Zum Verständnis der Texte

1. Biographisches

126. Psalm
(Erlösung der Gefangenen Zions)
5.) Die mit Tränen säen
werden mit Freuden ernten
6.) Sie gehen hin und weinen
und tragen edlen Samen
und kommen mit Freuden
und bringen ihre Garben

Worauf hätte eine neue politische Kultur in (der Bundesrepublik) Deutschland und für (die Bundesrepublik) Deutschland nach 1945 verheißungsvoller aufbauen können als auf diesem Psalmenwort? So jedenfalls habe ich es mit vielen anderen Deutschen empfunden, die am 8. Mai 1945 aus der Gefangenschaft der Hitlerdiktatur erlöst wurden: Eine Zeit der Tränen und Freuden würde anbrechen, und wir würden unsere Garben bringen können... Trotz aller Nachkriegsnöte: Das Gefühl der Erlösung war stärker als alles andere. Wir hatten die Chance der Bewährung. »Kollektivschuld« hin oder her (eine typisch deutsche Beckmesserei der ersten Nachkriegsjahre): Immer wieder würden wir mit Tränen säen müssen, bevor wir mit Freuden ernten und unsere Garben darbringen könnten... Ich war in der bösesten und unfreiesten aller Staatsformen aufgewachsen und habe erst viel später verstanden, wie es zu dieser barbarischen Diktatur in Deutschland hatte kommen können, und weshalb ihr bis zum schrecklichen Ende von der übergroßen Mehrzahl aller Deutschen nicht widerstanden wurde - selbst dann nicht, als das schreckliche Ende bereits vorauszusehen war. Dies war meine biographische und politische Schlüsselerfahrung. Sie ist es bis heute geblieben. Trotz äußerer Not und Entbehrung überwog das Glücksgefühl, frei zu sein von Angst und Denunziation, von Willkür und Gesinnungsterror. Ich wollte mein Leben dafür einsetzen, daß all dies sich nie wiederholen sollte. So kam es, daß Politik von meinem 24. Lebensjahr an zu meinem Lebensberuf wurde. Das kleine demokratische Einmaleins lernte ich zunächst in der »Neuen Zeitung«, der in München erscheinenden amerikanischen Zeitung für Deutschland. Ende 1945 wurde ich dort »freie«, einige Monate später »feste« wissenschaftliche Mitarbeiterin. Meinen studierten Beruf (Chemie) hängte ich mangels Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten an den Nagel. Erste - im Textteil vorgestellte - kleine holprige Artikel (die ich im Keller wiederfand) versuchen, meine damaligen Empfindungen auszudrücken (»Orden und Verdienste«). Sie stehen neben sachlichen Berichten (z. B. über »Schulreformen«). Mein Freundeskreis in jener Zeit (zu dem Erich Kästner und unser zweiter Chefredakteur Hans Wallenberg ebenso gehörten wie Walter von Cube, Walter M. Guggenheimer, Alexander Mitscherlich, Alfred Andersch und Hans Werner Richter) half mir in ungezählten politischen Gesprächen, zu lernen und noch einmal zu lernen. Dadurch festigte sich mein Entschluß, mich der Politik mit Haut und Haaren zu verschreiben. Ich tat dies zunächst nur mit der Feder. Die Themen, mit denen ich mich - neben meinem Hauptarbeitsgebiet, den Naturwissenschaften - vor allem auseinandersetzte, waren Schul-und Hochschulfragen, Jugendprobleme und die Nachkriegsentwicklung in den Ländern der amerikanischen, britischen und später auch der französischen Zone. Nach einem recht drastischen Bericht über die Lebensverhältnisse in der französischen Zone wurde die »Neue Zeitung« sogar für einige Zeit dort verboten. Das war meine erste politische Verwicklung. Außerdem war ich dank Theodor Heuss an den bayerischen FDP-Vorsitzenden Thomas Dehler weiter empfohlen und als »Jungdemokratin« von der Münchner FDP Anfang 1948 zu den Stadtratswahlen aufgestellt worden. Ich durfte meine erste von ungezählten weiteren Rundfunkreden halten (Textteil S. 98 ff.). Unter dem Motto »Verjüngt den Stadtrat« wurde ich tatsächlich als jüngste Stadträtin ins zerbombte Münchner Rathaus gewählt, ohne eine Ahnung davon zu haben, was dort nun zu tun wäre. Aber ich lernte es, zunächst noch einigermaßen schüchtern, mit Hingabe und Leidenschaft. Ich wurde ehrenamtliche Koreferentin für die total zerstörten Münchner Mädchen-Mittelschulen (kleinere Dachreparaturen wurden damals noch eigenhändig vorgenommen) und für das Jugendamt, für das mein späterer Mann Dr. Erwin Hamm als berufsmäßiger Sozialreferent zuständig war. Anfangs stritten wir uns häufig, denn meine Wünsche für eine demokratische Jugendarbeit waren damals weder finanziell noch organisatorisch erfüllbar. Später wurde das besser, und wir kämpften gemeinsam auf neuen Feldern einer demokratischen Kommunalpolitik. So war seiner Tatkraft und meinem Engagement zum Beispiel das erste Appartementhaus für alleinstehende berufstätige Frauen zu verdanken, ein anderes für alleinstehende Frauen mit Kindern, und schließlich führten wir auch den Kampf um die damals schon notwendige Verwaltungsvereinfachung und Entbürokratisierung gemeinsam. Die Solidarität unter den wenigen Stadträtinnen, die mich Jüngere zunächst etwas skeptisch beobachteten, entwickelte sich großartig.
Wir kämpften alle um die ersten Beförderungsmöglichkeiten für Frauen. Es gelang uns tatsächlich, eine Frau zur Leiterin einer wichtigen Münchner Mädchenschule zu machen, und ich berichtete über diese ersten Kämpfe zur Gleichberechtigung, die ja viel mit unserem noch zu entwickelnden demokratischen Selbstverständnis zu tun hatten, in verschiedenen Zeitungen (siehe Textteil, S. 110 ff.) Die »Neue Zeitung« hatte ich Anfang 1949 zusammen mit anderen deutschen Kollegen mit einem lautstarken politischen Krach verlassen: Wir sollten amerikanischen Redakteuren neuerlich »unterstellt« werden, was unser journalistisches Selbstverständnis verletzte. 1949 gewann ich (nach meiner ersten, von vornherein aussichtslosen Bundestagskandidatur in einem Münchner Wahlkreis), zusammen mit dem jungen Berliner Stadtverordneten Klaus Schütz und vier anderen jungen Deutschen, eines der ersten Stipendien für ein Studium an der Harvard-Universität in den USA. Dieses großzügige Angebot ermöglichte das entscheidende politische Lehrjahr meines Lebens. Was Theodor Heuss mir über die Bedeutung demokratischer Lebensformen, über Mitverantwortung und Mitgestaltung der Bürger in einem freiheitlichen Gemeinwesen ins Herz gepflanzt hatte, das sah und erlebte ich nun mit eigenen Augen im zuversichtlichen Nachkriegs-Amerika. Neben den Vorlesungen machte ich im Frühjahr 1950 in einer Studenteninitiative beim Bostoner Kommunalwahlkampf mit, engagierte mich in der »League of Women Voters« und besuchte Veranstaltungen der »ParentsTeacher-Association«. Die demokratische Kultur, die ich damals erlebte, überzeugte mich. Mir wurde klar, worauf es bei uns ankommen würde. Der amerikanische »democratic way of life« hatte feste, unzerstörbare Wurzeln, die uns fehlten.
Nach meiner Rückkehr im Sommer 1950 galt ich (hinter vorgehaltener Hand, versteht sich) als Musterprodukt amerikanischer (Um-)Erziehung. Und das stimmte, wenn auch die weitaus wichtigeren Impulse für meine nun fundierte Zustimmung zur Demokratie und für meinen Einsatz zu ihrer Stärkung fortwirkend von Theodor Heuss - jetzt allseits bewunderter Bundespräsident – kamen. Im bayerischen Landtagswahlkampf 1950, den ich trotz aller Amerikanismen erfolgreich bestand, machten sich erstmals wieder unbelehrbare, alte Nazis bemerkbar. Mein Artikel »Kein Recht mehr auf Irrtum« (Textteil, S. 51 ff.) erregte Aufsehen, fand Zustimmung und Widerspruch. Mittlerweile war ich über die Grenzen Münchens hinaus bekannt geworden, nachdem meine erste Initiative als Landtagsabgeordnete gegen die vom damaligen Kultusminister wiedereingeführte »Prügelstrafe« die deutschen Gemüter im Für und Wider erregt hatte. So verliefen dann auch die weiteren politischen Lehrjahre einigermaßen stürmisch, bis 1966 die FDP zum erstenmal aus dem Landtag hinausflog und statt ihrer die NPD einrückte. Es waren dies die wohl kämpferischsten, aber auch unbefangensten Jahres meines an Kämpfen gewiß nicht armen politischen Lebens. Im Textteil sind davon einige Kostproben zu finden, wobei zwei Felder, auf denen ich für demokratische Kultur in jenen Jahren stritt, ausführlicher dokumentiert werden:

  • Das Ringen in der kurzlebigen sogenannten Viererkoalition von SPD, FDP, Bayernpartei und BHE (Flüchtlingspartei) (1954-57) um die Einführung der politischen Bildung als unerläßlichen Nährboden einer demokratischen Kultur (»Spiritus rector« hierfür war mein damaliges großes Vorbild, der tapfere Sozialdemokrat Waldemar von Knoeringen), und
  • der Kampf gegen wieder erwachende nazistische Tendenzen, dargestellt am Fall des langjährigen bayerischen Kultusministers Theodor Maunz und leider auch in meiner eigenen Partei.

Dem bayerischen Gemeinderecht gehorchend, schied ich zwecks Eheschließung Mitte der fünfziger Jahre aus dem Münchner Stadtrat aus und begann neben meiner Landtagsarbeit mit dem Durchforsten von Schulbüchern, die haarsträubende Überbleibsel aus der Hitler- und Vor-Hitler-Zeit enthielten. Mit vergleichenden Studien über die Schulreformen in den »pädagogischen Provinzen« der Bundesrepublik und später auch im westlichen und östlichen Ausland vertiefte ich meinen schulpolitischen Sachverstand. Berichte darüber erschienen zunächst in der »ZEIT«, später in Büchern, die beträchtliche Auflagen erreichten. Nach dem Tod von Theodor Heuss im Dezember 1963, den ich tief und schmerzlich betrauerte, gründete ich zusammen mit seinem Sohn und Freunden aus allen politischen Lagern (und mit 5000 gespendeten DM) »als Zeichen der dankbaren Erinnerung« die Stiftung THEODOR-HEUSS-PREIS, die sich seitdem - wie im Textteil nachzulesen - zu einem lebendigen und angesehenen Instrument der Pflege und Förderung demokratischer Kultur entwickelt hat. Dieser erste, kämpferische Abschnitt meines politischen Lebens fand im Herbst 1966 ein plötzliches, unvorhergesehenes Ende. Obwohl ich ein blendendes persönliches Wahlergebnis in Oberbayern erreicht hatte, verfehlte die FDP insgesamt die in Bayern damals gültige 10 Prozent-Hürde in einem der sechs Regierungsbezirke knapp. Ein neuer Abschnitt begann wenige Monate später, als ich erste und jüngste Staatssekretärin und einzige Frau in einer von den liberalen Persönlichkeiten meiner beiden »Mäzene«, des hessischen Ministerpräsidenten Georg Zinn und seines Kultusministers Ernst Schütte, geführten SPD-Regierung in Hessen wurde. Das war eine ziemlich ungewöhnliche Konstellation; aber auch die FDP wurde dafür gewonnen. Die neue Aufgabe löste ich erfolgreich. In knapp drei Jahren (bis zur plötzlichen, tragischen Erkrankung des Ministerpräsidenten) gelang das, wovon ich seit den Schulreformdiskussionen der ersten Nachkriegsjahre geträumt und wofür ich bis dahin vergeblich gekämpft hatte: Der Grundstein für ein demokratisches Schulwesen von der Vorschulerziehung über eine nicht auslesende Grundschule zu offenen Übergängen in weiterführende Schulen konnte gelegt werden. Die ersten Gesamtschulversuche und die Aufwertung der beruflichen Bildung sowie die Öffnung des tertiären Bildungsbereichs zu Gesamthochschulen kamen hinzu. Aber auch die Studentenunruhen, die alle Vorhaben vehement durcheinander schüttelten, gehörten dazu, wie im Textteil nachzulesen ist. Behutsam, auf Einvernehmen mit allen Beteiligten und Betroffenen bedacht (Stärkung der Mitwirkungsrechte von Schülern, Eltern, Studenten, Lehrern), wurden Modellversuche und inhaltliche Reformen vorangebracht, flankiert und unterstützt von den Veröffentlichungen des Deutschen Bildungsrates und den von Georg Picht, Hellmut Becker, Friedrich Edding, Ralf Dahrendorf und Hartmut von Hentig in Gang gesetzten großen Bildungsreformdiskussionen. »Mit eineinhalb weinenden Augen« (so meine Abschiedsansprache im hessischen Kultusministerium) folgte ich im Dezember 1969 dem Ruf Walter Scheels und Willy Brandts als Staatssekretärin ins Bonner »Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft«:
Der »Bildungsbericht 1970«, das einzige bildungspolitische Konzept, das je von einer Bundesregierung vorgelegt wurde, eine gesamtstaatliche Bildungsplanung, die rasche Entwicklung der Hochschulbauförderung und des Hochschulrahmengesetzes - diese Herausforderungen kamen, wie so oft in meinem politischen Leben, zur rechten Zeit. Es nützte mir sehr, daß ich meine hessischen »Probeläufe« hinter mir hatte und eine klare Konzeption für eine liberale gesamtstaatliche Bildungsverantwortung des Bundes nach Bonn mitbrachte. Etwa zwei Jahre lang ging alles gut voran... Dann kamen die ersten Rückschläge. Einer davon war - so erstaunlich es klingt - der von mir persönlich erstrittene, beinahe triumphale Wiedereinzug der FDP in den Bayerischen Landtag Ende 1970, der schließlich meine Rückkehr nach Bayern erforderlich machte. Dies geschah im Mai 1972. Als erste Frau wurde ich Vorsitzende einer (Mini-)FDP-Fraktion. Der andere Rückschlag entwickelte sich aus dem fehlenden Durchhaltevermögen und dem raschen Nachlassen des bildungspolitischen Engagements der sozialliberalen Koalition. Der parteilose Minister Leussinck hatte schon Ende 1971 das Handtuch geworfen. Der große Anlauf blieb stecken. Die folgenden Jahre waren - rückblickend gesehen - die erfolglosesten, ja lustlosesten und unergiebigsten meines politischen Lebens. Sicher lag das auch an mir. Rückschläge bei Wahlen und Enttäuschungen über den fehlenden Oppositions-Schwung der FDP. Daran war ich nicht gewöhnt, und ich mußte erst lernen, beides zu ertragen. Das einzige, was mir gelang, war eine Zusammenfassung und Bilanz meines bildungspolitischen Denkens und Handelns (»Bildung ist kein Luxus«, 1976) (Textteil, S. 237ff.). Im zusammengeschrumpften Kreis bildungspolitisch interessierter Bundesbürger fand dieses Buch zwar Zustimmung, aber kein neues Engagement. Dann folgten die Bundestagswahlen 1976 - ich kandidierte für den Wahlkreis Erlangen. Was wollte ich eigentlich in Bonn? Die Zeit für Bildungsreformen war abgelaufen, jüngere liberale Frauen begannen mir dort den Rang abzulaufen. Bei den Bundesvorstandswahlen der FDP war ich als stellvertretende Bundesvorsitzende - nach einem erfolgreichen ersten Wahlgang - im zweiten Wahlgang Uwe Ronneburger knapp unterlegen. Die FAZ begrüßte mich in Bonn voller Häme mit einem bösen Leitartikel »Bildung ade«... Was also wollte ich in Bonn? Es war Hans-Dietrich Genscher, der dies besser wußte als ich, wofür ich ihm bis heute sehr dankbar geblieben bin. Er machte mich, zum Erstaunen von Freunden und Gegnern, zur Staatsministerin im Auswärtigen Amt, und das blieb ich dann sechs Jahre, von 1976 bis 1982, bis zum bitteren Ende der sozialliberalen Koalition. Mit großer Hingabe arbeitete ich für die Fortsetzung der von uns erkämpften Ost- und Entspannungspolitik, für die Konkretisierung der bis dahin kaum entdeckten »Dritte-Welt-Politik« und für die Achtung der Menschenrechte in aller Welt. Noch einmal wuchsen mir neue konzeptionelle Aufgaben zu, neue Erfahrungen, neue Kräfte, neue Erfolge. Vor allem ging es mir darum, ein unter Schmerzen und Mühen langsam gewachsenes Verständnis von demokratischer Kultur zum Maßstab auch für unsere friedliche Zusammenarbeit mit anderen Völkern und ihren Kulturen zu machen. Das war und ist meine Vision von vertrauenbildender, kultureller Zusammenarbeit weltweit, die ich zu beschreiben und zu verwirklichen suchte (siehe Textteil, S. 246 ff.). Wurde ich damit verstanden? Nicht so, wie ich es erhoffte, aber immerhin wurde ich nicht daran gehindert, viele neue Projekte auf den Weg zu bringen. Darin wurde ich von Bundeskanzler Helmut Schmidt - wie er beim Abschied am 22. September 1982 bestätigte nachdrücklich unterstützt. Doch auch die Jahre seither, die ich als »einfache« Abgeordnete erlebte, möchte ich nicht missen. Es ist, als ob ich alles, was ich an politischen Erfahrungen in fast vierzig Jahren gesammelt habe, noch einmal einbringen und aktivieren könnte. Zwar läßt unser Verständnis für die Bedeutung politischer Kultur seit der politischen »Wende« schmerzlich zu wünschen übrig (Textteil, S. 188ff.). Aber die Gefährdungen bieten auch Chancen der Aufarbeitung und Bereinigung. Die Suche nach demokratischer Kultur muß weitergehen. Dafür steht mein wahrscheinlich letzter Anlauf zur Stärkung und Festigung unserer durch frei gewählte Parlamente repräsentierten Demokratie. Es ist die Initiative zur Parlamentsreform (siehe Textteil, S. 262ff.), die sich aus meinem Piper-Büchlein »Der Politiker und sein Gewissen« entwickelt hat. Über vier Jahrzehnte hat die Verheißung des 126. Psalms mein politisches Denken und Handeln begleitet und bestimmt. Sie scheint mir auch heute noch - über das Persönliche hinaus eine richtungweisende Anleitung für das Verständnis unserer demokratischen Kultur zu sein: Wir Deutschen müssen bereit sein - mutig und demütig zugleich -, mit Tränen zu säen, bevor uns erlaubt ist, mit Freuden zu ernten und unsere Garben zu bringen.

2. Die nicht erkämpfte Demokratie

Bis zu meiner ersten Begegnung mit Theodor Heuss im Oktober 1946 traf ich keinen Deutschen, der mir (selbst wenn er kein Nazi gewesen war) die positiven Ansätze der Weimarer Republik und ihre Fortschreibung in eine Nach-Hitler-Zeit beschreiben konnte, geschweige denn einen, der von einer solchen Fortschreibung überzeugt gewesen wäre.
Ich kann mich noch gut erinnern, wie wenig überzeugte und überzeugende Demokraten sich in diesen ganz frühen Jahren überhaupt zu Wort meldeten. Das wurde zusätzlich dadurch erschwert, daß es ja zunächst überhaupt keine, dann nur zwei- oder dreimal wöchentlich und schließlich nur hauchdünne und auflagenschwache Zeitungen gab, deren Verbreitung zudem auf die eigene Stadt, höchstens auf die eigene Besatzungszone begrenzt war. Die Anfänge unserer Demokratie standen also unter fast hoffnungslosen Vorzeichen. Während sich der äußere Zustand noch beschreiben und auf Fotos oder Filmen besichtigen läßt, spottete der innere Zustand, in dem sich die Deutschen damals befanden, jeder Beschreibung. Damals waren wir natürlich nicht imstande, uns mit diesem Zustand wirklich auseinanderzusetzen, aber es gehört zu unserer über vier Jahrzehnte bis heute mitgeschleppten Verkrampfung, daß wir (bis auf wenige Ausnahmen und Gelegenheiten) nicht genügend Mut aufgebracht haben, uns über das Ausmaß unserer inneren Katastrophen wirklich klarzuwerden. Die »Abrechnung« mit uns selbst haben wir jedenfalls nicht ausreichend aus eigener Kraft besorgt, und es schaudert mich noch heute, wenn ich mir vorstelle, was aus uns politisch geworden wäre, wenn die westlichen Besatzungsmächte den Demokratisierungsprozeß nicht angeordnet und schrittweise vollzogen hätten - unterstützt von den wenigen Demokraten aus der Weimarer Republik, die übriggeblieben waren, und von bewährten Antinazis ich nenne nur Theodor Heuss, Carlo Schmid, Konrad Adenauer.
Politisch oder rassisch Verfolgte, Angehörige von Naziopfern, Überlebende aus KZs und aus der Emigration Zurückgekehrte erhielten von den Siegern zwar bestimmte Privilegien zugesprochen, doch darüber hinaus wurden sie (bis heute?) in die »Schicksalsgemeinschaft« Nachkriegs-Deutschlands oft nur zögernd aufgenommen. Viele von ihnen haben Todesängste und Quälereien niemals verkraftet. Wiedergutmachung an diesen Gruppen und an einzelnen ist - im Vergleich zu anderen Kriegsfolgeleistungen - bis heute kein strahlendes Kapitel unserer Nachkriegsgeschichte. Ich habe mich dieser Diskrepanz oft geschämt und versucht, dagegen anzugehen.
Die alliierten Siegermächte verordneten und beaufsichtigten bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten im September 1949 die Entnazifizierung. Sie erwies sich alsbald als ein Schlag ins Wasser, sowohl was etwaige »Gerechtigkeit« bei der Beurteilung nationalsozialistischer Überzeugungen und Verhaltensweisen, als auch was ihren erzieherischen Nutzen betraf! Man muß sich außerdem vorstellen, daß ja im Nachkriegs-Deutschland nichts in Gang gekommen wäre - weder die lebenswichtigen örtlichen Verwaltungen noch alle übrigen Versorgungsdienste vom Krankenhaus bis zur Schule, vom Rundfunk bis zur Kirche, vom öffentlichen Verkehr bis zur Postzustellung wenn man alle nominellen und tatsächlichen Nazis konsequent - wenigstens für einige Zeit - ausgeschaltet hätte.
Die Besatzungsmächte in der britischen und amerikanischen Zone waren sich über diese Zusammenhänge im klaren und versuchten ziemlich vernünftig, das damals Bestmögliche aus der desolaten, politischen Ausgangslage zu machen: einerseits das Häuflein aufrechter und erfahrener deutscher Demokraten nach Kräften zu unterstützen und nach und nach in wichtige Positionen zu bringen und andererseits die schwersten Fälle von Naziverbrechen vor Gericht zu stellen. Spätestens seit der Währungsreform ging es dann mit der formalen Entnazifizierung zu Ende. Die eigentliche Auseinandersetzung unter uns Deutschen entfachte sich erst viel später zögernd, gelegentlich heftig, immer wieder schmerzlich, an Einzelfällen wie Globke und Oberländer, den Kultusministern Maunz (Bayern) und Schlüter (Niedersachsen), oder anläßlich von Neugründungen rechtsradikaler Gruppen, von Kameradschaftstreffen ehemaliger SS-Verbände und von »anstößigen« Gedenktagen, wie wir es am 8. Mai 1985 erlebt haben.
Wie wenig die von den Siegermächten angebotene Demokratie von uns bis weit in die fünfziger Jahre gewollt und akzeptiert wurde, zeigen die ersten Umfragen des Allensbacher Instituts aus der Zeit nach der Währungsreform:

  • Noch 1948 gaben nur 26% der Deutschen zu, dem Nationalsozialismus 1933 ablehnend gegenübergestanden zu haben (41% zustimmend und 27% gleichgültig).
  • 1949, kurz vor der Gründung der Bundesrepublik, gaben 40% der Befragten an, daß ihnen »das Grundgesetz gleichgültig« sei, nur 21% waren interessiert.
  • Noch 1951 kannte es gerade die Hälfte der Bundesbürger (51%). 32% gaben an, daß es besser sei, wieder einen Kaiser oder König zu haben (ein Drittel lehnte diesen Gedanken ab, 32% waren gleichgültig).
  • 43% der befragten Jugendlichen gaben 1947 an, »ziemlich wenig« an Politik interessiert zu sein, 23% überhaupt nicht, 25% neben anderen Interessen, und nur 2% nannten Politik als Hauptinteresse.
  • Noch 1948 hielten 57% der Befragten den Nationalsozialismus für eine »gute Idee«, die nur »schlecht ausgeführt« wurde. 15% waren unentschieden, und nur etwas mehr als ein Viertel fanden ihn »keine gute Idee«.
  • Auch die Umfrageergebnisse zum Antisemitismus sind kein Ruhmesblatt der Nachkriegszeit. 1952 gaben nur 24% der Befragten an, daß dieser abgenommen habe, 20%, daß er gleich geblieben sei, und 14%, daß er sogar zugenommen habe. Der Rest war... Schweigen.

Erst mit dem Wirtschaftswunder nahmen bei den Bundesbürgern die Zustimmung zur Demokratie und das Interesse an Politik zu.
Keinesfalls war es also so, daß die überwiegende Mehrzahl der Deutschen nach 1945 eine Demokratie erkämpfen wollte oder konnte, und nur daraus läßt sich erklären, daß von damals bis heute ein spürbarer Riß durch das politische Bewußtsein der Kriegs- und Nachkriegsgeneration geht. Das Betäuben- und Verdrängenwollen war die Regel. Das Aushalten- und Aufarbeitenkönnen erwies sich als Ausnahme. Dazu waren die Nachkriegsdeutschen auch zu unpolitisch - sie hatten sozusagen die Nase voll und wollten nichts anderes, als sich aus der äußeren Misere herausarbeiten.
Soviel jedenfalls steht für mich fest: Ohne den materiellen, politischen und auch moralischen Rückhalt der Alliierten, denen wir die eigentlichen Startbedingungen für unsere demokratische Entwicklung zu verdanken haben, wäre der Demokratisierungsprozeß sicher viel problematischer verlaufen.
Vergessenwollen durch Verdrängen des Geschehens zwischen 1933 und 1945, das hieß auch, in Schule und Elternhaus den Kindern keine oder wenig Aufklärung und Informationen zu geben über das Geschehen in dieser Zeit. Dieses Verschweigen miterlebter Geschichte setzte sich bis in unsere Tage fort. Wenn man heute mit jungen Menschen spricht und sie fragt, was sie über die politischen Bedingungen, unter denen unsere Demokratiewerdung nach 1945 stand, und über die ersten Nachkriegsjahre wissen, dann sind ihre Kenntnisse meist gleich Null. Alles, was sie erfahren haben, beschränkt sich auf die quasi-heroische Geschichte des äußeren Wiederaufbaus - vom Elend der Besatzungszeit zum selbstgeschaffenen Wirtschaftswunder. Wenn es das Fernsehen nicht gäbe und seine großen aufklärenden Serien, die nachfolgenden Generationen wüßten so gut wie überhaupt nichts über die Nazi- und über die Nach-Nazizeit. So hat erst ausgerechnet die Hollywood-Serie »Holocaust« die Gewissen wachgerüttelt.
Es ist für mich deshalb eine natürliche Folge dieser Kommunikationssperre zwischen den Generationen, daß die Bundesrepublik der sechziger und siebziger Jahre von politischen Generationenkonflikten erschüttert wurde und daß sich dies - mal latent, mal eruptiv - auch weiter fortsetzen wird, falls wir diesen Konflikt nicht endlich wirklich offenlegen und austragen. Auch die Existenz der Grünen, der alternativen und sozialen Bewegungen, einschließlich der Friedensbewegung sowie deren antagonistische Haltung zu den »etablierten« Parteien sind letztlich damit zu erklären.
Für eine Überwindung der »Kontaktsperre« zwischen den Generationen gäbe es nach meiner vierzigjährigen Erfahrung drei Grundvoraussetzungen:

  • Wir müssen mit unserer Geschichte ins reine kommen.
  • Wir müssen den demokratischen Stil ändern.
  • Wir müssen junge Menschen befähigen und ermutigen, sichdiese Demokratie
    durch eigenes Engagement wirklich zu eigen zu machen.

Wir sind den jeweils nachwachsenden Generationen in diesen vierzig Jahren sehr viel schuldig geblieben: zuerst und vor allem politische Ehrlichkeit - das vorbildstiftende eigene Beispiel - und Offenheit für ihre Identifikationsprobleme...
Wenn ich an die Nachkriegsjahrzehnte und die vielen versäumten Chancen zurückdenke, dann möchte ich bewußt pointiert zusammenfassen: Wir haben unsere Demokratie bis heute nicht erkämpft! Auch hat es an eigenen Kräften gefehlt, einen konsequenten Prozeß der Selbstreinigung in Gang zu setzen und durchzuhalten. Hier muß auch in Zukunft vieles nachgeholt, vielleicht sogar erkämpft werden. Sicher mag es richtig sein, was mein politischer Ziehvater, Theodor Heuss, mir einmal tröstend nach Ende seiner Amtszeit sagte: daß nicht nur wir Deutschen, sondern daß wohl jedes Volk damit überfordert gewesen wäre. Gerade deshalb aber sei es so wichtig, daß sich einzelne mit diesem Zustand nicht abfinden und daß sie versuchen, das politische Gewissen wachzuhalten, um damit wenigstens die Gemeinschaft vor Rückfällen und neuen Irrwegen zu bewahren.

3. Auswahl und Anordnung der Texte

Mit der Auswahl und thematischen Ordnung der Texte habe ich den Versuch unternommen, eine Art »Spurensicherung« unserer Demokratiewerdung nach 1945 vorzunehmen. Das heißt, ich möchte es meinen Lesern (vor allem den jüngeren) mit dieser Anordnung erleichtern - wenigstens indirekt -, Zugang zu einem besseren Verständnis der innerdemokratischen Zeitabläufe von 1945 bis heute zu finden. »Indirekt« bedeutet hier die Einschränkung, daß die ausgewählten Texte, die ja meist nur für einen bestimmten Augenblick gedacht und geschrieben wurden, im einzelnen oft gar nicht mehr sein können als Schlaglichter auf die Probleme unserer demokratischen Kultur.
Eine objektive oder gar eine umfassende Darstellung der Entwicklung und Probleme unserer demokratischen Kultur können die Texte natürlich nicht ergeben und wollen es auch nicht. Einen Beitrag aber - meinen Beitrag - wollte ich dazu leisten. Vielleicht provoziert gerade meine persönliche Betroffenheit und »Besessenheit« - im Sinne der Identität zwischen persönlichen und politischen Überzeugungen - bei meinen Lesern Reaktionen wie Nachdenklichkeit, Widerspruch, Zustimmung... Vielleicht setzen diese dann eine bisher versäumte Auseinandersetzung über diese sträflich, ja unverantwortlich vernachlässigte Dimension unserer Demokratie in Gang. Indem ich das niederschreibe, wünsche ich es mir sehr.
Den beiden Hauptteilen und den einzelnen Kapiteln habe ich zum besseren Verständnis jeweils eine »Rückblende« aus heutiger Sicht vorangestellt. Die Einzelbeiträge folgen dann in der Regel in chronologischer Reihenfolge. Mehr oder weniger starke Kürzungen waren dabei unvermeidlich. Die Quellennachweise - zum Verständnis des jeweiligen zeitlichen Zusammenhangs, in dem die Texte entstanden sind, besonders wichtig finden sich in einer Fußnote zu Beginn jeden Textes. Das Namenverzeichnis gibt Kurzinformationen zu wichtigen Personen.
Herzlichen Dank schulde ich Frau Dr. Heidi Bohnet und Dr. Klaus Stadler, die mir bei der Auswahl und Zusammenstellung
der Texte entscheidend geholfen haben, außerdem meiner jungen Mitarbeiterin Marion Mayer für ihre engagierte Zuarbeit.