Auf der Suche nach einer demokratischen Kultur

Rückblende: Vierzig Jahre nach Kriegsende - Wie gefestigt ist unsere Demokratie?[1]

I.

Fast auf den Tag vor sechsunddreißig Jahren, am 12. September 1949, gab Theodor Heuss nach seiner Wahl zum ersten Bundespräsidenten der in diesem Augenblick konstituierten Bundesrepublik Deutschland zwei wegweisende Aufträge mit: Er nannte das Grundgesetz »die Voraussetzung und Schulungsmöglichkeit für eine lebendige Demokratie« und fügte hinzu: »Es ist - davon ist neuerlich nicht viel zu sagen - das geschichtliche Leid der Deutschen, daß die Demokratie von ihnen nicht erkämpft wurde, sondern als letzte, als einzige Möglichkeit der Legitimierung eines Gesamtlebens kam, wenn der Staat in Katastrophen zusammengebrochen war. Dies ist die Last, in der der Beginn nach 1918, in der der Beginn heute vor uns steht, das Fertigwerden mit den Vergangenheiten.« Theodor Heuss hat die zehn Jahre seiner Bundespräsidentschaft beispielhaft zur Erfüllung beider Aufträge genutzt: in Reden und im Handeln. Vor allem aber hat er mit seiner ganzen Persönlichkeit beides auf den Weg gebracht: die Anfänge einer »lebendigen Demokratie« und den Mut zur Auseinandersetzung mit »den Vergangenheiten«. Heuss war es, der als erster Bürger unserer Demokratie das »Paragraphengespinst« des neu geschaffenen Grundgesetzes »mit Menschentum« erfüllt und dazu viele Mitbürger ermutigt hat. Ohne diese geistig moralische Grundlegung hätte es dem erfolgreichen politischen und wirtschaftlichen Aufbauwerk der Nachkriegsjahrzehnte an innerer Substanz und Rechtfertigung gemangelt.
Es ist hier nicht möglich, dies alles im einzelnen nachzuzeichnen. Aber es ist wichtig, daß wir uns bewußt bleiben und nachfolgenden Generationen bewußt machen, daß es diesen moralisch fundierten Anfang gegeben hat und daß uns Theodor Heuss als politisches Vermächtnis hinterlassen hat, unsere politische Vergangenheit nicht zu vergessen und unsere freiheitliche Ordnung mit Menschentum zu erfüllen. Junge Menschen fragen oft: Woran und wohin sollen wir uns orientieren? Wenn wir auf diese vierzig Jahre der Nach-Hitler-Zeit zurückblicken, dann lassen sich als Antwort hierfür weiterführende Erfahrungen und Anhaltspunkte finden. Unsere Demokratie ist seit dem 8. Mai 1945 und dem 12. September 1949 aus den Kinderschuhen heraus gewachsen. Sie hat so manche Bewährungsprobe bestanden, aber auch so manche Schwächen und Defizite offenbart. Wenn wir Älteren, die diesen Staat mit geschaffen, seine Entwicklung mitgestaltet und seinen Standort mitbestimmt haben, bereit sind, den nachwachsenden Generationen Rechenschaft abzulegen über das Erreichte und dabei das Nichterreichte nicht auszusparen -, dann erfüllen wir damit ganz sicher auch jenen politischen Auftrag, den Theodor Heuss sich für seine Bundespräsidentschaft und den neu geschaffenen Staat, den er repräsentierte (und personalisierte), gesetzt hat.
Ein weiter Bogen dieser vierzig Jahre spannt sich zwischen der Wegweisung von Theodor Heuss bis zur gleich gewichtigen Wegweisung, die sein fünfter Nachfolger Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 wieder aufgenommen und erneuert hat. »Der 8. Mai 1945 ist ein Datum von entscheidender historischer Bedeutung in Europa. Wir Deutsche begehen den Tag unter uns, und das ist notwendig. Wir müssen die Maßstäbe allein finden. Schonung unserer Gefühle durch uns selbst oder durch andere hilft nicht weiter. Wir brauchen, und wir haben die Kraft, der Wahrheit so gut wir es können ins Auge zu sehen, ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit. Der 8. Mai 1985 ist für uns vor allem ein Tag der Erinnerung an das, was Menschen erleiden mußten. Er ist zugleich ein Tag des Nachdenkens über den Gang unserer Geschichte. Je ehrlicher wir ihn begehen, desto freier sind wir, uns seinen Folgen verantwortlich zu stellen.« Unter diesem gedanklichen Bogen entfaltet sich unsere Zeitgeschichte - mit ihren zahlreichen Auf und Ab -, die ich heute nur in großen Strichen nachzuzeichnen vermag.

Unsere Demokratie nach vierzig Jahren - was hat sie erbracht?

Ich möchte mich nicht damit begnügen, unseren wirtschaftlichen und politischen Wohlstand zu loben, die Stabilität unseres Systems insgesamt und die zweifellos freiheitlichste Staatsform unserer Geschichte - obgleich dies alles natürlich Lob, Anerkennung und auch Dankbarkeit verdient. Aber sich damit zu begnügen hieße auch, das mir gestellte Thema zu verkürzen und rasch bei oberflächlicher Selbstzufriedenheit zu verharren.
Deshalb möchte ich die Sonde des Nachdenkens über den inneren Zustand unserer Demokratie tiefer ansetzen - so wie es Theodor Heuss getan und wie es Richard von Weizsäcker neuerlich geleistet hat. Die »Frag-Würdigkeiten« unserer Demokratie nach vierzig Jahren liegen zweifellos an den gleichen Bruchstellen wie zur Zeit ihrer Gründung: das Erkennen und Anerkennen der geschichtlichen Schuld und der fortwirkenden Scham für die Schrecken der Hitlerzeit - der ständigen Versuchung der Verdrängung und des Vergessenwollens (aber nicht -dürfens) zu widerstehen - und die Bereitschaft, durch das eigene Engagement, durch den eigenen Beitrag, und sei er scheinbar noch so unbedeutend, an Versöhnung und Aussöhnung mitzuwirken (das heißt ein ganz persönliches Scherflein dazu beizutragen, daß unsere freiheitliche Demokratie mit Menschentum erfüllt wird). Die Entwicklung unserer Demokratie seit vierzig Jahren daraufhin zu überprüfen, das kann und das möchte ich als eine nützliche Herausforderung verstehen, die die Freude an dieser Feierstunde keineswegs beeinträchtigen, sondern ihr einen weiterführenden Sinn geben soll.

II.

Die Trümmer, auf denen unsere Demokratie entstanden und gewachsen ist, bedecken 60 Millionen Tote - Opfer des deutschen Größenwahns während der Hitlerschen Diktatur genannt das »Dritte Reich«. Ich erinnere mich noch genau an sein schreckliches Ende. In einem seiner letzten Briefe aus dem Zuchthaus Tegel schrieb Pfarrer Dietrich Bonhoeffer im März 1945: »Nur durch die Niederlage können wir Sühne leisten für die furchtbaren Verbrechen, die wir gegen Europa und die Welt begangen haben.« Und zur gleichen Zeit etwa schrieb in einem anderen Berliner Gefängnis der Geowissenschaftler Albrecht Haushofer in einem seiner »Moabiter Sonette« unter der Überschrift »Untergang«:

»... Daß dieses Volk die Siege nicht ertrug.
Die Mühlen Gottes haben schnell gemahlen.
Wie furchtbar muß es nun den Rausch bezahlen.

Es war so hart, als es die andern schlug,
so taub für seiner Opfer Todesklagen. -
Wie mag es nun das Opfer-Sein ertragen... «

Auch die Flugblätter der »Weißen Rose« (1942) laufen gedanklich in die Nach-Hitler-Zeit. Ich zitiere: »... aus Liebe zu kommenden Generationen muß (deshalb) nach Beendigung des Krieges ein Exempel statuiert werden, daß niemand auch nur die geringste Lust verspüren sollte, Ähnliches aufs neue zu versuchen.« Wir müssen uns fragen: Haben wir die Sühne für die furchtbaren Verbrechen, die während der Naziherrschaft im deutschen Namen gegen Millionen Menschen begangen wurden, geleistet? Haben wir die Exempel statuiert? Wie haben wir das »Opfer Sein ertragen«? Was ist uns daraus erwachsen? 1945 waren wir ein äußerlich und innerlich total zerstörtes, demoralisiertes und entkräftetes Volk, mit einer schrecklichen Vergangenheit belastet und ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Wie sollte es gelingen, dieses allen freiheitlichen und demokratischen Prinzipien abholde Volk mit den Bedingungen eines freiheitlichen Gemeinwesens zu befreunden? Wie sollte es gelingen, verlorenes Ansehen und Vertrauen bei den europäischen Nachbarn und in der Welt zurückzugewinnen? Und wie konnte nach der totalen wirtschaftlichen Zerstörung und Demontage, nach dem Zustrom von über 10 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen aus osteuropäischen Ländern ein materieller Aufbau überhaupt eine Chance haben? Wenn ich mich an die erste Nachkriegszeit zurück erinnere, dann fällt mir, abgesehen von dem starken Glücksgefühl, frei und vor allem frei von Angst - zu sein, abgesehen auch von Not, Zerstörung und Mangel an allen Gütern des täglichen Bedarfs, als Merkmal des Neuanfangs die sogenannte »Entnazifizierung« ein.
Sie war die erste und für viele Deutsche die einzig greifbare Konsequenz aus ihrer Zugehörigkeit und Zustimmung (zumindest solange es mit den Nazis aufwärts ging) zum Nationalsozialismus. Die Entnazifizierung war ein mehr oder weniger bürokratisches Verfahren, das über Fragebögen abgewickelt wurde und dem in schwereren Fällen Verhandlungen vor Spruchkammern folgten. Kleinere Nazis kamen dabei mit dem Schrecken davon, größeren wurden Geldstrafen auferlegt - zeitweise auch Berufsverbot (das bereits 1952 durch ein großzügiges Wiedereinstellungsgesetz, das sogenannte 131er Gesetz, korrigiert wurde). Größerer Schuld und Verantwortung verdächtige Nazis kamen in den ersten Nachkriegswochen in Lager - ein Teil davon später vor ordentliche Gerichte. Viele braune »bigshots« tauchten unter (einige bis heute). Zur Einsicht und inneren Umkehr dürften diese Verfahren nach meiner Erfahrung wenig beigetragen haben. Dennoch gab es viele Deutsche, die sich ihrer braunen Vergangenheit, ihres Mitläufertums oder ihrer Zustimmung (zumindest im stillen Kämmerlein) geschämt haben. Von Politik - von Demokratie gar - wollte zunächst kaum jemand etwas wissen. Sie werden erstaunt fragen: Wer aber hat dann in dieser desolaten Konstellation eigentlich die ersten Schritte für einen demokratischen Neuanfang getan? - Nun, zweifellos vor allem die westlichen Besatzungsmächte. Sie hatten ziemlich genaue Namenslisten mitgebracht von unbescholtenen, von verfolgten Deutschen der älteren Generation, die sie örtlich mit ersten öffentlichen Aufgaben betrauten. Die westlichen Alliierten waren es, die ab Sommer 1945 die ersten Parteien und Zeitungsblättchen lizensierten, Kommunalwahlen vorbereiteten und ab 1946 in ihren Besatzungszonen demokratische Verfassungen ausarbeiten ließen, die zum Beispiel in den Ländern der US Besatzungszone bereits am 1. Dezember 1946 durch Volksabstimmung angenommen wurden. Sie wollten die Deutschen zu Demokraten machen: »Umerziehung« nannte man das. Unter der Oberfläche dieses von oben angeordneten Demokratisierungsprozesses existierten jedoch tiefe Risse - und es fehlte, wie von Heuss zutreffend formuliert, jedes demokratische Fundament.
Zweifellos war noch eine stattliche Anzahl echter Nazis übrig geblieben, die sich zunächst still verhielten in späteren Jahren jedoch immer wieder einmal ihre Rückkehr und Rehabilitierung probten. Dann gab es die große Mehrheit der im Grunde ziemlich unpolitischen Mitläufer und die jüngere Generation, zu der ich zählte, die nichts anderes als den Nationalsozialismus gekannt hatte, die sich mißbraucht fühlte und teilweise von Selbstmitleid erfüllt war. Nur eine hauchdünne Schicht von wirklichen Antinazis, Demokraten, Christen, Gewerkschaftlern, Intellektuellen hatten überlebt, waren weder ausgewandert noch umgebracht worden. Sie waren es, die alle verbliebenen Kräfte einsetzten, um Konsequenzen aus den Erfahrungen der Hitlerzeit und dem Scheitern der Weimarer Demokratie zu ziehen. Zu verdanken waren diese Anfangserfolge einigen wenigen Männern, die sich der schwierigen Aufgabe des demokratischen Neuanfangs vorbehaltlos widmeten. Ich nenne - stellvertretend für die Männer der ersten Stunde - (alphabetisch): Konrad Adenauer, Theodor Heuss und Kurt Schumacher, die trotz sehr unterschiedlicher politischer Couleur - alle überzeugte und überzeugende Gegner der Nazis und Demokraten der ersten Stunde waren. Das Grundgesetz, das im Mai 1949 verabschiedet wurde, war mit seinen 146 Artikeln zunächst wirklich nicht mehr als ein »Paragraphengespinst«, wie Theodor Heuss - sein überragender geistiger Vater - es nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten am 12. September 1949 formuliert hatte. Es mußte nun »mit Menschentum erfüllt« werden. Heuss war es, der als erster Bundespräsident die Maßstäbe für eine moralisch und sittlich glaubwürdige Entwicklung gesetzt hat, der wieder und wieder an das Geschehene und unsere Schuld, Scham und Verantwortung hierfür gemahnt hat. Er warnte vor Vergessen, Verdrängen, Geschichtslosigkeit... Jede seiner großen Reden, hier beispielhaft genannt: »Mut zur Liebe« (1949), zum »Recht auf Widerstand« (1954), zur Einweihung der Gedenkstätte im KZ Bergen-Belsen (1952) zeugt davon. Er spürte und sprach es aus, daß die Versuchung des »Wegsehens«, des Nichtmehr-Erinnerns und des Vergessenwollens zur Gefährdung einer moralisch und politisch verläßlichen demokratischen Entwicklung werden könnte.
Hier einige Zitate: »Mut zur Liebe« (7. Dezember 1949) »Wir dürfen nicht vergessen, dürfen auch nicht Dinge vergessen, die die Menschen gerne vergessen möchten, weil das so angenehm ist. Wir dürfen nicht vergessen die Nürnberger Gesetze, den Judenstern, die Synagogenbrände, die Abtransporte von jüdischen Menschen in die Fremde, in das Unglück, in den Tod. Das sind Tatbestände, die wir nicht vergessen dürfen, weil wir es uns nicht bequem machen dürfen... «
Rundfunkansprache zur »Woche der Brüderlichkeit« 1952: »Der Weg zur Brüderlichkeit wird also oft genug eine Sache der Tapferkeit sein..., und zwar der Tapferkeit gegen sich selbst, gegenüber überkommener Denkgewöhnung, die zur Denkfaulheit wird, gegenüber der Trägheit des Herzens, auch gegenüber einer eingängigen Formelwelt von gefrorenen und gefrierenden Begriffen... Mir wird geschrieben, ich solle doch nicht mehr gegen den Nationalsozialismus etwas sagen... Ich kann... nur antworten: So bequem dürfen wir es uns nicht machen... Wer möchte die Unverfrorenheit besitzen, jüdischen Menschen zu sagen: >Vergeßt das doch!< - So billig..., im moralischen wie im materiellen Sinn, wird Hitlers Hinterlassenschaft nicht beglichen. Es ist eine unerhört schwere Aufgabe, durch das Erbe dieser Geschichte sich hindurchzuarbeiten. Wenn dieser Versuch [Woche der Brüderlichkeit] einen Sinn haben soll, dann doch nur, wenn er da und dort eine Menschenseele anrührt, das Leid des anderen, auch die Freude des anderen, als eigenes Leid, als eigene Freude zu empfinden, zu tragen... «
Und schließlich ein Interview nach seiner Reise nach Israel im Juni1960: »... Wir dürfen den Vorgang der Massenvernichtung aus unserem Bewußtsein nicht ausscheiden... Das wäre einfach Feigheit gegenüber der Wahrheit! Das können wir uns nicht gestatten um unserer Seele willen. Was ich hier sage, das gefällt vielen Leuten nicht, die sagen: Schluß, Schluß, Schluß mit dieser Geschichte! Derlei ist uns nicht erlaubt - um unseretwillen nicht.« Wiederholt hat er Versuche einer »schrecklichen Aufrechnerei« verurteilt und dies als Verhalten »moralisch Anspruchsloser« bezeichnet...

III.

Wenn wir uns heute immer wieder von neuem bemühen, über unsere Geschichte der Nach-Hitler-Zeit nachzudenken, dann sind diese Dokumente von großer Bedeutung. Denn leider sind die Bemühungen von Theodor Heuss in der Folgezeit nicht mit der gleichen Intensität und Überzeugungskraft fortgesetzt worden. In meiner Erinnerung waren es eher gegenläufige Tendenzen, die in der Zeit des florierenden Wirtschaftswunders den mühsam in Gang gekommenen politischen und moralischen Prozeß der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus schon bald überlagerten. Man wollte vergessen und verdrängen, was in deutschem Namen geschehen war, und man tat es auch. Unter dieser Verdrängung haben junge Deutsche, die wie ich die Nachkriegszeit bewußt als »Nach-Hitler-Zeit« verstehen wollten, sehr gelitten. Wir waren von dieser öffentlichen und privaten Einstellung und dem Ausmaß der konservativen Restauration sehr enttäuscht. Ich erwähne dies nicht, weil ich meine damalige Enttäuschung besonders herausstellen möchte, sondern weil dies im Laufe der sechziger Jahre immer mehr - vor allem junge Menschen so empfanden. So wurde das Ende der Ära Adenauer Mitte der sechziger Jahre zugleich auch der Beginn einer Zeit des Aufbegehrens und des Umbruchs. Die bis dahin versäumten gesellschaftlichen Reformen wurden beklagt, Demokratisierung und Chancengleichheit in allen gesellschaftlichen Bereichen gefordert. Mit den seit 1967 um sich greifenden Studentenunruhen und der Entstehung einer starken außerparlamentarischen Opposition begann der zweite Abschnitt unserer Demokratiewerdung. Es war die gleiche Zeit, in der das heiß diskutierte Buch von Alexander und Margarete Mitscherlich »Die Unfähigkeit zu trauern« der westdeutschen Gesellschaft den Spiegel einer mangelhaften Aufarbeitung der Vergangenheit vorhielt. Das Geschehene war verdrängt, die notwendige Trauerarbeit versäumt worden. Bis zu dieser Zeit waren freiheitliche Veränderungsprozesse nicht erprobt worden. Nun wurden sie in allen Bereichen auf einmal gefordert.
Viele dieser Reformen sind stecken geblieben oder ganz gescheitert. Insgesamt aber haben die Studentenunruhen eine spürbare Fortentwicklung unserer demokratischen Gesellschaft und ihres Selbstverständnisses erbracht. Ich denke an das großartige Engagement ungezählter junger Menschen für Menschenrechte, Frieden und Gerechtigkeit - an die ungezählten großen und kleinen Beispiele für mehr Mitmenschlichkeit, die besonders in den letzten zwei Jahrzehnten neuen demokratischen Lebensformen Auftrieb gegeben haben. Ich denke auch an die vielfältigen ansteckenden Beispiele, die beispielsweise von der Paul-Dierichs-Stiftung im letzten Jahrzehnt zu Recht herausgestellt und ausgezeichnet worden sind. In die Zeit des demokratischen Aufbruchs fallen auch die Ostverträge und die Bemühungen um Aussöhnung und Entspannung mit den osteuropäischen Staaten. Und ebenfalls in diese Zeit fällt ein 1979 nach langen Kämpfen mit großer Mehrheit gefaßter Beschluß des Bundestages, die Verjährungsfristen für Naziverbrechen endgültig aufzuheben - eine der verspäteten, aber wichtigen Konsequenzen aus der Tatsache, daß viele - allzu viele - ungesühnte Naziverbrechen andernfalls nicht hätten weiterverfolgt werden können. Heute sind es vor allem die nachwachsenden Generationen, die sich mit dieser Hypothek der Unmenschlichkeit, die weiter wirkend auf unserer demokratischen Entwicklung lastet, auseinandersetzen, die den Einsatz der Geschwister Scholl und die Opfer des 20. Juli, den Holocaust und den Rassenwahn (deren Opfer auch Hunderttausende von Geisteskranken wurden) in ihr eigenes demokratisches Engagement stärker aufnehmen, als ihre Väter und Großväter dies getan haben. Dazu möchte ich sie ausdrücklich ermutigen!

IV.

Gerade erst das Datum des 40. Jahrestages des Kriegsendes und der Befreiung von der Nazidiktatur - von der wir uns nicht aus eigener Kraft befreien konnten - hat die alten schmerzhaften Wunden wieder aufbrechen lassen. Neuerlich ist offenkundig geworden, wie wichtig und unverzichtbar die Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit unserer Geschichte zur Gestaltung unserer Gegenwart und Zukunft sind. Kluge Zeitgenossen haben den 8. Mai 1985 einen »sperrigen« Gedenktag genannt, und das war er tatsächlich. Einerseits: Die Emotionen und Auseinandersetzungen rund um das Besuchsprogramm des amerikanischen Präsidenten, um das Motto des Schlesiertreffens »Schlesien bleibt unser«, um die sogenannten Kameradschaftstreffen der SS und die Strafbarkeit der Leugnung der Judenvernichtung (Auschwitz-Lüge). - Andererseits: Die große Rede des Bundespräsidenten, die in der geistigen Nachfolge von Theodor Heuss stand, und die begeisterte, ja krampflösend und befreiend wirkende Zustimmung hierzu. Aber auch die lauten und leisen Kritiker dieser Rede oder die Kritik an denen, die sich zustimmend auf sie berufen, sind symptomatisch für die »Sperrigkeit«. Gerade diese oft erschreckende Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit dieses Datums hat mir bewußt gemacht, daß die »Sperrigkeit« des 8. Mai nicht nur in seiner historischen Dimension liegt (das heißt in der unterschiedlichen Beurteilung jener Ereignisse vor vierzig Jahren), sondern daß diese »Sperrigkeit« vor allem auch eine aktuelle Dimension hat. Ist es uns überhaupt bewußt geworden, welche fundamentalen Gegensätze zwischen der politischen Botschaft unseres Staatsoberhauptes einerseits und den politischen Manifestationen eines neu-alten Rechtskonservativismus andererseits bestehen? Und erweist sich an diesen Gegensätzen nicht auch, daß wir nicht nur noch keineswegs im reinen sind mit den Lehren aus unserer Geschichte, sondern auch weit entfernt von einem gemeinsamen Fundament unserer demokratischen Kultur für heute und morgen? Hier richtet sich das Fragezeichen auf - unübersehbar und sperrig -, wenn wir darüber nachdenken, wie gefestigt unsere Demokratie nach vierzig Jahren ist.
Ihre Schwachstellen liegen genau da, wovor Theodor Heuss schon damals gewarnt hat: in den fortwirkenden Folgen einer nicht erkämpften, auf den Trümmern eines Unrechtsstaates errichteten Demokratie, deren Defizite an menschlicher und politischer Glaubwürdigkeit nie ganz abgebaut wurden und aus deren Überresten immer wieder neue entstanden sind und entstehen. Vor allem müssen wir uns demzufolge vor Widersprüchen zwischen politischen Postulaten einerseits und praktischem Verhalten andererseits hüten, denn diese Widersprüche erzeugen, erhalten und vermehren die politischen und menschlichen Glaubwürdigkeitsdefizite. Sie richten den eigentlichen Flurschaden in unserer politischen Kultur an! In diesen unaufgearbeiteten Zusammenhängen liegt übrigens auch der Schlüssel zum unnatürlich verkrampften Generationenkonflikt, den wir seit den sechziger Jahren mit uns herumschleppen: Es reicht eben nicht aus, die Irrtümer, Versäumnisse und schuldhaften Verstrickungen unserer Geschichte an sperrigen Gedenktagen mehr oder weniger verlegen zu artikulieren. Wir müssen viel mehr in unserem politischen Denken, Handeln und Verhalten menschlich glaubwürdig sein, und das bezieht sich auf unsere unteilbare Verantwortung für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichermaßen. Unsere demokratische Ordnung wird so lange nicht endgültig gefestigt sein, als wir das nicht leisten nämlich sie mit glaubwürdigem Menschentum zu erfüllen. Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat dies zu Recht angemahnt, als er sagte, daß »das eigene historische Gedächtnis als Leitlinie für das eigene Verhalten in der Gegenwart und für die ungelösten Aufgaben, die auf uns warten«, genutzt werden müsse. Dann fuhr er fort: »Wir Älteren schulden der Jugend nicht die Erfüllung von Träumen, sondern Aufrichtigkeit. Wir müssen den Jüngeren helfen zu verstehen, warum es lebenswichtig ist, die Erinnerung wachzuhalten. Wir wollen ihnen helfen, sich auf die geschichtliche Wahrheit nüchtern und ohne Einseitigkeit einzulassen, ohne Flucht in utopische Heilslehren, aber auch ohne moralische Überheblichkeit.«
Hier liegt der Schlüssel nicht nur dazu, die Kontaktsperre zu nachwachsenden Generationen zu entsperren, sondern auch den Zugang zu unserem eigenen demokratischen Selbstverständnis zu öffnen und damit zur Begründung einer demokratischen Kultur.

Texttyp

Historischer Essay