Einführung
Das erste Kapitel enthält Beiträge zur politischen Trauerarbeit aus vier Jahrzehnten:
- beginnend bald nach dem Ende der Hitlerzeit, als sich bereits wieder alte und neue Nazitendenzen bemerkbar machten, mit denen ich mich bei unterschiedlichen Anlässen auseinandersetzte (Ziffern 2 -5);
- in den fünfziger und sechziger Jahren engagierte ich mich für einen klaren Kurs der Einsicht, der Wiedergutmachung und Versöhnung gegenüber allen Opfern der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft (Ziffern 6, 7, 9, 11);
- als nun altgediente Politikerin versuche ich bis heute immer wieder, nachwachsenden Generationen die Zusammenhänge zwischen unserer politischen Gegenwart und unserer jüngsten Geschichte mit ihren fortwirkenden Folgen bewußt zu machen (Ziffern 1, 8, 10).
1. Erinnerung an den 8. Mai 1945[2]
Alle reden vom 8. Mai
...Das gehört derzeit einfach zum guten politischen Ton. Aber Zwischentöne schaffen Mißklänge, und es geht dabei so parteilich zu wie bei der Diskussion um irgend etwas Beliebiges -wie Steuerreform, Scheidungsfolgenrecht, Wirtschaftswachstum etc. Da wird abtaxiert: War das Gefühl der Niederlage stärker als das Gefühl der Befreiung? Welche Verluste waren beklagenswerter: die eigenen oder die, die wir anderen zugefügt haben? Die einen finden einen ökomenischen Gottesdienst richtiger - die anderen »stilles Gedenken«. Oft hat es den Anschein, als schiele jeder nur auf seine Klientel, statt den »harten Kern« dieses Ereignisses herauszuschälen. Hoffentlich verplempern wir die Gelegenheit nicht, um unsere fortwirkende Betroffenheit zu bedenken und zu bekennen! Dauernd werde ich nach meinen Erinnerungen an den 8. Mai 1945 gefragt. Damals - knapp 24jährig - habe ich tatsächlich Tagebuch geführt. Ein paar Sätze aus dieser Zeit stimmen mich ein:
»15. April 1945. Der Krieg ist im Land bis zur Elbe, über die ich noch vor 14 Tagen verweint und stumpf vor Schmerz fuhr, bis Leipzig, wo ich die Brüder weiß. Diese Reise war ein unvergeßliches Erlebnis für mich. - Nachts fuhr ich durch Deutschland >in den letzten Zügen< - hinauf in den Norden und immer vor mir, heller als alle anderen Sterne, der Abendstern... überall aber dieses Elend. Die nächsten Wochen werden die Entscheidung bringen. - Wir gehen unter, weil es diese Führung will ihr Untergang soll auch der unsere sein - vielleicht will es auch Gott...
22. April 1945. Die nächsten Tage müssen die Entscheidung bringen. 3/4 Deutschlands ist von Amerikanern, Russen, Engländern oder Franzosen besetzt. -Jede Stadt wurde >bis zum letzten Mann< verteidigt - der Sturm auf Berlin hat begonnen. - Das Unglück wächst wie eine Lawine, die rollt und rollt - immer schneller. Ich bin arbeitsunfroh, unentschlossen und voll Unruhe. Ich röste Brot für die Hungersnot, packe meine Sachen, weil es dem Verteidigungskommissar von Starnberg eingefallen ist, vor meinem Fensterchen eine Panzersperre zu errichten... Wie ich hoffe, daß nun alles besser wird!
17. Mai 1945. Das Gesetz, unter dem sich unser Leben entwickelte, gibt es nicht mehr. Der Spuk der 12 Jahre ist vorbei - wie eine Seifenblase - nein... wie ein unendlich häßliches, drückendes Gebilde! - Nur für Nazideutsche konnte es etwas Schillerndes, Vielversprechendes sein... Das große schwere Schicksalsrad hat sich endlich gedreht. Wieviel Kraft hat das gekostet. Manchmal schien es, als sei ein Haken über die Speichen geschlagen, so wenig schien es sich zu drehen. Als die ersten amerikanischen Panzer an meinem Fensterchen vorbei rollten, war ich unendlich froh...«
Geht es heute, 1985, nicht darum, wieder neu zu erfassen, was wir anderen - und damit uns selber - angetan haben: Juden und Christen, politisch anders denkenden, -schreibenden, -malenden, -musizierenden, -forschenden, -lebenden, -sprechenden Menschen aller europäischen Nationen. Nicht zu vergessen die geistig Behinderten, die Zeugen Jehovas, die Homosexuellen und die Zigeuner... Neu zu erfassen, wie dies alles bis heute weiter wirkt und auch künftig weiter wirken wird! Nein, dieser 8. Mai 1985 ist kein Gedenktag wie irgendein -anderer. Aber sind wir nicht schon dabei, ihn zu zerreden? Wochenlang streiten wir darüber, ob »Schlesien noch unser ist« ob der Kanzler gerade noch/oder lieber doch nicht mehr zum Treffen hingehen soll und wenn ja, wie offen die deutsche Frage ist. Den Flick- und Parteispendenskandal und welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, haben wir darüber schon fast wieder vergessen. So hat es den Anschein, als ob uns die Gunst von Vertriebenenfunktionären wichtiger sei als die junger Menschen, die den Parteien in Scharen davonlaufen. Und daß mancherlei Rücksichtnahme auf Ewig-Gestrige wichtiger sei als eine gültige Klarstellung der Ursachen der deutschen Katastrophe.
Dieses Wischiwaschi schadet uns! Uns selber und unserem Ansehen! Wir müssen uns doch nach vierzig Jahren zutrauen (und getrauen!), die schweren Hypotheken, die auf unserer Demokratiewerdung seit 1945 liegen, klar zu erkennen und auch zu benennen. Dabei darf das Erinnern an den 8. Mai 1945 keinesfalls auf das schreckliche Ende des Krieges und der Naziherrschaft verengt werden.
Ich wünsche mir einen 8. Mai 1985, an dem wir aussprechen, wie es zum 8. Mai 1945 kommen konnte, kommen mußte. Das ist für mich der harte Kern dieses Schicksalstages, der Weimar und Bonn aneinander kettet. Weil Hitler kein Betriebsunfall unserer Geschichte war, sondern weil er von der großen Mehrheit des deutschen Volkes gewählt, gewollt, bejubelt und ihm Gefolgschaft geleistet wurde, deshalb mußten wir - wie Theodor Heuss es tapfer formulierte - vernichtet werden. Wir mußten vernichtet werden, weil wir uns aus eigener Kraft nicht von ihm befreien konnten.
Es lohnt sich, Theodor Heuss ganz zu zitieren (und bitte richtig, Herr Bundeskanzler), was er anläßlich der Verabschiedung des Grundgesetzes - genau vier Jahre später - am 8. Mai 1949 gesagt hat: »Dieser 8. Mai bleibt die tragischste und fragwürdigste Paradoxie unserer Geschichte - weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind.« Heuss sagt bleibt, und nicht: war. Eben deshalb ist Schlesien nicht mehr unser und die deutsche Frage nicht mehr offen. Eben deshalb wird die Frage nach unserer demokratischen Zuverlässigkeit (nicht nur im Osten, sondern auch im Westen) immer wieder gestellt. Eben deshalb müssen wir jede leichtfertige Kraftmeierei vermeiden und auch die »Auschwitz Lüge« unter Strafe stellen. Wenn ich mein Tagebuch von vor vierzig Jahren noch einmal lese, fühle ich wie damals: Wir dürfen nicht versäumen, unsere fortwirkende Betroffenheit zu bedenken und zu bekennen.
2. Orden und Verdienste[3]
... Jeder muß mit dem Trümmerhaufen aufzuräumen beginnen, der ihm am nächsten liegt. Wir müssen Lüge, Unehrlichkeit und Betrug erkennen und versuchen gegen sie anzugehen zuallererst bei uns selber und in uns selbst. Dazu gehört viel Mut, Tapferkeit, Ausdauer und Verzicht. Ich scheue, Worte zu wählen, die mit den im Dritten Reich so großzügig konzessionierten den Klang und die Buchstaben gemeinsam haben. Darf ich zwei Beispiele geben, die ganz klar demonstrieren, was ich für Mut halte und was nicht? In den Semesterferien des Sommers 1942 wurden alle Medizinstudenten der Münchner Studentenkompanien an die Ostfront geschickt. Hans Scholl, Alexander Schmorell, Willi Graf und ihre Freunde waren darunter. Nach achtwöchigem »Fronteinsatz« fuhren sie zum Semesterbeginn wieder zurück. Bei einem Aufenthalt sahen sie, wie SS-Männer auf gefangene Russen einschlugen, die vor Entkräftung nicht schnell genug arbeiten konnten. Alexander Schmorell sprang aus dem Wagen, stieß den Wachtposten nachdrücklich beiseite und gab den Gefangenen seine Zigaretten. Dieses Zwischenspiel erregte alle Zuschauer - und später die gesamte Münchner Jugend ungeheuer. Es muß leider gesagt werden, daß alle, bis auf einen kleinen Kreis Gleichgesinnter, die Handlungsweise Alexander Schmorells ablehnten - so stark standen sie unter dem Einfluß der Propaganda. Eindreiviertel Jahr später - Hans und Sophie Scholl, Christoph Probst, Willi Graf, Professor Huber und einige andere waren verhaftet, Alexander Schmorell als flüchtiger Verbrecher steckbrieflich verfolgt - wurde die Münchner Studentenschaft zu einer »spontanen« Protestkundgebung in den großen Hörsaal der Universität befohlen, damit sie geschlossen die Todesstrafe für alle Beteiligten fordere.
Am darauf folgenden Tage traf ich zwei gute Bekannte der Verurteilten, Angehörige der Studentenkompanien, ausgezeichnet mit den Eisernen Kreuzen und anderen Tapferkeitsmedaillen. Bleich und verstört erzählten sie mir von der Kundgebung, von der fernzubleiben sie nicht den Mut hatten, sie fühlten sich beobachtet, von Spitzeln umgeben, sie hatten sogar mit gerufen, als der Studentenführer sie zur Willenskundgebung aufrief... Aus allem, was wir als junge Menschen gesehen, gehört und erlebt haben, ergibt sich notwendig die Erkenntnis, daß die empfindsamsten menschlichen Empfindungen und Regungen, die in dieser oder jener Erscheinungsform sichtbar werden können, von »Staats wegen« nie mehr gelobt, getadelt, gezüchtigt oder ausgemerzt werden dürfen. Erinnern wir uns doch: Für bewiesene Liebe wurde das Mutterkreuz verliehen, für »staatspolitisch wertvolle« Leistungen der Professorentitel, für die erfolgte Aufopferung das Staatsbegräbnis. Für Mitempfinden, Nächstenliebe, Güte und Hilfsbereitschaft gegen den wehrlosen Feind aber gab es Verschleppung, KZ und Gaskammer. Aus diesen Erfahrungen und Tatsachen sollen nun bleibende Einsichten werden, die uns bei allen zukünftigen Entscheidungen leiten können. Diese furchtbaren Einsichten können für uns alle fruchtbar werden - auch für die unter uns, die ihr Gewissen immer noch damit beruhigen, nichts als »ihre Pflicht getan« zu haben und keine Schuld zu tragen. Schuld trifft uns alle - wie Gott den Regen über Gerechte und Ungerechte schickt -, aber das Schuldkonto jedes einzelnen ist noch nicht abgeschlossen und wird es so lange nicht sein, als wir Verantwortung für die Folgen tragen, und die wird währen so lange als wir leben...
3. Kein Recht mehr auf Irrtum![4]
Es ist, glaube ich, ein angelsächsischer Brauch, in Wahlzeiten Kandidaten verschiedener politischer Richtungen zusammenzubringen, um sich einmal fern der dicken Luft von Parteiversammlungen, ein Urteil über Persönlichkeiten, Aussichten und Ziele verschiedener Parteien und Gruppen zu schaffen. Ähnlich geschah es vor den jüngsten bayerischen Gemeindewahlen, und ich hatte mancherlei Gelegenheit, mit Kandidaten-Kollegen aus allen politischen Himmelsrichtungen an runden oder eckigen Tischen zusammenzusitzen. Diese »neumodischen« Versammlungen waren übrigens durchwegs besser besucht als meine eigenen, und ich war recht froh über die Chance, nicht nur vor Mitmenschen zu sprechen, die sowieso schon wußten, was und wen sie wählen wollten. In diesen abendlichen An- und Aussprachen spiegelte sich aber auch klar und unerbittlich Glanz und Elend unserer unter so schwersten Bedingungen heranwachsenden Demokratie. Wer möchte von präsumptiven Stadtvätern und -müttern hören, wie sie Welt und Menschheit zu verbessern gedenken, wenn 600 Schulzimmer und 20000 Wohnungen fehlen, wenn kilometerlange Straßen darauf warten, geflickt zu werden, und zunehmende Verwaltungskosten den ohnehin strapazierten Steuerzahler beunruhigen und verärgern? Wer glaubt schon, daß es von entscheidender Bedeutung ist, ob die Straßen mit CSU-, FDP oder SPD-Steinen gepflastert werden, wenn sie nur überhaupt in Ordnung kommen? Was in aller Welt sollen Wähler von Versprechungen halten, die zu verwirklichen eines mehr als hundertfach größeren Steueraufkommens bedürfte, als die Gemeinde aufzubringen vermag? »Es wird nie so viel gelogen wie... nach einer Jagd und vor einer Wahl«, rief einmal ein kritischer Zuhörer gerade zur rechten Zeit. Und trotz allem - die Versammlungen verliefen, bis auf einige wenige Ausnahmen, zur Zufriedenheit aller Anwesenden.
Über diese Ausnahmen allerdings sollte offen und verantwortungsbewußt gesprochen werden. Unter den geladenen Kandidaten stellten sich nämlich gelegentlich auch solche frank und frei als das vor, was sie 1945/47 niemals gewesen sein wollten, als Nationalsozialisten nämlich, als Parteimitglieder ab dann und dann, Altpartei, SA-, SS-Führer, fördernde NS Ehrenmitglieder hier und dort - ich habe mir nicht alles merken können. Zunächst hatte ich es mir auch gar nicht merken wollen, denn es ist meine tiefste Überzeugung, daß das Recht auf menschlichen Irrtum im allgemeinen und das Recht auf politischen Irrtum im besonderen zu den unentbehrlichen Menschenrechten gehört. Heute ist es wohl zu spät festzustellen, daß man das Recht auf politischen Irrtum als einzig realistischen Grundsatz und allein praktikablen Leitsatz für eine mögliche Entnazifizierung hätte akzeptieren können, aber keineswegs etwa zulassen dürfte, daß die Betroffenen mit ihrer Naivität, mit unverwüstlicher Frechheit die demokratische Staatsform auf Schritt und Tritt verhöhnen. Es sind die gleichen, die seit dem Zusammenbruch keinen Finger für die Allgemeinheit gerührt haben, die man vergeblich in Bürgerausschüssen oder bei ehrenamtlicher wohltätiger Arbeit suchte, die nichts eingesehen, nichts bereut, geschweige denn, etwas hinzugelernt haben. Sie können sich in aller Ruhe sammeln und formieren, niemand krümmt ihnen ein Haar, weil wir in einem demokratischen Rechtsstaat leben und sie den Schutz und die Freiheiten für sich beanspruchen dürfen, die sie seinerzeit nicht einem einzigen ihrer Gegner zubilligten. Und trotzdem ist es gut, daß es so gekommen ist. Die Demokraten von rechts bis links können endlich aufatmen! Sie sind von dem Vorwurf befreit, unversöhnlich zu sein, es besteht keine Gefahr mehr, denen Unrecht zu tun, die bereit sind, ihren politischen Irrtum - und sei es auch nur im allerstillsten Kämmerlein - zu erkennen und einzusehen. Die politische Gewissenserforschung der Vergangenheit ist überflüssig geworden vor den alltäglichen Bekenntnissen der Gegenwart.
Endlich sind die demokratischen Kräfte in der Lage, sich mit dem Nationalsozialismus Aug' in Auge auseinanderzusetzen. Wer sich heute zu den neuen alten Ideen bekennt oder wieder bekennt, wer den einschlägigen Parteien oder Gruppen beitritt, ist dieses Mal politisch voll verantwortlich, er hat das Recht auf politischen Irrtum ein für allemal verwirkt. Es ist ein Grundfehler mancher Demokraten und demokratischer Parteien zu glauben, daß es durch gewisse Konzessionen gelingen könnte, den Nationalsozialismus in das zwar weite, aber dennoch klar begrenzte politische Spiel- und Wirkungsfeld demokratischer Kräfte mit einzubeziehen. Es wäre ein abermals verhängnisvoller Irrtum, und wir müssen gerade in dieser Frage mit dem zaghaften Wischiwaschi der letzten Jahre aufhören und unsere politischen Ziele und Absichten so klar und eindeutig formulieren, daß überhaupt nur Menschen, die ehrlichen demokratischen Willens sind, zu uns stoßen und sich zu uns bekennen können. Dabei ist die aus dem Osten drohende Gefahr kein Grund, ein oder gar beide Augen zuzudrücken; ganz im Gegenteil, hier gibt es kein kleineres oder größeres, hier gibt es überhaupt nur ein einziges Übel: die Totengräber des christlichen oder, säkularisiert ausgedrückt, demokratischen Abendlandes.
4. Zum 17. Juni (1959)[5]
Wir sind am Vorabend des 17. Juni zusammengekommen, um uns der verloren gegangenen Einheit unseres Volkes und unserer Heimat zu erinnern. Worüber soll man vor Studenten sprechen, die gelernt haben, nach der Wahrheit zu fragen nach nichts anderem als nach der Wahrheit? Sollen wir heute zu Ihnen von seiner Wirklichkeit sprechen oder von den Träumen und Illusionen des 17. Juni? Möchte man doch einmal im Jahr wenigstens so gern an all das glauben, woran man sonst so oft zweifelt und verzweifelt:
- an den aufrichtigen Willen aller Beteiligten, die Probleme des geteilten Deutschlands zu lösen,
- an ein unerschüttertes und unerschütterliches Zusammengehörigkeitsgefühl aller Deutschen,
- an Freiheitswillen und Opferbereitschaft des einzelnen und der Gemeinschaft.
- An all das möchte man doch einmal im Jahr glauben dürfen, davon möchte man sprechen.
Aber dürfen wir uns damit wirklich zufrieden geben? Ist es genug, wenn wir uns heute bemühen, mit Bekenntnissen - mit Lippenbekenntnissen - dieser Art das allgemeine Unbehagen, vielleicht auch ein schlechtes Gewissen, auf jeden Fall aber die unerbittliche Wirklichkeit zu übertönen. Ich glaube, daß die Feiern des 17. Juni nur dann einen aufrichtigen und aufrüttelnden Sinn haben, wenn wir nicht nur die Teilung Deutschlands beklagen und seine Wiedervereinigung fordern, sondern auch die Hindernisse und Schwierigkeiten erkennen, die das ersehnte Ziel so schwer erreichbar machen. Einmal dürfen wir nicht vergessen, weshalb es überhaupt zur Teilung Deutschlands kommen konnte. - Nicht etwa, daß wir diese Vorgeschichte als unverdauten Schuld- und Sühnekomplex mit uns herumtragen sollten, sondern ganz einfach deshalb, weil die Ursachen der Teilung auch ein gut Teil der Ursachen für die Schwierigkeiten einer Wiedervereinigung sind: Es besteht Angst vor einem wiedervereinigten Deutschland - und nicht etwa nur bei den Russen, sondern mindestens ebenso sehr bei den Franzosen und Engländern, gelegentlich sogar bei den Amerikanern. Darüber dürfen uns auch keine militärischen Bündnisse und Partnerschaften hinwegtäuschen. Die zweite Sorge ist das Ausmaß, in welchem sich die beiden Teile Deutschlands in den letzten vierzehn Jahren auseinander gelebt haben. - Ich meine nicht nur politisch und wirtschaftlich, das läßt sich zur Not alles reparieren, sondern ich meine vor allem menschlich. Die bei uns weit verbreitete Einstellung gegenüber den »armen Verwandten« aus der Zone, denen man nur unsere Schaufenster zu zeigen braucht, damit sie uns bewundern und beneiden, ist irrig. Immer häufiger spürt man in Gesprächen und Briefen eine wachsende Skepsis gegenüber den politischen, gesellschaftlichen und menschlichen Verhältnissen in der Bundesrepublik. Und damit komme ich zu der dritten Tatsache, daß es nicht richtig und außerdem überheblich ist, wenn wir uns a priori als die Stärkeren und Überlegeneren dünken. Welch eine Illusion zu glauben, daß alle nichtkommunistischen Bewohner der Zone unbedingt unsere derzeit praktizierte Lebens- und Gesellschaftsform ersehnen und herbeisehnen. In dem Maße, als sich drüben die materiellen Verhältnisse bessern und sich bei uns vor allem das menschlich mitmenschliche Klima im politischen und außenpolitischen Bereich verschlechtert, wird die ursprünglich künstlich geschlagene Kluft der Teilung zu einem Abgrund, der nicht mehr allein durch das selbstverständliche Zusammengehörigkeitsgefühl, unsere gemeinsame Sprache und die gemeinsamen Wurzeln unserer Kultur und Geschichte überbrückt werden kann. Deshalb wohl, und das ist die vierte Sorge, ist es so schwer, durch die Jahre und die Gewöhnung ein wirklich aufrichtiges Verständnis und Gefühl für unsere »Brüder und Schwestern« in der Zone wachzuhalten und in heranwachsenden jungen Menschen wach zurufen - Es ist wie bei einer Familie, die, über Jahre voneinander getrennt, in völlig verschiedenen Welten lebt. Auch die bestgemeinten Beteuerungen können ein allmähliches Auseinanderleben und Entfremden nicht aufhalten. -Um wie vieles mehr bei den doch sehr viel lockereren Bindungen eines Volkes! Dies alles wäre leichter durchzuhalten, wenn nicht die fünfte und sicherlich bitterste Tatsache die ist, daß die Chancen für eine politische Wiedervereinigung so außerordentlich gering sind. Außer der Angst vor einem wiedervereinigten und wieder erstarkten Deutschland können sich weder der Westen noch der Osten dazu entschließen, »ihren Teil Deutschlands« preis zugeben, nicht nur, weil sie damit einen zuverlässigen Vorposten ihres Machtbereichs verlören, sondern weil sich damit das Kräfteverhältnis zwischen Ost und West verschieben müßte. Eine Wiedervereinigung aber ohne den Schutz des Westens stellt für uns ohne Zweifel ein Wagnis und einen Weg ins Ungewisse dar.
Es ist wohl heute die schwerste Entscheidung für einen Politiker, ob er die relative Sicherheit eines geteilten Deutschlands im Schutze der westlichen Großmächte diesem Wagnis einer Wiedervereinigung vorzieht. Man kann niemanden dafür schelten, daß er den einen oder den anderen Weg vorzieht und sich klar zu ihm bekennt. Schelten kann man nur die, die uns immer wieder weismachen wollen, man könne beides haben. Ich weiß, diese Alternative ist grausam, aber sie ist doch eine Tatsache. Diese grausame Alternative ist es auch, die für viele von uns den 17. Juni so problematisch macht, ganz gleich, welcher politischen Meinung wir zuneigen. Im Grunde kann - realpolitisch gesehen - die Rechnung der Festredner nicht aufgehen, so schmerzlich und ehrlich der einzelne auch darum bemüht sein mag.
Was aber, so werden Sie abermals fragen, hat dann der 17. Juni für einen Sinn für alle die, die diese bitteren Tatsachen kennen und dennoch nicht aufhören wollen, an ein »unteilbares Deutschland« zu glauben? Da gibt es meiner Ansicht nach im Augenblick für uns zweierlei zu tun:
Erstens: das Band des Menschlichen nicht abreißen lassen, wenn die Gegensätze auch noch so groß sein mögen - es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die sich nicht von Komitees organisieren lassen, und dazu gehört die Überwindung der Trägheit des Herzens; zweitens: dafür zu sorgen und zu arbeiten, daß sich unsere demokratische Staatsform in Theorie und Praxis auch wirklich als die stärkere und überlegenere und widerstandsfähigere gegenüber der Diktatur des Ostens beweist und bewährt. Hier bleibt so gut wie alles zu tun übrig. Es besteht die Gefahr, daß der Mangel an demokratischer Gesinnung, an Bürgersinn und politischem Verantwortungsgefühl zum zweiten mal unsere formal perfektionierte demokratische Ordnung in sich selbst verkümmern läßt. Wenn es richtig ist, daß der Führer der Regierungspartei unsere freiheitliche Staatsform letztlich so interpretiert, daß man den Andersdenkenden - also die Opposition - am besten damit überwindet, daß man ihm »eins mit einem nicht sehr harten Holzhammer auf den Kopf gibt« - wie es Bundeskanzler Adenauer kürzlich formulierte -, dann darf man sich eigentlich nicht wundern, wenn die Abneigung gegen Politik und Politiker, gegen Parteien, Wahlen und Parlamente in weiten - und nicht in den unbedeutendsten Kreisen unserer Bürger wächst! Aber darüber hinaus schadet jedes Versagen demokratischer Institutionen, jeder Verstoß gegen ihre Spielregeln dem demokratischen Ansehen nicht nur bei uns, sondern vor allem bei denen, die wir doch von der politischen, gesellschaftlichen und moralischen Überlegenheit der westlichen Welt überzeugen wollen. Das gilt es zu bedenken! Hier liegt die Aufgabe für alle demokratisch gesonnenen Menschen im freien Westdeutschland.
Hier liegt das Gemeinsame, nach dem wir oft so verzweifelt Ausschau halten, und die Bewältigung dieser Aufgabe scheint mir auch die wirksamste und erfolgversprechendste Form des Antikommunismus zu sein. Obgleich man auch in dieser Hinsicht recht entmutigt sein kann. Denn was segelt da heute nicht alles unter der Flagge des Antikommunismus in Ämter und Würden? Und wer preist sich nicht alles als »Retter der Freiheit« an? Sind dafür ehemalige und nimmermüde Nationalsozialisten wirklich prädestiniert? Nationalsozialisten, für die von Haus aus doch alle Demokraten »links« und damit kommunistisch sind? Oder sind es jene Vorkämpfer für eine »Abendländische Aktion«, die meinen, sie könnten des Kommunismus Herr werden, indem sie das Rad der Geschichte ein paar Jahrhunderte zurückdrehen; zurück bis zu jenen Zeiten, die man im Volksmund das »finstere Mittelalter« nennt. Bei uns und für uns sollte nur der als ein Gegner des Kommunismus gelten, der beweist, daß er ein guter Demokrat ist und in guten und schlechten Tagen zu dieser Staatsform sich bekennt. Hier sehe ich die Ansatzpunkte, dem 17. Juni nicht nur einen ideellen, sondern auch einen praktischen Sinn zu geben: Wir Deutschen, die wir das große Glück haben, in der Bundesrepublik zu leben, haben die Verpflichtung, das kostbare Geschenk der politischen und geistigen Freiheit stellvertretend für das ganze deutsche Volk zu hüten und zu mehren. Dann und nur dann wird das Wort von der »Wiedervereinigung in Freiheit« keine Phrase sein oder die Umschreibung für den Sankt-Nimmerleins-Tag, sondern ein konkretes Ziel, für das es zu leben und zu arbeiten lohnt!
5. Die Weiße Rose[6]
»Nichts ist eines Kulturvolkes unwürdiger, als sich
ohne Widerstand von einer verantwortungslosen
und dunklen Trieben ergebenen Herrscherclique
>regieren< zu lassen...
Wer von uns ahnt das Ausmaß der Schmach,
die über uns und unsere Kinder kommen wird,
wenn einst der Schleier von unseren Augen gefallen ist
und die grauenvollsten und jegliches Maß
überschreitenden Verbrechen ans Tageslicht treten?«
Mit diesen Sätzen beginnt die erste Folge der Flugblätter der »Weißen Rose«, die bereits im Sommer des Jahres 1942 von Hans Scholl und Alexander Schmorell verfaßt und vom engeren und weiteren Kreis der Münchner Widerstandsgruppe verbreitet wurde. Es folgten im Laufe des Jahres eine dritte und vierte Folge (der Inhalt der zweiten ist leider nicht erhalten) und schließlich am 18. Februar 1943 das von Professor Huber unter dem Eindruck der Katastrophe von Stalingrad verfaßte Flugblatt »Kommilitonen, legt die Waffen nieder«, das von Hans und Sophie Scholl in Tausenden von Exemplaren in einem Koffer in die Universität gebracht und dann in den Lichthof auf die zahlreich herumstehenden Studenten hinab geworfen wurde. In zwei großen Schauprozessen am 22. Februar und am 19. April unter dem Vorsitz des berüchtigten Blutrichters Freisler wurden sechs Todesurteile und elf mehr oder weniger schwere Freiheitsstrafen verhängt, weitere Hunderte von Studenten verhört, bespitzelt oder in ihrem Studium behindert.
All das liegt nun zwanzig Jahre zurück, und manchmal möchte man meinen, es seien Jahrhunderte seither vergangen. Zwar sind die »Geschwister Scholl« für idealistische junge Menschen zu einer Art Legendengestalt geworden. Aber es gibt nur noch ganz wenige Menschen, die über die damaligen Vorkommnisse Bescheid wissen und imstande wären, das Leben und das Sterben dieser Menschen als eine politisch-sittliche Verpflichtung in allen verantwortlichen Bürgern unseres Landes wachzuhalten. Wer war das, dieser Kreis um die Geschwister Scholl, und was wollte er? - Keinesfalls eine Gruppe politischer Verschwörer, sondern eher ein Freundschaftsbund. Keiner der Freunde war politisch gründlich geschult; hinter ihnen stand keine der sonstigen Untergrund Parteien oder -Gruppen, keine ausländische Macht, keine finanzkräftigen Organisationen oder Personen. Es fehlten auch die einfachsten Voraussetzungen zu wirksamer Propaganda und Organisation. Der engere und weitere Kreis um den Universitätsprofessor Kurt Huber, in dessen Vorlesungen und Seminaren man zufällig zusammen kam und miteinander bekannt wurde, das waren Studenten aus den verschiedensten Fakultäten, die gerne Aristoteles, Goethe oder Laotse lasen, die sich für moderne (im Dritten Reich verbotene) Kunst begeisterten. Sie begannen ganz einfach nachzudenken, und je mehr sie das taten, um so weniger konnte ihr Gewissen Ruhe finden; sie glaubten, in der geistigen und tatsächlichen Uniformiertheit des Nationalsozialismus ersticken zu müssen.
Viele von ihnen waren oder wurden im Laufe der Kriegsjahre überzeugte Christen, deren tiefe Frömmigkeit keine Angelegenheit sonntäglicher Gefühle war, sondern eine lebendige Macht, die fordernd in ihr Leben hineinwirkte. Das waren die Waffen, mit denen sie ihren Widerstand gegen das Dritte Reich führten. Sie riefen nicht zur Revolution, sondern in leidenschaftlichen Worten zum »passiven Widerstand« gegen das Böse auf. Die Flugblätter entbehren des spezifisch Politischen. Mit ihrem Protest, mit ihrem Opfertod wollten sie nichts anderes, als »etwas von der Schuld abtragen, die Deutschland vor Gott und der Welt auf sich geladen hatte«. Deshalb wäre es auch falsch, den Widerstand dieses Kreises am äußeren Erfolg messen zu wollen. Er war eben keine »politische Aktion«, sondern ein menschlicher Protest und ein bewußtes persönliches Opfer. - »Ihr Geist lebt« stand damals von unbekannter Hand geschrieben auf den Litfaßsäulen, die die Urteilsvollstreckung verkündeten. Lebt er auch heute noch? Wenn es so etwas wie ein Vermächtnis dieser heldenhaften und lauteren jungen Menschen gibt, so ist es nur das eine: Verantwortung mitzutragen für eine menschenwürdige, staatliche und gesellschaftliche Ordnung, das eigene Gewissen zu schärfen und gegen Unrecht und Unmenschlichkeit aufzubegehren - selbst um den Preis der persönlichen Freiheit, ja des Lebens!
6. Für Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze[7]
Unser Parteivorsitzender ist ein brillanter Mann. Jeder beneidet ihn um die Gabe seiner Beredsamkeit. Erich Mende hat sie erneut bewiesen. Aber er hat in Alternativen gesprochen, die grausam waren. Er hat den Fehdehandschuh hingeworfen. Ich möchte mich bemühen, wie Hans Wolfgang Rubin, Ruhe zu bewahren. Aber ich bekenne mich zu den Parteimitgliedern, die sich »so reformerisch gebärden« und die angeblich »noch nie in dieser Partei etwas gearbeitet haben und noch keine Stimmen für diese Partei gebracht haben«. Ich und auch die anderen gebärden sich nicht reformerisch, um sich wichtig zu tun. Man muß uns zumindest zubilligen, daß es uns genauso ernst ist mit der Zukunft des politischen Liberalismus und dem Schicksal dieser Partei. Man kann doch nicht diffamieren, wenn nun einmal wirklich ein Schritt weiter gegangen wird, als es abgesichert und abgestützt in den letzten Jahren geschehen ist. Wenn wir Fortschritte in der Ostpolitik, wenn wir das Ziel der Wiedervereinigung nicht aus den Augen verlieren wollen was müssen wir dann tun? Gut, die »kleinen Schritte« waren ein großer Fortschritt. Aber sie erschöpfen sich. Ich hatte Gelegenheit, gerade dies auf meinen Studienreisen in die Ostblockländer zu spüren. Eine wirkliche Ostpolitik, die uns das Verständnis und die Achtung der Völker verschafft, die die Möglichkeit des Gesprächs eröffnet, eine solche Politik setzt eine »Anerkennung der Oder-Neiße-Linie« voraus. Sie setzt die Erkenntnis voraus, daß die Grenzen unabänderlich sind. Solange wir nur »kleine Schritte« versuchen, aus dem Wunsch nach Entspannung nach dem endgültigen Abklingen des Kalten Krieges oder auch nur aus wirtschaftlichen Erwägungen und die Regierung in Bonn spürt es jetzt schon -, hat eine Ostpolitik nur einen begrenzten Spielraum. Sie beginnt erst in dem Moment Erfolg zu haben, in dem wir anerkennen, daß wir den ersten großen Schritt tun müssen.
Das ist eine realpolitische Erkenntnis. Es ist oft gesagt worden: Der Verzicht, die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie bringt uns nichts. Ich glaube aber aus den Gesprächen, die ich gerade jetzt wieder in Polen geführt habe, die Schlußfolgerung ziehen zu dürfen, daß uns der Verzicht oder das Akzeptieren dieser Grenzlinie etwas bringen wird, was mir als Deutscher außerordentlich wichtig ist: wieder Achtung und Vertrauen in der Welt zu finden. Wer einmal mit unbefangenen Augen und vielleicht sogar mit ein bißchen Herz in sich aufgenommen hat, was der Nationalsozialismus in unserem Namen in einem Land wie Polen angerichtet hat, der ist bereit, auch einmal zu sagen: Gut, ich bin bereit zu verzichten. Wir haben mit Recht den Morgenthau-Plan zur Vernichtung und Versteppung Deutschlands als unmenschlich abgelehnt. Das, was wir in Polen in der Zeit der Besetzung getan haben, war viel hundertmal schlimmer. Wir haben dieses Volk bis zum letzten erniedrigt. Wir haben ihm nicht einmal erlaubt, seine Kinder in gute Schulen zu schicken. Ich glaube, die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze wäre ein großer Fortschritt, ein wirklicher Weg, zu einer Entspannung in Europa zu kommen. Es wäre der erste, gewiß entsagungsvolle Schritt zu versuchen, Verbündete im Osten für eine Wiedervereinigung unseres Vaterlandes zu finden. Die Mehrheitsverhältnisse in dieser Partei liegen wahrscheinlich anders. Ich habe aber in den langen Jahren meiner politischen Tätigkeit gelernt, mich zwar selbstverständlich der Mehrheitsentscheidung zu beugen, mich aber doch nicht irre machen zu lassen, wenn ich etwas als richtig erkannt habe.
7. Mord darf nicht verjähren[8]
Frau Dr. Hamm-Brücher (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist sicher ein Wagnis, versuchen zu wollen, sich als Nichtjurist in dieser Debatte zu Wort zu melden und einen Diskussionsbeitrag zu versuchen, in dem wenig oder gar nichts von juristischen, rechtlichen, rechts philosophischen Argumenten, aber viel von persönlicher Betroffenheit die Rede sein wird. Der Ausgangspunkt dieser Debatte über eine uns alle bewegende Gewissensentscheidung fällt mit der 30. Wiederkehr der Verabschiedung des Grundgesetzes, mit dem 30. Geburtstag der Bundesrepublik Deutschland schlechthin zusammen. Ich meine, diese Daten fallen nicht zufällig zusammen, und vielleicht ist es gut, auch in dieser Stunde einmal daran zu erinnern, daß das eine eng mit dem anderen zusammenhängt. Liebe Kollegen, wir haben in diesen Tagen und Wochen sehr viel über diesen ersten schwierigen Anfang unseres staatlichen Neuaufbaus gelesen und gesprochen, und erst vor zwei Tagen anläßlich der Vereidigung des fünften Bundespräsidenten, Karl Carstens, wurden hierzu unvergeßliche Worte gesprochen. Wir haben uns an die Anfänge unserer Demokratiewerdung auf den Trümmern eines Unrechtsstaates erinnert, und ich glaube, wir alle sind mit guten Gründen stolz auf das in diesen dreißig Jahren Erreichte. Aber dürfen wir es angesichts der Verjährungsdebatte wirklich bei diesem Feierstundenresümee bewenden lassen? Wenn wir hier zur gleichen Zeit mit großem Ernst, mit Behutsamkeit und Respekt vor der jeweils anderen Meinung eine Verjährungsdebatte führen, dann sollten wir meines Erachtens die Chance nützen, diese Debatte nicht nur in der quasi verdünnten Luft rechtlicher, juristischer und rechts philosophischer Argumente zu führen. (Frau Berger (Berlin) (CDU/CSU): Sehr richtig! - Dr. Mertes (Gerolstein) (CDU/CSU): Das haben wir auch nicht getan!) - Das ist auf weite Strecken leider so geschehen, und auch die Resonanz in der Öffentlichkeit ist so gewesen, liebe Kollegen. (Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen) Ich hatte oft das Gefühl, daß man als Nichtjurist wochenlang gar nicht mehr durchschauen konnte, wofür das Gewissen der Abgeordneten noch bemüht werden soll. (Erhard (Bad Schwalbach) (CDU/CSU): Das war auch schwer zu erkennen, da haben Sie recht!) Ich muß gestehen, daß mich - bei aller Anerkennung der Redlichkeit der vorgebrachten Argumente - dieser Stand der Entscheidungsfindung doch nicht voll befriedigt.
Auch in der interessierten Öffentlichkeit, meine Damen und Herren, wird dieses Thema völlig anders diskutiert. (Dr. Mertes (Gerolstein) (CDU/CSU): Auf der Basis des Unwissens!) Ich meine, wir sollten uns nicht dem Vorwurf aussetzen, in dieser Debatte abermals an dem Bewußtsein und an den Denkkategorien unserer Bürger vorbei zu debattieren. Ich erinnere mich hier sehr lebhaft an die bewegenden Gespräche auf dem Evangelischen Kirchentag. Und ich erinnere mich mit Schrecken, meine Damen und Herren, an die ungezählten Postkarten von Ewiggestrigen, die mir in diesen Wochen - wie Ihnen auch - auf den Schreibtisch geflattert sind.
Meine Damen und Herren, ich bin als junger Mensch im Hitler-Deutschland aufgewachsen und als Studentin während des Krieges seine entschiedene Gegnerin geworden. (Erhard (Bad Schwalbach) (CDU/CSU): Da waren wir Soldaten, ja!) Viel Glück wahrscheinlich, eine schwere Krankheit und ein wunderbar zivilcouragierter Doktorvater haben mir das Leben gerettet. Seit 1946 habe ich - ermutigt durch Theodor Heuss begonnen, am Aufbau unseres Landes mitzuarbeiten, seit 1948 als Stadträtin in München. Seither habe ich nun in jeder Phase unserer politischen Entwicklung miterlebt und zeitweise auch mit erlitten - ich möchte darüber nachher noch etwas sagen wie wir unsere Demokratiewerdung vollzogen haben. Deshalb, meine Damen und Herren, sehe ich so wichtige politische und auch moralische Zusammenhänge zwischen der 30. Wiederkehr des Gründungstages der Bundesrepublik Deutschland und der Verjährungsentscheidung. Ich meine, wir sollten uns als Abgeordnete bei dieser Gelegenheit diesen Zusammenhängen auch öffentlich stellen. Wir sollten uns dieser Auseinandersetzung auch - ich glaube, zur Befriedigung fast der meisten Kollegen hier im Hohen Hause - mit sehr viel mehr Offenheit, mit sehr viel mehr Breiten- und Tiefenwirkung annehmen. Ich möchte nur daran erinnern, daß wir uns gerade in jüngster Zeit bei vergleichsweisen Bagatellbelastungen aus dem Dritten Reich - ich meine die Beispiele Filbinger, Jahn und Seifriz - darüber klargeworden sind, daß vieles in unserem politischen Bewußtsein eben nicht verjähren kann, wenngleich es mit der Verjährungsdebatte, die wir hier heute führen, überhaupt nicht vergleichbar ist. (Dr. Mertes (Gerolstein) (CDU/CSU): Das hat mit Verjährung auch nichts zu tun!) Ich sehe darin vor allem auch die Chance - ich freue mich, daß das von so vielen Kollegen angesprochen worden ist - diese spürbar befreiender und krampflösender werdende Debatte zwischen den Generationen über Ursachen, Folgen und Konsequenzen der nationalsozialistischen Greueltaten zu führen und sie nicht aus dieser Verjährungsdebatte auszuklammern. Meine Damen und Herren, ich möchte vor der falschen Hoffnung warnen - das ist heute auch schon geschehen - daß wir mit dieser noch so fairen Debatte im Parlament einen endgültigen Schlußstrich unter das traurigste Kapitel deutscher Geschichte setzen können. (Dr. Mertes (Gerolstein) (CDU/CSU): Das will auch niemand!) - Herr Kollege, nicht hier im Hohen Hause, aber ich erinnere nur an die Postkarten, die uns doch allen einen tiefen Schock versetzt haben. (Beifall bei allen Fraktionen) Ich möchte wirklich davon absehen, mich herausgefordert zu fühlen, einige davon hier vorzulesen. Ich glaube, es wäre beschämend, lieber Kollege. Diese Postkarten haben leider den Eindruck in mir erweckt, daß es in unserem Lande immer noch Menschen gibt, die glauben, diesen Schlußstrich ziehen zu können. Mit welcher Entscheidung auch immer wir heute diesen Saal verlassen, die tiefen Beschädigungen, die unser aller Seelen, die Seelen der Deutschen davongetragen haben, können auch mit der heutigen Abstimmung nicht geheilt, nicht zugeschüttet, nicht aus der Welt geschafft werden. Deshalb bin ich überzeugt davon, daß diese Debatte, je offener wir sie führen - und das heißt, je redlicher wir auch ihre eigentlich politische Dimension ansprechen - um so eher ein fortwährender Beitrag zur Klärung, zur Bewältigung und schließlich hoffentlich auch zur Heilung dieser Beschädigungen sein wird. Ich sage das wiederum vor allem mit Blick auf unsere junge Generation, die den leidvollen Prozeß unserer Demokratiewerdung nach 1945 doch überhaupt nur dann verstehen kann, wenn wir ihr die Hypotheken nicht verschweigen, mit denen sie von Anfang an belastet war. Ich sage das auch zu uns Älteren, die wir sehr wohl um diese Hypotheken wissen, die unsere demokratische Ordnung 1945 und danach belastet haben. Nach meiner Überzeugung ist die Verjährungsfrage - nachdem mittlerweile unbestritten ist, daß beide der hier diskutierten Lösungen juristisch möglich sind - zwar für viele von uns immer noch eine Entscheidung zwischen zwei rechtlich möglichen Lösungen; letztlich aber ist es doch wohl eine politische Entscheidung, welcher der beiden Lösungen man den Vorzug gibt. (Dr. Mertes (Gerolstein) (CDU/CSU): So ist es!) Diese Entscheidung, Herr Kollege, fällt jedem von uns schwer genug. So erweist es sich auch heute nach dreißig Jahren doch noch und doch wieder als eine schwere Last, mit unseren Vergangenheiten fertig zu werden, so wie Theodor Heuss das vor dreißig Jahren vorausgesehen hat. Für meine Person möchte ich mich jedenfalls dazu bekennen, daß es politische, wenn Sie wollen: politisch-moralische Gründe sind, die bei mir den Ausschlag geben, daß ich für eine generelle Aufhebung der Verjährung für jeden gemeinen Mord votieren werde. (Dr. Mertes (Gerolstein) (CDU/CSU): Das ist bei mir auch so!)
Es sind gewiß keine Haß- oder Rachegefühle, die mich dabei leiten, und schon gar nicht ist es, Herr Kollege Mertes, wie Sie das heute früh zu formulieren beliebten, eine Anpassung an den schnell schwankenden Zeitgeist. Mich erfüllt allein der heiße Wunsch und die ungebrochene Überzeugung, die mich über dreißig Jahre politischer Arbeit immer von neuem motiviert hat, nämlich: Das, was im nationalsozialistischen Unrechtsstaat geschehen ist, darf niemals wieder geschehen. Deshalb müssen wir es in Denken und Handeln im politischen Leben und mit allen uns zu Gebote stehenden Konsequenzen austragen. Erlauben Sie mir deshalb, meine wichtigsten Gründe für mein Votum noch einmal zusammenzufassen. Wer, wie ich, die Nachkriegszeit als junger Mensch sehr bewußt als Nach-Hitler-Zeit im Sinne der Umkehr, der Buße und des neuen Anfangs verstehen wollte, der wurde doch wohl zunächst tief enttäuscht. Ich habe darunter gelitten, meine Damen und Herren - und das ist nun ein sehr ungeschütztes persönliches Geständnis -, daß wir nach 1945, unabhängig von einer falsch angelegten vordergründig-formalen Entnazifizierung, nicht entschieden genug an die Wurzeln des Übels herangegangen sind (Erhard (Bad Schwalbach) (CDUICSU): Sehr gut!) und daß der rasche materielle Aufbau den mühsamen und schmerzlichen Prozeß der überfälligen Katharsis unerlaubt abgekürzt, ja verdrängt hat. (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD und der CDU/CSU) Dieses uns heute immer wieder entgegen schallende »Es muß endlich einmal Schluß sein« tönte einem schon Anfang der fünfziger Jahre entgegen. Von der Aufarbeitung in Schule und Gesellschaft war wenig zu spüren; das überließ man wenigen Politikern, Wissenschaftlern, Theologen und Schriftstellern. Es war für mich kein Zufall, daß seit Ende der fünfziger Jahre und in den sechziger Jahren eine NPD und andere rechtsradikale Organisationen Zulauf bekamen. Es war leider auch kein Zufall - was heute gottlob gar nicht mehr möglich wäre -, daß ein Mann jahrelang Kultusminister in einem großen Bundesland sein konnte, der in seinen Schriften beispielsweise die Tätigkeit der Geheimen Staatspolizei legalisiert hatte und der solche lächerlichen Scheußlichkeiten wie die Trennung von Juden und Ariern auf Parkbänken und die Trennung von Juden und Ariern in Schwimmbändern tatsächlich rechtlich gerechtfertigt hat. (Zuruf von der CDU/CSU: Meinen Sie einen Kultusminister der FDP?) Erst während des letzten Jahrzehnts haben wir schrittweise wirklich begonnen, uns mit den Wurzeln des nationalsozialistischen Unrechts zu beschäftigen, hierbei auch die steigende Anteilnahme der Bevölkerung gefunden und, wie Alexander und Margarete Mitscherlich es in dem so wichtigen Buch »Die Unfähigkeit zu trauern« beschrieben haben, notwendige und allfällige Trauerarbeit geleistet. Ich erinnere an diese vielen enttäuschenden Entwicklungen heute im Zusammenhang mit der Verjährungsdebatte nicht, um Wunden aufzureißen, sondern weil ich einfach bewußt machen möchte, daß es nicht eine sozusagen lückenlose Abrechnung mit und Bewältigung der Zeit des Nationalsozialismus gegeben hat, und weil ich nicht möchte, daß mit der heutigen Debatte wieder neue Tabus errichtet werden. Es geht für mich auch darum, mit dieser Erklärung ein weiteres Stück Glaubwürdigkeit zu gewinnen und auf diese Weise einer dauerhaften Versöhnung und Verständigung vor allem mit der jungen Generation den Boden zu bereiten. Nachdem dieser Prozeß gerade erst eingesetzt hat, sollten wir ihn nicht abreißen lassen. Damit bin ich noch einmal bei der jungen Generation. Ist es schon schwer, das Phänomen der Faszination des Nationalsozialismus für die meisten Deutschen der dreißiger Jahre dieser jungen Generation zu erklären, so erweist sich die Rechtfertigung der Nachkriegsmentalität des Vergessenwollens, des Verdrängens, der ausschließlich materiellen Befriedigung und der offenkundigen Unfähigkeit zu trauern - als noch schwieriger. Der ohnehin natürliche und immer wieder notwendige Generationenkonflikt wird hier zu einer Zerreißprobe. Während früher die Söhne den oft aufgeputzten Erzählungen ihrer Väter über deren Heldentaten atemlos gelauscht haben, erzählen heute die Väter ihren Söhnen kaum noch etwas. Sie schweigen, weil sie vieles einfach nicht erklären können. Ich meine deshalb: Wir sollten weder idealisieren noch verschweigen, wie es nach 1945 gelaufen ist und warum es wohl auch nicht anders laufen konnte. Wir sollten der jungen Generation reinen Wein über die Bedingungen einschenken, unter denen wir damals anfangen mußten. Wir sollten offen über unsere Bemühungen, Erfahrungen und Enttäuschungen Rechenschaft ablegen.
Denn gerade - Walter Scheel hat es einmal vor Tübinger Studenten gesagt - das Unfertige, das Verbesserungsfähige, das immer von neuem Mögliche erzeugt die Schwungkraft unserer Demokratie. Demokratie ist immer auf dem Wege zu sich selbst, sie ist niemals fertig. Dafür brauchen wir die kritische Sympathie und die Mitarbeit der jungen Generation. (Beifall bei der SPD und der FDP) Ich habe mehr als einmal erlebt - gerade wieder auf dem Evangelischen Kirchentag in Nürnberg - daß auf diesem Wege durch eine schonungslose Offenheit und durch das tapfere Bemühen um einen neuen Anlauf zum Verstehen von beiden Seiten wirklich weiter geholfen werden kann. (Glockenzeichen des Präsidenten) - Herr Präsident, bitte erlauben Sie mir, noch eine weitere Bemerkung zu machen. Ich glaube, ich habe die Aufmerksamkeit des Hohen Hauses noch nicht so lange in Anspruch genommen wie meine Vorredner. Ich möchte noch einmal auf den Ausspruch von Papst Johannes Paul II. zurückkommen: Auschwitz, das ist das Golgatha des 20. Jahrhunderts. Es wurde hier gesagt, und ich möchte es für meine Person wiederholen: Das Golgatha des 20. Jahrhunderts, es kann nicht verjähren, unabhängig davon, für welche strafrechtliche Regelung wir uns entscheiden. Aber hier zeigt sich, daß der Begriff Verjährung über das Strafrecht hinaus für jeden Menschen symbolische, moralische, ja religiöse Bedeutung hat. Hier liegt wohl auch die Gewissensentscheidung. Wir wissen heute, daß das Bild des unschuldig Gekreuzigten auf Golgatha nicht nur über Millionen durch Rassenwahn und Menschenhaß geschundenen, ermordeten und vergasten Menschen steht. Wir erfahren voller Verzweiflung, daß Hitlers Saat wieder und wieder aufgeht, in Massen- und Völkermorden, in Terror und auch in einer zunehmenden Brutalität und Menschenverachtung gegenüber dem einzelnen Menschenleben. Damit dürfen wir uns doch nicht abfinden! Golgatha ist überall, wo das geschieht. Wir müssen dem ein deutliches Zeichen entgegensetzen, einen kategorischen, einen moralischen Imperativ: Mord darf in der Welt zunehmender Menschenverachtung nicht mehr verjähren. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir leben in einer Welt, die sich zunehmend brutalisiert. Die von Albert Schweitzer und vielen anderen Mahnern geforderte »Ehrfurcht vor dem Leben« - wo ist sie?
Sie nimmt doch offensichtlich ab. Von Irland bis Vietnam und vom faschistischen bis in den kommunistischen Machtbereich, überall werden Menschenrechte gröblich verletzt, und mörderische Untaten bleiben ungesühnt. Sind wir angesichts dieser Entwicklungen wirklich für alle Zeit vor allen Rückfällen gefeit? Nach allem, was geschehen ist, nach allem, was noch geschehen kann wir sollten hier ein Zeichen setzen: Du sollst nicht töten! Zum Vollzug dieses Gebots gehört für mich sowohl die Ächtung der Todesstrafe wie auch die Unverjährbarkeit von Mord, aber auch die Humanisierung des Begnadigungsrechts für lebenslänglich verurteilte Mörder. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Aus den eben genannten Gründen, sehr verehrte Kollegen, sollten wir meines Erachtens anläßlich der 30. Wiederkehr unseres demokratischen Neubeginns und der Gründung unseres freiheitlichen Rechtsstaates dieses unmißverständliche Zeichen als Mahnung, aber zugleich auch als Warnung setzen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD und der CDU/CSU)
8. Vergessen ist uns nicht erlaubt[9]
Der 50. Jahrestag der Machtergreifung der Nationalsozialisten ist auch für den politischen Liberalismus Anlaß und Gelegenheit zu Rückbesinnung und Reflexion. Auch ein so makaberes Jubiläum wie der 30. Januar 1933 kann dazu beitragen, das Bewußtsein für die immer wieder aufbrechende grundsätzliche Gefährdung - für die »Tragödie des deutschen Liberalismus«, wie Friedrich C. Sell es formulierte - zu schärfen. Dies soll in diesem Beitrag versucht werden, der weniger die historischen Leistungen und Verdienste des politischen Liberalismus würdigt, sondern vielmehr seinen Irrtümern und auch seinem Versagen im letzten halben Jahrhundert nachgeht. Bei meinen Vorarbeiten habe ich immer wieder festgestellt, wie dürftig die Quellen hierfür und der Stand der Aufarbeitung dieser Thematik noch sind. Hier müßte dringend etwas geschehen. Die offenkundigen Lücken sollten - eventuell durch gezielte Anregungen und Themenstellungen - rasch und systematisch geschlossen und aufgearbeitet werden. Die tragische Geschichte der ersten demokratisch verfaßten deutschen Republik ist oft beschrieben worden - weniger umfassend aber Glanz und Elend des politischen Liberalismus in dieser Zeit, beginnend mit seinem prägenden Einfluß auf die Weimarer Republik und mit den unvergeßlichen Leistungen seiner großen politischen Repräsentanten wie Hugo Preuß, Friedrich Naumann, Walther Rathenau, Gustav Stresemann, aber auch seiner wissenschaftlichen und kulturpolitischen Repräsentanten wie z. B. Alfred Weber, Gustav Stolper, Julius Bonn, Karl Röpke, C. H. Becker und Georg Kerschensteiner, endend dann mit seiner totalen parteipolitischen Zersplitterung und Selbstauflösung. In der Zeit dazwischen zerrieb er sich in zwei rivalisierenden liberalen Parteien, der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und der Deutschen Volkspartei (DVP), und durch verzweifelt aufeinander folgende Zusammenschlüsse, Trennungen und Zersplitterungen, bis die ohnehin schwache demokratische Mitte vollends entkräftet war. Ausgenommen sind die Liberalen in Baden-Württemberg mit ihrer fester verwurzelten liberalen Tradition und die Liberalen in Hamburg. Bei den Wahlen am 5. März 1933 wurden nur noch zwei Abgeordnete der DVP gewählt und fünf Abgeordnete der »Staatspartei« (ehemals DDP) - Hermann Dietrich, Theodor Heuss, Heinrich Landahl, Ernst Lemmer und Reinhold Maier - dank einer Listenverbindung mit der SPD. (Diesen fünf Abgeordneten wurde das Mandat - eben wegen ihrer Listenverbindung bereits drei Monate später zusammen mit denen der SPD aberkannt, während die beiden Abgeordneten der DVP ihr Mandat erst im Herbst verloren. Einer davon war bereits zuvor der NSDAP beigetreten, während der andere nach der Selbstauflösung der DVP bis zu den Herbstwahlen als unabhängiger Abgeordneter im Reichstag blieb.) Zur Vorbereitung der Reichtstagswahlen vom 5. März und zur Begründung, weshalb eine Listenverbindung mit der SPD eingegangen wurde, gibt es ein heute noch erschütterndes Dokument - sozusagen einen letzten Hilferuf. Die Reichsleitung der Deutschen Staatspartei erließ einen Aufruf an die Parteimitglieder, in dem es u. a. hieß: »Die Gefahr ist riesengroß, daß es Hitler dieses Mal gelingt, gestützt auf den amtlichen Apparat, zusammen mit Hugenberg die erforderliche Mehrheit zu erringen, um ein einseitiges Parteiregiment in Deutschland aufzurichten... In diesem Zeichen ersuchen wir unsere Freunde im Lande, die Wahlarbeit überall unter Einsatz der letzten Kraftreserven aufzunehmen. Die Stunde ist so ernst und entscheidungsvoll wie nie im letzten Jahrzehnt. Es geht um alles, was wir erstrebt und erreicht haben, um die Freiheit des Staates, um die Freiheit des Geistes, um die Freiheit der Wirtschaft... Es geht nicht nur um die Partei, es geht um Deutschlands Zukunft.« Noch heute kann man sich der Eindringlichkeit dieses Appells nicht entziehen; um so weniger verständlich erscheint uns die - nach offenbar qualvollen partei- und fraktionsinternen Diskussionen getroffene - Entscheidung der fünf Abgeordneten, dem Ermächtigungsgesetz am 23. März 1933 zuzustimmen (wobei Dietrich und Heuss intern für »nein« plädierten, sich dann aber dem Mehrheitsvotum anschlossen). Offenbar machte man sich Illusionen und falsche Hoffnungen über die Auswirkungen und die zeitlichen Begrenzungen des Gesetzes, man spekulierte auf Streitereien innerhalb der neuen Regierung, auf Unstimmigkeiten zwischen der Reichswehr, dem Reichspräsidenten und den Nationalsozialisten. Alles dies erwies sich jedoch als folgenschwere, schlimme Fehleinschätzung, wie Theodor Heuss nach 1945 tapfer zugegeben hat; er war überhaupt der einzige, der in einem nachgelassenen Fragment seiner Erinnerungen aus der NS-Zeit versucht hat, das belastende Trauma der »Zustimmung wider besseres Wissen und Gewissen« loszuwerden. Er bekannte: »Jeder von uns, der als Publizist oder als Politiker zu Entscheidungen gezwungen war, die er später bedauerte, hat Dummheiten gemacht. Doch dieser Begriff ist zu schwach für die Zustimmung zu diesem Gesetz, und auch das Wort >später< trifft nicht die innere Lage: Ich wußte schon damals, daß ich dieses >Ja< nie mehr aus meiner Lebensgeschichte auslöschen könne... Später habe ich zum Ausdruck gebracht, daß ich für das >Nein< gerne votiert hätte - aus reinem historischem Stilgefühl -; Illusionen über das Gewicht eines Ja oder eines Nein konnte ich nicht haben.« So geschah es auch: Dieses »Ja« konnte weder aus der Lebensgeschichte von Heuss, noch kann es aus der Geschichte des deutschen Liberalismus gelöscht werden. Nach 1945 - und gelegentlich noch heute - wurden das Abstimmungsverhalten von Theodor Heuss und sein Einschwenken auf die Mehrheitslinie der kleinen Fraktion kritisiert. Auch ich habe das getan. Nach den Erfahrungen meines langen parlamentarischen Lebens aber - und meiner eigenen Erfahrung aus dramatischen Abstimmungssituationen, in denen widerstrebende Abgeordnete mit allen möglichen Mitteln überredet, eingeschüchtert oder geächtet wurden beurteile ich heute den damaligen Heuss'schen »Umfall« verständnisvoller. Vor allem aber habe ich großen Respekt gewonnen, nicht nur vor seinem tapferen Schuldbekenntnis, sondern mehr noch vor seiner Haltung nach 1945. Alles, was Theodor Heuss nach 1945 und während seiner zehnjährigen Bundespräsidentschaft gedacht, gesagt und getan hat, ist nach meiner Überzeugung selbst verordnete, tätige Reue und Wiedergutmachung für eben dieses Abstimmungsverhalten beim Ermächtigungsgesetz gewesen. Ich wage diese These aufgrund vieler persönlicher Unterhaltungen mit ihm und werde auf diese Zusammenhänge später noch einmal zurückkommen. Zunächst aber zurück zum März 1933 und zu den ihm folgenden Ereignissen. Ich habe sie ja als Kind - später als Jugendliche - miterlebt und erinnere mich sehr wohl daran, daß sich nicht nur die sogenannten Massen Hitler angeschlossen haben, sondern daß fast jeder Deutsche seine kleinen und großen Kompromisse mit den Nazis gemacht hat - aus damaliger Sicht wohl machen mußte. Ausgenommen sind nur die Widerstandskämpfer, die Emigranten und die wenigen, die stark und geschickt genug waren, auch ohne beschädigende Kompromisse zu überleben. Auch die großen und kleinen Repräsentanten des politischen Liberalismus verhielten sich nicht anders. Sie wurden mehr oder weniger überzeugte Nazis, paßten sich an, machten mit, tarnten sich, verhielten sich still, versuchten, sich und ihre Familien irgendwie durch zubringen und zu überleben. Nur sehr wenige entschlossen sich zum aktiven Widerstand. Unter den liberalen Emigranten waren Juden in der großen Mehrzahl. Über das Schicksal oder, genauer gesagt, die vielen Schicksale von Liberalen während des »Dritten Reiches« gibt es noch keine umfassende Forschung und Literatur. Man ist auf Fundstellen in Biographien, Briefen und Erzählungen angewiesen. Es ist daher außerordentlich verdienstvoll, daß ein jüngerer Lehrer, Horst R. Sassin, erstmals systematische Forschungen angestellt und interessantes Material zusammengetragen hat, aus dem ich hier referieren möchte: Da gab es gleich nach Erlaß des Ermächtigungsgesetzes Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst, gemäß dem Gesetz »Zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums«, dessen Bestimmungen nicht nur Juden trafen, sondern auch exponierte Liberale wie z. B. den letzten demokratischen Regierungspräsidenten von Potsdam, Heinrich Jaenicke; den Oberbürgermeister von Dresden, Wilhelm Kültz; den Nürnberger Oberbürgermeister, Hermann Luppe; den Kurator der Frankfurter Universität, Professor Kurt Riezler; den Leiter der Hamburger Lichtwarkschule, Heinrich Landahl; die Hamburger Oberschulrätin Emmy Beckmann und zahlreiche Professoren und Pädagogen. Rede- und Publikationsverbote erhielten zahlreiche liberale Chefredakteure und Journalisten. Marie-Elisabeth Lüders, Agnes von Zahn-Harnack, Emilie Kiep-Altenloh verloren ihre Ämter. Theodor Heuss wurde nach Aberkennung seines Reichstagsmandats Lehrverbot an der Berliner Hochschule für Politik erteilt, später gab es Drohungen, Verwarnungen, Publikationsverbote, die zeitweise wieder aufgehoben wurden. In späteren Jahren schrieb Theodor Heuss gelegentlich in der »Frankfurter Zeitung« unter dem Pseudonym Thomas Brackheim (verkürzt für »Brackenheim«, seinen Geburtsort). Die entschlossenen Nazi-Gegner unter den Liberalen stammten übrigens fast ausschließlich aus den links-liberalen Gruppierungen, die nach 1945 noch lange unter diesem Aderlaß zu leiden hatten. Interessant ist auch die Liste der liberalen Emigranten mit mehr oder weniger prominenten Namen und der meist folgenden Ausbürgerung. Nur ein paar Namen seien hier stellvertretend genannt, z. B. Georg Bernhard, langjähriger Chefredakteur der »Vossischen Zeitung«, Reichstagsabgeordneter der DDP und Mitorganisator des letzten liberalen Kongresses »Das freie Wort« am 19. 2. 33; oder Hellmut von Gerlach, Pazifist und Mitbegründer der DDP, engagiert in der Deutschen Liga für Menschenrechte und nach der Verhaftung Carl von Ossietzkys letzter Leiter der »Weltbühne«. Auch Bernhard Weiß ist zu nennen, bis 1932 Polizeivizepräsident in Berlin. Nach England emigrierten u. a. der Berliner Nationalökonom Moritz Julius Bonn, der letzte Leiter der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin Ernst Jäckh, der Syndikus der Berliner Industrie- und Handelskammer Fritz Demuth, die Gründerin und Vorsitzende des Deutschen Internationalen Komitees sozialer Schulen Alice Salomon, der Bankier und zeitweise Fraktionsvorsitzende der Staatspartei August Weber, und nicht zuletzt nach der sogenannten Reichskristallnacht Erich Albert Karry (ein Bruder von Heinrich Herbert Karry). Sowohl in England als auch zeitweise in Paris schlossen sich Liberale gelegentlich mit anderen Emigranten zusammen; hier sind vor allem Otto Klepper, Albert Kluthe (der spätere Mitbegründer der »Liberalen Weltunion«) und August Weber zu nennen. In der Schweiz fanden der frühere Staatssekretär im preußischen Innenministerium, Willy Abegg, der engagierte Pazifist Ludwig Quidde, der Diplomat und Politiker Johann-Heinrich Graf von Bernstorff, der Wirtschaftswissenschaftler Wilhelm Röpke und andere politisches Asyl. Unvollständig ist bisher die Zusammenstellung liberaler Emigranten in die USA. Hier sollen stellvertretend nur der bedeutende Nationalökonom Gustav Stolper und seine ebenso bedeutende Frau Toni genannt werden. Sie zählten zu den engsten Freunden und Vertrauten des Ehepaars Heuss,. die den Briefkontakt bis in die Kriegszeit hinein aufrecht erhielten. Dafür gibt es viele bewegende Briefzeugnisse. Horst R. Sassin verdanken wir auch einen ersten Überblick über liberale Widerstandsgruppen, vor allem in Hamburg, aber auch in Berlin und in Baden Württemberg. Hier war es vor allem Robert Bosch, der tapfer half, wo immer möglich, und bei dem auch Theodor Heuss bis zum Kriegsende immer wieder Zuflucht und Hilfe fand. Für andere Gruppen sind Hans Robinson, Ernst Strassmann und als Kontaktperson Thomas Dehler zu nennen. Insgesamt müssen es etwa sechzig Personen gewesen sein, die in kleinen Gruppen über das Reich verstreut waren. Vorsichtige Kontakte gab es auch zum Ausland. Alles kam zum Erliegen, als der »Kopf« des liberalen Widerstands, Strassmann, im August 1942 von der Gestapo verhaftet wurde. Eine Liste von Liberalen, die in Konzentrationslagern waren, umfaßt heute knapp fünfzig Namen. Über zwanzig Liberale starben als Opfer von Verfolgungen, darunter Theodor Wolff, der frühere Chefredakteur des »Berliner Tageblattes«, der ehemalige Reichswirtschaftsminister Eduard Hamm, der Reichspressesprecher Otto Karl Kiep, der Berliner DDP-Bürgermeister von 1931 bis 1933, Fritz Elsaß. Mit großer innerer Bewegung habe ich diese erste Zusammenstellung durchgearbeitet und möchte hoffen, daß es möglich wird, wenn auch mit großer Verspätung, den liberalen Opfern der Hitlerzeit ein ehrendes Andenken zu bewahren. Wie vielen Liberalen in Deutschland in diesen Jahren zumute gewesen sein muß, das erfahren wir aus einem »Rundschreiben an die Freunde im Ausland«, das Elly Heuss-Knapp am 28. März 1941 aus Basel abgesandt hat: »... Wir haben ja alle Verfolgungswahn, freilich ist es kein Wahn... aber wir sind alle unverändert in unserer Liebe zu Euch und in unserer Gesinnung, und was solche Belastungsproben aushält, das bleibt auch bis zum Lebensende gleich. Wie groß die Zahl derer ist, auf die das zutrifft, das könnt Ihr Euch gar nicht vorstellen... Oft liege ich nachts wach und führe lange apologetische Gespräche mit Euch, aber ich fühle kein Echo... Seelisch geht es immer schwerer, alles auszuhalten, was anderen geschieht... Vielleicht könnt Ihr die Schrift von Karl Barth bekommen, die hier die Runde macht... Dann wißt Ihr, was wir denken. Schade, daß ich es Euch nicht alles schicken kann, schon das Porto ist eine Schwierigkeit... « Trotz solcher bewegender Einzelbeispiele müssen wir nach heutiger Erkenntnis insgesamt feststellen, daß der politische Liberalismus im aktiven Widerstand gegen Hitler kaum in Erscheinung getreten ist und daß er erklärlicherweise sehr viel schwächer war als der Widerstand sozialdemokratischer, kommunistischer und später auch konservativer Gruppierungen. Friedrich C. Sell beurteilt die Rolle des Liberalismus im »Dritten Reich« so: »In der Opposition gegen Hitler hatte der Liberalismus die schwächste Stellung. Hinter ihm stand keine Organisation wie hinter den Kommunisten, Sozialisten und Kirchen, kein weltweites Gemeinschaftsgefühl wie hinter den verfolgten Juden, dennoch überschüttete Hitler den Liberalismus mit denselben monotonen, demagogischen Angriffen wie Marxismus, Klerikalismus und Judentum. Er fühlte, daß auch die liberale Opposition nicht verschwunden war... In der eigentlichen Widerstandsbewegung traten die Liberalen hinter den Konservativen, den Militärs, Sozialisten und Gewerkschaftsführern zurück. In dem Stuttgarter Kontor von Robert Bosch, einem der wenigen liberal gesinnten Industriellen, fanden Liberale Rückhalt. Unter dem Deckmantel seiner Firma wurden Goerdelers unermüdliche Agitations- und Erkundungsreisen finanziert. Bosch hielt auch seine Hand über viele der abgesetzten und verdächtigen liberalen Politiker wie Reinhold Maier und Theodor Heuss. Manche Liberale hatten sich in das so wenig zum Fanatismus neigende Schwaben zurückgezogen... Viele liberal denkende Intellektuelle, die von Natur aus mehr auf Kontemplation als auf Aktion eingestellt sind, zogen sich vollständig zurück in das Reservat des Geistigen... « Nach Kriegsende und Zusammenbruch standen die ersten zaghaften Ansätze von Neugruppierungen des politischen Liberalismus vollständig unter dem niederschmetternden Fazit aus den vorher geschilderten Entwicklungen, Enttäuschungen, Einsichten und Erschütterungen. Man kann alles dies nachlesen in den eindrucksvollen ersten Aufsätzen, Artikeln und Reden von Theodor Heuss, aber auch in den Protokollen des Parlamentarischen Rates und in fast allen einschlägigen Dokumenten aus der ersten Nachkriegszeit. Die »Tragödie des deutschen Liberalismus« hatte auch zwischen 1933 und 1945 eine makabre Fortsetzung erfahren, und die wenigen überlebenden - und bewußt schonungslos reflektierenden - Liberalen der ersten Stunde waren entschlossen, daraus Konsequenzen zu ziehen. Gleichwohl erwiesen sich der Neubeginn und der parteiinterne Klärungsprozeß als schwieriger als bei den beiden anderen Parteien. Die verstreuten, meist kleinen liberalen Gruppierungen waren später lizenziert worden als die sozialdemokratische und die konservativen Parteien; ihre Mitglieder waren von Anfang an heterogen. Viele frühere Liberale - wie beispielsweise Ernst Lemmer - hatten sich der CDU, andere der SPD angeschlossen. Die geistige und politische Führerschaft dieses kleinen Häufleins wuchs automatisch Theodor Heuss zu, leider nur kurz, bis zu seiner Wahl zum Bundespräsidenten (1949), und zu kurz, um die notwendige innere Neubesinnung des Liberalismus durchzuhalten und ihn vor neuer Fraktionierung zu bewahren. So kam es also, daß es in der FDP, beginnend mit dem Ende der vierziger Jahre, durch die fünfziger Jahre hindurch bis in die sechziger Jahre hinein mehr oder weniger starke »rechte« Gruppen gab, ja daß ganze Landesverbände eine »rechte« Mehrheit hatten, zusammengewürfelt aus ehemaligen Nazis, Nazi-Apologeten, Mitläufern und Nationalisten. In Hessen, wo der Landesverband bei den Bundestagswahlen von 1949 28 Prozent erzielt hatte, war es gelungen, »alle Kräfte rechts von der CDU« für die FDP zu mobilisieren, und in Nordrhein-Westfalen hatten rechte FDP-Mitglieder eine »nationale Sammlung« ins Leben gerufen, deren Vertreter bereits 1950 auf der Landtagsliste die vordersten Plätze erhielten. Nach den Wahlen beanspruchten sie - nomen est omen - die Sitze auf der rechten Seite des Parlaments. Nach dem Ausscheiden von Theodor Heuss als Bundesvorsitzender der FDP im Jahr 1949 erwuchs seinem wahrlich nicht links stehenden Nachfolger Franz Blücher bereits auf dem Bundesparteitag von 1951 in dem dem »rechten Flügel« von NRW angehörigen Freiherrn von Rechenberg ein ernsthafter Gegenkandidat. Er erhielt etwa 30 Prozent aller Delegiertenstimmen. Die Gegenkräfte gegen diese alarmierende Entwicklung also eindeutig anti-nationalistisch, anti-nazistisch, pro-demokratisch und liberal eingestellte FDP-Mitglieder - formierten sich in Baden-Württemberg, in den Hansestädten, teilweise in Bayern. Im Herbst 1952 spitzten sich die Auseinandersetzungen zwischen den beiden Flügeln der FDP zu. Aus Düsseldorf kam das »deutsche Programm«, auf das die Hamburger Liberalen mit einem »liberalen Manifest« antworteten. Die große Auseinandersetzung fand im Dezember 1952 auf dem Parteitag in Bad Ems statt, wo der wackere Reinhold Maier allen Parteimitgliedern, die »nach rechts ab galoppieren« wollten, den »schwäbischen Gruß« entbot. Es kam zwar bei den Vorstandswahlen zu einem annähernden Ausgleich, parteiintern aber gingen die Flügelkämpfe heftig weiter. Anfang 1953 sah sich die britische Militärverwaltung gezwungen, in der Nordrhein westfälischen FDP Verhaftungen von FDP-Mitgliedern wegen »neonazistischer Umtriebe« und wegen »Unterwanderungsgefahr« vorzunehmen. Es handelte sich u. a. um den ehemaligen Goebbels-Staatssekretär Naumann (Nau-Nau), der Gleichgesinnte um sich gesammelt und Einfluß gewonnen hatte. Der Bundesvorstand der FDP setzte einen dreiköpfigen Untersuchungsausschuß ein, der zum Abschluß »Wachsamkeit gegen jeden Unterwanderungsversuch« proklamierte. Nach dem Tode eines der Wortführer des »rechten« Flügels, des Freiherrn von Rechenberg, rückte Erich Mende in den Landesvorstand auf. Es ist heute fast nicht mehr zu glauben, daß - wie Werner Stephan berichtet - noch auf dem Bundesparteitag der FDP in Lübeck im Juni 1953 der bevorstehende Wahlkampf mit Militärmärschen und dem Großen Zapfenstreich eingetrommelt wurde. Die folgenden Bundestagswahlen, die für die FDP starke Verluste brachten, machten deutlich, daß das öffentliche Ansehen der FDP auch durch diese skandalösen Auseinandersetzungen erheblich geschwächt war (Adenauer erhielt die absolute Mehrheit). In der Folgezeit versuchte man auch durch die Wahl von Thomas Dehler zum Bundesvorsitzenden aus diesen bitteren Erfahrungen Konsequenzen zu ziehen. Einen letzten großen öffentlichen Skandal gab es 1955 in Göttingen, als die dort dominierenden Rechten in der FDP den von der Deutschen Reichspartei (DRP) über getretenen, weit rechts stehenden Göttinger Verleger Leonhard Schlüter zum Kultusminister beriefen. Nur dem heftigen Widerstand der Universität war es zu verdanken, daß er bereits nach einer Woche wieder zurücktreten mußte. Man mag diese Ereignisse heute als weit zurückliegende geschichtliche Vergangenheit abtun; aber es ist eine Tatsache, daß sich weite Kreise der FDP damals als eine rechts von der CDU stehende, national orientierte Partei verstanden haben und daß dieses Positionsverständnis auch bei späteren Auseinandersetzungen, z. B. um das Saarstatut, um die EWG-Verträge, bei den ersten Verjährungsdebatten von Naziverbrechen, zumindest unterschwellig Gewicht hatte. Das ganze Ausmaß dieser Problematik kann im Rahmen dieses Aufsatzes nicht weiter verfolgt werden; ich kann es nur andeuten. Ich erinnere mich aber gut an die ersten beiden Verjährungsdebatten, bei denen Thomas Dehler mit starken rechtspolitischen Argumenten überzeugte, der Beifall jedoch, den er dafür erhielt, leider auch von der politisch rechten Seite kam - und zwar sehr lautstark. Theodor Heuss, der der Tagespolitik und diesen Flügelkämpfen seit 1949 entrückt war, begleitete sie jedoch als Bundespräsident mit großer Sorge. Sowohl in seinen »Tagebuch Briefen« an Toni Stolper als auch in der Korrespondenz mit Thomas Dehler macht er aus seiner Abneigung und Sorge gegenüber den Rechtstendenzen in der FDP keinen Hehl. Eindeutig stand er auf seiten seines alten Freundes Reinhold Maier und seines sogenannten linken Flügels. Auch ich selber habe ihm und seiner Unterstützung in einer ähnlichen Auseinandersetzung einen großen Wahlerfolg zu verdanken. Damals, 1962, wäre ich nämlich zusammen mit dem damaligen stellvertretenden Landesvorsitzenden Otto Bezold um ein Haar Opfer eines regional ausgeprägten rechten Flügels der oberbayerischen FDP geworden. Die damaligen Ereignisse sind in einer 1968 im Piper-Verlag erschienenen Sammlung »Gegen Unfreiheit in der demokratischen Gesellschaft« unter der Kapitelüberschrift »12 Dokumente aus dem Leben einer Partei« zusammengefaßt. Sie belegen den innerparteilichen Versuch, eindeutig anti-nazistisch eingestellte Mitglieder systematisch aus Ämtern und Mandaten zu verdrängen und den »Aufbau einer rechts stehenden Sammlungspartei zu forcieren«. Diese Dokumente mögen heute nur allgemeines Kopfschütteln auslösen, aber auch sie belegen eindeutig die heftigen damaligen Flügelkämpfe. Nachträglich ist festzuhalten, daß sich auch diese Auseinandersetzung nicht durch eine redliche parteiinterne oder programmatische Klärung erledigt hat, sondern allein durch meinen sensationellen Erfolg bei den Landtagswahlen 1962, bei denen ich vom hoffnungslosen 17. Platz der oberbayerischen Liste mit Unterstützung einer Wählerinitiative mit mehr als dem Doppelten der Stimmen auf den ersten Platz vorgewählt wurde. Noch kurz vor dieser Wahl hatte Theodor Heuss am 2.11.1962 an diese Wählerinitiative geschrieben: »... ich habe nicht das Bedürfnis, mich in die internen Parteigeschichten der oberbayerischen FDP einzumischen..., so unfrohe Nachrichten ich darüber auch erhalten habe... Meine Stellungnahme beruht auf der Wertschätzung von Frau Dr. Hildegard Hamm-Brücher, ihrer inneren Freiheit und Unabhängigkeit, ihrer Sachkunde und Hilfswilligkeit... Wir dürfen nicht vergessen, was ein paar Menschen - ich denke dabei auch an Otto Bezold - nach 1945 auf sich genommen haben, um dem demokratisch freiheitlichen Gedanken in diesem seelisch zerstörten Volk wieder eine Chance zu geben...« Dem freiheitlich-demokratischen Gedanken wieder und wieder eine Chance zu geben, das war es, worum Theodor Heuss wie kaum ein anderer »bürgerlicher« Nachkriegspolitiker aus der Weimarer Zeit bemüht war. Unermüdlich, glaubhaft und mutig hat er sich mit den Ursachen, Geschehnissen und Folgen des Nationalsozialismus auseinander gesetzt. Seine großen Reden zum Widerstand, bei Gedenkfeiern für die Opfer des Nazismus, zur christlich-jüdischen Zusammenarbeit bezeugen das. Sie sind bleibende und glaubwürdige Dokumente seines unermüdlichen Bemühens, sein eigenes »Versagen« bei der Abstimmung zum Ermächtigungsgesetz aufzuarbeiten. In seinem lesenswerten Essay »Theodor Heuss und die Wiederbegründung der Demokratie in Deutschland« schreibt Karl Dietrich Bracher im Dezember 1964: »In diesem Geist war Heuss stetig bemüht, den oft verkannten, ja diffamierten Widerstand gegen Hitler als großes Gut für die neue Demokratie zu würdigen, ihm Raum und Verbindlichkeit im öffentlichen Bewußtsein zu verschaffen.« Immer wieder, bis zu seinem Tode, sprach Heuss von dem »Vermächtnis des Widerstandes«, das noch wirksam sei, und von der »Verpflichtung, die noch nicht eingelöst ist«. Bei anderen Gelegenheiten warnte er vor dem raschen Verdrängen und Vergessen der Hitlerzeit; das sei einfach »Feigheit vor der Wahrheit: Was ich hier sage, gefällt vielen Leuten nicht, die sagen: Schluß, Schluß mit dieser Geschichte. Das aber ist uns nicht erlaubt um unseretwillen nicht. « Dem ist - aus liberaler Sicht - auch im Jahre 1983, fünfzig Jahre nach dem Anfang vom Ende, voll zuzustimmen.
9. Was geschieht im Bundestag am 8. Mai 1985?[10]
Bonn, den 27. Dezember 1984
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident, im Vorausblick auf den 8. Mai 1985 erscheint es mir von großer Bedeutung zu sein, daß sich alle Fraktionen des Deutschen Bundestages alsbald gemeinsam darüber Gedanken machen, in welcher Weise und mit welchen Akzenten wir als die Vertretung des ganzen Volkes der Ereignisse vor vierzig Jahren, ihrer Ursachen und ihrer Folgen gedenken wollen. Für unvorstellbar halte ich es, daß dies, mit der Begründung, es handle sich um eine sitzungsfreie Woche, versäumt würde. Meines Erachtens müssen wir dieses ebenso aufwühlende wie mahnende Datum dazu nutzen, um allen Deutschen das Ergebnis und die Folgen eines verbrecherischen politischen Massenwahns in Erinnerung zu bringen und dies öffentlich - auch vor den von Krieg und Nazigreueln mitbetroffenen Völkern auszusprechen. Hierfür reichen stille Nachdenklichkeit und hochrangige politische Gesten der Aussöhnung nicht aus. Hier muß Sprachlosigkeit überwunden und der Versuchung zur Verdrängung widerstanden werden. Wir, die frei gewählten Vertreter unseres Volkes, müssen die Bereitschaft und die Ehrlichkeit aufbringen, uns den geschichtlichen Tatsachen und Zusammenhängen zu stellen. Hierzu sollten alsbald - zunächst in einem kleinen Kreis von Vertretern aller Fraktionen Überlegungen angestellt werden, in welcher Form und mit welchen Inhalten ein solches Gedenken des Bundestages gestaltet werden sollte, um besonders auch jungen Mitbürgern die Konsequenzen aus diesen Erfahrungen und unsere weiter wirkende Verantwortung hierfür weiter zu vermitteln.
Mit der Bitte, die Überlegungen und Anregungen aufzunehmen und zu überprüfen, verbleibe ich mit dem Ausdruck meiner vorzüglichen Hochachtung
gez. Hildegard Hamm-Brücher
10. Wissen und Gewissen -
Das Besondere an den deutsch-israelischen Beziehungen[11]
Wenn wir heute an die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen dem Staate Israel und der Bundesrepublik Deutschland vor zwanzig Jahren zurückdenken, dann ist es hilfreich, daß wir uns auch und zuerst an sechs maßgebliche »Baumeister« dieses Ereignisses erinnern: An Konrad Adenauer und David Ben Gurion, an Professor Franz Böhm und Felix Shinnar, an Martin Buber und Theodor Heuss. Mit diesen sechs Namen verbinden sich Erinnerungen an die drei »Ebenen«, auf denen - beginnend mit den fünfziger Jahren - erste zwischenstaatliche, zwischenmenschliche und politische Kontakte geknüpft wurden, Ebenen, auf denen der Boden zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen bereitet wurde. Hierzu bedurfte es auf deutscher Seite nicht nur des erdrückenden Wissens um unsere grauenhafte Verstrickung in das Schicksal der europäischen Juden, sondern auch des Gewissens für unsere kollektive Mitverantwortung. Nicht minder schwierig waren die ersten tastenden Schritte auf israelischer Seite. Wenn es schließlich zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen kam, dann waren es vor allem diese sechs Männer, die die Voraussetzung hierfür mit großer persönlicher Hingabe geschaffen haben. Ihnen kommt das Verdienst zu, jeweils in ihrem eigenen Lande und in der zwischenmenschlichen Begegnung mit dem anderen, behutsam und tapfer, bahnbrechend gewirkt zu haben. Dieses tapfer-behutsame Bahnbrechen möchte ich am Beispiel von Theodor Heuss in Erinnerung rufen: Seine lebenslangen, auch durch Trennungen nicht abgebrochenen Freundschaften mit Juden, seine zahlreichen Begegnungen mit Martin Buber, sein persönliches Beispiel des »Muts zur Liebe« bei der Überwindung von Haß und Vorurteilen und sein tapferes Bekenntnis zur Kollektivscham der Deutschen, zu der er sich vor, während und nach seiner Bundespräsidentschaft unerschrocken bekannte, haben mehr zur Vorbereitung offizieller Kontaktaufnahme beigetragen, als bisher historisch aufgearbeitet werden konnte. Sein erster Besuch in Israel konnte erst kurz nach Beendigung seiner Bundespräsidentschaft stattfinden. So reiste er im Mai 1960 - fünf Jahre vor Aufnahme der diplomatischen Beziehungen - nach Israel. Über diese Reise liegen zwei interessante Dokumente vor: ein Interview mit der »Jerusalem Post« und die Aufzeichnung eines Gespräches mit Thilo Koch im Deutschen Fernsehen nach seiner Rückkehr. Beide Dokumente spiegeln die Intensität und die rücksichtslose Anteilnahme, mit der sich Theodor Heuss dem schmerzlichen und geduldigen Aufarbeitungsprozeß gewidmet hat. Zwei Zitate mögen das belegen: Aus dem Interview: »Jeder von uns Deutschen hat sich für seine Person und unser ganzes Volk als Kollektiv vor den Juden in ihrer Gesamtheit und vor jedem Juden als Individuum dessen zu schämen, was Menschen meiner Nation verbrochen haben. Ebenso erfüllt von dieser Scham stehen wir aber auch vor der Geschichte da, vor der der Name des deutschen Volkes derart geschändet worden ist...« Aus dem Fernsehgespräch: »Ich bin mir vollkommen klar darüber, daß dieser Aufenthalt keine seelische Beruhigungsreise weder für mich noch für die anderen sein konnte. Die Israeli, die ihren Staat und ihr Volk jetzt bilden -, - -. haben doch den furchtbaren Geschichtsvorgang des Versuchs der Massenaustilgung, der Massenvernichtung ungezählter unschuldiger Männer, Frauen, Kinder in ihrem Bewußtsein behalten, und wir dürfen diesen Vorgang aus unserem Bewußtsein nicht ausscheiden... das wäre einfach Feigheit gegenüber der Wahrheit...« Damals, im Jahre 1960, war die Zeit zur Aufnahme offizieller Beziehungen noch nicht reif. Theodor Heuss aber hat bis zu seinen letzten Lebenstagen den Boden hierfür bereitet. Den Mai 1965 hat er nicht mehr erlebt. So lange hat es noch gedauert, bis nach einer letzten Phase innen- und außenpolitischer Störmanöver »der Rubikon überschritten« wurde - wie es der damalige stellvertretende Chefredakteur der »Frankfurter Rundschau«, Karl-Hermann Flach, in seinem Aufsatz in der »Tribüne«, Nr. 15, 1965, sehr anschaulich charakterisiert hat. Auch diesen Aufsatz nach zwanzig Jahren nachzulesen ist lohnend, beschreibt Flach doch das mögliche Dilemma einer deutschen Israel-Politik im Kräftefeld einer »ausgewogenen« Nah-Ost-Politik. Das heißt: Wie lassen sich die notwendigerweise fortwährende besondere Qualität deutsch israelischer Beziehungen und das Interesse an guten Beziehungen mit arabischen Staaten, die das Existenzrecht Israels in gesicherten Grenzen zumindest nicht verneinen - wie lassen sich beide scheinbar widerstrebende Aspekte unserer Nah-Ost-Politik glaubwürdig vertreten? Geht das überhaupt? Flach ermutigt dazu und schreibt: »Bei gutem Willen auf beiden Seiten haben die israelisch deutschen Beziehungen eine ganz weite Perspektive. Die deutsch-jüdische Symbiose wurde in Auschwitz verbrannt. Sie ist in der Form, in der sie einst befruchtend wirkte, zu Ende. Trotzdem: es gab sie einmal, sie ist historische Realität. Es gibt zu viele Bindungen zwischen der jüdischen und deutschen Geisteswelt, als daß der Versuch hoffnungslos wäre, sie in einer anderen geschichtlichen Situation auf andere Weise neu zu beleben.« Rückblickend auf die in diesen zwanzig Jahren kräftig entwickelten deutsch-israelischen Beziehungen (trotz mancher politischen Irritationen) sehe ich hier - in der geistig menschlichen Begegnung - die wirklich weiterführenden Ansätze zur Überbrückung der Abgründe zwischen dem Gewesenen und einem behutsam wachsenden neuen Vertrauen: In der immer wieder neu gewagten Begegnung und dem offenen Gespräch zwischen jungen Deutschen und Israelis, zwischen Christen und Juden, zumal in Begegnungen, die eine Intensität erreicht haben, wie sie noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wäre. Hier möchte ich vor allem an die ständige Arbeitsgemeinschaft »Christen und Juden« erinnern, die auf evangelischen Kirchentagen für Tausende von Besuchern eine beglückende Anziehungskraft gewonnen hat und die weit in die tägliche Arbeit christlicher Gemeinden hineinwirkt. Zwei weitere Beispiele für die neue Qualität dieses mühsamen, aber hoffnungsvollen Prozesses mögen für andere stehen: einmal die Briefe von jungen Deutschen einer Schulklasse des Gymnasiums Hochdahl an die »Jerusalem Post« als Reaktion auf dort veröffentlichte Leserbriefe - eine Korrespondenz, die die Schocks und die Schwierigkeiten auf dem Weg zu einer wirklichen Aussöhnung zwischen Deutschen und Juden aufscheinen läßt, aber auch das ernsthafte Bemühen auf beiden Seiten. Am Ende waren es 34 leidenschaftliche Leserbriefe, die den deutschen Schülern mehr Geschichtsverständnis vermittelten als aller Unterricht. Das zweite Beispiel ist eine Schüler-Lehrer-Eltern-Partnerschaft, die sich zwischen Schulen in Hildesheim und solchen in Haifa angebahnt hat und die trotz aller Schwierigkeiten und unzureichender Mittel fortgesetzt und ausgebaut werden soll. Trotz zahlreicher schöner und bewegender Beispiele dieser Art muß der Stand der Beziehungen auch realistisch in seinen Schwachstellen gesehen werden: Es bleibt auch für die nächsten zwanzig Jahre noch viel zu tun. Vor allem wünsche ich mir, daß in beiden Ländern die Zahl der Entschlossenen, der Einsichtigen, derer, die über alle Schwierigkeiten und Hindernisse die Hoffnung auf Aussöhnung, auf Wiederbegegnung und, im Rahmen des materiell Möglichen, auf Wiedergutmachung stellen, größer wird - und die Zahl derer, die es leider auch gibt, der Unversöhnlichen und bei uns der Unverbesserlich-Ewiggestrigen kleiner. Auch in die häufig geäußerte offizielle Selbstzufriedenheit über den guten Stand der deutsch israelischen Beziehungen vermag ich nicht recht einzustimmen. Zahlen allein sind hierfür noch kein Beweis. Deshalb wünsche ich mir anläßlich der 20. Wiederkehr der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und der Bundesrepublik Deutschland (die ja mit dem 40. Jahrestag des Kriegsendes und der Hitlerschen Schreckensherrschaft zusammenfällt), daß wir uns »um unserer selbst willen« nicht mit dem Erreichten zufrieden geben. Immer noch und immer wieder brauchen wir im Sinne von Theodor Heuss mehr Besinnung, immer wieder mehr Geduld, Liebe und Versöhnungsbereitschaft als die Neigung, einen Schlußstrich zu ziehen. Das erfordert stets von neuem Mut zum Begreifen des Geschehenen. Das fordert unser Wissen und Gewissen heraus. Damit müssen wir uns wappnen, wenn wir den Beziehungen zwischen Deutschen und Israelis, zwischen Juden und Christen ein dauerhaftes Fundament geben wollen.
11. Zur Strafbarkeit der »Auschwitz-Lüge«[12]
Herr Präsident!
Liebe Kollegen und Kolleginnen!
In den letzten Wochen habe ich wiederholt, letztlich leider vergebens, versucht, im Streit um die nun zur Entscheidung anstehende Gesetzgebung, die sogenannte Auschwitz-Lüge unter Strafe zu stellen, zu einer von allen Fraktionen gemeinsam getragenen Lösung beizutragen. Ich fühlte mich dazu auch aufgrund meiner eigenen politischen Biographie verpflichtet, die in den vierziger Jahren in dem erweiterten studentischen und kirchlichen Widerstand begann und die heute eine fast vierzigjährige Erfahrung ausmacht. Wie viele von uns treibt mich die Sorge um die glaubwürdige Gemeinsamkeit aller Demokraten, und dies gerade im Vorfeld des Datums 8. Mai. Deshalb habe ich mich entschlossen, und zwar nicht leichten Herzens, am Rednerpult zu erklären, weshalb ich dem Koalitionskompromiß nicht zustimmen kann, sondern dem ursprünglichen Regierungsentwurf - trotz mancher Schwächen zustimmen werde. (Beifall bei der SPD) Im ursprünglichen, von Bundeskanzler Helmut Kohl unterzeichneten Regierungsentwurf, ging es klar und unmißverständlich um einen einzigen Straftatbestand: die Leugnung von Naziverbrechen und die Beleidigung und Verunglimpfung ihrer Opfer. Allein davon - und von nichts anderem - ist auch in der
Begründung dieses Entwurfs die Rede. Das sollten wir nachlesen. Konkret geht es um einen staatlichen Schutz der Opfer des Nationalsozialismus oder ihrer Nachkommen und um die gebotene vorbeugende Wachsamkeit, neuerlichen Anfängen zu wehren. Dies ist allerdings, Herr Kollege Lowack, angesichts der abstoßenden und alarmierenden Beispiele von Neonazismus dringend geboten. (Beifall bei der SPD und den Grünen)
Rechtspolitisch wäre es eine Manifestation des Gesetzgebers, sich zu jener nie verjährenden Scham und Mitverantwortung nun auch im Gesetz zu bekennen, an die Theodor Heuss uns bei der Einweihung des Mahnmals im ehemaligen KZ Bergen-Belsen 1952 gemahnt hat, was der Bundeskanzler am letzten Sonntag in Bergen-Belsen stellvertretend für uns alle eindrucksvoll wiederholt hat. Das alles, liebe Kollegen und Kolleginnen, waren klare Worte, denen nun aber auch klare Taten folgen müssen. (Beifall bei der SPD und den Grünen) Andernfalls bleiben sie Worthülsen. Das ist es ja gerade, was uns immer wieder bei jungen Menschen so unglaubwürdig macht. (Beifall bei der SPD und den Grünen) Um so bedauerlicher und widersprüchlicher finde ich es, daß der ursprüngliche Regierungsentwurf innerhalb der CDU/ CSU-Fraktion keine Mehrheit gefunden hat. Statt dessen wird nun den Abgeordneten der Koalition – ich frage: auf Drängen welcher Kreise eigentlich? - (Beifall bei der SPD und den Grünen Seiters (CDU/CSU): Was soll denn das heißen?) ein mir unverständlich verklausulierter, mir in seiner Zielsetzung diffus erscheinender Kompromiß abverlangt. (Seiters (CDU/CSU):Das ist keine Erklärung nach der Geschäftsordnung zur Abstimmung! Weitere Zurufe von der CDU/CSU) - Herr Kollege, ich habe Sie auch angehört. Seien Sie doch so freundlich, und hören Sie auch meine Erklärung an, (Beifall bei der SPD und den Grünen Seiters (CDU/CSU): Das ist ein Debattenbeitrag, Herr Präsident! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU) die ich hier wirklich nicht leichten Herzens abgebe. (Seiters (CDU/CSU): Ein Debattenbeitrag! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU) Damit wird das eigentliche Anliegen relativiert und leider auch seiner Glaubwürdigkeit entkleidet. (Beifall bei der SPD und den Grünen) Beides empfinde ich als schwer zumutbar.
Ich erkenne, Herr Kollege, auch als Verfechterin des Art. 38 Abs. 1 des Grundgesetzes, Koalitionserfordernisse durchaus an. Aber ich vermag unter Berufung auf diesen Artikel doch nicht zu akzeptieren, (Seiters (CDU/CSU): Wer will denn das?) daß ich von einem Regierungsentwurf, für den ich ja gestimmt habe, abrücken und statt dessen für eine Version stimmen soll, mit der nach meiner Ansicht dem Prinzip einer uns nicht erlaubten Aufrechnerei Tür und Tor geöffnet wird. (Beifall bei der SPD und den Grünen) Es geht mir um den politischen und moralischen Kern dieser Änderung. Mit den Worten »oder einer anderen Gewalt- und Willkürherrschaft« wird zumindest indirekt jene politische Intention deutlich, die Theodor Heuss als »schreckliche Aufrechnerei« gebrandmarkt und als das »Verhalten moralisch Anspruchsloser« schonungslos zurückgewiesen hat. Ich muß leider schließen. Ich möchte in dem Geiste, wie er beispielhaft in den Flugblättern der »Weißen Rose« zum
Ausdruck kommt und für den Hans und Sophie Scholl, Alexander Schmorell, Willi Graf, Christoph Probst und Kurt Huber 1943 aufs Schafott gingen, ein Zitat vorlesen, das für mich persönlich Vermächtnis und Auftrag bedeutet. Ich zitiere:
... als Beispiel - für die Nazigreuel -
»wollen wir die Tatsache anführen, daß seit der Eroberung Polens dreihundert tausend Juden in diesem Land auf bestialischste Art ermordet worden sind. Hier sehen wir das fürchterlichste Verbrechen an der Würde des Menschen, ein Verbrechen, dem sich kein ähnliches in der ganzen Menschengeschichte an die Seite stellen kann...«
Und später heißt es:
»... aus Liebe zu kommenden Generationen muß- deshalb -
nach Beendigung des Krieges ein Exempel statuiert werden, daß niemand auch nur die geringste Lust je verspüren sollte, Ähnliches aufs neue zu versuchen. «
Dieses Exempel zu statuieren - daß nie wieder jemand die geringste Lust verspürt, etwas Ähnliches zu versuchen -, darauf kommt es in diesem Gesetz an! Deshalb meine ich, daß es eine große Stunde des Deutschen Bundestages wäre, wenn wir in diesem Geist der »Weißen Rose« das zur Entscheidung anstehende Gesetz ohne Wenn und Aber, ohne Sowohl-Als-auch annähmen. Deshalb stimme ich für den ursprünglich vorgelegten Regierungsentwurf. (Lebhafter Beifall bei der SPD und den Grünen)