Der Weg wird leichter, je weiter man geht, je länger man
gehorsam ist, sanft und gut; man gewöhnt sich so sehr
daran, daß man sich mühelos fügt.
COMTESSE DE SÉGUR
Wenn alle schlafen, wenn niemand mehr in mein Leben eingreift, stehe ich nachts auf und befrage mich selbst über das kleine Mädchen, das ich einmal war und das so sehr jenen gleicht, von denen man mir auf der Couch erzählt. Worin gleichen sie sich? Im Schweigen: Sie und ich, wir haben das gleiche Schweigen erfahren, die Verschwörung des Schweigens um unser Geschlecht.
Und ich lache, wenn ich an das Fieber denke, das mich ergriff, sobald meine Eltern das Haus verlassen hatten und ich für ein paar Stunden allein war: Es war das Plündern, oder eher nein, die systematische Untersuchung der Schublade »ihrer« Kommode, beileibe nicht irgendeiner ... Die erste war nicht interessant, sie enthielt Briefe, Andenken, einige vergilbte Fotos; nein, die, die mich interessierte, war die zweite, diejenige, in der »sie« ihre persönliche Wäsche aufbewahrte. Angesichts ihrer Büstenhalter, Schlüpfer, Monatsgürtel überließ ich mich allen möglichen Phantasien . . . den aller unterschiedlichsten, im alIgemeinen übrigens ohne dabei an Geschlechtliches zu denken. Was das kleine Mädchen sucht, wenn man ihm nichts in bezug auf sein Geschlecht gesagt hat, ist der Unterschied zwischen ihm und seiner Mutter, wobei es nicht weiß, woran es diesen Unterschied festmachen soll, aber es glaubt, daß er sich sicher im Körperlichen findet. Ich stürzte mich also verzweifelt auf diese Schublade mit der Leibwäsche meiner Mutter.
Man muß sagen, daß ich durchaus Grund hatte, neugierig zu sein und eine Wirklichkeit zu vermuten, die man vor nur versteckte. Ich hatte nicht nur das Interesse meines Vaters für meine Mutter beobachtet, sondern als ich etwa sechs Jahre alt war, überraschte »sie« mich damit, daß sie mir das Kommen einer kleinen Schwester oder eines kleinen Bruders ankündigte. Unmöglich, deren Ursprung zu erfahren; ich glaube, daß ich wohl seit diesem Zeitpunkt versucht habe, das »Geheimnis« meiner Mutter zu ergründen. Ich glaube, daß heute keine Mutter mehr ihr Kind in Unwissenheit halten möchte, aber die Antworten sind ebenso unterschiedlich wie die Zugehörigkeit zu einer Partei, und glauben Sie mir, es sind nicht die Parteien der Linken, die auf diesem Gebiet gewinnen würden! Von der banalen Erklärung von dem Baby, das unter dem Herzen der Mutter schläft (warum schläft, da es sich doch bewegt, und warum unter dem Herzen? ... wohl nur deshalb, weil das noch für einige Zeit von der tiefer gelegenen Stelle fernhält, vom Bauch, so nahe bei den Geschlechtsorganen ... ), bis zu der ziemlich erschreckenden Erklärung, daß der Arzt den Bauch aufmacht, um das Baby zu holen, werden alle Variationen angeboten.
Man fragt sich, warum so wenige Frauen den Mut haben (bedarf es dessen denn?), die einfache Wahrheit zu sagen: Der einzige Grund dafür ist die Bewahrung des »Geheimnisses«, da dieses Geheimnis offensichtlich vor der Kenntnis der Vagina schützt und vielleicht das kleine Mädchen von der Entdeckung der Selbstbefriedigung abhält. Während die des Jungen von selbst entdeckt wird, herrscht um das versteckte Geschlechtsteil des kleinen Mädchens noch ein Mysterium, dessen man sich bedient, um es im Engel-Stadium, zu halten. Nun, wie Sie gesehen haben, eine Sorte »Engel«, die Doktor spielt und das Thermometer einführt, da die so erzeugten Empfindungen auch nicht zu verachten sind ... Sie wissen es sicher, die Anus- und Vaginalmuskeln sind gleich; aber die Lust, die dort erlebt wird, bleibt vor den Eltern vielleicht verborgen. Der »kleine Engel« kann zwar heimlich in der Schublade stöbern, aber er hat wenig Chancen, die Wirklichkeit zu verstehen.
Abgesehen von solchen Momenten fieberhafter Suche, zeigte ich mich also als das kleine artige Mädchen, das man sein mußte" um den großen Leuten zu gefallen, um von ihnen akzeptiert zu werden; aber eigentlich fühlte ich, daß ich für sie eine unbedeutende Nebensache war: »ein Kind«, und vor allem keine kleine Frau, was bedeutete, daß ich zwischen dem, was ich damals war, und dem, was ich werden würde, keine besondere Beziehung sah. Wie würde ich das denn werden? Auch da keine Antwort, ein weißes Blatt, das Unbekannte; es ging also darum, zu warten, ohne besitzen zu wollen, was die anderen, insbesondere meine Mutter, hatten.
Und dennoch. Eines Tages vergaß sie aus Unachtsamkeit, was sie bei all ihren Vorsichtsmaßnahmen mit Blick auf meine Unschuld nie hätte vergessen dürfen. Ich fand im Bad, gerötet von frischem Blut, »das Ding«. Nur, was war das denn? Ich dachte (und Gott schütze mich, so früh in ein psychoanalytisches Phantasma gestürzt worden zu sein) an eine schändliche Krankheit, eine heimliche Verletzung. Ich war immer »außerhalb« dessen, was sich in diesem Haus und besonders in dieser Mutter abspielte. Daraus ergab sich eine neue Verdrängung, eine neuerliche Entschlossenheit, nichts mehr von »ihnen« zu erfragen und das nicht mehr zu sehen, was man nicht sehen durfte.
Es ist dann leicht zu sagen, die Frauen seien phobisch, sie hätten Angst davor, zu sehen oder zu wissen; daher auch ihre angeblichen Schwierigkeiten, Dinge im Zusammenhang oder panorarmisch zu sehen, wie zum Beispiel beim Autofahren, wo sie nur das Nächstliegende wahrnehmen, zu spät bremsen usw.
Kehren wir aber zurück zu meiner bescheidenen Existenz, bescheiden bis dahin wenigstens, denn wenn ich glaubte, ich sei ein geschlechtsloses Kind, dessen Körper nicht zählte, so zerbrach mein Seelenfrieden spätestens in dem Moment, da mir meine Mutter eröffnete, ich würde jetzt ein »junges Mädchen« werden und jeden Monat »Blut verlieren«. Was meine Mutter wissenschaftlich mit meiner geheimen Öffnung und deren zukünftiger mütterlicher und ehelicher Funktion in Verbindung brachte. Aber nichts wurde gesagt über die Lust, nichts über das Begehren. Alles dies erschien mir unannehmbar, und überdies brachte ich es in eine direkte Verbindung mit dem »Geheimnis«, das nur auf der Scham. der Erwachsenen beruhen konnte, solche Sachen zu machen.
Ich bekam also zuerst Brüste und dann meine Tage, die offensichtliche Bestätigung, daß ich teilhatte an dem schauerlichen Geheimnis. Aber mußte ich damit rechnen, daß man sich die Merkmale meines Körpers, die ich für die meinigen hielt, zu eigen machen würde? Ich werde nie diesen Cousin vergessen (den ich bisher nicht über Sexualität hatte reden hören und der davon nie wieder reden sollte, außer um die Vorteile irgendwelcher Frauen zu rühmen), wie er zu meiner Mutter, so natürlich, als ob er bemerkt hätte, daß die Obstpreise steigen, sagte: »Na, so was, Christiane entwickelt sich?« wobei er unzweideutig auf meine neuen Rundungen schielte.
Ich hätte in die Erde versinken mögen, da ich mich zum erstenmal vom abschätzenden Blick eines Mannes in Besitz »genommen« fühlte. Ach, verfluchter Cousin, sei mir heute nicht mehr böse, wenn ich dir gestehe, daß ich damals wünschte, du würdest augenblicklich blind! Hatte man dich je ein einziges Mal in deinem Leben gefragt: »Na, Xavier, hast du nachts schon Ejakulationen?« Ich weiß wohl, natürlich nicht ...
Nach jenem Tag wurde ich jemand, den man betrachtet, den man zuerst mit Blicken, dann ins Bett und dann als Frau nimmt, als Gebärerin auswählt usw. Oh! Dieser schreckliche Alptraum. Ich war zu verkaufen, zu besitzen, ich würde der Besitz sein von, die Frau von, die Mutter von, ich »würde das sein«, wenn ich alle diese Rollen akzeptierte, wenn nicht, würde ich nichts sein, und ich würde weiter warten.
Es war ein Entweder-Oder, aber ich war dickköpfig, tat so, als ob ich nicht verstehe, und wenn ein Junge mir eine Liebeserklärung machte, fiel ich aus allen Wolken und erklärte, daß er verrückt sei oder besessen. Als ein anderer mich ernsthaft bat, seine Frau zu werden, fühlte ich, ich sollte für dumm verkauft werden, und ergriff das Hasenpanier, kurz, ich führte mich auf wie ein Blaustrumpf, und ich wundere mich heute über eine so lange hinausgezögerte Unschuld bei einem im übrigen normal zu nennenden jungen Mädchen, das nach außen seinem Milieu und seiner Kultur entsprach.
Es war aber nur die äußere Erscheinung, in der alle sich täuschten. In Wirklichkeit hatte ich, angewidert von dem, was man von mir erwartete, mir ein anderes Ziel gesetzt: mit Auszeichnung mein Studium abzuschließen. Und da ich mich um Jungen nicht kümmerte, bestand ich meine Examina gut.
Ich wollte unbedingt für das, was in mir ist, geschätzt werden und nicht wegen des Äußeren, aber ich hatte leider den Eindruck, gegen den Strom zu schwimmen, nur wider den Strich voranzukommen: mein System funktionierte nur für mich, und man schien fortzufahren, von mir nur das Äußere zu sehen. Wie lange sollte dieser Spaß dauern.
Die Antwort kenne ich jetzt: das ganze Leben.
Ich traute mich nicht mehr auf die Straße, denn man pfiff hinter mir her, machte mich an, betrachtete mich, von oben bis unten. (Wissen Sie, daß es viele Frauen gibt, die es nicht mehr wagen, sich der Öffentlichkeit zu stellen, weil sie sich dort nicht als menschliche Wesen fühlen, sondern als Ausstellungsstücke?) Der gesenkte oder erhobene Blick, der ausweichende der Frauen und der umherschweifende der Männer, ist einer der ersten Eindrücke, der junge Mädchen betroffen macht" die aus dem Ausland zu uns kommen. Man sagte mir: Du gefällst du bist schön, ich würde dich gern heiraten und würde gerne Kinder mit dir haben. In dem, was ich hörte, gab es für mich keine Logik; ich wußte, daß ich Männer mit dem Unwichtigsten meiner Person anzog; ich hätte gewollt, daß einer mit einer anderen Sprache begonnen hätte als mit der, die aufs Äußere abzielt. Ich hätte gewollt, daß einer mich gefragt hätte: »Wer bist du? Was denkst du? Wie lebst du? Was suchst du?«
Wenn doch nur irgendeiner mit einer menschlichen Sache angefangen hätte, mit einer Verbindung zu mir und nicht zu diesem elenden Körper. Der Körper schien sich immer zwischen den anderen und mich zu schieben, dieser störende, weil Begehren hervorrufende Körper, dieser mit dem meiner Gefährtinnen zu vergleichende Körper, diese Hure von Körper, von der ich endlich begriff, daß sie meine einzige Verbündete im Kampf um die Existenz sein wurde. Gott weiß ich leben wollte, aber nicht so!
Schließlich habe ich mich dann angesichts »ihrer« Hartnäckigkeit entschlossen, mich dieses von ihnen geschätzten Wertes - eines Unwertes für mich - zu bedienen, und ich habe mich daran gewöhnt, die ständige Ungerechtigkeit, die die Schönheit darstellt, zu nutzen. Alles löste sich für mich mit einem Lächeln, es genügte, sich nicht zu widersetzen, will sagen, zu schweigen und sich betrachten zu lassen.
Ich entdeckte nach und nach, daß ich anstelle eines produktiven Verstandes einen begehrenswerten Körper hatte und daß der Mann davon träumte, ihn sich zu eigen zu machen, vorübergehend oder endgültig. Ich sah deutlich, daß ich für mein schöpferisches Tun keine Wahl haben würde: Es würde das Kind sein. Glücklicherweise hat mein Körper Geburten zustande gebracht, denn diejenigen, die es nicht können, sind auf andere Weise unglücklich: Bei einem Paar, das sich nicht fortpflanzen kann, bestätigt sich der Mann durch andere Werke, er wird von sich eine andere Spur hinterlassen. Sie, die Frau, hat keine andere Möglichkeit, eine Spur zu hinterlassen, als durch die Nachkommenschaft. So als ob man von den Männern verlangte, daß sie alle den gleichen Beruf hätten!
Die Frauen haben nur einen Beruf, die Liebe und das Kinderkriegen; die Männer haben tausend, je nach ihrer Lust und ihren Fähigkeiten. Der Mann hat bei seinem Schaffen die Wahl, die Frau nicht, sie ist an die Fruchtbarkeit ihrer Gebärmutter gefesselt. Man kann so weit gehen zu sagen, daß jeder Teil des Paares den anderen auf unterschiedliche Weise einsperrt: Die Frau ist Gefangene des Geldes ihres Mannes, und der Mann ist Gefangener des Kindes, das sie ihm geben wird oder auch nicht. Eine absurde Situation!
Männer und Frauen leben also im gleichen Haus zusammen, aber sie bewohnen nicht die gleiche Etage, und die Abgrenzung ist vollkommen. Überläufer sind selten, und die Kriterien dieser Abgrenzung sind Mutterschaft und Schönheit, und man könnte meinen, daß wir mit diesen zwei Elementen den besseren Teil erwischt hätten, um auf den ganzen Rest verzichten zu können. Aber wer, wenn nicht die Männer, sagt denn das? Krank vor Eifersucht, diesmal selbst von der weiblichen Plage des »Neids« befallen, rächen sie sich lebenslang, indem sie uns in diese verflixte Mutterschaft einsperren, an der sie nicht teilhaben. Sie gewähren uns hier die Allmacht, und sie, sie behalten für sich die anderen Allmächte: Sie haben doch jahrelang gekämpft, um Herrscher auch über diese Mutterschaft zu bleiben! Haben wir sie nicht gegen uns streiten sehen, um dieses kommenden Kindes willen, das sie als ihre Entscheidung ansahen und nicht als die unsere? Sie herrschten, auf versteckte Weise, aber sie herrschten über die Mutterschaft. Wie hätten sie akzeptieren können, daß das wenige, das sie da besaßen, ihnen mit der Freigabe der Abtreibung entglitt!
Ich bewohne also die Frauenetage. Obwohl ich mich verheiratete (ziemlich spät), obwohl ich Kinder bekam und obwohl ich meinen Mann und meine Kinder fütterte, habe ich nie aufgehört, darüber nachzudenken, was mir widerfahren ist, nur weil ich mit dem Geschlecht der Frau geboren wurde. Ich habe lange nachgedacht, wie die anderen Frauen, und ich habe geschwiegen wie sie. Man redete zu mir weniger über meinen Körper, dafür aber über meine Kinder, die man mit denen der andern verglich. Immer das gleiche Spielchen, aber jetzt waren unsere Kinder der Spieleinsatz, und alle Frauen spielten mit, um mit ihren Kindern zu gewinnen. Diese Kinder, die nicht mehr ruhig leben können und die sich von Anfang an in diesem Wettbewerb unter den Frauen befinden. Können Sie sich vorstellen, daß sie darüber glücklich sind, unsere lieben Kleinen? Mein Körper war Gegenstand und Norm des Vergleichs gewesen, jetzt mußten meine Kinder als Trümpfe herhalten in dieser Auseinandersetzung, in die meine Geburt mich gestürzt hatte. Was war das denn für eine Auseinandersetzung? War mein Leben ein Kartenspiel, in dem bei mir nur einige Trümpfe zählten? Und die Trümpfe, soviel war jetzt klar, waren nicht die gleichen für die Frauen und die Männer.
Ich machte mich also daran, unser beider Vorzüge zu zählen. Das war schnell geschehen: Meine gehörten alle zum Körper, seine zum Geist.
Es war deutlich, daß wir zu zweit ein abgerundetes »Ganzes« bildeten, vorausgesetzt, daß ich schwieg, daß ich von der Weiblichkeit und von der Mutterschaft nicht mehr wollte ... als das, was er mir zuteilte.
Ob ich mein Leben als Kind oder ob ich mein Leben als Erwachsene betrachte, beide sind in jeder Weise deckungsgleich, man hält mich »draußen«, ich muß mich von jeder gesellschaftlichen Tätigkeit fernhalten, es sei denn, sie hat etwas mit dem Körper zu tun: Wenn es eine Ministerin gibt, ist sie zuständig für Gesundheit oder Erziehung oder für Soziales.
Die Frauen werden auf Abstand gehalten wie Hexen, was manche heute schon so aussprechen.