Einführung
Die im zweiten Kapitel zusammengefügten Beiträge dokumentieren und reflektieren meine demokratischen Grundüberzeugungen und mein allgemeines politisches Engagement. Beginnend mit meiner ersten Rundfunkansprache im Stadtratswahlkampf 1948 (Ziffer 2) bis zu meiner Bilanz 1985 (Ziffer 1) geht es in den fast vier Jahrzehnten, die dazwischenliegen, meist um kontroverse Auseinandersetzungen mit konservativen und restaurativen Mehrheiten. Schwerpunkte waren die in den ersten Nachkriegsjahren sträflich vernachlässigten Frauen-, Jugend und Bildungsfragen (Ziffer 3 6). In den sechziger Jahren dann galten meine politischen Sympathien den studentischen Protestbewegungen (solange sie gewaltfrei auftraten) gegen versäumte Reformen und streitbaren Demokraten wie Heuss, Dehler, Heinemann... (Ziffern 7, 8, 9, 11). Nicht ausgespart werden aber auch kritische und selbstkritische Einwände und Vorbehalte gegenüber Fehlentwicklungen, ideologischen Einseitigkeiten und mangelndem Durchhaltevermögen während der Reformperiode der siebziger Jahre (Ziffern 10, 12).
1. Politik als Frauenberuf oder: Über den Mut zum eigenen Weg
(Rückblende 1985)[13]
Oft werde ich gefragt, wie ich diesen politischen Marathon über vier Jahrzehnte »als Frau« ausgehalten habe, immer an vorderer Front und häufig in politische Kämpfe verwickelt, in denen ich von vornherein eher als David denn als Goliath in der politischen Arena stand. Ehrlich geantwortet: Ich weiß es oft selber nicht, denn mit der lapidaren Feststellung, ich hätte »Mut zur Politik als Beruf« gehabt, ist mein politischer Lebenslauf nicht befriedigend zu erklären. Tatsächlich hat mich in all diesen Jahren der »Mut zur Politik« mehr als einmal verlassen. Und doch hat er sich immer
dann wieder eingestellt, wenn mir klar wurde, daß es sich ja nicht um mich handelte, um meinen Erfolg oder mein Scheitern, sondern um die dauerhafte Verwirklichung einer freiheitlichen Demokratie und um meinen persönlichen Beitrag als Frau hierzu. Oft heißt es, ich sei »unbequem«. Angesichts der bisher ausschließlich von Männern politisch geprägten Welt halte ich das für nur natürlich. Mein Verständnis von einer spezifischen Verantwortung als Frau in der Politik war und ist auch für mich nicht bequem. Meine entscheidende Motivation ist über vierzig Jahre die gleiche geblieben: nach der leidvollen Erfahrung der Unfreiheit die Chance der Freiheit zu nutzen. Ich habe Politik zu meinem Beruf gewählt, weil ich davon überzeugt bin, daß
- Freiheit Vernunft ermöglicht,
- Vernunft Freiheit garantiert,
- Freiheit und Vernunft Menschenwürde gewährleisten.
Dieser Dreisatz umschreibt mein liberal-demokratisches Bekenntnis und ist für mein politisches Denken und Handeln zu einer Art von kategorischem Imperativ geworden. Nach vierzig Jahren politischer Erfahrungen im Bretterbohren, im Scheitern vieler Hoffnungen und im Dennoch! -Sagen -was ist es, was ich davon zu unserem Thema Politik als Frauenberuf oder über den Mut zum eigenen Weg (Emanzipation) allgemeingültig weitergeben könnte? Hierfür möchte ich im Sinne Max Webers den Begriff »Politik« zunächst sehr weit fassen und jede Form, jeden Weg des eigenständigen Engagements, des emanzipatorischen Verhaltens in meine Betrachtungen mit einbeziehen. Denn die gleichen Schwierigkeiten und Probleme, die Frauen in der Politik haben, haben sie im Prinzip mehr oder weniger auch in jedem anderen Beruf - und hatten sie zu allen Zeiten. So verstanden, gab es zu allen Zeiten Frauen, die den Mut zum eigenen emanzipatorischen Weg aufgebracht haben. Ich nenne beispielhaft: Antigone und Johanna von Orleans, Elisabeth von England und Kristina von Schweden, George Sand, Florence Nightingale, Rahel Varnhagen, Bertha von Suttner, Sophie Scholl, die Vorkämpferinnen für Frauenrechte, Dichterinnen und Märtyrerinnen. Allen eben genannten Frauen ist gemeinsam, daß sie ihr Leben in den Dienst einer Idee, einer Aufgabe gestellt haben, deren Erfüllung zunächst »unmöglich« schien, für sie persönlich aber existentiell so wichtig war, daß sie dafür die Konventionen und Geborgenheiten ihres vorgegebenen Lebens hinter sich ließen und sich für einen eigenständigen Lebensweg entschieden. Sie haben ihr »Dennoch« durchgehalten und damit - jede in ihrer Art - Beispiele individueller Emanzipation gegeben, die (nach meinem Verständnis unserer Situation) auch heute, im Zeitalter kollektiver Emanzipation, ihre prinzipielle Bedeutung nicht verloren haben. Weshalb? Zwar hat es den Anschein, als ob es für Frauen in der westlichen Welt heute keines besonderen Mutes mehr bedarf, aus überlieferten Konventionen und Verhaltensmustern auszubrechen, um sich für den eigenen Weg - auch in der Politik - zu entscheiden. Dazu werden wir Frauen ja ermutigt - dazu ermutigen wir uns gegenseitig. Auf den ersten Blick scheint »Mut zum eigenen Weg« - auch in der Politik - wirklich kein Thema mehr zu sein. Stimmt dieser äußere Anschein? Oder hat es mit unserer teils erkämpften, teils geschenkten Emanzipation nicht doch eine kompliziertere Bewandtnis? Ich meine: Ja! Es hat immer dann eine kompliziertere Bewandtnis, wenn man unter dem »eigenen Weg« mehr verstehen will als den nunmehr erlaubten Einzug von Frauen in Berufe, Ämter und Positionen, die bisher Männern vorbehalten waren, oder auch die Inanspruchnahme gesellschaftlicher Freizügigkeit und Unabhängigkeit. Meiner Erfahrung nach stellt sich für Frauen die Frage nach dem wirklich »eigenen (politischen) Weg« noch einmal neu und auch komplexer, je mehr Wege ihr offen stehen, und je selbstverständlicher sie begehbar sind. Es ist die Frage nach dem eigenen Selbstverständnis ihrer »Rolle« in einer männlich geprägten Umwelt. Ich nenne vier Schritte, die nach meiner Erfahrung erst zu wirklicher emanzipatorischer Eigenständigkeit führen:
- Der erste Schritt heißt, sich einer Aufgabe zu stellen - ein Ziel zu haben.
- Der zweite Schritt betrifft die Qualifikation.
- Zusätzlich zu einer guten fachlichen Qualifikation und einem Ziel im Auge bedarf es als eines dritten Schrittes bei der Durchsetzung der Motivation.
- Der vierte Schritt betrifft das Durchhalte- und Durchsetzungsvermögen.
Wir wollen die Konsequenzen aus dem vorher Gesagten bedenken. Was heißt es nun, Emanzipation einmünden zu lassen in Partnerschaft? Denn das ist es, was ich für die eigentliche Vollendung des Emanzipationsprozesses halte: den eigenen Weg einmünden zu lassen in einen Beitrag zur Veränderung der männlich geprägten Macht- und Entscheidungsstrukturen in einer Berufswelt, wie wir sie heute - inklusive der der Politik vorfinden. Erlauben Sie mir, noch einmal von meinen eigenen Erfahrungen zu sprechen! Erstens: Zweifellos war es und ist es für eine Frau ziemlich schwer, sich im herkömmlichen politischen Geflecht männlicher Macht- und Interessenkämpfe zu orientieren. Noch schwerer ist es, dieses Geflecht nicht als gottgegeben hinzunehmen, sondern immer von neuem zu versuchen, sich darin zu behaupten, ohne die eigenen Vorstellungen und Überzeugungen preiszugeben oder sich mit stiller Anpassung und männlicher Gnade zu begnügen. Sicher wird es noch auf lange Zeit für jede Frau ein Wagnis bleiben, Politik als Beruf bewußt unangepaßt auszuüben. Wenn ich von »Mut zur Politik« schreibe, meine ich nicht den Mut zu Kraftakten, vielmehr den Mut zu immer neuer selbstkritischer Distanz, zu Stehvermögen, Durchhaltekraft, Selbstvertrauen und - Menschenliebe. Erst wenn Politik von mehr Frauen nicht als angepaßter Männerberuf verstanden und durchgehalten wird, kann ein gegenseitig befruchtendes und partnerschaftliches Politikverständnis heranreifen. Das ist meine vielleicht wichtigste Einsicht aus fast vier Jahrzehnten politischer Arbeit: Frauen in der Politik müßten stärker als bisher darauf bestehen, neben der Erfüllung von Sachaufgaben auch den Stil, die Integrität und die Güte demokratischer Politik zu verändern. Sie müßten und könnten damit dem Vertrauensschwund in die Glaubwürdigkeit der Politiker entgegenwirken. Zweitens: Die Hindernisse und Widerstände gegenüber partnerschaftlicher Politik von Mann und Frau sind nach wie vor nicht überwunden. Noch fehlt es an gegenseitigem Verständnis und Verständigung, wie eine solche partnerschaftliche Politik überhaupt aussehen könnte. Hier wurzelt mein grundsätzlicher Einwand gegen das vorherrschende politische Regiment der Männer. Nicht, daß es nicht immer wieder exzellente Politiker gäbe. Aber es sind ausschließlich männliche Prinzipien, die Politik zumeist abstrakt statt konstruktiv zu gestalten, reglementierend statt ordnend, formalisierend statt inspirierend. Es sind traditionell männliche Prinzipien, die auf Macht und Vorteil bedacht sind und nicht auf Ausgleich und Fairneß. Das muß ja die Verkümmerung seelischer Kräfte zur Folge haben. Von »Partnerschaft« wird da allenfalls in Sonntagsreden gesprochen. Die männlichen Repräsentanten staatlicher und politischer Macht scheinen oft gar nicht mehr imstande zu sein, aus den von ihnen selbstgeschaffenen Stereotypen oder Zwängen auszubrechen und neue lebendige Impulse zu empfangen. Drittens: Je älter ich werde, je nüchterner ich den politischen Männlichkeitswahn durchschaue, um so bewußter bemühe ich mich darum, mich davon zu emanzipieren, indem ich immer von neuem nach einem eigenständigen Verständnis meiner Aufgaben und Möglichkeiten suche. Denn auch dies ist ebenso grotesk wie charakteristisch: Wenn eine Frau ihre Sache außerhalb der vier Wände gut macht, zollt man ihr als höchstes Lob: Sie steht ihren Mann! Oder: Sie ist der einzige Mann im Parlament!
Hier muß das einsetzen und ansetzen, was ich das Prinzip Partnerschaft nennen möchte! Nur durch dieses Prinzip und mit ihm können wir Inhalte, Stil, Integrität und Glaubwürdigkeit demokratischer Politik verbessern und damit dem derzeitigen Vertrauensschwund entgegenwirken. Wir können das nicht, indem wir Frauen uns nur anpassen, sondern indem wir genau hinsehen, Einfluß nehmen und dann verändern - möglichst in Partnerschaft mit dem Mann. Denn erst dann und nur dann wird sich unser Emanzipationsprozeß vollenden, wenn wir ihn als gemeinsamen Prozeß begreifen. Erich Fromm weist uns in seinen großen Arbeiten »Haben oder Sein« und »Die Kunst zu lieben (Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft)« hierzu den richtigen Weg. Zu Recht warnt er vor der Gefahr, daß als Folge der Standardisierung des Menschen und einer nicht mehr individualisierten Gleichheit auch die Polarität der Geschlechter und damit Menschlichkeit und Liebesfähigkeit verloren gehen. Ich teile diese Befürchtungen in ihrem Kern: Unsere freien Gesellschaften werden von Männerbürokratien und von Berufspolitikern bedroht, die - nach Max Weber - nicht für die, sondern von der Politik als Beruf leben. Die Menschen werden zumeist, oft ohne sich dessen bewußt zu werden, durch Massensuggestion manipuliert mit der Folge der Entfremdung und Vereinsamung. Im gleichen Maße nehmen die Bereitschaft und die Kraft zur gemeinsamen Lösung von Problemen, zur gegenseitigen zwischenmenschlichen Zuwendung, in den persönlichen Beziehungen und im Zusammenleben größerer Gemeinschaften ab. Da wir aber das Glück haben, in freiheitlichen Staats- und Gesellschaftsformen zu leben, brauchen wir uns damit nicht abzufinden. Wir können diesen Gefährdungen entgegenwirken und wir müssen das auch, wollen wir unserer Verantwortung für unsere Freiheit gerecht werden.
Hier sehe ich den eigentlichen, sehr spezifischen Beitrag, den Frauen nach Erringen ihrer Gleichberechtigung, also ihrer kollektiven Emanzipation, leisten müssen, und zwar in Partnerschaft mit den Männern: Sie sind es, die prädestiniert sind, den genannten Gefährdungen der Entpersönlichung, der Standardisierung, der Gefühlsarmut zu widerstehen und damit zur Vermenschlichung des öffentlichen Lebens und Zusammenlebens beizutragen. Es liegt mir fern, Politik als Frauen-Beruf zu einer Art Heldinnen- oder Märtyrerinnenepos umzustilisieren. Aber es ist mir wichtig, meine Erfahrung weiterzugeben, daß sich männliches und weibliches Bretterbohren mit Augenmaß und Leidenschaft grundsätzlich voneinander unterscheiden. Im besten Fall ergänzen sie einander, im schlechten Normalfall schließen sie einander aus. Entscheidend im Sinne Max Webers ist es, sich als Frau nicht mit den ausschließlich von Männern geschaffenen Gegebenheiten zu begnügen, sondern nach dem scheinbar Unmöglichen zu greifen, um geduldig das mögliche Bessere zu erreichen und dabei immer wieder »dennoch« zu sagen ohne Verbitterung. Daraus mag jene Festigkeit des Herzens erwachsen, die aus dem Scheitern aller Hoffnungen gewachsen ist. Dies sind die Erfahrungen, die sich in meinem Politikerleben immer wieder bestätigt haben. Sie der nächsten Politikerinnen Generation zur Ermutigung weiterzugeben ist mein Wunsch.
2. Wahlkampf (1948)[14]
Liebe Hörerinnen und Hörer, uns ABC-Schützen der Demokratie wird es nicht besser gehen als früher in der Schule: Erst wird das kleine Einmaleins wirklich sitzen müssen, bevor wir das »große« mit Erfolg üben können, und wenn wir in diesen Wochen unsere kommunale Selbstverwaltung für vier Jahre neu wählen, dann werden wir beweisen können, welche Fortschritte wir im »kleinen« gemacht haben. Für die Wertung dieses Fortschrittes gibt es keine »mildernden Umstände«. Wenn das oft gehörte Bedenken - eine Demokratie könne unter einer Besatzungsmacht nicht selbständig werden - vielleicht auch bisweilen zutrifft: als Begründung für das Nichtfunktionieren der kommunalen Selbstverwaltung ist es, gelinde gesagt, eine faule Ausrede. Bei einigermaßen vernünftiger Verwaltung gibt es dort keinen Bereich, in dem ein Eingriff oder ein Veto der Besatzungsmacht zu befürchten wäre. Hier können organische demokratische Lebensformen so ungestört wachsen und eingeübt werden, daß sich später die heute noch überwachten größeren Funktionen spielend mit einbeziehen lassen. Jede - und sei es nur die kleinste - Besserung oder Erleichterung in unseren alltäglich unerträglichen Lebensverhältnissen wird sich im großen bezahlt machen. Denn auch im kleinen Einmaleins der Demokratie macht Übung und abermals Übung den Meister, und praktische mehr als theoretische. Vielleicht wird es Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, die Sie zufällig oder regelmäßig zu dieser Stunde am Radio sitzen, ein wenig verwundern, daß ich mir - falls ich gewählt werde für diese, mir so entscheidend dünkende Arbeit im Stadtrat kein festes Programm aufgestellt, ja nicht einmal vorgenommen habe. Es sind nur einige prinzipielle Grundsätze, die meine kommunale Arbeit bestimmen würden; Grundsätze, die nicht das Wohl und Wehe einer Partei, sondern das des Menschen zum Inhalt haben. In erster Linie geht es nicht um die Zahl der Mandate, um eine erfolgreiche Parteitaktik oder um Stimmenfang. Es wird bei einer liberalen Kommunalpolitik vor allem um die Entlastung und Ermutigung des geplagten Bürgers gehen; gleichermaßen geplagt von staatlicher, städtischer und sonstiger Verwaltungsbürokratie, wie auch von den Folgen engstirniger und engherziger Kirchturmpolitik, von Umstandskrämerei, von anonymen Schikanen und unfreundlicher Vernachlässigung oder gar Mißachtung des Individuums. Für unsere Vertreter im Münchener Stadtrat würde es auch ein Hauptanliegen sein, daß diese Stadt ihr Scherflein dazu beiträgt, wieder zu dem kulturellen Mittelpunkt zu werden, der ihr ihrer Tradition und Anlage nach zusteht. Dazu gehört zweifellos, daß die Münchener Universität wieder zur ersten und besten Deutschlands aufrückt. Bedenken Sie doch bitte, welche Bedeutung die Hochschulen für den Wohlstand und das Ansehen der bayerischen Hauptstadt hatten! Um diese Ziele, die sich alle stecken, denen eine wirkliche Renaissance Münchens am Herzen liegt, um diese Ziele zu erreichen, muß der endlosen Bürokratie ein Ende gemacht werden. Wir müssen sie bei der Wurzel packen. Es darf nicht mehr vorkommen, daß auch nur ein einziger auf einen Lehrstuhl berufener Wissenschaftler dem Ruf nach München nicht Folge leisten kann, weil ihm die Stadt Zuzug und Wohnung versagt. Bürokratische Verordnungen sollen von Menschen gehandhabt und nicht maschinell verwirklicht werden!
Es müssen Ausnahmen gemacht werden, und zwar vor allem in all den Fällen, bei denen es sich um die Erhaltung und Mehrung lebendiger, geistiger oder materieller Werte handelt. Ich nannte als einen weiteren Leitfaden für meine kommunale Arbeit das Angehen gegen jede Umstandskrämerei. Das bedeutet ganz generell: praktisch sein - vereinfachen, und daraus ergeben sich weitere ungeahnte Möglichkeiten zur Entschärfung unserer Bürokratie. Hier liegt die große Chance für die politisch interessierte und die praktisch erfahrene Frau. Die Fürsorge für unsere Alten und Kranken zum Beispiel und für unsere Heimatlosen und verelendeten jungen Menschen, die man immer noch und immer wieder dadurch zu bessern sucht, daß man sie, einmal beim Schwarzhandel ertappt, tage-, wochen- oder gar monatelang mit »schweren Brüdern« in eine Zelle sperrt. Auch die Pflege, der Aufbau und die Verbesserung unserer Schulen und Kindergärten würde mir ein Hauptanliegen sein. Für den Schmutz und die unhygienischen Verhältnisse in unseren Schulen gibt es keine Entschuldigung. Die erfolgreiche Initiative des deutsch-amerikanischen Frauenclubs, der sich um rasche Abhilfe bemühte, beweist es zur Genüge. Ich möchte so weit gehen zu sagen, daß alle städtischen Büros und Ämter nicht eher mit Besen, Eimern und Putzlumpen versorgt werden dürften, als bis nicht die letzte Schule mit diesen Utensilien ausgestattet ist. Ein fruchtbares Beginnen wäre es vielleicht auch, die oft sehr kostbaren Einrichtungen, die von der amerikanischen Armee dem deutschen Jugendprogramm zur Verfügung gestellt wurden, auch wirklich nutzbar zu machen. In beinahe allen Club Häusern in Stadt und Land gibt es reichhaltige Bibliotheken, tadelloses Bastel- und Handwerkszeug, Sportgeräte; nur fehlt es oft an verständiger und liebevoller Anleitung und Überwachung. Dann müßte versucht werden - soweit es innerhalb der städtischen Kompetenzen überhaupt möglich ist -, vor allem jungen Frauen und Müttern zu dem Aller notwendigsten, was ihnen aufgrund ihrer Bezugscheine zusteht, zu verhelfen. Weiter wird es notwendig sein, bei allen theoretischen Erörterungen und Planungen praktische Notwendigkeiten geltend zu machen - zum Beispiel beim Wohnungsbau.
Wirkliche Verarmung wird nach einer Währungsreform zunächst unser aller Schicksal sein. Nur bei allergrößter Sparsamkeit und rationellster Ausnützung auch der kleinsten Möglichkeit werden wir jedem Bürger und seiner Familie das in der Verfassung garantierte »Recht auf Wohnung« verwirklichen können. Es wird auf jeden Fall gebaut werden müssen. Könnte man nicht von vornherein auch unsere Studenten berücksichtigen, deren Zahl in München über 18000 hinausgewachsen ist? Eine zweite Kategorie, die bei künftigen Bauplanungen nicht vergessen werden darf, ist die der alleinstehenden berufstätigen Frau. Die Folgen des Krieges haben ihre Zahl größer gemacht. Es darf nicht das Los dieser tüchtigen und selbständigen Menschen sein, daß sie nun ihr ganzes Leben als »möblierte Untermieter« fristen müssen. Die Gemeinde ist nichts anderes als eine sehr große Familie. Hier wie dort tauchen täglich neue Fragen und Probleme auf, die gleichermaßen mit dem Verstand wie mit dem Herzen gelöst werden müssen. Wie in der Familie Aufbau und Fortschritt nur durch gemeinsame Anstrengungen und gegenseitiges Vertrauen zustande kommen, so auch in der Gemeinde, deren Vertretung Sie durch wohl überlegte und bedachte Stimmenabgabe jetzt entscheiden können. Die Partei oder die Persönlichkeit, denen Sie Ihr Vertrauen schenken, werden es zu rechtfertigen haben. Vertrauen ist gegenseitig und muß wachsen, und so erschiene es mir wichtig, daß Gemeinderatssitzungen in Zukunft häufiger als bisher öffentlich abgehalten werden und daß dann allerdings von dem Recht der Teilnahme auch fleißiger Gebrauch gemacht wird. Es gibt keinen Grund, zu verzagen oder klein beizugeben. Im Laufe der nächsten Monate werden wir auch mit dem Bau des Hauses eines demokratischen Staates beginnen können. Lassen Sie uns die Zeit nützen und die Fundamente zu diesem Bau stärken. An Wunder dürfen wir allerdings nicht glauben wohl aber an unsere Kraft und an die Fähigkeiten, mit denen wir begabt wurden!
3. Macht und Ohnmacht des einzelnen im Staat[15]
Neulich berichtete ein junger Freund, ein Polizist habe ihn kürzlich angehalten und ihn »Dreckhammel« genannt, weil er versehentlich ein Haltzeichen übersehen habe. Jedem von uns wird wohl schon etwas ähnliches passiert sein. Es muß nicht unbedingt ein »Dreckhammel« gewesen sein, sondern irgendein von uns als ungerechtfertigt und ungerecht empfundener Anraunzer irgendeines Vertreters irgendeiner Obrigkeit z. B. hat genügt, um in uns ein gewisses Gefühl der Rechtlosigkeit, des Ausgeliefertseins gegen den Staat und seine Gewalten bitter aufsteigen zu lassen. Oder wir mußten es erleben, daß wir uns von einer Behörde oder einem Amt gegängelt fühlten, daß uns ein Schalterfenster unter irgendeinem Vorwand vor der Nase zugeschlagen wurde, daß man von uns eine Auskunft verlangt, die zu geben wir theoretisch nicht verpflichtet gewesen wären. Schließlich stellten wir alle schon einmal resigniert fest, alles Sträuben und alles Aufbegehren ist ja völlig nutzlos, die anderen - der Staat - sind halt doch die »Stärkeren«. »Halt! - Einen Moment«, rief in diesem Augenblick unseres Gesprächs eine unserer Jüngsten aus. »Seid ihr aber lahm, und alles wegen des einen >Dreckhammel<. Wo wir doch in einer Demokratie leben, da braucht man sich doch nichts gefallen zu lassen. « Erst lachten wir alle, ein paar wegen des »einen Dreckhammel« und die anderen wegen der sogenannten Demokratie, über die sie von den Erwachsenen nur selten Gutes zu hören bekommen haben.
Deshalb tauchte dann die ernsthafte Frage auf: Wie ist es nun eigentlich heutzutage, ist der einzelne im Staat nur ein ohnmächtiges kleines Wesen, oder besitzt er eine gewisse Macht? Wie vermag er diese Macht auszuüben?
Zuerst einmal fanden wir doch einige Auswege und praktische Vorschläge, um uns gegen persönliche Ungerechtigkeiten und unnötige Gängeleien zur Wehr zu setzen. »Die Möglichkeit der Beschwerde - auch in unserem Beispiel über den Schutzmann können wir ruhig und beharrlich ausnützen«, schlug einer von uns aufgrund eigener Erfahrung vor. »Wenn's not tut, kann man ja auch klagen.« Ein anderer: »Ein offener Brief an eine Zeitung wirkt oftmals Wunder. « Ein Dritter: »Nur nicht locker lassen«, riet ein junger kaufmännischer Angestellter. Die beklagten Zustände würden sich nur dann ändern, wenn man sie sich nicht gefallen ließe und von allen Möglichkeiten Gebrauch mache... Am Stichwort »Wahlrecht« entzündeten sich wieder die Gemüter: »Bedenkt doch«, rief ein Mädchen, »welche Macht der vermeintlich einflußlose einzelne damit hat, daß er sein Wahlrecht nicht ausübt. Er gibt damit heutzutage seine Stimme nur bekannten Mächten, die nicht gerade im Schilde führen, die Macht und das Recht des einzelnen zu vergrößern.« - »Ja aber«, sagte ein Student, »mit der Macht als Wähler, das ist ja doch ein Humbug. Man weiß doch überhaupt nicht, wen man wählt, und die Parteien versprechen vor der Wahl das Blaue vom Himmel herunter, und nachher hört und sieht man nichts davon. Bei wirklich wichtigen Entscheidungen, wie Ost-West, Remilitarisierung, Europa usw. wird der Wähler doch nicht gefragt.« Diese Ansicht ist eine landläufige und so weit verbreitet, daß vielleicht auch viele unserer Hörerinnen und Hörer ihr beipflichten. Aber wir wollen ihr doch einmal auf den Grund gehen: Erinnern wir uns doch einmal an die letzten Wahlen. Haben wir tatsächlich »anonym« Parteifunktionäre gewählt, oder hatten wir nicht innerhalb der Parteien immer die Auswahl zwischen verschiedenen Kandidaten, unter verschiedenen Persönlichkeiten also? Fast alle Teilnehmer pflichteten dem bei. »Man sollte halt den auswählen, der einem am besten gefällt«, sagten die einen, »oder den, der einem am wenigsten schlecht gefällt«, ein paar andere. Und wie ist das dann nach den Wahlen?
Kann man das Verhalten des »Erwählten« kontrollieren? Und dann natürlich die Sache mit dem Fraktionszwang. Junge Freunde von uns berichteten, daß sie noch nie auf ihren Brief an einen Abgeordneten ohne Antwort geblieben wären, und ich dürfte aus eigenen Erfahrungen mit gutem Gewissen sagen, daß wohl kein verantwortungsbewußter Abgeordneter auch nur einen einzigen Brief unbeantwortet, geschweige denn ungelesen in den Papierkorb wandern ließe. Gar nicht davon zu reden, daß er ja auch vielleicht wiedergewählt werden will. Und über den Fraktionszwang ließe sich viel sagen, aber eines vor allem, daß es ihn im alten Sinne nicht mehr gibt, seitdem in der Verfassung steht, daß jeder Abgeordnete nur seinem Gewissen verantwortlich sei. Aber wo liegt dann der Fehler? An dieser Stelle des Gespräches begannen einige von uns, sich an die eigene Brust zu klopfen. »Wie denn«, fragte einer, »wenn wir uns beschweren, an den großen politischen Entscheidungen nicht teilzuhaben, wenn wir schon den kleineren teilnahmslos begegnen. Wenn man sich selber um keinerlei politisches Geschehen kümmert, sei es auf gemeindlicher, landes- oder bundespolitischer Ebene.« Ein anderer kam darauf, daß Wahlen zwar ein wichtiges, aber beileibe nicht das einzige Mittel seien, seinem politischen Willen Ausdruck zu geben. Es gebe für den Staatsbürger noch eine Vielzahl anderer Möglichkeiten, seinem Unmut, seinem Beifall, seiner Anteilnahme an den Dingen des öffentlichen Lebens kontrollierend und warnend, fragend und ermutigend oder auch verdammend Nachdruck zu verleihen. Um ein Ziel zu erreichen, bedarf es allerdings allerhand persönlicher Initiative, Beharrungsvermögens und Tatkraft - »und Wissen!« warf jemand sehr richtig ein. Initiative ohne gewisse Kenntnisse müsse zwangsläufig zu Enttäuschungen führen.
Die weit verbreitete Lethargie aber dürfe man aber nicht mit Ohnmacht verwechseln. Dann wurde unser Gespräch recht praktisch. Einer aus unserem Kreis erzählte von einem kleinen Kreis in Württemberg, der den Staatshaushaltplan durchgearbeitet habe und darauf gekommen war, daß der Etatposten für Ernährung, Kleidung und Ausbildung in staatlichen Heimen viel zu gering war. Sie hatten dann neue Vorschläge ausgearbeitet, und der Erfolg war tatsächlich eine beträchtliche Erhöhung der Staatszuschüsse an die Heime gewesen. Noch andere Beispiele wurden berichtet, und schließlich sah sich die Frage, wie es um Macht oder Ohnmacht des einzelnen im Staate bestellt sei, gar nicht mehr so einfach an wie zu Beginn unseres Gespräches. Wir hatten gefunden, daß in unserer Verfassung und in unserem Wahlsystem doch recht große Befugnisse an jeden einzelnen delegiert werden. Die Schwierigkeit sei nur, daß du und ich - wir alle - die Macht nicht recht zu gebrauchen und sie nicht genug zu wahren wissen. »Wie könnte es anders sein«, sagte einer unserer Jüngsten, der zweimal längere Zeit in der Schweiz war; »wie könnte es anders sein, nachdem wir Jahrhunderte lang zu Untertanen erzogen wurden. Über Nacht können wir uns nicht in selbstbewußte und denkende Bürger verwandeln.« Keine Regierung aber, das habe er in der Schweiz gelernt, könne auf die Dauer gegen den Willen der Regierten herrschen, wenn - ja, wenn sie einen eigenen Willen haben... Zu guter Letzt kamen wir zu einem recht kategorischen Ergebnis. Und weil wir es nicht besser konnten, sagte es einer mit den Worten Kants, die unsere Hörerinnen und Hörer sicher recht gut kennen: »Und handeln sollst du so, als hinge von dir und deinem Tun das Schicksal ab der Dinge und die Verantwortung wäre dein. «
4. Mitarbeit der Jugend - Schicksalsfrage der Demokratie[16]
Ich möchte zuerst einmal aussprechen, daß dieses Thema, unter das wir unseren Parteitag gestellt haben, nämlich »Wir rufen die deutsche Jugend zur Mitarbeit im Staat«, die Schicksalsfrage des deutschen Volkes ist. Mit tiefer Sorge und mit großer Verantwortung haben wir uns dieses Thema gestellt, und wir wollen in diesen Stunden der gegenseitigen Besinnung und Aussprache darüber in aller Offenheit sprechen und dabei vielleicht ein wenig mit uns selber ins Gericht gehen.
Sorge um den geistigen Wiederaufbau
Es erfüllt mich immer wieder politisch und menschlich mit Schrecken, daß heute im Jahre Sieben nach dem Zusammenbruch zwar der materielle Wiederaufbau außerordentlich gute und rasche Fortschritte macht, daß aber der geistige Wiederaufbau arg ins Hintertreffen gekommen ist. Was nützen uns steigende Produktionsziffern, was nützt uns der Wiederaufbau unserer Städte und Wohnungen, wenn auf der anderen Seite die Sorge um unsere von allen Seiten bedrohte Demokratie nicht mitgetragen und geteilt wird, wenn statt dessen auf allen geistigen und kulturellen Gebieten die Entwicklung rückwärts strebt, so daß wir von einer Restauration als einem schleichenden Übel sprechen müssen. Immer wieder in Diskussionen und Aussprachen höre ich diesen Vorwurf von seiten studierender und selbständig denkender Menschen: Was tut ihr, um dieses schleichende Übel aufzuhalten? Nur ein paar Beispiele: Ich erinnere an immer stärker werdende Kräfte, die gegen die Verwirklichung der doch nun verfassungsmäßig garantierten gleichen Berechtigung von Mann und Frau am Werke sind, um auch hier wieder Rückschritt auf Rückschritt zu erzielen. Ich erinnere an die allfällige Schulreform, die ausgegangen ist wie das Hornberger Schießen. Ich möchte mich dagegen verwahren, daß man, um das Scheitern der Schulreform zu erklären, eine Art Dolchstoßlegende erfunden und gesagt hat, es sei eine Sache der Amerikaner gewesen. Nein, es wäre unsere vordringlichste Aufgabe gewesen, einmal unser Schulwesen daraufhin unter die Lupe zu nehmen, welche Aufgabe die Schule im 20. Jahrhundert und im demokratischen Deutschland zu erfüllen hätte. Wir haben gerade erst in den letzten Tagen erlebt, wie dringend erforderlich eine Schulreform wäre und zu welchen pädagogischen Fehlleistungen unsere Lehrer heute noch fähig sind, wenn sie junge, begabte Menschen, die Magazine mit sich herumgetragen haben, relegieren, ohne erzieherische Maßnahmen anstelle dieser völlig sinnlosen Strafe zu setzen.
Das Versagen der älteren Generation
Ich mußte diese Dinge erwähnen, denn sie spielen bei der Beantwortung unserer Frage, wie es uns gelingen kann, die Jugend zur Mitarbeit im Staate zu bewegen, eine entscheidende Rolle. Wir wissen, daß junge Menschen ein sehr feines Organ haben für falsche und unechte Töne der Erwachsenen. Daß sie auf viele Fragen keine Antwort erhalten oder mit Phrasen abgespeist werden, fühlen sie genau und ziehen sich daraufhin zurück. Sie spüren auch, daß wir in einer Welt des Als-Ob leben; denn der Wohlstand ist unecht. Sie spüren, daß man nach einem Zusammenbruch nicht da wieder anknüpfen kann, wo einmal die Welt aus den Fugen geriet, und sie spüren, wie fragwürdig es ist mit unserem »abendländischen Erbe«, das sie nun verteidigen sollen, weil es so wenig lebendig in den Herzen lebt. Deshalb ist es kein Wunder, daß sie entweder materialistisch werden oder anderweitig leicht zu beeinflussen sind. Ich möchte damit sagen, daß die Ursache für die Lethargie letztlich im Versagen der älteren Generation liegt, daß das politische Versagen in Wahrheit ein menschliches Versagen, eine menschliche Krise ist. Hier erhebt sich die Frage, warum die Jugend fatalistisch, materialistisch und stumpf zu werden droht. Darauf hört man immer wieder die Antwort: Es lohnt sich für die jungen Menschen nicht. Viele Menschen in Deutschland sagen: Ja, wir können eben nicht Aufmärsche, Uniformen und Parolen bieten, die sie begeistern, wir können mit diesen Tricks nicht arbeiten, und darum können wir keine begeisterungsfähige Jugend heranziehen. Meine Damen und Herren, das ist ganz falsch. Es gibt nicht nur die Methode von Zuckerbrot und Peitsche, um junge Menschen zur Mitarbeit zu gewinnen. Die Jugend in demokratischen Ländern, in Norwegen, der Schweiz, in Holland, England und Amerika besteht aus eben solchen jungen Menschen, die zur Begeisterung fähig sind. Sie haben den Wunsch und sind stolz darauf, die jungen Bürger eines demokratischen Staates zu sein, in dem es sich zu arbeiten lohnt, in dem es eine freie Meinungsäußerung gibt, freie Wahlen, in dem man frei ist von Willkür und Terror. Das müssen und können wir erreichen. Nur: gewisse Voraussetzungen müssen erfüllt sein.
Das Recht auf Schul- und Berufsbildung
Zum Recht auf Schulbildung gehört unter allen Umständen, daß wir uns mit aller Entschiedenheit der Verkürzung der Volksschulpflicht entgegensetzen. Sie haben es im Bayerischen Landtag erlebt, daß man binnen kürzester Frist einen CSU Antrag angenommen hat, nach dem Jugendliche in der achten Klasse schon dann beurlaubt werden dürfen, wenn sie etwa vier Monate vor dem offiziellen Abschluß des Schuljahres eine Lehrstelle nachweisen können. Damit ist das achte Schuljahr in Bayern zerschlagen, und wir sind um Jahrzehnte zurück. Ferner zähle ich zu dem Recht auf Schulbildung eine intensive Unterstützung und Förderung durch den Staat. Die wichtigsten Probleme sind hier der Schulhausbau und die Herabminderung der Klassenstärke. Dann möchte ich hier auch noch ausdrücklich auf die Lehrerbildung hinweisen. Wir haben die Initiative ergriffen, weil es unbedingt notwendig ist, die Menschen, denen wir unsere Kinder anvertrauen, sowohl in ihrer Ausbildung als auch in ihrer Besoldung gut und ihrer Bedeutung entsprechend zu stellen. Zum Recht auf Schulbildung gehört ferner mehr als bisher der Schutz der Schwachen, also mehr Sorgfalt in unseren Hilfsschulen. Auf der anderen Seite gehört dazu die Förderung der Begabten. Wir haben im Bayerischen Landtag verschiedentlich Anträge durchgebracht, die sich mit einer stärkeren Begabtenförderung beschäftigen.
Das Recht auf den Arbeitsplatz
Nach den neuesten Zahlen haben wir 135 000 berufslose junge Menschen, also ein Drittel der Gesamtzahl der Arbeitslosen in Bayern. Diese Zahl wird sich in den nächsten Jahren erhöhen, und wir müssen dringend verlangen, daß im Bundesjugendplan, der ja eine große Schöpfung auch auf Initiative der FDP gewesen ist, in den nächsten Jahren, bis die starken Geburtenjahrgänge vorüber sind, mehr Mittel zur Verfügung gestellt werden als bisher. Wir werden weiter verlangen, daß in einen bayerischen Landesjugendplan eine Ergänzung der Möglichkeiten aus dem Bundesjugendplan geschaffen wird. Ich glaube, daß es dringend erforderlich ist, daß für jeden berufslosen jungen Menschen bis zum Alter von 18 Jahren, bis zu dem Zeitpunkt also, zu dem die Berufsschulpflicht geht, unbedingt eine Eingliederung in ein ordentliches Schulleben gegeben sein muß, damit er von der Straße und ihren Gefahren ferngehalten wird. Es gibt Beweise dafür, daß in der Berufslosigkeit große Gefahren liegen und daß hier etwas geschehen muß. Die Schaffung von Lehrwerkstätten und Lehrplätzen ist aber auch ein großes wirtschaftliches Problem. Ich weiß zwar, daß unsere Bundestagsfraktion hier bereits verschiedene Ansätze gemacht hat. Wir hoffen und erwarten aber auch aus Kreisen der Wirtschaft noch viel mehr Verständnis als bisher; auf der anderen Seite werden wir versuchen zu erreichen, daß für die Unternehmer, die neue Lehrstellen schaffen, gewisse Vergünstigungen geschaffen werden. Eine gute temporäre Möglichkeit, um junge Menschen zu beschäftigen, ist meiner Ansicht nach nicht der Arbeitsdienst, wohl aber innerhalb der eigenen Heimat eingesetzte Arbeitsgruppen, die übrigens durch Zuschüsse vom Arbeitsministerium finanziert werden können, in denen die jungen Menschen an Sportplätzen, Schwimmbädern etc. mitarbeiten, die letztlich auch wieder jungen Menschen zugute kommen.
Das Recht auf Entfaltung und Achtung der Persönlichkeit
Wir müssen viel mehr als bisher darauf achten, daß der »Herdensinn«, wie er sich vielfach wieder in unseren Schulklassen zeigt, daß das Duckmäusertum und das Angebertum verschwindet. Hilfsbereitschaft, gegenseitige Achtung und Rücksichtnahme, nationale und internationale Verständigung müssen wir schon in der jungen Gemeinschaft und in der Klasse pflegen, um sie dann auch im großen bewerkstelligen zu können
5. Grau ist alle Theorie
Anmerkungen zur Gleichberechtigung[17]
Art. 3 unseres Grundgesetzes ist folgenschwer; das spüren alle, die sich ein klein wenig für unsere Zeitläufe interessieren. Wir müssen den Eindruck korrigieren, als handle es sich bei der Verwirklichung des Art. 3 lediglich um einen Grundsatz für unser Ehe- und Familienrecht. Nein, er hat eine unendlich viel weittragendere Bedeutung, denn er erkennt Frauen konsequenterweise und in jedem Fall für die Gestaltung ihres Lebens, ihrer Ausbildung und Karriere gleiche Chancen und gleiche Berechtigung (das heißt nämlich Gleichberechtigung) zu. Nur gibt es wohl leider keinen Artikel unseres Grundgesetzes, gegen den so häufig, eklatant und ungestraft verstoßen wird. Schauen wir uns doch einmal um, und beschränken wir uns für diesmal auf den Bereich öffentlicher Verwaltungen. Um gleich bei den Schulmädchen anzufangen: Wenn sie das Pech haben, in einem Ort zu leben, an dem es keine höhere Mädchenschule gibt, so kann es passieren, daß sie an der Bubenschule nicht dann aufgenommen werden, wenn sie ihre Aufnahmeprüfung bestanden haben, sondern nur wenn - und soweit - Platz vorhanden ist. Und keine Aufsichtsbehörde, kein Kultusministerium erhebt dagegen Einwendungen, daß zuerst einmal alle jungen Herren - bis zum dümmsten - aufgenommen werden. Erst wenn zufällig noch Platz ist, erinnert man sich der Mädchen. Elternproteste und Leserzuschriften haben bisher nichts geholfen; die letzte Hoffnung ist ein Antrag, der im Landtag eingebracht wurde und Abhilfe schaffen soll. Wenn die jungen Damen das Abitur bestanden und ihr Studium für den Lehrerberuf absolviert haben, dann kommen sie auf eine Liste, auf der alle Anwärter für den Schuldienst genau nach ihrem Notendurchschnitt säuberlich zusammengestellt sind, damit bei Anstellungen und Beförderungen den Leistungen entsprechend immer hübsch gerecht der Reihe nach vorgegangen werden kann. Gerecht? Aber nur für Männer! Denn in der Praxis werden zunächst einmal Lehrer und immer noch einmal Lehrer berücksichtigt und nur dazwischen ab und zu einmal eine Dame, so daß es häufig vorkommt, daß schlechter qualifizierte Männer sehr viel eher eingestellt und befördert werden als besser benotete Kolleginnen. Dem zuständigen Referenten des Ministeriums bleibt es überlassen, Bewerberinnen »angemessen« zu berücksichtigen. Genauso ungleichberechtigt verfährt man bei der Verbeamtung; in allererster Linie kommen die Männer und zwischendurch in einem sogenannten »natürlichen Verhältnis« die Frauen. Verheiratete Lehrerinnen haben im Gegensatz zu Lehrern keinen Anspruch auf eine Dienstwohnung. Es soll vorgekommen sein, daß man eine Dienstwohnung lieber leerstehen ließ, als daß man sie der Lehrerin, ihrem kriegsversehrten Mann und dem kleinen Kind gegeben hätte. Die Bastionen bürokratischer Gedankenlosigkeit und Phantasielosigkeit sind überall nur sehr langsam zu nehmen, und wenn es zum Beispiel gilt, eine der 180 bayerischen Schulratsstellen zu besetzen, so fiele es niemandem im Traume ein, auch einmal eine hervorragend qualifizierte Frau zum Zuge kommen zu lassen. Das sind nur ein paar traurige Beispiele aus der Unterrichtsverwaltung, die man wahrscheinlich beliebig vermehren könnte. Aber sie demonstrieren doch recht überzeugend, wieviel Lichtjahre wir noch von einer beruflichen Gleichberechtigung entfernt sind. Wie viele Monate haben wir im Münchener Stadtrat gebraucht, um für unsere städtischen Gewerbelehrerinnen die gleichen Beförderungsmöglichkeiten zu schaffen wie für ihre männlichen Kollegen, was kostet es jedesmal an Zeit und Kraft, bei der Besetzung von Rektor und Kontrollstellen an Mädchenschulen hervorragende Frauen durchzusetzen! In der Gemeindeverwaltung sieht es nicht viel hoffnungsvoller aus. Weiter als bis zur Oberinspektorin wird es eine Frau in der gehobenen Beamtenlaufbahn nicht bringen können, weil, wie jemand einmal mit trauriger Ironie meinte, ein weiblicher Amtmann in der natürlichen Ordnung unserer Bürokratie nicht vorgesehen ist. Wie sollte man ihn auch nennen? Amtmännin oder Amtsfrau? Bei der Heranbildung des Nachwuchses für die gehobene Beamtenlaufbahn werden Frauen gar nicht erst zu einer Bewerbung aufgefordert, sondern stillschweigend von der Laufbahn ausgeschlossen. In jedem einzelnen Fall geht die gleiche Auseinandersetzung, das gleiche unerfreuliche Tauziehen im Parlament und in den Rathäusern wieder von vorne an. Während Männer für ihre Rechte streiten oder streiken, beginnt die berufstätige Frau zu resignieren. Es ist immer wieder das gleiche: solange, wie »Not am Mann« ist, bürdet man ihr »gleichberechtigt« Übermenschliches auf, und nach den Kriegen wird die tausendfach verdiente Würde der beruflichen Gleichberechtigung immer wieder bis auf weiteres vertagt. Im Interesse unseres demokratischen Staatsaufbaues müssen unsere Vertreter in Bonn das Versprechen, das sie mit Art. 3 geben, einlösen. Und zwar, wie gesagt, für alle beruflichen und persönlichen Bereiche der Frau.
6. Politische Bildung - Lebenselement der Demokratie[18]
Es wäre ein großer Irrtum, zu hoffen daß wir durch eine auch noch so geschickte Verbreitung eines demokratischen »Good will« unsere Unsicherheit gegenüber der sogenannten unbewältigten Vergangenheit überspielen könnten. Hier gilt es, das erste Hindernis zu nehmen! Politische Bildung, die versucht, ihren Auftrag redlich zu erfüllen, beginnt nicht im luftleeren Raum, etwa mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik, sondern sie wird die Auseinandersetzung mit unserer Geschichte zur Voraussetzung und zu ihrem ständigen Begleiter haben. Dazu gehört meiner Auffassung nach nicht nur die Geschichte seit 1933, sondern noch mancher andere nicht vollständig bewältigte »Brocken« aus den letzten 150 Jahren. Vor kurzem ist mir das recht deutlich geworden bei einer Diskussion über den Turnvater Jahn: »Welch ein Idol für unsere Jugend! « riefen die einen »Welch ein primitiver Marschierer am Turnreck! « die anderen. Was aber selbst beim hitzigsten Streit um den Turnvater Jahn noch relativ amüsant ist spätestens mit unserem Verhältnis zu den zwanziger Jahren wird es zum Sprengstoff. War der Friedensvertrag von Versailles wirklich ein Schandfriede? Was sollen wir heute z. B. von der Dolchstoßlegende halten? Und stimmt es, womit man häufig den zunehmenden Antisemitismus der zwanziger Jahre zu erklären und zu entschuldigen sucht: Stimmt es, daß »die Juden« damals wirklich alle Positionen in Wissenschaft, Publizistik und Kultur an sich gerissen hatten? Übten sie wirklich einen »zersetzenden Einfluß« aus auf alles, was gut und deutsch war? - Ich möchte meinen, wenn wir unsere politische Bildungsarbeit von vornherein mit Selbstbeschönigungen oder gar mit noch so barmherzigen Lügen belasteten - wie z. B. über den durchaus freiwilligen Weg der Mehrheit des deutschen Volkes in den Nationalsozialismus , nähmen wir unseren Bemühungen um eine glaubwürdig fundierte und dauerhafte freiheitliche Gestaltung unseres politischen Lebens ein gutes Stück Eindringlichkeit und Glaubwürdigkeit. Ich weiß, das Schlagwort von der unbewältigten Vergangenheit ist heiß umstritten. Es haftet ihm das Odium von Schuld und Rechtfertigung, von Vorwurf und Verteidigung an. Es erhitzt die Gemüter und lähmt sie zugleich. Ich möchte jedoch in der Bewältigung der Vergangenheit eine durchaus positive, wenn Sie so wollen: versöhnliche, Seite sehen: Nicht damit, daß wir weiterhin mit Fingern aufeinander zeigen, »bewältigen« wir unsere Vergangenheit, sondern allein mit der Einsicht, daß unsere Geschichte uns alle lehrt - ganz gleich, ob wir für oder gegen den Nationalsozialismus waren , daß sich hierzulande das Demokratische eben nicht von selbst versteht, sondern daß es zäh und geduldig gesät, gehegt und gepflegt werden muß. Hier und nirgends anders liegt die Chance, die Zukunft demokratisch zu bewältigen. Aber zwischen rückschaubarer Vergangenheit und unüberschaubarer Zukunft liegt die überschaubare Gegenwart und stellt sich allen noch so idealen und idealistischen Bemühungen der politischen Bildungsarbeit allüberall als drastisches Hindernis in den Weg. Denn politische Bildung muß ja vor allem anderen dem Verständnis des Hier und Heute dienen, davon muß sie handeln, damit muß sie auch fertig werden.
7. Glück gehabt - mit Theodor Heuss[19]
»Glück gehabt« - das sagt sich so leicht. Das klingt nach Zufall, nach einer plötzlich wahrnehmbaren Wendung zum Besseren, nach Erfolg ohne Verdienst. Auf Theodor Heuss, seine Persönlichkeit, seinen Lebensweg und sein Wirken trifft all das nicht zu. Ich möchte all dies zusammengenommen lieber als einen »Glücksfall« bezeichnen - einen doppelten sogar und einen der wenigen in unserer Geschichte.
Glücksfall Nummer eins bestand darin, daß es Theodor Heuss nach 1945 gab. Glücksfall Nummer zwei: daß es ihm während seiner zehnjährigen Amtszeit gelang, neue Wege aus den schier ausweglos erscheinenden staatlichen, politischen und menschlichen Verhältnissen zu zeigen und begehbar zu machen. »Es war, als ob sein ganzes Leben ihn für die große Aufgabe vorgebildet hätte...«, so beschreibt Thomas Dehler den Augenblick, als Theodor Heuss zum ersten Präsidenten der von ihm auf dem Papier entscheidend mitgestalteten - Bundesrepublik Deutschland gewählt wurde. Und er fährt fort: »Die Jahrzehnte seines Wirkens als Schriftsteller, als politischer Lehrer, als Parlamentarier, seine umfassende Kenntnis der geistigen Ströme und der handelnden Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts, die Erfahrungen der Weimarer Demokratie und ihres Versagens... die ihm so zugewachsene geistige Kraft, seine Redlichkeit und Rechtlichkeit - sie haben ihm den Beruf für dieses hohe Amt gegeben.« Kurz gesagt: Theodor Heuss war also geradezu prädestiniert für dieses Amt! - Wie es ihm dann aber gelang, diese seine Gaben und Talente, seine Kenntnisse und Erfahrungen in das Präsidentenamt einzubringen, wie er sie einsetzte und was er während seiner zehnjährigen Amtszeit damit bewirkte, das machte den Glücksfall einer Person zu einem Glücksfall für unsere junge Demokratie. Der Schweizer Historiker Carl J. Burckhardt hat das Phänomen dieses zweiten Glücksfalles in folgendem Satz zusammen gefaßt: »Heuss hat die neue deutsche Demokratie erhöht, in dem er ihre Regeln bis zum letzten ernst genommen hat...« Der »Glücksfall« Heuss endete durch seine persönliche Entscheidung nach seiner zweiten Amtszeit. Damals, als die - durch Konrad Adenauers vorübergehenden Anspruch auf dieses Amt entstandene - Verwirrung um seine Nachfolge komplett war und das Ansehen des Amtes Schaden zu nehmen drohte, wurde er von allen Seiten gedrängt, einer Verfassungsänderung zugunsten einer dritten Amtszeit, einer »lex Heuss«, zuzustimmen. Er hat nicht einen Augenblick gezögert, dies nicht zu tun. So erwies er der von ihm mit geschaffenen Bundesrepublik Deutschland und ihrer Verfassung noch im Moment seines Ausscheidens einen bleibenden, gar nicht zu unterschätzenden Dienst. Er lehrte uns durch sein persönliches Beispiel, die Bestimmungen unserer Verfassung (und dies nicht nur für diesen Fall) höher zu stellen als alle personalen, politischen oder subjektiven Opportunitätserwägungen.
Dies ist Teil seines politischen Vermächtnisses. Uns obliegt es, auch an dieses fast schon vergessene Happy-End des Glücksfalls Heuss bei passender, falls nötig auch unpassender Gelegenheit zu erinnern. Nun kann man sagen, daß es doch eigentlich selbstverständlich für ein Staatsoberhaupt ist, die Regeln der Verfassung ernst zunehmen - sozusagen der Normalfall; aber gerade darin lag nach den Erfahrungen der Weimarer und der Hitlerzeit der einmalige »Glücksfall«, daß, während Unsicherheit und Zerspaltung, Staatsenthaltung und Machtkonflikte noch (oder wieder) die neue Demokratie belasteten, die verbindende und verbindliche Präsenz eines überparteilichen Organs aufs glücklichste durch ihren Amtsinhaber personalisiert und dadurch im öffentlichen Bewußtsein rascher, als es je zu erwarten war, verankert und von den Bürgern angenommen wurde. »Dies ist« so schreibt Karl Dietrich Bracher in seinem wichtigen Beitrag »Theodor Heuss und die Wiederbegründung der Demokratie in Deutschland« - »die historische Funktion und zugleich die politische Bedeutung, die Theodor Heuss dem Amt zu verleihen und als gute Tradition künftigen Bundespräsidenten weiterzugeben vermocht hat.« - Innerhalb weniger Jahre ist es Theodor Heuss gelungen, die Deutschen mit der Demokratie sozusagen zu versöhnen, ja durch seine Person sogar zu befreunden. Zwei Glücksfälle also, die zusammengenommen auf der Haben-Seite unserer jungen Demokratie verbucht werden können und deshalb ein genaueres Nachprüfen wohl verdienen. Glücksfall Nummer eins: Das Leben und Werden von Theodor Heuss bis 1945 war eine 65jährige Lehr- und Vorbereitungszeit auf ein zehnjähriges Amt. Vier Elemente vor allem haben ihn geformt und geprägt, sind charakteristisch für seinen Werdegang und daher von bleibendem Interesse: - seine Heimatverbundenheit samt dem liberalen politischen Erbe - seine Menschenbegabung - sein Geschichts- und Kulturbewußtsein und ihre Aktualisierung in politisches Anschauungsmaterial und in persönliches Engagement... Am 12. September 1949 - dem Tag der Wahl von Theodor Heuss zum Bundespräsidenten endet der erste Glücksfall, sein Werdegang, und beginnt der zweite, seine Präsidentschaft, buchstäblich aus dem Nichts und in einem durch eigene Schuld zerstörten und geteilten Land. Ein neuer Staat, eine neue Verfassung und ein neues Amt standen auf dem Papier, alle drei waren nicht mehr als »ein Paragraphengespinst«, wie Heuss es anschaulich nannte, das nun mit »Menschentum erfüllt« werden mußte. Daß Theodor Heuss es in den zehn Jahren seiner Amtszeit verstanden hat, das »Paragraphengespinst« seines Amtes mit Leben, Sinn und konkreten Inhalten zu füllen und damit zur »Normalität« überzuleiten, daß es ihm gelungen ist, den seelischen Reinigungs- und Heilungsprozeß in Gang zu setzen, zur Demokratie als Lebensform zu ermutigen und, wo immer er Gelegenheit hatte, »Entkrampfung« und ein heiteres Amtsverständnis zu verbreiten und auch damit stilbildend zu wirken, das alles macht den »Glücksfall« Theodor Heuss zu guter Letzt geschichts-notorisch. In diesen Jahren habe ich Theodor Heuss wiederholt getroffen. Einmal durfte ich ein halbstündiges Fernsehgespräch über die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes mit ihm führen. Immer wirkte er genauso spontan, so köstlich heiter wie bei seinen unkonventionellen öffentlichen Einlagen, wenn er beispielsweise Soldaten zurief: »Nun siegt mal schön!« oder Lehrern »Allotria« als wichtigsten Teil der Schulreform empfahl oder Beamte zu »Widerspruch« ermunterte, weil dieser »im Gehalt mit inbegriffen« sei. Wenn er von sich oft als »der Heuss« sprach, dann verstand ich das weniger als eine liebenswerte persönliche Eitelkeit, sondern als einen Mittelweg zwischen dem personzentrierten »Ich« und dem ihm stilfremden »Wir«. Auch ging er damit offenbar gern in Distanz zur Amtsperson (»der Bundespräsident geht, der Heuss bleibt noch«, pflegte er nach Mitternacht gern zu sagen). Seine Originalität war unkündbar und nicht immer protokollkonform. Dabei ist er auch kantig geblieben, und aus dezidiert persönlichen Abneigungen machte er (oft zum Kummer seiner Umgebung) keinen Hehl. Seine persönliche Meinung hat er sich trotz strikter Beachtung der Überparteilichkeit nicht nehmen lassen.
So verdanken wir ihm manch deutlich mahnendes Wort gegen Proporzdenken, Funktionärshaltung, Parteibuchwirtschaft... Es erfordert Geduld und Muße, sich heute noch durch die ungezählten Reden und Schriften hindurchzulesen: Manches wirkt nachträglich etwas schwülstig, umständlich und aufgeblasen, manches nicht konkret genug. Dennoch ist es lesenswert. Einmal, weil es zu seiner Zeit die gewünschte Wirkung nicht verfehlte, und zum anderen, weil hinter der äußeren Form der wasch- und farbechte Heuss immer auszumachen ist. Schließlich beeindrucken immer wieder der Umfang und die Vielfalt seiner stets präsenten Bildung, seine Urteilskraft, sein Stilgefühl - und nicht zuletzt sein immenser Fleiß und das Pflichtgefühl, das hinter jeder der durchweg selbst gedachten und -geschriebenen Reden steckt, deren Vorbereitungszeit er mit Flaschen guten Rotweins zu bemessen pflegte. »Routine« im heute üblichen Sinn hat er in seiner Amtsausübung keine Sekunde gekannt. Vieles konnte hier nicht erwähnt werden, was auch in das Kapitel »Glücksfall« Heuss gehört. Sein Prestige und Ansehen im westlichen Ausland - in der damaligen Zeit keine Selbstverständlichkeit, sondern ausschließlich sein persönliches Verdienst - und mehr noch die Zuneigung und Verehrung, die die Großen seiner Zeit ihm über seine Amtszeit hinaus entgegen brachten. Geradezu rührend beispielsweise die Genesungswünsche von Präsident Kennedy und Charles de Gaulle nach seiner ersten schweren Operation Ende 1962. Oder der Besuch von Königin Elisabeth an seinem Grabe anläßlich ihres Deutschlandbesuches. Zu kurz gekommen sind hier auch seine kulturellen und kulturpolitischen Initiativen und Meisterleistungen - vom Wiederaufbau des Germanischen Nationalmuseums bis zur Gründung des Wissenschaftsrates. Seine Reden an die Jugend sind über dem Umbruch der endsechziger Jahre leider in Vergessenheit geraten. (Die Stiftung Theodor-Heuss-Preis versucht, sie bei ihrer Ermutigung junger Menschen zu politischem Engagement gelegentlich wieder in Erinnerung zu bringen. Wie sie sich überhaupt zwei Grundüberzeugungen von Theodor Heuss zur Aufgabe gemacht hat: die Stärkung der Demokratie als Lebensform und die Notwendigkeit, über den notwendigen Kämpfen und Gegensätzen einer freiheitlich demokratischen Ordnung die gemeinsame Verantwortung im gemeinsamen Boot nicht zu vergessen.)
8. »Zwei und zwei ist drei« - Studentenprotest[20]
Zum zweiten mal innerhalb weniger Jahre versammeln sich westdeutsche Studenten, um gegen Bildungs- und Ausbildungsnotstand in der Bundesrepublik aufzubegehren. Und es ist wahr: Westdeutschland hat die niedrigsten Abiturientenquoten unter allen vergleichbaren Industriestaaten - den geringsten Anteil an Absolventen mit zehnjähriger Schulpflicht - und den geringsten Anteil an Arbeiter- und Bauernkindern, die auf die Hochschulen gelangen. - Der Anteil der deutschen Nobelpreisträger ist im Vergleich zu den zwanziger Jahren weit zurückgefallen - der prozentuale Anteil der Bildungsausgaben am Bruttosozialprodukt liegt für die Bundesrepublik weit niedriger als in allen anderen vergleichbaren Staaten - und die jährlichen Ausgaben für die Einführung von Patent Lizenzen sind auf über 5 Millionen DM angestiegen.
Dafür aber haben wir andere Ziele erreicht: In den letzten zwanzig Jahren wurden Wilhelm von Humboldt, der Kulturföderalismus und die Konfessionsschulen heilig gesprochen, die gesellschaftspolitische Demokratisierung unseres Bildungswesens verhindert und der Anschluß an die internationale Entwicklung verpaßt.
Das alles vollzog sich hinter modernen Fassaden aus Glas und Beton - versteht sich -, denn wir haben uns die Restauration etwas kosten lassen - und das nicht nur im Bereich der Bildungspolitik. Gelegentlich aufkommendes Unbehagen und Aufbegehren wurde auf Akademietagungen, in Forumsdiskussionen oder durch Resolutionen rasch kanalisiert; den Studenten machte man noch bis vor kurzem den Vorwurf, sie seien politisch träge und desinteressiert. Kurz und gut: Nicht nur die Konformisten, auch die Non-Konformisten gehörten mit zum bundesrepublikanischen »Establishment«. Doch nun gibt es eine neue Erfahrung: Seit einiger Zeit machen sich in der jungen Generation Kräfte und Strömungen bemerkbar, die sich nicht mehr oder weniger freiwillig kanalisieren lassen, und die demokratische gewählte Obrigkeit reagiert darauf bei der ersten und schlechtesten Gelegenheit - (zugegebenermaßen von einigen Radikalinskis gereizt!) - mit Gummiknüppeln und Schüssen - wohlgemerkt diesseits der Mauer. Schüsse auf Wehrlose und Schuldlose sind schon oft in der Geschichte zum charakteristischen Symbol einer politischen Situation geworden: Mörder und Gemordeter sind zufällig, der Anlaß wird nebensächlich. Allein die Ursachen sind wichtig! Und die Ursachen heißen: In der westdeutschen Demokratie will die Rechnung nicht aufgehen, in der westdeutschen Demokratie herrscht ein Notstand, im inneren Gefüge der westdeutschen Demokratie ist zwei und zwei gleich drei. Spätestens seit dem 2. Juni gibt es keinen Grund mehr, den 17. Juni 1953 mit der pharisäerhaften Überheblichkeit und Selbstgerechtigkeit westdeutscher Freiheitsapostel zu begehen. Mag es richtig sein, daß kommunistische Störtrupps beim Schah-Besuch Sicherheitsmaßnahmen notwendig machten (ich selber habe mich über die unangemessene Protzenhaftigkeit und die BILD-haften Superlative über ein höchst gewöhnliches Kaiser-Paar auch geärgert), mögen die Berliner Studenten wachsam sein, sich nicht für eine ferngesteuerte politische Radikalisierung mißbrauchen zu lassen - Tatsache ist, daß Schüsse, Blutvergießen und ein Teil der öffentlichen Reaktion ein alarmierendes Schlaglicht auf die innere Verfassung unseres Landes geworfen haben. Hier brechen die Versäumnisse der letzten zwanzig Jahre auf: Unsere demokratische Ordnung ist auf obrigkeitlichen Sand gebaut - an allen Ecken und Enden zeigen sich die Versäumnisse, ist ihre Glaubwürdigkeit in Frage gestellt, stehen Bewährungsproben bevor:
Das, was die Studenten den Bildungsnotstand nennen, ihre Formel 2 + 2 = 3, das ist die Herausforderung für alle, für die Demokratie und Freiheit, Menschenwürde und Verantwortung keine leeren Worte sind, sondern eine praktische Aufgabe. Ich bin nicht hierher gekommen, um den Studenten zu sagen, daß sie mir leid tun, nicht um ihnen nach dem Munde zu reden, Stimmung zu machen und ihre Erregung zu schüren. Es sind Sorge und Hoffnung, die mich zu Ihnen geführt haben. Die Sorge um die innere Verfassung unseres Landes und die Hoffnung, daß Sie über Ihr noch reichlich unartikuliertes gesellschaftspolitisches Unbehagen zu reflektieren beginnen, daß sich dabei neue Kräfte und Ansätze zeigen - und die Bereitschaft einer demokratisch-aktiven Minderheit zum ungeschützten Engagement wächst. Wie könnte es geschehen, daß man in der Tat an dem provozierenden 2 + 2 = 3 nicht nur ein bildungs-, sondern auch gesellschaftspolitisch gültiges Exempel statuieren kann? Sie - die Studenten von heute - sind die Kinder der Nachkriegszeit. Als Sie zur Welt kamen, werden die wenigsten Ihrer Eltern gewußt haben, wie sie Sie ausreichend ernähren sollten. Als Sie aufs Gymnasium kamen, hatten sich Ihre Eltern unendlich abgerackert, um aus der ärgsten materiellen Not herauszukommen, und als Sie die Universitäten bezogen, da wurde in diesem Land mehr Geld für Luxusartikel, Kosmetika und Wohlstands-Medikamente ausgegeben als für alle Gemeinschaftsaufgaben zusammen. Dieser rasante Wechsel vom totalen Hunger zur totalen Übersättigung hat unsere Gesellschaft physisch und psychisch erschöpft. Und im politischen Boom hat er eine Parallele gefunden. Der Spannungsbogen von der totalen militärischen, politischen und moralischen Niederlage zur hoch gerüsteten Stabilität einer Großen Koalition, die ideologisch abgesichert ist, vom Widerstandskämpfer und Emigranten einerseits bis hin zu ehemaligen Parteigenossen und der Abendländischen Aktion andererseits - dieser Spannungsbogen erweist sich bei der jungen Generation ganz instinktiv als eine Nahtstelle zwischen dem Erträglichen und dem Unerträglichen.
Gewiß gäbe es plausible Gründe, die dieses Bündnis einer Koalition aller demokratischen Kräfte vorübergehend rechtfertigten, ja sogar notwendig machten: die Entschlossenheit beispielsweise, das Gespinst aus Illusionen und Selbstbetrug mutig zu zerreißen, von dem unsere Außen-, Deutschland- und Ostpolitik jahrelang stranguliert und vergiftet wurde sie würde sich rechtfertigen, wenn sie entschlossen wäre, die westdeutsche Gesellschafts-und Bildungspolitik aus der Restauration herauszuführen und die Impulse zu geben, die unerläßlich sind, um den Anschluß an die internationale Entwicklung wiederzufinden. Was wir aber bisher von dieser Koalition erlebt haben, das rechtfertigt dieses Bündnis nicht. Das ist ja nicht einmal die von Günter Grass prophezeite »miese Ehe« geworden mit Krach, Spannungen und Scheidungsgerüchten. Das ist nicht mehr als eine »armselige Onkelehe«! Man menagiert freundlich miteinander, nur weil jeder hofft, eines Tages eine Erbschaft auf Kosten des anderen antreten zu können. Man teilt sich scheinbar gerecht in die Vorteile des gemeinsamen Tisches und denkt dabei ausschließlich an die Nachteile, die man dem Partner unbemerkt zufügen kann; wobei aufgrund des bisherigen Verlaufs dieser »Onkelehe« die SPD zweifellos unter dem Pantoffel zu stehen scheint.
Die Mentalität des Godesberger Programms erweist sich als keine ausreichende Mitgift gegen einen machterprobten christ-demokratischen Hausherrn! So geschieht es also, daß auch diese Große Koalition nicht herausfindet aus der politischen Sackgasse des unfrommen Selbstbetrugs, der alles verkleistert und nichts austrägt, nichts heilt. Die Folgen bleiben nicht aus: Es bedarf keiner demoskopischen Umfrage, um festzustellen, daß die Kräfte in Staat und Gesellschaft die Oberhand gewinnen, die von Auschwitz nichts hören und die die unbequemen Mahnungen von Karl Jaspers nicht ertragen wollen, die den Bildungsnotstand nicht wahrhaben wollen und das Notstandsrecht nicht erwarten können. Politiker und Parteien sprechen mit doppelter Zunge - und was das Schlimmste dabei ist: sie merken es kaum noch. In dieses Kapitel gehört auch die Auseinandersetzung mit dem neu geschürten Nationalismus. Der deutsche Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts war eine bewußt antidemokratische, ständisch-obrigkeitsstaatliche Bewegung, und wenn wir ihn heute beschwören, ja sogar der jungen Generation auf der Suche nach sogenannten Idealen anempfehlen, dann ist das gleichbedeutend mit einer Absage an eine freiheitlich demokratische Ordnung. Die Tragik der deutschen Nachkriegsgeschichte liegt darin, daß in die politischen und geistigen Führungspositionen statt der Patrioten vom Schlage der Stauffenbergs, Moltkes, der Scholls und Bonhoeffers, der Reichweins und eines Kurt Huber sehr bald schon die formal unbescholtenen, moralisch-politisch aber angeknacksten Maunz, die Globkes, die Kiesingers und Lübkes einrückten.
Die Menschen, die wir gebraucht hätten in den letzten zwanzig Jahren, um unserer freiheitlichen Verfassung eine wahrhaft selbstlos freiheitliche Gesinnung und Gesittung hinzuzufügen, diese Menschen gab es nicht mehr: Sie sind umgekommen im Kriege, in Konzentrationslagern, auf dem Schafott, sie sind emigriert oder gebrochen. Politisch tonangebend wurde sehr bald schon nach 1948 der Teil der Weimarer Generation, der sich trotz aller Schrecknisse des Tausendjährigen Reiches erstaunlich unberührt konserviert hatte (Adenauer) und sich rasch verbündete mit einer erstaunlich starken Phalanx von Mitläufern, Opportunisten und Handlangern, sich verbündete mit dem restaurativen Machtstreben der Kirchen und einer jungen Garde, die sich nahezu widerstandslos in diesen honorigen Gespensterzug aus dem 19. Jahrhundert einordnete. Natürlich gab und gibt es auch andere Kräfte, durchsetzen aber, mit prägen konnten sie kaum. Warum sage ich das alles heute, bei dieser Gelegenheit und an dieser Stelle? Was haben die Vorkommnisse des 2. Juni in Berlin mit der politischen Geschichte der letzten zwanzig Jahre zu tun, was der Ausbildungsnotstand mit den Gefahren eines von seinen Ursprüngen her antidemokratischen Nationalismus? Trifft das alles Ihre Unruhe, Ihre Unzufriedenheit, Ihre beginnende Aufsässigkeit an irgendeiner Stelle? Ich glaube ja - ich sehe die Zusammenhänge ganz dicht und schicksalhaft verknüpft, weil ich diese zwanzig Nachkriegsjahre politisch engagiert, kämpfend und reflektierend miterlebt (und mit erlitten) habe. Das, was wir heute als die Wurzeln des Bildungsnotstandes diagnostizieren, ist nichts anderes als eine der Folgen des unrevolutionären Neubeginns nach 1945.
Vielleicht wird es einmal als ein verhängnisvoller Irrtum in die Geschichte eingehen, daß die westlichen Alliierten-Siegermächte es zugelassen haben, daß diese unsere Bundesrepublik staats- und verfassungsrechtlich an die Weimarer Republik angeknüpft wurde, so als ob es sich beim Dritten Reich um einen politischen Betriebsunfall gehandelt habe und nicht um eine unausweichliche nationale Katastrophe, deren politische, ideologische und geistige Wurzeln weit zurückreichen ins 19. Jahrhundert. Vielleicht auch wird es sich einmal erweisen, daß der zweifellos revolutionäre Neubeginn im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands diesem einen entwicklungsgeschichtlichen Vorsprung verschafft hat - denn das 19. Jahrhundert jedenfalls hat man dort hinter sich gelassen, während es bei uns gesellschaftspolitisches Leit- und Vorbild blieb. Unser Dilemma ist unser »Als-Ob-Staat«, unsere »Als-Ob-Gesellschaft«, unsere »Als-Ob-Politik«.
Während in allen Staaten des Westens und des Ostens in den letzten zehn bis zwanzig Jahren die großen gesellschafts- und zukunftspolitisch motivierten Bildungsreformen in Gang gekommen sind, hat sich einzig und allein die westdeutsche bildungspolitische Konzeption grundsätzlich nicht verändert. Und das in einem Land und in einer Gesellschaft, die weiß Gott Grund und Anlaß genug gehabt hätte, mit ihren Bildungstraditionen und Ideologien ins Gericht zu gehen. Die Ergebnisse sind bekannt: einklassige Dorfschulen, die staatlich verordnete Konfessionsschule, die dümmlichsten Bildungsinhalte, wie sie sich in unseren Schulbüchern niederschlugen, die veraltete Lehrmethode, klägliche Resultate bei der inneren Demokratisierung unserer Schulen und Schulverwaltungen, die viel beklagte hierarchische Ordnung an Universitätsinstituten und -kliniken, die unbefriedigende Partnerschaft zwischen Studenten und ihren Lehrern, die sogenannte »Bildungsfeindlichkeit« der Arbeiter, die von Ihnen beklagte mangelhafte Ausbildungsförderung. Mehr oder weniger erfolgreich doktert man seit Jahren mal an dem einen und mal an dem anderen Symptom herum, ohne den Mut und die Unbefangenheit aufzubringen, die Probleme zu Ende zu denken. Dazu bedarf es nun dringend der Bundesgenossenschaft, des Protestes, des Aufstandes junger, nüchtern und fortschrittlich denkender Demokraten. Nur mit Ihrer Hilfe kann es gelingen, den Teufelskreis abermaliger politischer Versäumnisse zu unterbrechen, für die Aktion für die engagierte Form des Protestes.
Helfen Sie beispielsweise mit beim Volksbegehren und Volksentscheid zur Einführung der Gemeinschaftsschule in Bayern. Gehen Sie in Städte und Dörfer, überzeugen Sie Eltern und Wähler, gewinnen Sie Zögernde, zerstreuen Sie Zweifel. Die ausgebaute, für alle Kinder gemeinsame Dorfschule ist der erste und entscheidende Schritt, Bildungsnotstand - und Ausbildungsnotstand zu überwinden. Wenn dieser Volksentscheid dank Ihrer Aktion erfolgreich sein wird, dann werden Sie ein erstes Scherflein dazu beigetragen haben, unsere demokratische Gesellschaft glaubwürdiger und ihre Bürger verantwortungsbewußter zu machen. Sie haben aus eigenem Entschluß auf die künftige Entwicklung unseres Landes einen entscheidenden Einfluß genommen. Und es gibt noch mehr zu tun: Die ständische Struktur unseres Bildungswesens werden wir letztlich nicht durch Ausbildungsförderungsgesetze aus der Welt schaffen, sondern allein durch eine Schulreform, durch die allen Kindern aller Schichten mindestens neun Schuljahre lang alle weiteren Bildungs-und Aufstiegsmöglichkeiten offen gehalten werden. Die Schule der Zukunft ist die differenzierte Gesamtschule, und die Auseinandersetzung um diese Reform hat gerade erst begonnen. Unbeirrbar sollten auch Sie mithelfen bei der inneren Reform Ihrer Hochschulen, bei der sinnvollen Ordnung des Studiums, bei der Aktivierung. Wenn Sie bereit sind zum Engagement und zur Verantwortung, dann wird man auch Ihre Proteste besser verstehen und ernster nehmen. Nichts liegt mir ferner, als Ihnen mit lammfrommen Sentenzen und demokratischer Beschäftigungstherapie zu kommen: Demokratie erlaubt nun einmal, unbefriedigt zu sein mit den Verhältnissen in Staat und Gesellschaft - Demokratie verlangt aber auch, sich mitverantwortlich zu fühlen für die Verbesserung dieser Verhältnisse. Beides ist gleich unbequem und gleich unerläßlich: Seien wir also unbequem: Tun wir das Unerläßliche!
9. Liebe zu Thomas Dehler[21]
Schon zu Lebzeiten galt er als der »letzte große Liberale«. Nun gibt es ihn nicht mehr. Thomas Dehler ist tot. Er zerbrach über der Sorge um die Zukunft seines Vaterlandes und seiner Partei. Kein Politiker der Nachkriegszeit hat an seinem Beruf, hat an seiner Berufung so qualvoll gelitten wie Thomas Dehler. Sein Tod war sanft, verglichen mit dieser jahrzehntelangen Qual. Glanz und Elend der Weimarer Republik haben den jungen Politiker geprägt, Aufstieg und Fall des Nationalsozialismus haben ihn sensibilisiert; erst in der Nachkriegszeit konnte er seine Gaben entfalten niemals bis zur Vollendung, denn er war ein Erzliberaler, und diese Zeit, in der sich jeder brüstet, »auch«-liberal zu sein, das ist keine Zeit für Erzliberale wie Thomas Dehler. Es begann schon in den ersten Nachkriegsjahren: Landtagssitzungen mußten unterbrochen werden, Versammlungen wurden gestört, kaum eine Diskussion, die ohne zornige Auseinandersetzungen, ohne ärgerliche Folgen verlief - und es endete mit jenen letzten unvergeßlichen Auftritten auf Parteitagen, im Bundestag, vor dem Fernsehschirm. Ich glaube, es hat überhaupt keinen öffentlichen Auftritt gegeben, bei dem er nicht ein Stück seiner selbst hinterließ, sich mit Haut und Haaren mit seinen Argumenten identifizierte. Selbst seine größten Bewunderer fanden das gelegentlich »unvernünftig«, weil sie mit ansehen mußten, wie er dabei seine Kräfte und Gaben verausgabte«. Thomas Dehlers Kämpfe sind ein Stück Nachkriegsgeschichte. So sehr er seine bayerische Heimat und seine Mitbürger liebte, so rückhaltlos setzte er sich mit den rasch wieder erstarkenden restaurativen und klerikalen Kräften auseinander. Den »Kuhhandel«, mit dem sich die CSU bei der SPD für einen (gottlob nie realisierten) Sozialisierungsparagraphen den heute noch unheilvollen Konfessionsschulparagraphen einkaufte, konnte er der SPD nie verzeihen. - An Adenauers weltanschaulich motivierter Europapolitik, an seiner wiederum weltanschaulich motivierten Starrheit in der Ostpolitik ist er buchstäblich verzweifelt.
Sein »Gespür« für Recht und Gerechtigkeit reagierte bei der geringsten Erschütterung wie ein Seismograph. Er trug das Grundgesetz stets unter dem Arm, und alles, was »etwas außerhalb der Legalität« geschah, erzürnte ihn bis zum äußersten. Trotz aller Emotionen aber war er ein ganzer, ein mutiger Mann. Er reiste nach Moskau zu einer Zeit, als die Hallstein Doktrin noch neues außenpolitisches Denken verbot, er verteidigte Recht und Freiheit, wenn andere schwiegen. So war er, der fast 70jährige, für zwei Jahrzehnte das Idol der politischen Jugend - und das, obgleich seine liberalen und nationalen Ideale oft beinahe altväterlich anmuteten. Sein Credo von der Menschenwürde und der Freiheit, von der Rechtsstaatlichkeit und der deutschen Einheit schien ihm zeitlos Wenn junge Liberale über die Zukunft und die Bedingungen des modernen Liberalismus nachdachten, dann empfand er das schon fast als »Planwirtschaft«. Und dennoch fühlte er sich nicht dem konservativen Lager seiner Partei zugehörig, sondern immer den suchenden, den noch nicht saturierten Kräften. Ihnen wird er das große liberale Vorbild bleiben! Denn Thomas Dehler hat das getan, was so wenige Politiker dieser Tage selbstlos tun: Er hat junge Menschen gefördert und gefordert! Er hat sich niemals an den stärkeren Bataillonen orientiert, er war gütig, verständnisvoll, selbstlos. Deshalb auch war er oft einsam und ohne Hausmacht im Kampf ums Dabeisein. Deshalb auch hätte man ihn anders und damit mehr und gerechter ehren sollen als durch ein Staatsbegräbnis. Seine Verdienste einerseits und andererseits die Achtung, Dankbarkeit und Zuneigung für einen Mann seines geistigen und politischen Zuschnitts fügten sich nicht in den Rahmen eines Staatsbegräbnisses mit Trommelwirbel, zeremoniellem Protokoll und zerknirschten Lobpreisungen - und mochte das alles noch so gut und ehrlich gemeint sein.
Thomas Dehler hat jeden - und hätte wohl auch diesen - in der Repräsentation stagnierenden Pomp »ziemlich unerträglich« gefunden (ausgenommen die kurze Ansprache des Pfarrers von Lichtenfels am offenen Grabe, die gütig war, beinahe trutzig und sehr – liberal). Dennoch waren alle, die nach Lichtenfels gekommen waren, von dem erschreckend plötzlichen Tod des »unbequemen Thomas« angerührt. Für ein paar Stunden überwogen gute Gedanken und Vorsätze. Zum ersten Male orientierten sich bei dieser letzten Begegnung die stärkeren Bataillone an der Persönlichkeit und dem Wirken von Thomas Dehler und schien es, als könne man sich im Lager des Liberalismus auf den toten Dehler besser einigen als auf den lebenden. Es wird sich erweisen: Das Amt des Bundestagsvizepräsidenten ist neu zu besetzen und der Platz des ersten Beisitzers im Bundesvorstand der FDP. Namen und Spekulationen tauchen auf. Von Thomas Dehlers politischem Vermächtnis war bisher noch nicht die Rede, das aber kann und darf nicht totgeschwiegen werden, denn auch das Wächteramt des Liberalismus wurde vakant, und für diese Nachfolge wurden bisher keine Namen bekannt. Diese Tatsache vor allem ist es, die den plötzlichen Tod von Thomas Dehler - jenseits des persönlichen Schmerzes - zu einem besorgniserregenden Verlust für den politischen Liberalismus macht.
10. Über den Mut zur kleinen Utopie[22]
Dieser unserer Gesellschaft, der von ihren Kritikern vorgeworfen wird, daß sie unfähig sei, ihre Vergangenheit zu bewältigen, muß man ihr nicht tatsächlich zubilligen, daß sie mit einer nicht zu bewältigenden Vergangenheit befrachtet ist? Ergeben nicht zwei Weltkriege, zwei nationalstaatliche Niederlagen, zwei Geldentwertungen, sechs Millionen Gefallene, acht Millionen ermordete Juden, zwölf Millionen aus ihrer Heimat Vertriebene, in jedem Fall abgesehen von Schuld und Verantwortung - eine nicht mehr zu bewältigende Vergangenheit? Diese Gesellschaft also, die zwar kollektiv versagt, die sich aber wegen ihrer Tüchtigkeit und des erworbenen Wohlstandes und durch die Aufrechnung erlittenen Unrechts kollektiv rehabilitiert und gerechtfertigt fühlt, diese Gesellschaft wird nun von einer jungen Generation bedrängt und herausgefordert, die ohne jeden Erfahrungs- und Verantwortungsbezug zur nationalsozialistischen Diktatur, ihren Ursachen und ihren Folgen ist und die nicht minder selbstgerecht - weil geschichtslos unsere Unfähigkeit verachtet, mit unserer Vergangenheit und mit unserer Gegenwart fertigzuwerden.
Hierdurch verschärfen und komplizieren sich bei uns die weltweiten Begleitkonflikte einer Zeitenwende und drohen in beiden Lagern zu einem Generationenkrieg unbändiger Selbstgerechtigkeit auszuufern. Es ist, als ob ein Damoklesschwert über uns hinge, dessen tödliche Gefahr - frei nach einer Sentenz von Erich Kästner - »nicht so sehr in der Schärfe des Schwertes als in der Dünne des Fadens« liegt. Das heißt: Die Konflikte sind gefährlich - gefährlicher noch ist unser Unvermögen, mit ihnen fertigzuwerden. - Das ist unser Dilemma die Dünne des Fadens! Es bedarf dreierlei, um ein neues Verhängnis rechtzeitig abzuwenden. Es bedarf der Kenntnis und Erkenntnis unserer Situation, und es bedarf der Handlungsfähigkeit. Das eine ohne das andere zu versuchen wäre absolut fruchtlos!
Zur Kenntnis der Situation
Das ist also unsere Generation - die der Vierzigjährigen und älter - aufgewachsen in permanent autoritären Abhängigkeiten, eingebunden in überkommene, kaum je in Frage gestellte Traditionen und Ordnungen, leidgeprüft, aber dennoch, um Alexander Mitscherlich zu zitieren, unfähig zu trauern. - Für uns ist und bleibt Demokratie eine Staatsform, mit der wir uns während der letzten zwanzig Jahre zwar arrangiert haben, weil sie uns Wohlstand, Sicherheit und alle Annehmlichkeiten der Freiheit gebracht hat, ohne indes unser politisches Denken, Handeln und Verhalten (wiederum trotz mancher mutiger Ansätze) recht entscheidend zu verändern. »Auswählen können und nachbestellen - das verstehen sie unter Demokratie«, so urteilt der Primaner Philipp Scherbaum in dem interessanten neuen Lesestück von Günter Grass »Davor« über diese unsere Generation, und seine Freundin Vero, die »ihren Mao liest wie unsere Mütter Rilke«, ergänzt an anderer Stelle mit aggressiver Verachtung: »Sie wollen die Welt bestenfalls noch interpretieren, ändern, das schaffen sie nicht!« Unverblümter und unmißverständlicher läßt sich der harte Kern des Generationenkonfliktes mit den Dreißigjährigen und Jüngeren nicht beschreiben: sie wollen die Welt verändern, und unsere apologetische Wenn- und Aber-Interpretation ist ihnen unbegreiflich - ja zuwider.
Sie wollen weder von unseren Irrtümern noch von unseren Erfahrungen und Einsichten etwas wissen, weil sie unser mangelhaftes politisches Engagement bemerken und unsere obrigkeitsstaatlichen Attitüden nicht nachvollziehen wollen. Deshalb distanzieren und emanzipieren sie sich in einem Atemzug von unseren Vorstellungen von Demokratie - kann man es ihnen verdenken? So ungerecht und schmerzlich es im einzelnen für uns sein mag: Diese Generation schreibt uns nicht gut, was wir für ihr materielles Wohlergehen getan haben, sie mißt uns nicht an dem, was wir seit 1945 geschafft und aufgebaut haben (und wir wissen, daß es nicht wenig ist!), sondern an dem, was wir nicht oder doch nur in Ansätzen - geschafft haben: eine gesellschaftspolitische Interpretation und Realisierung der demokratischen Staatsform, durch Chancengleichheit in allen Bereichen des sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens, durch ein modernes und fortschrittliches Schul- und Hochschulsystem, durch Reformen in Justiz, Parlamenten und Verwaltungen, durch den Abbau obrigkeitsstaatlicher Strukturen und - wie es Prof. W. Hennis formulierte - durch eine »neue Leidenschaft des Kopfes« für die Probleme der durch Selbstzerstörung zutiefst bedrohten Welt. Ja, das sind tatsächlich Versäumnisse - unsere Versäumnisse; und kein Protest, und sei er noch so ungesetzlich und unerträglich, entläßt uns aus unserer Verantwortung dafür!
Diese selbstkritische und nüchterne Position wird uns abverlangt. Aber es wird uns zusehends schwerer gemacht, diese Position zu halten und zu festigen, wenn die Grundgebote unserer freiheitlichen Ordnung mit Füßen getreten, mit Farbeiern beworfen, mit Buttersäure verpestet, durch Psychoterror pervertiert, durch Manipulation und repressive Intoleranz außer Kraft gesetzt werden. Jürgen Habermas belegt in seiner wichtigen Dokumentation »Protestbewegung und Hochschulreform« Schritt für Schritt den Weg der Wortführer der außerparlamentarischen Opposition in eine anti-demokratische Opposition; er weist die Entwicklung einer ursprünglich unter dem Gesetz der Rationalität und nach den »Prinzipien aufgeklärten Handelns« angetretenen Protestbewegung zu einem wilden Aktionismus und »begrenzten Vandalismus« (Habermas) nach und illustriert damit am Rande das Schicksal der Väter der Protestbewegung, die heute zu Todfeinden und Konterrevolutionären verdammt sind. In den Methoden dieser »aktionistischen Irrläufer«, da fällt der rote Apfel allerdings nicht weit vom braunen Stamm der Väter: der gleiche Totalitätsanspruch und die gleiche totale politische Dämonisierung des menschlichen Daseins von der Zeugung bis zur Bahre, vom Sex über die zweite Lautverschiebung bis zur Schwarzwälder Kirschtorte: die gleiche schonungslose Intoleranz gegen politisch Andersdenkende, der gleiche ideologisch aufgeheizte Fanatismus, diesmal nicht nationalsozialistischer, sondern international sozialistischer Ausprägung - und diese Formulierung ist spätestens seit der widerwärtigen Pogromstimmung gegen Israel, wie sie nicht erst anläßlich des Besuches des Botschafters Asher Ben Natan in Hamburg und Frankfurt geschürt wird, mehr als ein makaberes Wortspiel. Denn immer dann, wenn nicht mehr mit Argumenten, sondern mit Gebrüll, Gestank und Fäusten gekämpft wird, muß sich bei uns die höchst fatale Parallele zum Faschismus aller totalitären Schattierungen einstellen. An dieser Stelle sind meines Erachtens Verständnis und Toleranz für derartige Praktiken studentischer Opposition mit einem Schlag zu Ende, und wenn über unsere Abscheu gegen solcherlei »Zeitvertreib« in dem bereits erwähnten Stück von Günter Grass vom jugendlichen Anti-Helden einmal behauptet wird, wir - die Älteren - seien auf die junge Generation ja nur neidisch, weil sie »so links und so lustig« sein dürfe, dann möchte man wünschen, es wäre so, denn wirklich »links« sein, das würde ja echtes, ausdauerndes und handlungsbereites Engagement gegen Hunger, Unterdrückung, Unrecht und Krankheit in der Welt bedeuten, aber davon ist schon längst nicht mehr - oder bestenfalls noch ganz am Rande die Rede, und auch unter »lustig« möchte man sich gerne etwas Lustigeres vorstellen können als Farbeier aus dem Hinterhalt, Strip-tease im Hörsaal, Notdurft im Gerichtssaal und Pornographie an den Wänden. Ich frage mich oft, weshalb eigentlich all diese Manifestationen verspäteter Pubertät eine so ungeheuere Publizität erfahren.
Zur Erkenntnis der Situation
Wie beunruhigend schlimm und kläglich das alles auch sein mag, für eine objektive Beurteilung dürfen drei Fakten nicht außer acht gelassen werden:
- Es ist noch gar nicht lange her, daß wir das höchst mangelhafte politische Interesse der jungen Generation lautstark beklagt haben, und schon aus diesem Grunde können wir das erwachte Interesse nicht verdammen, weil es anders ausgefallen ist, als wir uns das gewünscht hatten. Wenn wir nichts Besseres wissen, als »Ruhe und Ordnung« wiederherzustellen, könnte die Demokratie mindestens ebenso gefährdet werden wie durch die derzeitige »Unruhe und Unordnung«, die zu unser aller Sorge überwiegend der Stärkung der sich formierenden Rechten zugute kommt.
- Die Protestbewegung hat ohne Zweifel einen Durchlüftungseffekt im inneren Gefüge unserer Gesellschaft erzielt, der notwendig und fällig war. Nicht nur unter den Talaren ist da allerhand Muff zum Vorschein gekommen, auch unsere Chance ist größer geworden, die Positionen demokratischer Gesellschaftspolitik sehr viel gründlicher, vernünftiger und rückhaltloser zu klären, als es uns in der Zeit gesellschaftspolitischer Flaute abverlangt wurde. Daß die hessische Landesregierung diese Chance für notwendige Reformen trotz mancher Schwierigkeiten nach Kräften zu nutzen versucht, das kann ihr Ansehen im Urteil nicht restaurativ denkender Bürger nicht schmälern, sondern nur glaubwürdiger machen.
- In den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten ist offenbar geworden, daß auch eine rechtsstaatlich gefestigte demokratische Ordnung nicht lebensfähig ist, wenn sie in den gesellschaftlichen Bereichen an chronischer Kreislaufschwäche leidet. Dafür hat es in der Ära des »keine Experimente« exemplarische Beispiele gegeben, und damals schon erhoben sich warnende, mahnende und kritische Stimmen über die Gefahren des demokratischen Immobilismus in unserem Land. Sie waren die Vorläufer der Protestbewegung. Hier seien nur die Schriften des Philosophen Karl Jaspers, des Pädagogen Hartmut von Hentig, des marxistischen Soziologen Jürgen Habermas, des liberalen Soziologen Ralf Dahrendorf und des konservativen Publizisten Hans Heigert genannt.
Voraussetzungen für ein neues Demokratieverständnis
Hier allerdings - an dieser entscheidenden Stelle - setzt unser Demokratieverständnis immer noch aus bzw. gar nicht erst ein, und zwar in Folge eines grundlegenden, die Funktionsfähigkeit und Glaubwürdigkeit der Demokratie gefährdenden Mißverständnisses: Wir haben nämlich auf die beiden großen politischen und militärischen Schiffbrüche dieses Jahrhunderts zwar mit idealtypischen demokratischen Musterverfassungen reagiert, diesen aber eine »Harmonielehre« hinzugesellt, die einer Art Gesellschaftsphilosophie obrigkeitsstaatlichen Denkens und Verhaltens gleichkommt. Auf diese Weise haben wir gewollt oder nicht - den gesellschaftspolitischen Vollzug der Verfassung der Freiheit zwei Jahrzehnte lang eingeschränkt, teilweise sogar verhindert. Außerdem sind als Folge dieser Harmonielehre gerade bei jungen Menschen einerseits Illusionen über den möglichen Grad der Vollkommenheit einer Demokratie entstanden und andererseits bittere Enttäuschung über ihre Wirklichkeit. Bitte verzeihen Sie, daß ich insistiere! Eben weil wir uns dieser Zusammenhänge immer noch nicht ausreichend bewußt sind, bedarf es einer provozierenden Diagnose: Solange wir nicht akzeptieren wollen, daß eine Demokratie nicht nur Konflikte ertragen und austragen muß, sondern daß sie durch Spannungen und Konflikte überhaupt erst lebens- und widerstandsfähig wird, so lange besteht die Gefahr, daß sie an eben diesen Konflikten zerbricht. Ich weiß, es ist leicht gesagt, daß auch wir alle Anstrengungen unternehmen müssen, den Protest durch demokratische Initiative quasi zu legalisieren, bevor er sich radikalisiert oder gar revolutioniert, aber es ist schwer getan! Denn der Stau des Unbehagens an dem Demokratisierungsrückstand in unserer Gesellschaft ist mittlerweile viel zu groß und stark geworden, als daß er ohne Explosionsgefahr abgebaut werden könnte. Nun soll plötzlich alles auf einmal geschehen - und wir wissen sehr wohl, daß dies nicht zu schaffen ist. Wenn wir eine Staats- und Gesellschaftsform wünschen und wir wünschen sie! -, die freiheitlich, offen, anti-autoritär und emanzipatorisch sein soll, dann müssen wir konsequenterweise aufgeben, Demokratie zu einem in sich stimmigen Ideal zu stilisieren. Denn wer Selbstbestimmung für sich fordert, muß sie auch anderen zugestehen - wer Repression anklagt, darf selber keine ausüben - wer Freiheit für sich beansprucht, muß die der anderen verteidigen - wer Manipulation verurteilt, darf sich ihrer nicht schuldig machen. Genau an dieser Stelle läßt sich zeigen, welch ein kompliziertes Wagnis Demokratie und Erziehung zu ihr in Wirklichkeit sind: Denn demokratische Erziehung muß zu der Einsicht führen, daß die Sehnsucht nach Freiheit, Selbstbestimmung und Gerechtigkeit niemals absolut, sondern bestenfalls relativ erfüllt werden kann. Erst wenn wir diese Gesetzmäßigkeit wirklich absorbiert haben, können sich grundlegende Bewußtseins-und Verhaltensänderungen von selbst verstehen.
Eine freiheitliche Demokratie ist dann weder die beste aller Staatsformen (wie uns viele Schulbücher und Sonntagsreden glauben machen) noch die schlechteste aller Staatsformen (wie das APO-Ideologien ihre Anhänger glauben machen möchten), Demokratie ist vielmehr die einzige Staatsform, die die Chance bietet zur evolutionären Veränderung und Erneuerung und zu den Formen der Selbstverwirklichung, die heute mit den Begriffen Autonomie oder Emanzipation belegt werden. Um diesen Zeiten näher zukommen, müssen wir jedoch zuallererst und immer wieder die Unvollkommenheit der Demokratie bewußt machen und Demokratie als eine Möglichkeit begreifen, für die zu engagieren es sich immer wieder lohnt! Ein solches realistisches Demokratieverständnis läßt sich dann weder als Harmonielehre noch als Revolutionstheorie predigen. Es läßt sich überhaupt nicht predigen, sondern nur einsichtig machen und praktizieren. Aus all dem folgt schließlich, daß Demokratisierung - und nur sehr zögernd wähle ich diesen überstrapazierten Begriff niemals in einem revolutionären Akt gelingen kann, in dem alle Macht- und Entscheidungsverhältnisse einfach umgekehrt werden. Demokratisierung ist vielmehr ein permanenter Emanzipationsprozeß, der sich im Spannungsfeld offener und energischer Partizipation zwischen Freiheit und Kontrolle vollziehen muß. Demokratisierung heißt, immer von neuem Spielraum schaffen für Initiative, Selbstbestimmung und Mitverantwortung. In einem solchen Spannungsfeld können - wie ermutigende Beispiele beweisen - auch radikale und revolutionäre Kräfte und Gruppen sehr wohl verkraftet werden. Nicht mit den Mitteln repressiver Toleranz, nicht als wachsweiches Gewährenlassen, sondern in eben dieser Wechselwirkung zwischen Herausforderung und Begründung, Gewährung und Bewährung, Kritik und Korrektur.
Über den Mut zur kleinen Utopie
Damit kehre ich wieder zurück zu der Frage, was denn nun eigentlich geschehen muß und wie es weitergehen soll. Es gibt da eine relativ einmütige Antwort, die seit einiger Zeit gleich einem »Ruf wie Donnerhall« durch die Lande schallt: Reformen – Reformen!! Dieser Ruf jedoch ist Schall und Rauch, solange ihm nicht konkret begründete und energische Taten folgen! Der Berliner Politologe Kurt Sontheimer hat die derzeitige Lage bissig, aber treffend in den Worten zusammengefaßt: Reformiert darf werden - aber ändern darf sich nichts! Oder von mir etwas abgewandelt formuliert: Reformiert darf werden - aber nur bei den andern; ändern darf sich alles, nur nichts für mich - und diese Sentenz gilt nicht nur in Sachen Hochschulreform, sondern immer und überall, wo der Hebel der Reform angesetzt werden soll. Kein Zweifel aber, daß wir mit jeder Art Konzession an Reformen allenfalls Symptome kurieren, aber keine Ursachen beseitigen werden. Wie aber dann? Wenn man sich einmal mit der Geschichte und dem Schicksal von Reformen und Reformern in Deutschland beschäftigt, dann fällt zweierlei auf. Erstens: Reformen kamen bei uns immer nur unter dem Druck unglücklicher Umstände zustande - niemals aber aus der eigenen Kraft rechtzeitiger Initiative und Einsicht, und zweitens: Reformer werden immer erst dann und posthum mit einer Gloriole des Heroischen verehrt, wenn die nächste Reform eigentlich schon recht fällig wäre. Deshalb meine ich, daß wir uns angesichts unseres Defizits an gelungenen Reformen davor hüten sollten, Reformen als säkulare Ereignisse zu erwarten, von Reformern Heroisches zu verlangen und dem gelungenen Werk Unsterblichkeit zu verheißen.
In Wirklichkeit und aus der Nähe betrachtet, fallen Reformen nicht vom Himmel, sie sind kein Geniestreich, nicht einmal mehr das »Bretterbohren mit Augenmaß und Leidenschaft«, von dem Max Weber in seinem Essay »Politik als Beruf« spricht - die Reform, die gibt es gar nicht mehr, sondern nicht weniger und nicht mehr als eine Unzahl mühseliger, energie- und zeitraubender Ideen und Tatkraft erfordernder »Mini Reförmchen«, die gar nicht mehr von einem einzelnen vollbracht werden können, sondern vom Stab, vom Team, der Denk- und Arbeitsgruppe. Deshalb, meine ich, sollten wir unsere Bilderbuchvorstellungen von Reformen gründlich entzaubern und uns auch nicht in Utopien für übermorgen flüchten, mit denen uns Zukunftsforscher das Staunen und Fürchten lehren: Denken wir über Reformen für heute und morgen so nüchtern und konkret wie über unaufgeräumte Schubladen; entschließen wir uns zu kleinen, zu kleinsten Utopien! Ich wäre versucht, zu formulieren, daß der Weg in die Zukunft mit dem Mut zu kleinen Utopien gepflastert ist - wenn nicht auch dieses Bild schon wieder den Schwierigkeitsgrad der Aufgabe verharmlosen und verniedlichen würde. Denn zum Mut zur Utopie gehören nicht nur Ideen, Energie und Entschlußkraft, sondern Sachkenntnis, Planungs- und Organisationsvermögen, Menschenkenntnis, der Wille zur Kooperation, Integration und Kommunikation, die Lust am Improvisieren und die Gabe, andere zu überzeugen. So gesehen, sehr geehrte Damen und Herren, liebe hessische Mitbürger, haben wir also weder Anlaß noch Zeit, auf den Lorbeeren unserer Erfolge und Fortschritte auszuruhen: Bewährung ist immer etwas, das noch vor uns liegt. Getreu dieser Devise ist dieses kleine, schöne, mutige und fortschrittliche Land dank seiner Bürger, seiner Regierung und seines von uns allen geliebten und geschätzten Landesvaters (den eben dieser Mut zur kleine* n Utopie vor allem anderen auszeichnet!) gediehen, reicher geworden und (auch für Landesfremde) anziehender. Ich bin dankbar und auch ein wenig stolz, mich zu den »Angezogenen« und nun auch Einbezogenen zählen zu dürfen. In dieser Devise steckt aber nicht nur das Lob auf die Vergangenheit, sondern auch eine höchst unbequeme, weil unmißverständliche Herausforderung für heute und alle Tage. Deshalb wiederhole ich sie: Bewährung ist etwas, das immer erst vor uns liegt!
11. Der unbequeme Präsident - Zu Gustav Heinemann[23]
»Lieber Landesvater, unter Deinen Flügeln... läßt sich ruhig bügeln.« - Diesen treuherzig tumben Vers, den ein Schneiderlein vor rund hundert Jahren über seine Haustür zum Willkommen seines Landesherrn geschrieben haben soll, pflegte Gustav Heinemann gern zu zitieren, als er noch nicht selber Landesvater war. Er schien ihm charakteristisch zu sein für eine bestimmte Art von Untertanengeist bzw. Obrigkeitsgläubigkeit, die wir uns durch alle Kriege und Niederlagen bis weit in die Ära der Nachkriegszeit bewahrt hatten. Diesen Geist zu überwinden und an seiner Stelle Selbstverantwortung und Mündigkeit des Bürgers zu entfalten und einzuüben - das war es wohl, was sich Gustav Heinemann für seine Amtszeit als Bundespräsident vor allem vorgenommen hat. Hierfür wollte er Signale geben und Zeichen setzen. Bei ungezählten Gelegenheiten »ermunterte« er den Bürger, das »großartige Angebot« des Grundgesetzes zu nutzen. Das Betätigungsfeld für wache Bürger sei wahrlich groß und noch lange nicht ausgefüllt. Der Produktivkraft Phantasie seien keine Grenzen gesetzt - so pflegte er gern zu formulieren. Gewiß läßt sich heute noch nicht endgültig und abschließend sagen, ob und in welchem Umfang diese Signale und Zeichen zur dauerhaften Stabilisierung unserer Demokratie beitragen werden. Noch haben wir wenig Anlaß zu naivem Optimismus. Die freiheitliche Ordnung war schon immer die komplizierteste und labilste aller Staats- und Gesellschaftsordnungen. Und sie ist es heute mehr denn je. Nicht nur in der Bundesrepublik. Als bleibendes Verdienst Gustav Heinemanns kann aber schon heute festgehalten werden, daß er sich mit Leib und Seele zur Demokratie als Lebensform bekannte. Bei aller Anerkennung jedoch sollten wir uns bewußt vor Legendenbildung hüten! Festschriften stehen ohnehin in Gefahr - je ehrlicher ihre Autoren dem zu Ehrenden zugeneigt sind - in emotionale Lobgesänge umzuschlagen - und das wäre gerade im Falle Gustav Heinemanns ein besonders peinlicher Mißgriff. Ja, mehr noch: es wäre ein Fehler, denn nichts würde ihm weniger gerecht, als ihn in die Rolle des zum Staatsoberhaupt gesalbten unfehlbaren Demokraten hoch stilisieren zu wollen. Als »Rolle« hat er das Amt des Bundespräsidenten nämlich niemals verstanden. Deshalb auch wird niemand von Gustav Heinemann sagen können, er habe »seine Rolle« gut (oder schlecht) gespielt. Niemals in seinem Leben hat er eine »Rolle« - gut oder schlecht - gespielt, weil er keine Station seines Lebens als »Rolle« verstanden hat. In keiner Position wollte er eine »Rolle« spielen. Das war keine falsche Bescheidenheit. Er kennt einfach keine »Rollen«, sondern nur Aufgaben, die nach bestem Wissen und Gewissen und ohne Rücksicht auf persönliches Prestige und öffentliche Meinung zu erfüllen sind.
Das, was Gustav Heinemann zeit seines Lebens - und in besonders erstaunlicher Weise als Bundespräsidenten - ausgezeichnet hat, ist seine Treue zu sich selbst, zu seinen Überzeugungen und Grundsätzen, zu seinen Möglichkeiten und Grenzen. Für ihn gab (und gibt) es nur zwei Instanzen: Wissen und Gewissen - und wenn ich sagte: Treue zu sich selbst, dann meinte ich keine narzißhafte Selbsterhaltung, sondern Treue zu diesen beiden Instanzen: Wissen und Gewissen - Vernunft und Glauben - Freiheit und Demut. Deshalb wiederhole ich: bitte keine Legendenbildung um den »unbequemen Präsidenten«, sondern eine möglichst realistische Einschätzung seines Wirkens und Bewirkens. (Die menschliche Wertschätzung versteht sich dabei von selbst und braucht nicht verheimlicht zu werden!) Was also wollte der dritte Bundespräsident vor allem anderen bewirken? Ich schnitt es schon an und möchte es nun verdeutlichen: Gustav Heinemann hat sich wie wohl kein anderer Politiker der Nachkriegszeit für die Sache der Bürgerfreiheit, der Bürgerverantwortung und des Bürgermutes eingesetzt. Und wie kein anderer hat er in der viel beschworenen und vielgestaltigen »Demokratisierung« aller Bereiche des Zusammenlebens die eigentliche Chance zur Festigung und Erhaltung einer freiheitlichen Ordnung gesehen. Initiativen der Bürger sind für ihn keine lästigen oder dubiosen Zeiterscheinungen: »Bürgerinitiativen tragen dazu bei, daß wir uns unserer Freiheiten bewußt werden.
Sie haben ihre Grundlagen, aber auch ihre Grenzen in unserer Verfassung. Sie gehören zu einer lebendigen Demokratie.« - So sagte er bei der Verleihung des 9. Theodor-Heuss-Preises im Februar 1972 in München. Nun mag man einwenden: Schön wär's ja! Aber sieht nicht die Wirklichkeit - auch die der Bürgerinitiativen - meist ganz anders aus? Und wird heute nicht über so vieles soviel so pausen- und folgenlos geredet? Auch ein Bundespräsident entgeht dem Zeitgeist und der Inflation der Worte nicht. Weshalb also sollte gerade dieser Bundespräsident an dieser Wirklichkeit mit noch so klaren Worten etwas ändern können? Dennoch meine ich, daß - bei aller notwendigen Skepsis Gustav Heinemann während seiner Amtszeit mehr für die Entfaltung eines lebendigen Demokratieverständnisses bewirkt hat, als es jedem anderen Politiker gelungen wäre. Und zwar nicht durch Worte allein, sondern durch seine Persönlichkeit, die mit den Worten identisch war. So gesehen war' es geradezu ein Glücksfall, daß er in den fünf Jahren, die zwischen dem Ausbruch der Studentenunruhen und der Energiekrise als schicksalhafte Besinnungspausen liegen, Bundespräsident war. Er hat die inner-politischen Probleme unseres Gemeinwesens wie kein anderer erkannt und beim Namen genannt. In diesem Sinne war er der politischste aller bisherigen Bundespräsidenten und damit gewiß auch der unbequemste. Aber »politisch« und »unbequem«, das war er ja schon immer. Im Dritten Reich, in der Nachkriegszeit, als Präsident der Evangelischen Kirche, als Parteirebell, als Einzel- und als Gruppenkämpfer. Das Engagement in Sachen freiheitlicher Demokratie und ihren Möglichkeiten hat er also nicht erst als Bundespräsident quasi als Marktlücke - entdeckt. Dieses Engagement ist untrennbarer Bestandteil seines eigenen politischen und moralischen Selbstverständnisses und damit seines politischen Werdegangs.
Es ist ein Stück seiner selbst. Vielleicht wird man es später einmal bedauern, daß gerade diese einmalige, durch Erfahrung und Herausforderung erworbene »Begabung«, die den Politiker Gustav Heinemann auszeichnet, eigentlich erst während seiner (zu) kurzen Amtszeit als Bundespräsident ihre volle Entfaltung und Anerkennung fand. Ich erinnere mich beispielsweise noch sehr gut daran, auf wieviel Unverständnis es stieß, als die Stiftung Theodor-Heuss Preis ihm 1967 ihren Preis für »bemerkenswertes demokratisches Engagement und für Zivilcourage« zuerkannte. Es war neben einem Ehrendoktor - die einzige Auszeichnung, die er bis dahin erhalten hatte, und außer Frau und Tochter war nur ein einziger persönlicher Freund bei der Verleihung anwesend. Damals bin ich Gustav Heinemann zum erstenmal begegnet, da ich als erste Vorsitzende der Theodor Heuss-Preis-Stiftung den Preis wie alljährlich zu übergeben und zu begründen hatte. Aus dieser Erfahrung weiß ich, daß eine Preisverleihung stets eine recht decouvrierende Angelegenheit ist.
Jedenfalls war Gustav Heinemann der erste (und bisher einzige) Preisträger, der in keiner sichtbaren Weise »gerührt« oder »verwirrt« schien. Meine Begründung und Ralf Dahrendorfs geistreiche Laudatio hörte er sich gelassen an und sagte dann folgende vergleichsweise lapidaren Dankesworte: »... Ich bitte um die Erlaubnis zu danken. Zu danken zugleich auch für meine Familie und Freunde, die als Weggefährten das Auf und Ab vergangener Zeiten mitgetragen haben. Sie erteilen mir diesen Preis zur Ermunterung. Es ist eine Freundlichkeit Gottes, daß das geschehen kann. In diesem doppelten Sinne danke ich.« Damit war für Gustav Heinemann alles Nötige gesagt. Und wir waren beinahe verblüfft, daß er diese gute Gelegenheit zur Selbstdarstellung mit keinem Wort nutzte (damals war er als Bundesjustizminister, der eine Reform des Strafrechts vorantrieb, mehr als umstritten, und immer noch hing ihm das Odium des Parteiwechslers und Sektierers an). Ich berichte von dieser ersten Begegnung, der viele weitere folgten, nicht nur, weil unsere damals noch junge und unbekannte Stiftung stolz darauf ist, daß sie sich nicht scheute, ausgerechnet einen der umstrittensten (und auch im liberalen Lager keinesfalls unumstrittenen) Nachkriegspolitiker auszuzeichnen, und sich diese Auszeichnung des späteren Bundespräsidenten als »Volltreffer« erwies. Nein, ich berichte das, um die Bruchlosigkeit nachzuweisen, mit der sich Gustav Heinemann treu geblieben ist.
Damals stand unsere Feierstunde unter dem Motto »Demokratie glaubwürdig machen«, weil ich schon damals davon überzeugt war, daß dies das eigentliche Ziel war, welches sich Gustav Heinemann für sein persönliches und politisches Wirken gesteckt hatte; ein Ziel, hinter dem alle persönlichen Belange zurück zustehen hatten. Damals dankte er für unsere »Ermunterung« und empfand sie als »Freundlichkeit Gottes«. Wer möchte heute noch bezweifeln, daß es Gustav Heinemann als Bundespräsidenten tatsächlich gelungen ist, unsere »Demokratie ein gutes Stück mehr glaubwürdig zu machen«? Und daß er dies nicht als persönliche Leistung, sondern wiederum als »Freundlichkeit Gottes« empfindet: Denn Gustav Heinemann ist im wahrsten Wortsinn ein gottesfürchtiger Mann. Er hat wie kein anderer protestantischer Politiker über die Zusammenhänge zwischen dem Protestantismus lutherischer Prägung, versäumter Aufklärung und obrigkeitsstaatlicher Staatsphilosophie nachgedacht und daraus für sein eigenes politisches Denken und Handeln Konsequenzen gezogen. Zum Beweis hierfür möchte ich an einen Aufsatz aus den frühen sechziger Jahren über die »gesellschaftliche Bedeutung der Reformation« erinnern, in dem er auf die Zusammenhänge hingewiesen hat, die zwischen der lutherischen Einbindung des Menschen in autoritär-obrigkeitsstaatliche Regierungs- und Lebensformen einerseits und in eine ebenso regierte Kirche mit ihrer Erziehung durch Schule und Predigt zu fügsamen und arbeitsamen Untertanen andererseits bestehen. Diese »Einbindung« sei die Ursache dafür, daß sich gläubige Christen zur eigenständigen Mitverantwortung für das Geschehen im Staat, im Rathaus oder in der Kirche weder aufgerufen noch zugelassen fühlten.
Nun, genau in diesem Punkte hat Gustav Heinemann für sich persönliche Konsequenzen gezogen und andere Menschen zu diesen Konsequenzen ermutigt, ja geradezu aufgefordert. So ist es kein Zufall, daß er dem Untertanen den »mündigen Bürger« gegenüberstellt und daß er sich als Bundespräsident nicht als »lieber Landesvater« empfand, unter dessen »Flügeln« jedermann ruhig »bügeln« könne. Im Gegenteil. Immer wieder nennt er den Preis der Freiheit: Mündigkeit - Verantwortung Bürgermut! Immer wieder fordert er Mitmenschlichkeit, Bereitschaft zum Verzicht und Solidarität, und immer wieder verweist er auf das Grundgesetz als den Maßstab, an dem sich der mündige Bürger selber messen kann und messen lassen muß. Kein Zweifel, daß Gustav Heinemann mit solcherlei Maßstäben und Anforderungen für sich und andere bis auf den heutigen Tag im Grunde nicht »beliebter« geworden ist, als er es zu Adenauers Zeiten war. (Er hat nicht nur alle jene gegen sich, die das »ruhig bügeln« nach wie vor als erste Bürgerpflicht verordnen wollen, sondern auch alle jene, die viel zu bequem und egoistisch sind, um Demokratie als eine persönliche Verpflichtung zu verstehen von den Feinden der freiheitlichen Demokratie ganz zu schweigen.) Dennoch wurde ihm dem jahrelang Geschmähten und Verkannten -, wie man so sagt, vielfache Genugtuung zuteil. Sie ist ihm nicht zugeflogen. Er hat sie sich in den fünf Jahren seiner Bundespräsidentschaft Schritt für Schritt, und ohne Konzessionen an sich selbst, verdient. Die »auctoritas« seiner Person, seine ruhige unpathetische Art, Probleme darzustellen, sein verschmitzter trockener Humor und auch sein Grollen machen seine unbedingte Glaubwürdigkeit aus. All das hat ihm von Tag zu Tag mehr Achtung, Sympathie und Zuneigung eingebracht und seine (leider nur) einmalige Amtszeit schon heute zu einem bleibenden Erfolg gemacht. Aber um diese Art von Genugtuung geht es ihm ja eigentlich gar nicht. Sein Verständnis von Genugtuung liegt nicht in der persönlichen »Beliebtheit«, sondern in dem, was er bewirken konnte und wie es weiter wirken wird. Ich meine, daß, wenn wir auf dem von Gustav Heinemann aufgezeigten Weg weitergehen, Aussicht besteht, gegen neuerliche Rückfälle in obrigkeitsstaatliche Ordnungen und gegen neue Heilslehren gefeit zu sein. Das wäre nicht zuletzt eine jener »Freundlichkeiten Gottes«, für die Gustav Heinemann zu danken pflegt.
12. Politische Kultur in der Bundesrepublik Deutschland[24]
Gespräch mit Hermann Rudolph
Rudolph:
Wir wollen über politische Kultur sprechen, über die Frage also, wie mit Politik, wie mit Institutionen umgegangen wird, welche Haltungen da eine Rolle spielen. Daß dieses Thema gegenwärtig so lebhaft diskutiert wird, hat seinen Grund. Es sieht so aus, als seien wir uns in der Bundesrepublik unserer politischen Kultur nicht sicher, oder anders gesagt: Unser Verhältnis zur Politik ist nicht so gesichert, wie wir uns das gerne wünschen.
Hamm-Brücher:
Wir müssen uns der Bedeutung der Kritik, der gegenwärtig unser politisches System, die Institutionen und die politischen Parteien ausgesetzt sind, bewußter werden. Diese Kritik hat in letzter Zeit unseren Blick dafür geschärft, daß neben einer funktionierenden Verfassung und neben den Parteien, die zur politischen Willensbildung einen Verfassungsauftrag haben, noch ganz andere Dinge wichtig sind, um den Bürger für die Demokratie und für die Gestaltung des politischen Lebens zu gewinnen. ich glaube, dies ist unser Ausgangspunkt.
Rudolph:
Sie selbst sind unmittelbar nach Ende des letzten Krieges in die Politik gegangen, und Sie gehören jener Generation an, die im Dritten Reich »erwachsen« geworden ist. Wie sah es im Kopf eines jungen Menschen damals unter diesem Gesichtspunkt der Frage nach der politischen Kultur aus? Oder, zunächst, ganz einfach: Was waren damals Ihre politischen Vorstellungen?
Hamm-Brücher:
Ich hatte damals natürlich keine Vorstellungen, was politische Kultur ist. Ich hatte nur eine sehr idealistische Vorstellung, wie ein staatliches Gemeinwesen aussehen müsse, das ja in allererster Linie seine ganze Energie, seine inneren und äußeren Kräfte darauf zu verwenden hatte, die Gesinnung und die Gesittung des Dritten Reiches zu überwinden. Das war sozusagen ein Gegenmodell zu dem, was ich in meiner Kindheit und Jugend erlebt hatte. Aber selbst meine negative Erfahrung mit dem Dritten Reich war nicht konkret genug, um aus ihr eine politische Kultur konstruktiv entwickeln zu können. Genau wußte ich nur, was nicht mehr sein sollte.
Rudolph:
Das war also eine negative...
Hamm-Brücher:
... Ja, ganz und gar negative Erfahrung. Dabei erinnere ich mich genau, daß selbst jene, die wie ich an der studentischen Widerstandsbewegung beteiligt waren - von den Geschwistern Scholl bis zu Professor Huber -, ebenfalls keine Vorstellung hatten, wie die Gesellschaft einmal aussehen sollte, wenn der Nationalsozialismus überwunden und besiegt sein würde. Die Gegnerschaft war rein idealistisch, sie war bestimmt von der Ablehnung Hitlers und von einer sehr puristischen Staatsidee, aber konkret und vor allem realistisch konnten wir uns nicht vorstellen, wie die Zukunft aussehen solle.
Rudolph:
Auf die Zeit vor dem Dritten Reich, also auf Weimar, wollten Sie vermutlich auch nicht zurückgreifen. Die Weimarer Demokratie, die gescheitert war und die insofern historisch sozusagen durch das Dritte Reich desavouiert war, konnte schwerlich als Vorbild dienen.
Hamm-Brücher:
Es war nach 1945 eigentlich mein erster Dissens, mit dem, was sich politisch anbahnte, daß mir alles viel zu sehr an Weimar angeknüpft wurde. Man machte zwar einige Korrekturen, gewiß auch Verbesserungen an der Verfassung, aber die Verfassungsväter waren allesamt Persönlichkeiten, deren politische Vorstellungen von Weimar geprägt waren, beinahe allesamt »Weimarianer« also. Ich befürchtete damals, daß es nicht gut gehen könne, wenn man auf dieses offenkundig gescheiterte Modell, nur durch ein paar Korrekturen verändert, zurück käme. Ich habe Anfang der fünfziger Jahre oft in Diskussionen beklagt, daß dies doch nicht die Antwort auf die historische Erfahrung sein könne, die wir mit Weimar und dem Dritten Reich gemacht hatten. Daß es dennoch relativ gut ging, bleibt für mich ein Wunder.
Rudolph:
Als die Studentenbewegung Ende der sechziger Jahre begann, war die Bundesrepublik fast zwanzig Jahre alt. Es sah so aus, als ob alles funktionierte. Nun sagten Sie einmal bei anderer Gelegenheit, daß diese Phase in der Geschichte der Bundesrepublik eine »Demokratie ohne Demokraten« gewesen sei. Werden Sie diesen Jahren eigentlich ganz gerecht, wenn Sie das so sehen?
Hamm-Brücher:
Ich bin vielleicht etwas ungerecht, aber ich habe nach wie vor den Eindruck, daß damals eine Demokratie von und mit nur sehr wenig wirklich bewußten Demokraten geschaffen wurde. Sie müssen sich vorstellen: Nach dem Kriege wurde erst deutlich, welche Verluste die Emigration und die Verfolgung und Vernichtung der Juden unserer Kultur beigebracht hat. Meine Generation, die Freunde aus meiner Schulzeit, waren zumeist im Krieg gefallen und die, die zurück kamen, waren irgendwie kaputt, für Politik waren sie nicht mehr zu interessieren. Überhaupt waren die meisten Menschen, auch wenn sie keine engagierten Nazis waren, an Politik nicht mehr interessiert, auch nicht für die Demokratie, die uns die westlichen Siegermächte »anerziehen« wollten. In ihren Augen hat die Demokratie ja versagt, zum Dritten Reich geführt. Man konnte sich gar nicht vorstellen, daß so etwas funktionieren würde. Wenn man nachliest, wie skeptisch noch in den fünfziger Jahren sich unsere Literaten - ich denke da vor allem an die Gruppe 47 - gegen die Demokratie äußerten, dann wundert man sich, daß es jene hauchdünne Schicht von älteren und jüngeren Menschen geschafft hat, ihre Vorstellung von einer wiederzubegründenden Demokratie durchzusetzen. Ohne die amerikanische Vision und ohne Druck der amerikanischen Militärregierung wären sie allerdings gescheitert. Es kann keine Rede davon sein, daß die Mehrheit der Deutschen zu diesem System entschlossen war und sich bewußt zu ihm bekannt hätte. Als dann die junge Generation in den fünfziger Jahren, die vom Wiederaufbau und vom Kampf um bessere Lebensbedingungen geprägt waren, heranwuchs und sich rasch an den Wohlstand gewöhnte, nun zu fragen begann, was es denn eigentlich mit unserer Demokratie auf sich habe, versäumten wir, die Älteren, den klärenden Dialog mit ihr zu führen. Wir haben ihnen nicht gesagt, mit welchen Schwierigkeiten wir dieses Unternehmen begannen, wie schlecht und eingeengt die Startbedingungen waren. Statt dessen haben wir uns in Schweigen gehüllt, und dies hat ganz entscheidend zur exzeptionellen Ausprägung des Generationenkonfliktes in unserem Lande geführt. Das Aufbegehren der jungen Leute war eigentlich ein Aufbegehren dagegen, daß man mit ihnen nicht geredet hatte. Das hätten wir wenigstens sagen sollen: Wir sind zwar keine geborenen Demokraten, aber wir wollen die Chance nützen, und wir wollen das vor allem für euch und mit euch tun. Ich will diese zwanzig Jahre nicht abmeistern, ich will nur darauf hinweisen, wie mühsam der dritte Versuch, in Deutschland eine Demokratie zu etablieren, gewesen ist, was wir dabei versäumt und weshalb wir heute noch unter diesen Versäumnissen zu leiden haben.
Rudolph:
Sie sagten eben, daß wir an den Folgen dieser Versäumnisse gelitten haben. Nun ist aber das Nachleben der Studenten- und Protestbewegungszeit auch zu einer Hypothek unserer demokratischen Ordnung geworden. Sie ist sicher in ihren Anfängen als ein Impuls erschienen, der vieles in dem Sinne, in dem Sie es zu charakterisieren versucht haben, gut und besser machen wollte, was bis dahin nicht gut gewesen ist. Aber sie ist seitdem in ihren Konsequenzen, wie wir sie an den Parteien, an der danach entstandenen jugendlichen Subkultur, an dem seitdem eigentlich noch viel stärker gewordenen Generationenkonflikt sehen, zu einer Belastung geworden. Wie erklären Sie sich das?
Hamm-Brücher:
Ich hatte im vergangenen Jahr ein Gespräch mit dem alten Professor Gollwitzer, mit dessen politischen Aktionen und Ansichten ich heute kaum mehr übereinstimmen kann. Aber er hat eine These vertreten, die ich sehr interessant fand, die ich ungefähr noch nachvollziehen kann und die Ihre Frage teilweise beantwortet. Er hat mir erzählt, daß die Entwicklung der Ulrike Meinhof unter dem Eindruck des mangelnden Widerstandes der Deutschen im Dritten Reich gestanden hat und von ihrer Erkenntnis ausging, daß sie festgestellt hatte, »dies haben wir ja nie ausgestanden, wir haben den Faschismus nach dem Krieg mit administrativen Mitteln beendet, wir haben ihn nie >ausgeschwitzt<, wir haben nie wirklich gesagt, jetzt muß eine Katharsis kommen, durch die müssen wir hindurch«, und so weiter. Ihre Radikalität und am Ende ihr Terrorismus - so interpretiert es Helmut Gollwitzer - waren Verzweiflung. Ich weiß nicht, ob man das so sehen kann. Ich sehe nur, daß diese Menschen aus ihrer Verzweiflung die falschen Konsequenzen zogen. Anstatt sich mit den Schwierigkeiten und den Möglichkeiten zur Demokratie auseinanderzusetzen, haben sie sich in einem ideologischen Gehäuse verbarrikadiert und im Namen einer idealistischen und ganz und gar verschwommenen Vorstellung von einer neuen Gesellschaft die Demokratie bekämpft.
Rudolph:
Ist dann nicht diese Studentenbewegung und das, was in ihrem Umfeld steht, eben auch ein typischer Fall von deutscher politischer Kultur? Insofern nämlich, als daß sich da ein ungeheurer Idealismus versucht hat auszusprechen, vor dem keinerlei Realität Bestand haben konnte? Das lag sicher nicht so sehr an der Realität als an diesen Fiktionen und Utopien. Hatte dann nicht gerade das gefehlt, was politische Kultur ausmachen sollte, nämlich zwischen idealen Vorstellungen und Wertungen und der Wirklichkeit, in der sie sich realisieren sollen, zu verbinden? Da fehlte doch gerade das, was wir in der Demokratie seit den fünfziger Jahren gelernt haben wollten: gemeinsame Angelegenheiten gemeinsam behandeln, lösen, entscheiden und verbessern.
Hamm-Brücher:
Ich stimme Ihnen zu. Wir Deutschen haben einen sehr engen Begriff von Kultur. Kultur war für uns eigentlich immer nur das Schöngeistige. Sie galt weitgehend als ein Privileg der Besitzenden. Ein wirkliches Zusammengehen von Politik und Kultur hat es bei uns kaum gegeben, und noch heute ist für viele, die sich für Repräsentanten der Kultur halten, die Politik das »garstig Lied«, und für manchen Politiker sind diese Repräsentanten der Kultur »Ratten und Schmeißfliegen«. Daß wir diese Kluft zwischen Politik und Kultur in den fünfziger Jahren nicht überwunden haben, gehört zu den folgenschweren Versäumnissen dieser Zeit.
Rudolph:
Wird die Diskussion, die gegenwärtig über politische Kultur geführt wird, nicht auch davon gekennzeichnet, daß die Erfahrungen der fünfziger Jahre sich auch schon wieder weitgehend verdunkelt haben? Ich habe jedenfalls den Eindruck, daß die Entfremdung zwischen der kleinen Schicht der im engeren Sinne politisch Tätigen und den Bürgern heute eher noch störender oder jedenfalls problematischer aufspringt, als das damals der Fall gewesen sein mag. Und wenn Sie vorher den fünfziger Jahren unterstellt haben, daß die meisten Menschen kein Interesse an der Politik hatten und sich deswegen in das fügten, was die Politiker für sie besorgten: Muß man nicht davon ausgehen, daß heute zwar ein weit größeres Interesse vorhanden ist, aber dies dahin führt, daß die Kluft zwischen der politischen Ebene, den Parteien und dem, was in der Politik exekutiert wird, und den Bürgern größer geworden ist? Das alles bringt doch hervor, was wir heute Staatsverdrossenheit nennen.
Hamm-Brücher:
Diese Verdrossenheit hat auch damit zu tun, daß die Politiker wiederum auf den Protest teilweise zu schnell und unbesonnen reagierten. Denen genügte die Feststellung, daß da ein falscher Weg beschritten wurde, mit dem sie nichts zu tun haben wollten. Ich glaube aber dennoch, daß diese Kluft zu überwinden ist. Mit großem Interesse beobachte ich, daß heute die intelligenten und engagierten Leute ihre eigene Beziehung und Einstellung zur Demokratie schaffen. Nicht, daß sie einlenken im Sinne von Nachgeben gegenüber einem System, das sie für fragwürdig oder zumindest sehr verbesserungsbedürftig halten. Aber sie suchen und finden ihren Platz in unserem öffentlichen Leben. Und so schrecklich die Begleiterscheinungen dieser ganzen Entwicklung seit den späten sechziger Jahren auch waren, am Ende ist die Demokratie ein Stück weiter gekommen. Ich muß dies ausdrücklich betonen, denn es wird allzu leicht übersehen: Alle diese Dinge wie Bürgerinitiativen, Selbsthilfeorganisationen, das neue Verständnis für die Schwächeren, für die Behinderten, für die Frauen und so weiter, sind doch positive Ergebnisse aus dem eruptiven Prozeß der Studentenbewegung, der am Ende sozusagen übergeschwappt ist, aber doch wichtige Impulse für die demokratische Entwicklung gebracht oder provoziert hat.
Rudolph:
Würden Sie sich getrauen, eine Kosten-Nutzen-Bilanz aus dieser Entwicklung zu ziehen? Wir müssen doch sehen, daß wir beispielsweise eine Diskussion wie die über den Radikalenerlaß ohne diese achtundsechziger Jahre nicht hätten führen müssen. Eine Diskussion, die uns fast ein Jahrzehnt beschäftigt hat mit der sehr problematischen Konsequenz, daß sie von beiden Seiten sozusagen zu einer Gretchenfrage gemacht wurde, einmal auf der Seite der jungen Leute, die nur daran und an nichts anderem die Demokratie haben messen wollen, zum anderen auf der anderen Seite, die in ihr wiederum den Angelpunkt des Verhältnisses der Politik und zum Staat gesehen hat.
Hamm-Brücher:
Wenn man bedenkt, wie wenig durch dieses schreckliche Gebilde dann auch bewirkt wurde, so kann man die Unverhältnismäßigkeit nur beklagen.
Rudolph:
Ist es nicht ein Zeichen der Schwäche unserer politischen Kultur, wenn ein solches Thema in diesem Maße die öffentliche Diskussion bestimmt? Zeigt es nicht, daß wir für die Normalität des demokratischen Prozedierens eben zu wenig Sensibilität haben? Wir sind da doch in eine Polarisierung geraten, die am Ende nur eine Pseudopolarisierung war!
Hamm-Brücher:
Der Unterschied zwischen den gewachsenen und selbstbewußten Demokratien und unserem noch unsicheren Gebilde ist auf unsere eigene Unsicherheit zurückzuführen, auf unser ständiges schlechtes Gewissen. Wenn wir jemanden aussperren, wenn wir einen Anwalt maßregeln, auch wenn es noch so begründet ist, schlägt unser Gewissen gleich turmhoch, und die Befürchtung, daß die ganze Welt mit dem Finger auf uns zeigt unter dem Hinweis auf die Nazizeit, macht uns eben unsicher.
Rudolph:
Nochmals: Wie sähe nach Ihrer Ansicht eine Kosten-Nutzen-Bilanz der Bewegung seit der Mitte der sechziger Jahre aus?
Hamm-Brücher:
Ich kann Ihnen nicht sagen, was bei einer Kosten-Nutzen-Analyse herauskommt. Vor dem Aufbruch Mitte der sechziger Jahre stagnierte vieles, oder manches brach hervor, was für zwei Jahrzehnte sorgsam »unter dem Teppich« gehalten wurde, denn der Wiederaufbau und die Wirtschaft hatten ja Vorrang. Heute empfinde ich es als gespenstisch, daß die Kontinuität in der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung, die ja drei Jahrzehnte lang von Erfolgen bestimmt war, mit einer Weltuntergangsstimmung im ganzen politischen Bereich Hand in Hand geht. Verdrossenheit! Das Ausmaß der Normalität, der Geborgenheit, der sozialen Sicherheit, der Zufriedenheit, des ständigen materiellen Zugewinns für fast alle Bürger unseres Landes, das soll den Nährboden für die Verdrossenheit hergeben und zu dieser beinahe apokalyptischen Stimmung gegen alles, was hier Verantwortung trägt, und gegen alles, was Institutionen sind! Ich kann mir das eigentlich nur so erklären, daß wir Politiker den Menschen viel zu sehr nach dem Munde reden und eigentlich nicht genügend reinen Wein einschenken. Denn so lange Frieden, so lange Wohlstand, so lange Sicherheit hat es in der Geschichte Europas überhaupt noch nicht gegeben. Und dies alles ist gewiß nicht gefährdet aus unserem System und seinen unbestreitbaren Schwächen. Die Gefahren kommen woanders her und sollten eher zu einem Konsensus der Gemeinschaft führen als zu ihrer Spaltung. Wir Politiker sollten nüchterner und realistischer abwägen und sagen, was wir auf diesem Fundament politisch vernünftiger und besser machen müssen.
Rudolph:
Könnte es nicht sein, daß die Instabilität, die offensichtlich im Selbstgefühl vieler Leute existiert, trotz dieses Wohlstandes, in gewissem Sinn eben eine Folge dieses Wohlstandes ist? Ich will das ein bißchen explizieren: Der Wohlstand und die Sicherheit bringen die Leute dazu, sich konsumorientiert zu verhalten, als Konsument auch im Politischen zwar mündig zu werden, aber nicht mündig sozusagen hin zum Staat, sondern mündig in der Wendung weg vom Staat in einer Anspruchshaltung. Und von dieser Zurückgezogenheit auf die eigene private Existenz, die durchaus stabilisiert ist, die sich aber nicht mehr in das Ganze der politischen Verhältnisse einordnen läßt, rührt wohl diese Unzufriedenheit her. Wenn das so ist, würde das natürlich das ganze Problem sehr erschweren. Denn bisher hat man geglaubt, daß mit der Schaffung von stabilen Verhältnissen und von sozialer Absicherung der Mensch am Ende auch zufriedener werden müsse, und diese Dialektik würde nun ergeben, daß dies gerade nicht dazu führen kann.
Hamm-Brücher:
Diese Zufriedenheit kann doch gar nicht allein aus wirtschaftlicher oder sozialer Stabilität kommen. Es gehört doch auch das Emotionale zum Zusammenleben der Menschen, nicht nur in der Familie und im Freundeskreis, sondern gerade in der großen Gemeinschaft. Und wenn das so völlig fehlt wie bei uns, führt dies zu einer Verarmung, die sich in dieser Unzufriedenheit ausdrückt.
Rudolph: Das hieße doch, daß unser politisches System defizitär geworden ist, denn das Phänomen, über das wir gerade sprechen, lebt ja von diesen Schwächen des Systems.
Hamm-Brücher:
Gewiß müssen viele unserer politischen Institutionen verändert, verbessert werden. Aber es muß auch ein neuer »Kulturnährboden« geschaffen werden, auf dem sich diese politische Kultur entwickeln kann.
Rudolph:
Die Staatsverdrossenheit, die beklagt wird, hängt vielfach mit dem Problem der Bürokratie, der Bürokratisierung, der Komplexität aller Vorgänge zusammen. Das ist die zwangsläufige Folge eines sehr vielfältig aufgebauten Staats und Gemeinwesens, das vieler Funktionen bedarf und das auch nicht ohne den Preis mancher Ungerechtigkeiten zu betreiben ist. Wenn dem aber so ist, müßte dann nicht die politische Kultur imstande sein, andere Kräfte zu entwickeln, um das auszugleichen? Müßte nicht der Politiker in der Art eines Dolmetschers tätig werden, der gleichsam diesen komplizierten Staat jetzt dem Bürger wieder nahe zubringen versucht?
Hamm-Brücher:
Gewiß muß der Politiker als der Interpret wirken, der dem Menschen den Apparat erklärt und ihm das Gefühl nimmt, nur noch »ein Rädchen« in dem Riesengetriebe zu sein und nichts bewirken und nichts verändern zu können. Wenn der Politiker sich aber mit komplizierten Gesetzen und Ausführungsbestimmungen hoffnungslos selbst in diesem Räderwerk verstrickt, wie kann er da andere von diesem System überzeugen? Und wenn er dann noch einen Stil pflegt, wie wir es von führenden Parteipolitikern während des Bundestagswahlkampfes erleben mußten, wen wundert es da, wenn sich der Bürger verdrossen von Politik und Staat abwendet. Zwei Dinge halte ich für notwendig, um unsere politische Kultur zu verbessern: Der Politiker muß als Vorbild wirken. Ich finde nicht, daß wir zum Beispiel der Jugend neue Ziele und Aufgaben setzen sollten. Ich finde, daß wir uns so verhalten müssen, daß wir mit dem, was wir denken und sagen, wofür wir uns einsetzen, den jüngeren Generationen Überzeugungen vorführen, für die sie sich einsetzen können und die ihnen nicht suspekt erscheinen. Ihre Ziele wird die Jugend sich dann selbst setzen.
Rudolph:
Das hieße für diese Phase der Geschichte der Bundesrepublik, daß die Vorbildfunktion, die politisches Handeln haben kann, unterentwickelt ist. Das Problem liegt dann nicht so sehr in der geringen Transparenz und der Komplexität der Verhältnisse, die sich ohnedies kaum reduzieren läßt, sondern darin, daß das, was gesagt und getan wird, mit dem Gewicht einer persönlichen Existenz beglaubigt werden müßte, das es gleichsam überzeugend macht. Solche Gestalten hat es in den fünfziger Jahren gegeben - ich denke da an Theodor Heuss, Ernst Reuter oder Gustav Heinemann -, heute scheint mir eher Mangel zu herrschen.
Hamm-Brücher:
Als zweites Erfordernis halte ich für geboten, daß der Bürger mehr in Entscheidungsprozesse einbezogen wird. Wir können nicht - pro und contra - über irgendein weltpolitisches Problem abstimmen lassen. Aber wir können ganz bestimmt über Grundfragen des Zusammenlebens - zum Beispiel in der Gemeinde - die Bürger mehr als bisher einbeziehen. In manchen Bundesländern wird ja nicht einmal der Oberbürgermeister oder der Landrat gewählt. Ich sehe nicht ein, warum Eltern in der Schule nicht ein Mitbestimmungsrecht für den Leiter oder für den Schulrat, der die Aufsicht hat, haben sollen. Die Bürgerinitiativen, die Alternativen Listen, viele der Protestbewegungen zeigen, daß die Bürger so etwas wollen. Nimmt der Politiker sie hier nicht ernst, so leistet er jenen Kräften Vorschub, die die politische Kultur nicht fördern, sondern zerstören wollen, und das zeigt sich dann in gewaltsamen Demonstrationen oder Hausbesetzungen.
Rudolph:
Dagegen könnte man aber auch die Befürchtung stellen, daß die Partizipation als demokratisches Allheilmittel eher neue Illusionen und neue Probleme zeitigt. Müßte man nicht gerade den repräsentativen Charakter der Verfassung stärker bewußt machen und zeigen, daß unser kompliziertes Gemeinwesen eben nur dann funktionieren kann, wenn andere für andere handeln?
Hamm-Brücher:
Wenn Partizipation bedeutet, daß zum Beispiel Entscheidungen nicht mehr möglich sind, dann bin ich auch dagegen. Wenn Partizipation aber bedeutet, mehr Mitspracherecht bei Grundentscheidungen im Personellen und im Organisatorischen auf mehr Menschen für bestimmte Zeit zu übertragen und damit die Beteiligung an der Verantwortung zu verbreitern, dann bin ich dafür. Ich sehe durchaus, daß wir Gefahr laufen, unter Partizipation Drittelparitäten und völlige Aufblätterung von Gemeinschaften zu verstehen, anstatt zu lernen, die Partizipation nicht zu mißbrauchen und sich Mehrheitsentscheidungen eben zu fügen. Darum klappt es in so vielen Institutionen eben nicht und in gewisser Weise auch in den Parteien nicht.
Rudolph:
Es ist gut, daß wir auf die Parteien zu sprechen kommen. Die Einführung der Parteien in die Verfassung mit einer positiven Charakterisierung war eine wesentliche Neuerung des Grundgesetzes. Die traditionelle, obrigkeitliche deutsche politische Kultur ist ja eher parteifeindlich gewesen. Nun hat man den Eindruck, daß diese Einfügung der Parteien sich wiederum in eine Richtung entwickelt hat, die man so jedenfalls nicht wollte. Die Parteien sind zu einer Art neuer Obrigkeit geworden. Woran könnte das - einmal vorausgesetzt, es wäre wie angedeutet - liegen? An der Entwicklung der Parteien? Kommen die falschen Leute in die Parteien und nicht mehr die, die man dort eigentlich haben will? Liegt es am System insgesamt?
Hamm-Brücher:
Es liegt vor allem auch daran, daß die Parteien sich oft mit den staatlichen Institutionen verwechseln, sie für sich Einvernehmen, sie als ihre Futterkrippe betrachten, sich an Steuergelder heranmachen und so weiter. Die Parteien als Willensträger sind heute Futterkrippenversorgungseinrichtungen. Ich finde wichtig, daß man die Parteien auch in Frage stellt. Ich bin eine Liberale, und für mich ist da nichts so fest gefügt, als daß es sich nicht in Frage stellen lassen muß. Und unsere Parteien, wie sie da sind, müssen sich in Frage stellen lassen von einem Bürgerbewußtsein, das davon ausgeht, daß die Parteien für die Wähler und nicht die Wähler für die Parteien da sind.
Rudolph:
Für wie wichtig würden Sie dieses Problem einer Parteienentfremdung im Zusammenhang mit den Schwächen unserer politischen Kultur halten, über die wir gesprochen haben? Ist das ein beiläufiges Problem, oder ist das für Sie als Politikerin, die in einer Partei steht...
Hamm-Brücher:
... ein zentrales Problem. Denn die Parteien sind mittlerweile so geschlossene Gesellschaften geworden, daß ein Mann, der sich im Leben bewährt hat, der vielseitig interessiert ist und der sich gerne engagieren würde, gar keinen Zugang mehr in die Parteien findet. Außenseiter-Blitzkarrieren - ich denke da an Dahrendorf, Biedenkopf oder Maihofer - passen einfach in diese Parteien nicht hinein. Für einen Moment kommt es den Parteien zupaß, glanzvolle Namen zu haben, aber die fallen alle früher oder später wieder aus. Dies ist ein Armutszeugnis für die Parteien. Auch ein Mann wie Carlo Schmid hat in der Partei nie das Ansehen gehabt, das man ihm posthum gewährte. Ich weiß auch nicht, was in unserer Partei aus einem Mann wie Theodor Heuss geworden wäre, hätte man ihn nicht zum Bundespräsidenten gewählt. Unsere Parteienlandschaft hat an solchen Außenseitern heute einen erheblichen Mangel, weil diese gegenüber den sogenannten Berufspolitikern kaum eine Chance haben.
Rudolph:
Liegt das nicht daran, daß der politische Betrieb gleichsam überpolitisiert ist und daß an ihm nur teilhaben kann, wer zu jenen gehört, die sich vollständig auf die Politik einlassen und festlegen lassen wollen?
Hamm-Brücher:
Darum haben auch die Spontanbewegungen, die Bürgerinitiativen oder die Grünen solche Erfolge und werden wohl zunehmend Erfolg haben -, weil da Menschen tätig werden, die ihre Lebenserfüllung nicht in einem Parteiamt suchen, sondern von denen der Wähler glaubt, daß sie als einer der ihren ihre Interessen vertreten.
Rudolph:
In diesem Zusammenhang ist es nahe liegend, auf das Thema politische Bildung zu kommen, denn sie ist ein wesentlicher Teil der politischen Kultur in der Bundesrepublik. Es hat in der Bundesrepublik von Anfang an eine sehr rege politische Bildung als Institution gegeben, und die Bildungsreform der fünfziger und sechziger Jahre war sehr stark darauf ausgerichtet, die jungen Menschen politisch anzusprechen und auch zu politisieren. Nur, auch hier scheint es, daß diese Anstrengung in mancher Hinsicht eben nicht den Effekt gehabt hat, den man sich davon versprach. Zum großen Teil ist dies auf Kosten der normalen Bildung gegangen, und die Entfremdung der Jugend von Staat und Politik wurde eben gerade nicht verhindert.
Hamm-Brücher:
Der große Fehler, der mit der politischen Bildung als Sozialkundeunterricht oder als politischem Unterricht begangen wurde, lag darin, daß man sie als reine Institutionenkunde betrieb, und man hat den zweiten großen Fehler gemacht, daß man die Demokratie überhöhte, das heißt, man hat das Prinzip der Mehrheit und Mehrheitsentscheidungen den jungen Menschen als einzige und perfekte Form zur Herbeiführung von Lösungen dargestellt, die dann an der Wirklichkeit oft versagte oder zu Enttäuschungen führte. Und der dritte Fehler ist, daß man die jungen Menschen mit Tatsachen und Sachverhalten vertraut machte, daß man aber versäumte, ihnen die Chance zur Anwendung des Gelernten zu geben. Denn Bildung bewährt sich eigentlich nur dann, wenn die Anwendung des Gelernten erprobt und politisches Verhalten eingeübt wird. Da versagt die Schule nach wie vor völlig. Allein wie man in der Schule miteinander umgeht, ist alles andere als demokratisch. Wie man dort lernt, einander zu ertragen und sich miteinander auseinanderzusetzen, das ist nach wie vor kaum beispielhaft und der inneren Lebensverfassung unserer Demokratie wenig förderlich. Ich bewundere jene Demokratien, in denen das soziale Verhalten, neben der intellektuellen Entwicklung eines Kindes, das wichtigste Kriterium ist. Bei uns ist es das abfragbare Wissen, das über den Schulerfolg entscheidet, nicht die musischen, geistigen und sozialen Kräfte, die ein junger Mensch entwickeln muß, um sich später in einer demokratischen Gemeinschaft bewähren zu können. So gesehen steckt die politische Kultur noch in ihren Anfängen, und hier sehe ich den entscheidenden Punkt, wo alle politischen Kräfte unseres Landes zu einem Konsensus und zu einem gemeinsamen Handeln kommen müssen, um dieses Gemeinwesen angesichts äußerer gemeint sind die weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Interdependenzen - Gefahren und Bedrohungen von innen her zu sichern.