gilt und die Frau im Laufe der Geschichte untergeordnet wurde?
Es ist bezeichnend, daß Freud immer Mythen aus dem griechischen oder lateinischen - also patriarchalischen - Kulturkreis benutzt hat und abweichende Kulturen außer acht ließ. Dort nämlich hätte er den »an,deren weiblichen Mythos« entdeckt mit seinen Hexen, seinen Amazonen, seinen Urgöttinnen, seinen kriegerischen Walküren. Unser Bild wäre davon gewiß nicht unbeeinflußt geblieben, und vor allem wäre unsere Rolle ganz anders bewertet worden.
Bei den, großen antiken Mythen stieß Freud immer und wie durch Zufall auf Kulturen , in denen der Mann im Vordergrund stand. Indem er den Mann auf der Straße mit dem Helden verglich, gab er diesem eine ewige Dimension. Unglückseligerweise war das zugrunde gelegte Unbewußte jedoch das eines Bourgeois des letzten Jahrhunderts, der sich, wie die anderen Männer seiner Zeit, nichts andres für die Frau vorstellen konnte als die soziale Mniderwertigkeit, in der er sie erlebte.
Er sah, wie sie in Gegenwart des Mannes verstummte, und schloß daraus auf ihre Unfähigkeit zu intellektueller Sublimierung. Er sah, wie sie den Mann bediente, und hielt sie deshalb für masochistisch. Er sah, wie sie sich um das Kind kümmerte, und bestimmte sie kurzerhand zur Mutterschaft, die ihren Mangel ausgleichen sollte (gemäß der berühmten Gleichsetzung Penis = Kind).
In der Hinterlassenschaft Freuds nimmt sich der Mann wie eine unerschütterlich dasitzende Statue aus, den Blick gen »Sublimierung« gerichtet; ihm gegenüber sitzt die Frau in ebenso statuenhafter, dumpffruchtbarer Mütterlichkeit, die den Frauen von heute - und dessen werden sie sich nach einer langen Periode des Schweigens bewußt - nicht entspricht: sie sind nur vorübergehend Mütter (und nicht mehr als unabwendbares Schicksal), Frauen aber sind sie ein Leben lang, und sie bringen diese beiden Aspekte ihrer Person in keinem Moment durcheinander.
Ebenso wenig wie sich der Mann ausschließlich als Vater für sein Kind versteht, läßt sich die Frau nicht auf die Mutterrolle reduzieren, die sie für ein paar Jahre in der Familie zu übernehmen bereit ist. Die Frau gibt also der sexuellen Funktion ihre wahre Bedeutung zurück: den sexuellen »Genuß« eben nicht beschränkt auf die »Fortpflanzung« wie man uns das hat weismachen wollen. Seit kurzem haben sich die Frauen entgegen vielen Vorurteilen, von denen einige Freudschen Ursprungs sind, das Recht auf den sexuellen Genuß erobert: frei von der Mutterschaft. Den Frauen ist zumute, als kämen sie aus einem wunderIichen Gefängnis, das die Männer für sie erfunden hatten,wobei der Psychoanalytiker unter ihnen vielleicht der gefährlichste ist: Hat nicht er, vor allen anderen, die Gitterstäbe verstärkt und aus der Jagdlust des Vogelfängers die Lust des Vogels am Gefangenwerden gemacht? Aus der überlieferten Herrschaft des Mannes wurde durch den Rückgriff auf den unterstellten weiblichen Masochismus ein Wunsch der Frau, der in ihrer Veranlagung begründet sein sollte. Das System ist nun endlich überführt, die Wahrheit ist ans Tageslicht gekommen, und die Reduzierung der Frauen durch Freuds eingeschränkten Blickwinkel auf Familie und Gesellschaft kehrt sich nun um. Sie erklären, Freud habe aus seinem eigenen patriarchalischen Ödipuskomplex heraus gar keine andere Möglichkeit gehabt, als sie zum Schweigen zu bringen. Wann immer heute die Feministinnen das phallokratische System angreifen, beschuldigen sie meist einen einzigen: den Vater der Psychoanalyse. Wie Freud seinen eigenen Ödipuskomplex als Zugang zu dem der ganzen Menschheit benutzt hat, bedient man sich jetzt »seines« Ödipuskomplexes und »seiner« Frauenfeindlichkeit, um damit die allgemeine feindselige Haltung der Gesamtgesellschaft zu erklären. Gegenwärtig scheint Papa Freud an allen Verbrechen schuld zu sein, die seit Jahrhunderten an Frauen begangen wurden. Um mit seiner Mutter abzurechnen, mußte Freud sich mit allen Frauen anlegen, und jetzt wollen alle diese Frauen ihn aus seinem Grab zerren und es ihm heimzahlen, Auge um Auge, Zahn um Zahn. So jedenfalls nimmt es sich aus, wenn man irgendein feministisches Buch aufschlägt. Da ist Freud der Feind Nummer eins vor allen anderen - Schriftstellern, Soziologen, Ärzten. Die Psychoanalyse wird als eine Pest dargestellt, der aber nur die Frauen zum Opfer fallen. Sollten wir nicht besser sagen: Sie hat bislang nur die eine, maskuline Seite abgehandelt, auch wenn dieses Maskuline, um sich selbst überhaupt bestimmen zu können, einen Gegenpol braucht, Frau genannt oder Weiblichkeit? Das Bild. von uns, das da herum geistert, ist immer nur das, was der Mann braucht, damit seine männliche Überlegenheit gewahrt wird. Und was haben wir, die Frauen, mit diesen Vorstellungen zu schaffen? Täten wir nicht besser daran, unsererseits zu definieren, was wir beim Mann zu finden hoffen? Haben wir nicht einen hohen Preis dafür bezahlt, daß wir uns vom anderen Geschlecht definieren lassen. Es wird Zeit, daß wir selbst über uns sprechen. Wenn das Ziel des Männlichen ist, das Weibliche einzukerkern und zu ersticken, dann müssen wir uns eben allein definieren. Genau darin liegt die Aufgabe der Psychoanalytikerinnen: Es gilt, die »andere Psychoanalyse« zu schreiben. Wir werden also von Freud ausgehen. Indem wir seinen Antifeminismus verdeutlichen, werden wir diese andere Psychoanalyse schreiben. Wenn wir dagegen die Entdeckungen Freuds en bloc ablehnen, dann bringen wir uns, so meine ich, womöglich um einen bereits vorgezeichneten Weg, den wir in seinen Anfängen begehen können, um ihn gegen sein Ende hin dann um so entschiedener zu verlassen. Indem wir Freuds Ansatz bei der Entwicklung des kleinen Mädchens wiederaufnehmen, haben wir eine Chance, seine grundlegende Irrlehre über die Sexualität der Frau zu erkennen und zu entkräften. Es ist nur allzu wahr, daß dieser Pionier der verborgenen Wahrheit, dieser unermüdliche Forscher, eine Katastrophe für die Frauen war. Alles, was den Mann betrifft, erscheint richtig und über jeden Zweifel erhaben, aber alles, was er über die Frau gesagt hat, muß neu aufgenommen, untersucht und unter einem anderen Blickwinkel überprüft werden - wie ein Diebesgut, das endlich seiner Eigentümerin zurückgegeben wird. Ich als Frau will mich an genau dieser Stelle zu Wort melden, mitten in dieser Katastrophe männlicher Phantasmen und Wortschwälle über die Weiblichkeit, die in all ihrer Esoterik meist nur die Funktion haben, die Frau aus dem männlichen Bereich fernzuhalten. Wer macht sich denn schon klar, daß von den so häufig gebrauchten Begriffen in den analytischen Schriften - Über-Ich, Sublimierung, Sexualgenuß, Phallismus - die Frau teilweise oder ganz ausgenommen ist? Wäre Freud weniger von der Idee beeinflußt gewesen, die Sexualität der Frau auf ihre im sozialen Bereich festgestellte Minderwertigkeit zurückzuführen, und hätte er seinen Patientinnen besser zugehört, statt sich von seinen Vorstellungen leiten zu lassen, so wäre er nicht auf jenem berühmten »dark continent« gelandet, mit all seinen Schrecken für beide Geschlechter. Hätte er stattdessen doch nur von einem »unberührten Strand« gesprochen die Frauen hätten freudig ihren Fuß auf diesen jungfräulichen Strand gesetzt und ihre Spuren hinterlassen. Seit Freuds Tod ist die männliche Sublimierung voran geschritten, und heute lenkt die ungeheure Vielfalt der psychoanalytischen Schriften vom Wesentlichen ab: Man beißt sich fest am Ton und verliert dabei den Sinn aus den Augen. Im Getümmel der psychoanalytischen Wortklaubereien hat man allzu oft den Krieg der Geschlechter verschleiert. Und gerade weil er unbeachtet blieb und in aller Stille stattfand, bricht dieser Krieg der Geschlechter nun mit äußerster Vehemenz aus. Ich sage nicht, daß die Analytiker daran schuld sind, wohl aber, daß sie etwas dafür können: man geht nicht täglich mit dem Unbewußten beider Geschlechter um, ohne daraus bestimmte Schlußfolgerungen über ihr Funktionieren und ihr Begehren zu ziehen. Auch wenn feststeht, daß wir bei der Heilung nichts mitzureden haben (denn die liegt letztlich beim Patienten), so haben wir vielleicht doch gewisse Folgerungen aus dem männlichen und weiblichen Unbewußten im allgemeinen zu ziehen. In Anlehnung an Freud, der in seiner Schrift Psychopathologie des Alltagslebens die Verbindung zwischen Pathologie und Normalität aufzeigt, sollten wir wohl die »Psychopathologie des alltäglichen Paares« schreiben, so wie wir es in unserer Praxis erleben. An etwas Ähnliches hat Freud doch auch gedacht, als er schrieb: »Wir halten es nämlich gar nicht für wünschenswert, daß die Psychoanalyse von der Medizin verschluckt werde und dann ihre endgültige Ablagerung im Lehrbuch der Psychiatrie finde ... Als »Tiefenpsychologie« kann sie all den Wissenschaften unentbehrlich werden, die sich mit der Entstehungsgeschichte der menschlichen Kultur beschäftigen.« [5] In der Tat nimmt die Psychoanalyse in den Humanwissenschaften und der Pädagogik einen vorrangigen Platz ein. Wir finden ihre Auswirkungen heute überall: sei es versteckt in den Spalten einer so populären Zeitschrift wie Elle, [6] sei es offen in den autobiographischen Veröffentlichungen der letzten Zeit. Das analytische Vorgehen ist, wenn schon nicht der »Königsweg zum Unbewußten«, so doch ein bescheidener Pfad für viele von uns geworden. Man kann sich nur darüber wundern (und schon viele Frauen haben sich bei mir darüber gewundert), daß bei einer solchen psychoanalytischen Handhabung niemals eine Klärung des unbewußten Verhältnisses Mann/Frau unter dem von Freud gegen Ende seines Lebens selbst vorgeschlagenen Blickwinkel versucht wurde: er forderte, die Psychoanalyse möge über die Pathologie hinausgehen und sich dem Studium des allgemeinen menschlichen Verhaltens widmen. Wäre zum Beispiel die Beziehung Herrscher-Beherrschte, die von den Frauen im famiIiären wie im sozialen Bereich angeprangert wird, nicht einmal dort zu untersuchen, wo sie sich im Leben der Frau erstmals zeigt? Das ist keineswegs der Mann, sondern die andere Frau: die »Mutter«. Man muß zuerst die Beziehung Mutter/Tochter überdenken, um zu verstehen, was sich später mit dem Mann wiederholt. Alles weitere Erleben ist ja doch Wiederholung - aber Wiederholung wovon genau? Hier ist Freud stehen geblieben, an der Schwelle zu jenem jungfräulichen »Kontinent«, von dem er glaubte, daß seine Nachfolger ihn urbar machen müßten:

»Aber am Ende der Entwicklung soll der Mann-Vater das neue Liebesobjekt geworden sein, das heißt, dem Geschlechtswechsel des Weibes muß ein Wechsel im Geschlecht des Objekts entsprechen. Als neue Aufgaben der Forschung entstehen hier die Fragen, auf welchen Wegen diese Wandlung vor sich geht, wie gründlich oder unvollkommen sie vollzogen wird, welche verschiedenen Möglichkeiten sich bei dieser Entwicklung ergeben.« [7]

Am Anfang hat Freud sich gern einer schlüssigen Redeweise bedient, die die Frauen jedoch beträchtlich »reduzierte«. Später hat er zum Teil all das, was er kunstvoll aufgebaut hatte, wieder umgeworfen und seine Unfähigkeit zugegeben, die Entwicklung des kleinen Mädchens zu erklären. Und hat er nicht sogar gehofft, daß die Frauen ihren Platz in dieser Forschung einnehmen, als er Marie Bonaparte - Zeitgenossin und Analytikerin - fragte: »Was will das Weib?«  [8] Ich werde also das Schweigen durchbrechen, in dem sich Frauen und Psychoanalytiker gewöhnlich üben. Dabei weiß ich sehr wohl, daß man mir allenfalls eine thematische Abhandlung über die Kindererziehung zugesteht, weil Kindererziehung in den Bereich der Frau gehört. Dieses Mutter-und-Kind-Spiel werde ich nicht fortsetzen, denn ich zweifle daran (und man wird sehen, warum), daß die Erziehung ausschließlich Sache der Frauen sein soll, trotz der ausdrücklichen Wünsche mancher Frauen in dieser Richtung und im Gegensatz zu dem, was die Männer glauben ... Der Ödipuskomplex hat uns auf beiden Seiten so viele Streiche gespielt, daß wir gut daran tun, vor der Erörterung unserer Rollen zunächst unseren Werdegang zu untersuchen ... und dieser Werdegang führt über den Ödipus. Es wird darum gehen, Logik nachzuweisen, die Fallen zu erkennen und die Sackgassen aufzuzeigen. Der Ödipuskomplex, den Freud erlebt und geschildert hat, war der eines kleinen jungen in einer Gesellschaft, in der der Mann eine »soziale«, die Frau eine »familiäre« Rolle innehatte. Wenn die Rollen umgekehrt oder auch nur geteilt würden, wie die Feministinnen es anstreben, was ergäbe sich dann für die Kinder beiderlei Geschlechts? Inwieweit kann eine Analytikerin überhaupt Feministin sein? Wenn die Feministinnen die sexistischen Auswirkungen des Ödipus im sozialen Bereich nachweisen, gehört es dann nicht zu den Aufgaben der Analytikerinnen, seine Ursprünge und seine Entwicklung im individuellen Unbewußten zu enthüllen? Wenn bei den Frauen so viel im argen liegt, ist es dann nicht die Pflicht jeder Analytikerin, den Grund dafür in der Geschichte des weiblichen Unbewußten zu suchen, wie es sich in der Analyse offenbart? Es ist Zeit, der Frau ihr eigenes Wort zurückzugeben und ihr zuzuhören, statt sich die Ohren zuzuhalten wie die meisten Männer, die sich durch diese von anderswoher kommende Stimme in ihrem gewohnten Lebensablauf gestört fühlen. Hélène Cixous drückt es so aus:

»Es ist Zeit, die andere Geschichte zu entdecken und sie zu gestalten. Es gibt das »Schicksal« ebensowenig, wie es »Natur« oder ein »Sein an sich« gibt, sondern es gibt lebendige Strukturen, die befangen, zuweilen erstarrt sind in den historisch kulturellen Grenzen, die ihrerseits wieder mit dem Schauplatz der »Geschichte« verwechselt werden. Dies so sehr, daß es lange Zeit unmöglich war und noch immer schwierig ist, das Andere zu denken oder es sich auch nur vorzustellen.« [9]

Angesichts des psychoanalytischen Schweigens der Frauen zur weiblichen Sexualität und der fortgesetzten Debatte der Männer zum selben Thema fragt man sich langsam, ob es denn keine Frau gibt, die es »wagt«, sich (wie Freud) an die eigene Kindheit zu erinnern, und warum die Frauen es eher mit der Erinnerung halten, die die Männer von ihnen haben . . . Und nicht selten werden die Erinnerungen der kleinen Jungen dann zu schweren Belastungen in unserem Leben als Frau. Wie lange wollen wir es noch hinnehmen, daß der Ödipuskomplex des Mannes unser Leben als Frau regiert? Wie lange noch wollen wir es hinnehmen, daß der Mann mit uns die Schulden verrechnet, die er mit seiner Mutter angehäuft hat?