Kapitel 10
Nach einer halben Stunde Jogging auf dem Bürgersteig den Hügel hinauf war der Dampf verflogen, und ich aalte mich in Efales Haus ausgiebig unter der Dusche. Das heiße Wasser tat noch sein übriges, um die Erhitzung durch das Rennen in eine reinigende Euphorie zu steigern.
Als ich den Gürtel meiner Hose zuschnallte, fragte mich Aama, wo ich gewesen sei.
»Ich bin gelaufen wie die Armeesoldaten beim Training.« »Ja, ja, deine Lauferei kenne ich - du steigst ins Auto und fährst überall dorthin, wo du angeblich hingerannt bist.«
Didi hatte das Auto gepackt. Efale stand neben uns auf dem Bürgersteig und verabschiedete uns mit warmer Herzlichkeit, dann umarmte sie Aama. Sie hielt Aamas Hände zwischen den ihren fest, als wolle sie sie wärmen.
»Du bist jemand ganz Besonderes, Aama. Du bist eine Prinzessin oder eine Königin.«
»Das muß ich wohl sein«, antwortete Aama, nachdem ich übersetzt hatte, »denn genauso behandeln mich die Leute!«
Wie die Cable Car mühte sich unser Wagen den Potrero Hill hinauf und bog dann nach Westen ab zum Highway 1. Außer einem Besuch im Monterey Bay Aquarium hatten wir nichts vor, brauchten uns also nicht sonderlich zu beeilen. Wale gab es dort allerdings nicht, wie wir telefonisch in Erfahrung gebracht hatten, dafür aber Seeottern, die man durch die Glaswände beobachten konnte. Die wollten wir Aama zeigen und ihr deutlich machen, daß sie mit den Walen verwandt und durchaus lebendig waren.
Zu dritt schlenderten wir die Straße entlang, hin zu den Gebäuden des Aquariums. Wir drückten die Türen auf und gingen zur Kasse.
Aama blieb stehen. Sie legte den Kopf in den Nacken und schaute in die geräumige Glaskuppel, die den Innenhof überwölbte und in der die Geräusche widerhallten. Wir drängten sie weiterzugehen. Dann sahen wir, was ihren Blick gefangenhielt.
»Da ist es also«, sagte sie ruhig: eine erklärende Handbewegung war überflüssig.
Zwei lebensgroße Plastikattrappen von Killerwalen hingen an Seilen von der Decke. Darunter reckten Kinder lachend ihre Hälse nach den schwarzweiß gezeichneten Burschen.
»Hier bewahren sie also die mechanischen Riesenfische auf, nachdem sie sie in der Show vorgeführt haben«, meinte sie und fühlte sich endlich gerechtfertigt. »Wenn es echte Fische wären, hätten die Leute sie längst geschlachtet und aufgegessen. Schau die Kinder an - sogar die wissen, daß es ein Trick ist!«
Didi hatte die Eintrittskarten gekauft. Wir fühlten uns ausgenommen. Vorwärts also zum nächsten gigantischen Täuschungsmanöver.
»Das Bassin ist mit Wasser aus dem Gangesozean gefüllt«, erklärte Didi Aama, als wir vor dem maritimen Minitaur-Ökosystem standen, zu dem auch ein Taucher mit Sauerstoffflasche gehörte. »Dieser Mann putzt die Fenster von der Innenseite.«
»Ha, er putzt die Fenster«, schnaubte Aama spöttisch und schaute vom Glas zu den Fischen und von den Fischen zum Taucher. Ihre von Adern überzogenen Hände umklammerten das Messinggeländer und hielten sich an einer Welt fest, die sicherer schien als die Phantasielandschaft vor unseren Augen. Sie schaute sich nach den anderen Besuchern um, von denen einige lächelten; dann sprach sie leise zu sich selbst.
»Ist das alles ein Witz oder eine komische Show wie bei uns im Dorf das Theater und der Klamauk, das die unverheirateten Kinder veranstalten? Soll ich lachen, oder soll ich böse sein? Warum sind diese Leute alle hergekommen? Und dieser Mann da drinnen, der seine Wasserpfeife raucht, der sollte aus dem Wasser kommen, wenn er mit dem Baden fertig ist. Seine Kleider sind ja pitschnaß...«
»Das sind alles wirkliche, echte Tiere, Aama, und ein echter Mensch«, sagte ich.
»Ja, ja, natürlich sind sie echt - genauso echt wie die Fische oben an der Decke. Komisch, was du >echt< nennst.«
Auf der Galerie, auf der das Anfassen der Tiere erlaubt war, holte Didi einen Seestern aus einem flachen Bassin und reichte ihn Aama. Ein Wärter in einer kastanienbraunen Weste kam zu uns herüber, drehte ihn um und erklärte, wie er sich ernährt, indem er seine winzigen Fühler zum Mund hinbewegt. Aama hörte kurz zu, dann warf sie den Seestern ärgerlich ins Wasser zurück.
»Hier ist eine Kaurischnecke, Aama.« Didi deutete auf einen durchsichtigen Plastikcontainer, an dessen Wand sich die Schnecke angesaugt hatte. Aama versuchte sie vom Plastik abzuziehen.
»Was ist hier los - hat jemand die Kaurischnecke angeklebt oder was?«
»Nein, sie ist lebendig, das ist ihr Fuß, mit dem sie sich an Felsen festsaugt.«
Aama schien darüber nachzudenken, während sie heftig an dem Container rüttelte. Sie betrachtete verschwommen die anderen Exemplare von Meerestieren, Seeigeln, Venusmuscheln und Meerohren - dann wurde sie stumm. Ihre Hand zitterte leicht.
Wenn Aama sich wohl fühlte, entfaltete sie sich wie eine Seeanemone und nahm ihre Umgebung mit strahlender Begeisterung in sich auf. War sie jedoch verunsichert, so zog sie sich zurück und versuchte, sich zu tarnen. Dann konnte ihr die freundlichste Geste als diabolisch erscheinen, oder zumindest als nutzlose Verschwendung. Diesmal nahm der Kulturschock die Wucht einer brechenden Welle an und vermittelte ihr das Gefühl, zu sterben oder in die Hölle geraten zu sein. Die Flut des unerklärlich Neuen spülte ihre Fähigkeit zu Beobachtung und vernünftiger Reaktion restlos weg. Wenn du untergehst, dann denk daran, daß du nicht atmen darfst, hatte sie in den Wellen von Oregon erklärt. Wie wir gesehen hatten, war sie darin Experte.
Im ungewissen, auf welcher Seite des Bassins wir standen, zog sich Aama in eine Dimension zurück, von der die Menschen um sie herum, die sich hier vergnügten, nichts wußten. Wie kam es überhaupt, daß sie noch am Leben war und wozu? Karma und Schicksal hatten sie dazu auserkoren, übrigzubleiben, währen doch alle Gleichaltrigen schon hinübergegangen waren. Der Sinn und Zweck ihrer Langlebigkeit waren ihr ein Rätsel.
Bhagwan - sie glaubte nicht einfach an Bhagwan, nein, sie fühlte ihn, sie war Teil von ihm, ein faßliches Stück des Unfaßbaren. Meine Intuition sagte mir a posteriori: Bhagwan existiert. Ganz gewiß sorgte er für sie auf einer Ebene, die Didi und mir unzugänglich war. Ich fragte mich, ob wir diesen unsichtbaren Partner nicht schon als ganz selbstverständlich ansahen.
Wir wandten uns dem Ausgang zu. Ich fragte Didi, wieso gerade die natürliche Welt - und nicht die unpersönliche Welt der Technik - den Kulturschock ausgelöst habe.
»Sie fühlt sich wahrscheinlich zwischen diesen beiden Realitäten gefangen«, meinte Didi. Wie soll man sich in einem fremden Land orientieren, wenn man nicht mehr weiß, was wirklich und was unwirklich ist? Wir brauchen unsere vergangene Erfahrung oder vielleicht göttliche Intervention für eine klare Erkenntnis, aber sie kommt eben nicht immer.«
Glücklicherweise hielt Aamas Zustand weniger als eine Stunde an. Plötzlich war der Spuk wieder vorbei, als seien die Hormone, die ihre Angst ausgelöst hatten, völlig umgewandelt. Selbst in ihren schwachen Stunden wußte Aama, daß Gefühle vorübergehend sind - wie die Wellen des Ozeans: ein Tal, ein Gipfel, doch immer dasselbe Wasser; die Turbulenzen spielen sich nur an der Oberfläche ab. Es beeindruckte mich, daß Aama mit dem Kulturschock besser zurechtkam als ich, nachdem ich zum erstenmal nach zwei Jahren in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt war. Damals mußte ich wochenlang mit einer schmerzhaften sozialen Lähmung kämpfen.
Als Hilfsmutter für sechs ihrer dreizehn Brüder und Schwestern - von denen immer mindestens einer irgendwie daneben war - wußte Didi, wie man mit Durchhängern umging.
»Aama, vor ein paar Minuten habe ich Stuhldrang gespürt«, teilte sie in einem ablenkenden, sonnigen Ton mit.
»Wirklich? Gut. Wann war das letzte Mal? So weiß ich, wie lange etwas her ist. Bei mir sind es jetzt drei Tage - seit wir im Wald der Baumriesen waren. Werden wir noch mehr solche Bäume sehen?«
»Hast du Durst? Ich glaube, wir haben Saft im Auto.«
Aama preßte ihre Nase gegen die gläserne Schiebetür unseres Parterrezimmers im River Inn, nahe Big Sur. Ein Bach schlängelte sich durch den baumbestandenen Garten hinter dem Motel..
»Fließt dieses Wasser zum Ozean, oder kommt es von dort?« fragte Aama.
»Zum Ozean. Warum?«
»Wenn du einen Kalender hast, dann können wir feststellen, wann Janai Purni ist, der Vollmond im August. Ich sollte an diesem Tag baden, am besten in Gewässern, die in den Ganges münden.«
In meiner Schlaftrunkenheit vor dem Frühstückskaffee dämmerte mir, daß uns ein heiliger Tag ins Haus stand. Ich griff nach meiner Aktentasche am Fußende des Bettes und holte einen nepalesischen Kalender heraus, der aus locker gebundenen Reispapierblättern bestand, die mit roten und schwarzen Schriftzeichen bedruckt waren. Ich fürchtete, daß wir Janai Purni um eine Woche verpaßt hatten, wollte mich aber doch vergewissern. Sollte ich es übersehen haben, so wollte ich es Aama nicht erst später gestehen. Nein, es verblieb noch ein Monat bis dahin. Aber heute war Nag Panchami, der Tag, an dem man die nagas günstig stimmen konnte, die Schlangengeister, in deren Obhut die Qualität und Quantität des Wassers lag. Ein guter Tag, um im Ganges oder im großen Gangesozean zu baden. Ich machte Aama darauf aufmerksam. Sie kramte in ihrer Reisetasche und holte den Toilettenbeutel heraus. Darin bewahrte sie das Samengehäuse der Seifenwurzel auf, einen der wenigen persönlichen Gegenstände, die sie aus Nepal mitgenommen hatte. Die ockerfarbene Oberfläche der daumengroßen Samenschale glänzte vom Öl an ihren Handflächen wie poliertes Hartholz. Der Samen war oben aufgeschnitten und ausgehöhlt. Im Tempel von Paupatinath hatte ein Priester den Samen mit biphut gefüllt, mit Asche aus dem nie erlöschenden Scheiterhaufen für rituelle Opfergaben. Diese Asche ist eine Form von prasad, ein Gnadengeschenk der Götter an die Menschen. Sie reichte mir die Samenschale und bat um Wasser vom Waschbecken. »Dreh nicht den Hahn auf, ein Tropfen genügt.« Vorsichtig ließ ich einen Tropfen hineinlaufen. Sie schaute in die Höhlung, nickte zustimmend und tauchte ihren kleinen Finger ein, der als einziger hineinpaßte. Sachte hob sie ihren Arm und führte den kleinen Finger, der wie eine Antenne aus der Faust herausragte, an die Stirn; sie berührte die Spitze eines Dreiecks zwischen den Augen: das dritte Auge Krishnas, das geistige Auge, den Tika-Punkt Überraschenderweise blieb an der Stirn nichts haften. Sie bog den Hals leicht nach hinten und berührte ihren Kehlkopf, den Ort der Verletzlichkeit durch Geister.
»Es wird weiß, wenn es trocknet«, flüsterte sie. Ihre Augäpfel rollten nach oben und warteten, als wolle sie sehen, ob es auf der Stirn schon geschehen sei. Und tatsächlich erschien ein runder, kreideartiger Fleck auf der Stirn. Sie lächelte über die kleine magische Darbietung, die sie uns vorgeführt hatte. Der heilige Tag konnte beginnen.
Wir mußten nicht weit gehen, um das rituelle Zubehör für die Nag-Panchami-Opfergaben zu finden. Direkt neben dem Motel gab es einen im New-Age-Trend liegenden Geschenkeladen mit Mineralien, Medaillons, Kristallen, Kupferarmreifen und anderen Requisiten, um nichtmaterielle Energien anzuziehen. Das Licht brach sich in den Kristallen in Regenbogenfarben und schuf im Laden eine Atmosphäre, in der es schien, als sei Geld ein hervorragendes Mittel, um sich in den Besitz mystischer Kräfte zu bringen. Die Ladenbesitzerin war im Himalaja gewandert und erkannte Aama als Nepalesin.
Didi legte Kerzen und Räucherstäbchen an die Kasse. Die Frau nahm die Gegenstände und drückte sie Aama ehrfürchtig in die Hand.
»Wenn sie eine wahre Pilgerin ist, dann kann ich ihr nichts verkaufen, was als Opfergabe in einem Ritual benutzt wird.« Offenbar hatte die Frau ihre Hausaufgaben im Hinduismus gemacht. Sie führte zwar keinen zinnoberroten Mennigepuder, aber sie öffnete eine Spiegeldose mit Rouge, und Aama inspizierte sie. Ja, das kam der richtigen Farbe nahe genug. Tumerik war ein Ersatz für Safran. Rasenschnitt konnte als Symbol für dubo gelten, das Gras, das Mäuse fressen und das gebraucht wurde, weil die Maus das Vehikel von Ganesh ist, dem Beseitiger von Hindernissen, dem wohlbeleibten und mildtätigen Gott des Glücks.
Wir besorgten noch Tumerik, Kuhmilch und Bananen-Götterspeisen, naga. Didi fand ein Heftchen Streichhölzer im Handschuhfach, und Aama holte eine Muschelschale aus der Tüte mit den Kostbarkeiten von den Seelöwen-Höhlen. Auf dem ersten Parkplatz am Meeresufer, den wir erreichten, hielt ich an.
Nag Panchami wird im Juli gefeiert, auf der Höhe des Monsunregens, wenn die Götter an trockenen Orten Zuflucht suchen und die Dämonen freies Feld haben. Die schlangengleichen nagas sind die ersten wohlwollenden Götter, die wieder auftauchen; ihrem Beispiel folgen andere nach, und zusammen schüchtern sie die Dämonen so ein, daß sie sich in ihre Verstecke zurückziehen. Die Wintermonate beginnen an diesem Tag, und der Monsun legt sich allmählich. Die Ernte kann nun heranreifen.
Am Strand breitete Aama die Opfergaben und Ritualgegenstände aus und schickte mich mit der Muschel weg, um Ozeanwasser zu holen. Etwa zwölf Leute, die dort picknickten oder ein Sonnenbad nahmen, kamen näher, hielten aber respektvoll Abstand und verbargen ihre Neugierde hinter vor der Brust gekreuzten Armen.
»Kann niemand Kuhfladen finden, oder wenigstens ein paar Tropfen Kuhurin für eine alte, verschrumpelte Dame?« fragte Aama mit Blick auf die Zuschauer. Als sei es eine Selbstverständlichkeit, richtete ich mich aus der Hocke auf und fragte, ob irgend jemand Kuhfladen auftreiben könne. Niemand regte sich. »Und sind hier jungfräuliche Mädchen?« Aama hielt hoffnungsvoll Ausschau, denn Jungfrauen waren in diesem Ritual vorgeschrieben. Ansehen konnte man es im Gegensatz zu Nepal niemandem. Hindufrauen kennzeichnen ihr geöltes Haar mit roten Streifen, wenn sie verheiratet sind. Wieder gab ich Aamas Frage an die Zuschauer weiter. Sie drehten ihre Köpfe weg und suchten bei den nebenstehenden nach Hinweisen auf die gewünschte Eigenschaft. Ein junger Mann und eine Frau tauschten ein heimliches Lächeln aus. Die Gesichter von zwei Männern spannten sich an, als hätten sie den Verdacht, daß in jenem Teil der Welt, wo diese Frau herkam, Jungfrauen geopfert würden.
Eine frische Brise machte es schwer, die Räucherstäbchen anzuzünden, doch Aama verfügte über Geduld und Autorität. Zeit ist nicht Geld, besonders nicht bei der Gottesverehrung. Didi zündete die Kerzen an und stellte sie aufrecht in den Sand. Aama schnitt eine Banane mitten durch, steckte je eine Hälfte neben die Kerzen in den Sand und versah sie mit Räucherstäbchen. Eine fiel um, und Aama richtete sie wieder auf, ohne Anstoß daran zu nehmen, daß sie nun voller Sand war. Während sie mit dem Daumen beider Hände die Fingerspitzen berührte, als würde sie zählen, sang sie ihre Segenssprüche: »Das Schicksal gewährt mir die Gelegenheit, dieses Land und diese Menschen mit heiligem Wasser zu segnen im Namen meiner Eltern und deren Eltern, so wie sie uns gesegnet haben. Es ist das mindeste, was ich als ihr Nachkomme tun kann, wo wir doch Ganga Sagar nicht erreichen konnten...«
Das war alles für heute. Das kurze Bad und das Opferritual brachten ihr Entspannung und Erfüllung, und auch mir und Didi - wie die erste Mahlzeit nach dem Fasten. Aama zerschnitt die saubere Hälfte der Banane, das prasad, in kleine Stückchen und reichte sie herum. Zwei der Zuschauer nahmen dankbar davon, zögerten aber, sie zu essen, als könnte diese Medizin für sie zu stark sein. Dann ging Aama selbstvergessen zum Meer, setzte sich ins Wasser und badete.
In Santa Barbara hatten unsere Freunde Geoff und Janet ihr Gästezimmer für uns hergerichtet. Während Didi und Janet in Erinnerungen schwelgten, ließen Geoff und ich ein paar Bierdosen knallen und landeten im Fernsehzimmer. Aama schlurfte zu der abgedunkelten Nische, angezogen vom blauen Licht, das sie auf den Vorhängen tanzen sah. Sie spähte vorsichtig um den Kasten herum, als sei das nun endlich ein Haushaltsheiligtum, umgeben von einem heiligen Kreis.
Sie setzte sich so, daß sie den Bildchirm fast nicht mehr sehen konnte, lehnte sich aber zur Seite, steckte die Zunge zwischen die Lippen und schaute mit gespannter Aufmerksamkeit Louis Rukeyser zu, der sich mitten in seinem komischen, verzerrten Rückblick auf die vergangene Woche der Nation befand. Sie schaute zu uns, zum Bildschirm, dann wieder zu uns und lachte, als sei ihr etwas peinlich.
»Warum spricht dieser Mann nur mit mir und nicht mit euch? Er scheint nicht zu merken, daß ich ihn nicht verstehen kann.«
Der nächste Tag war ein Sonntag. Trotz des verführerischen Hintergrundsummens des hedonistischen Südkalifornien überlegten Didi und ich, wie wir Reste der spanisch-katholischen Kultur dieser Gegend, in der noch ein gewisser Grad an Moralität und Tugend bewahrt worden war, ausfindig machen könnten. Als sie in der zweiten Klasse ihrer Konventschule war, erzählte Didi, hätten die Schülerinnen 75 Dollar für die Adoption von heidnischen Babys gesammelt, um deren Seele zu retten. Das Geld wäre an Ort und Stelle besser angebracht gewesen, meinte sie jetzt.
Beim Frühstück erläuterte Didi Geoff und Janet den Sinn unserer Reise: Aamas Suche nach irgendeinem Hinweis auf Heiligkeit oder Frömmigkeit in diesem Land. Janet schlug vor, die historische Mission von Santa Barbara zu besuchen und das Vedanta Center, einen Hindutempel mit einem Kloster. Geoff riet uns, die Cold Springs Tavern nicht auszulassen, einen Motorradlertreff in den Santa-Ynez-Bergen über der Stadt. Seit Jahrzehnten gibt es jeden Sonntag eine Art Pilgerzug dorthin.
Die Santa-Barbara-Mission war im späten 18. Jahrhundert vom Franziskanerorden gegründet worden, und der erste Abt der Mission ist im Kirchhof begraben. Als wir über den mit Schiefer belegten Hof gingen, fragte ich mich, ob das Wort »Abt«, das von dem im Nahen Osten gebräuchlichen Wort für Vater abstammt, wohl etwas mit aapa zu tun hat, der Gurung-Bezeichnung für Vater, oder mit dem deutschen Begriff Opa. In den meisten südasiatischen Sprachen ist das Wort für Mutter eine Variation von »Aama« und verwandt mit vielen Worten für Liebe.
»Das ist etwas anderes hier«, sagte Aama, als sie unter den Touristen in der alten Kapelle der Mission stand. »Hier verehren die Menschen Gott.«
»Frühe Siedler haben den Tempel vor fast zweihundert Jahren gebaut«, erklärte ihr Didi.
»Menschen haben den Tempel gebaut?« fragte Aama und gab sich dann selbst die Antwort: »Das ist nicht ganz richtig. Bhagwan hat ihnen den Tempel geschenkt, und sie haben ihn hier errichtet.« Singend nahm sie Didis Hand und ging die Stufen zum Altar hinauf. Ihr Gebet auf Nepali-Sanskrit hallte von der hohen Decke zurück und vermischte sich mit dem alten Latein und Spanisch, das noch in den Dachbalken zu hängen schien.
Trotz ihrer malerischen Schönheit wirkte die Mission eher wie ein Museum als eine lebendige Kirche; ihr Geist war durch die Masse der Touristen verwässert, die sich wie Puppen auf dem Fließband hindurchbewegten und deren Neugierde auf die Überreste ihrer Kultur sich in engen Grenzen hielt. Jetzt war das Fließband zum Stehen gekommen. Eine Frau, deren Hautfarbe derjenigen Aamas ähnelte, trat aus der zweiten Kirchenbank nach vorne und stellte sich neben Aama vor den Altar. Zusammen beteten sie und schlössen die anderen Besucher in ihre Fürbitten ein.
An der Wand in unserer Nähe schien ein dunkles Gemälde sein eigenes Licht auszustrahlen. Jesus mit Heiligenschein war darauf zu sehen, der einladend die Arme ausstreckte: »Kommt zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, und ich werde euch erfrischen.« Seine Hände hatten die Haltung des buddhistischen Varada-Mudras, der symbolischen Geste für ein Gnadengeschenk. Barmherzigkeit floß aus den Fingern Jesu, und der durchscheinende Heiligenschein erzeugte eine Aura von spiritueller Reinheit, wie sie überlicherweise auch um den Kopf Buddhas und anderer erleuchteter Wesen dargestellt wird. Jesus konnte Hindus und Buddhisten nicht fremd sein.
Draußen fragte Didi Aama, wie ihr unser Tempel, die Kirche, gefallen habe.
»Wie kann ich etwas über eure Tempel sagen, wenn ich nicht sicher bin, was die Menschen hier für eine Absicht haben? Tempel allein sind nichts ohne die fromme Hingabe von Männern und Frauen.« Als ich das hörte, hoffte ich um der südkalifornischen religiösen Tradition willen, daß wir im Hindutempel nicht mehr religiöse Aktivität antreffen würden als in der katholischen Kirche.
In Janets Auto gelangten wir zur Einfahrt der Vedanta-Ge-sellschaft Südkaliforniens. Das Zentrum leitete ein Jünger Swami Vivekanandas, einer der ersten Inder, die vor einem Jahrhundert die östliche Mystik in den Westen gebracht haben. Ein elegantes Bauwerk mit einer überdachten Terrasse wurde von einer makellosen Parkanlage umgeben und machte eher einen japanischen als einen indischen Eindruck. Die Vögel sangen in fröhlicher Unschuld. Ich hatte das Gefühl, wir seien Eindringlinge in eine abgemessene Symmetrie.
Von unserer Mission vorwärtsgetrieben, stiegen wir die breiten Stufen zum Tempel hinauf. Ein freistehendes Schild am Eingang forderte uns auf, Ruhe zu bewahren und unsere Schuhe auszuziehen. Didi flüsterte, daß sie angesichts dieser perfekten Ordnung vermute, die Vedanta-Jünger würden vor einem Hindutempel in Indien oder Nepal zurückschrecken -mit seinen grellen Farben, den streunenden Rindern, dem Trompeten der Muschelhörner, den Glocken, Räucherstäbchen und dem Rauch der Feueropfergaben -, einer Umgebung, die viel zu geschäftig war für eine Gesellschaft, die in edler Abgeschiedenheit religiösen Trost suchte.
Die Tür stand offen, und düstere Stille waberte nach draußen. War das kratzende Geräusch beim Öffnen von Aamas Schnürsenkeln vielleicht zu ehrfurchtslos? Eine Frau in einem handgesponnenen Baumwollsari erschien aus dem Nichts und schritt lautlos die Stufen hinauf. Sie betrachtete uns fast inquisitorisch, und ich erklärte höflich, daß Aama aus Nepal gekommen sei und, wenn möglich, Räucherstäbchen anzünden und Opfergaben darbringen wolle.
»Wir tun das im Namen derer, die uns darum bitten, damit die Leute nicht immer zum Altar gehen - so wird es normalerweise gemacht.« Offenbar müssen auch hier Mittelsmänner eingeschaltet werden, wie bei den Katholiken in der Grotte von Oregon.
»Wer ist sie?« fragte Aama und bewunderte den Sari der Frau. »Gehört sie deiner Rasse an?«
»Sie ist eine der Jüngerinnen hier.«
»Hast du mit ihr Hindi oder englisch gesprochen?«
»Englisch. Sie sagte, der Swami sei nicht da, aber wir könnten hineingehen und meditieren.«
»Trägt der Swami die heilige Janai-Schnur? Ist er ein Brah-mane?«
»Ich denke, ja.« Ich nahm an, daß er zu einer »zweimal geborenen« Kaste gehörte: - Die erste Geburt fand, wie die aller Menschen, auf der physischen Ebene statt. Später, nach einem langen Weg der Reinigung und des Fastens, werden Brahmanen ein zweites Mal in der spirituellen Welt geboren, in ihrer karmischen Form. Als Zeichen der Authentizität tragen sie die Baumwollschnur, genannt janai, die sie autorisiert, nach dem Tod ihrer Eltern brahmanische Riten zu vollziehen. So wie der jüdische Junge, der zum alten Mann geworden ist, mit dem tallith, dem Gebetsschal, beerdigt wird, der ihm bei seinem Bar Mizwa überreicht wurde, so wird der Hindu mit seiner janai begraben.
Wir gingen auf Zehenspitzen hinein, und unsere Augen gewöhnten sich allmählich an die muffige Dunkelheit einer Kapelle, deren Architektur darauf angelegt war, ständiges Zwielicht zu erzeugen. Vielleicht sollten durch die Nachahmung düsterer Grabesstille Nachtoderfahrungen gefördert werden. Die Dumpfheit fühlte sich recht beruhigend an und war nach einem hitzigen Arbeitstag sicherlich eine angenehme Zuflucht. Einige der Leute sahen aus, als seien sie eingenickt.
Aama ging zum Altar und verbeugte sich tief vor dem schwach erleuchteten Foto von Ramakrishna, dem großen ökumenischen Pandit um die Jahrhundertwende - keine Gottheit, aber ein Zeuge für die Fähigkeit des Menschen, Heiligkeit zu erlangen, also in diesem Leben die Gegenwart Gottes in sich zu verwirklichen. Sie ließ sich dann mit gekreuzten Beinen auf den Boden nieder und blieb eine Weile völlig still sitzen, die Handflächen vor dem Gesicht zusammengelegt. Auf diese Weise tauchte sie ganz natürlich in den Yoga der Hingabe an Gott ein. Bhakti-Yoga war einer der Übungswege des Vedanta, wo alles, was man tut, Gott dargebracht wird und ihn verherrlicht, wodurch der Übende mit der Quelle der Liebe in Kontakt kommt. Als sie aufschaute, machten wir weltlicher eingestellten Mitmenschen Anstalten zu gehen. Es schien nicht der richtige Zeitpunkt für Meditation zu sein. Allerdings versicherten mir meditierende Freunde, daß der Zeitpunkt niemals richtig erscheint und es bei dieser Übung genau darum geht, den Ablenkungen zu widerstehen.
Aama räusperte sich und fragte wieder nach dem Swami. Ein Mann warf uns einen strengen Blick zu. Wir schlichen uns hinaus auf die Treppe und zogen uns flüsternd die Schuhe an. Sogleich erschien ein anderer Mann in Socken und stellte das «Ruhe«-Schild mit unerbittlichem Ernst an den Rand der Veranda, so daß wir es noch einmal lesen mußten - eine schriftliche Abmahnung. Aama kann durchaus still sein, aber nicht auf Kommando.
»Hinduismus ist nicht so sehr eine Religion wie eine Kultur«, hatte mir ein gebildeter Brahmane erklärt. Die Vedantas von Kalifornien scheinen den religiösen Teil gemeistert zu haben, aber in Abwesenheit einer identifizierbaren Kultur. Vielleicht war das zu zynisch. Alle Religionen führen uns in ihrer Essenz zum selben Ziel: der Verwirklichung Gottes. Vedanta war einer der Wege zu diesem Ziel, ein schmaler Pfad durch den wurzellosen, verwilderten Dschungel der modernen Welt.
Bevor Janet ihr Auto startete, mußte sie die Heckklappe öffnen, was manchmal dazu führte, daß die Alarmanlage losging. Innere Stimmen - die Stimme des Collegekids und des verspielten tibetischen Lamas -wisperten mir zu, daß sie darauf hofften: - auf den schrillen Protest, daß wir bisher an diesem Sonntag nicht mehr als zehn Menschen gesehen hatten, die ihren Glauben hingebungsvoll praktizierten.
Wir fuhren nach Santa Barbara hinunter, um etwas zu trinken und Geoff und den Kombi abzuholen.
Als wir am Haus waren, verlangte Aama ihren Bambusstock. Ich erinnerte mich schwach daran, daß ich ihn in der Durchgangshalle für die Besichtigung des Hearst-Schlosses, wo wir am Tag zuvor gewesen waren, auf den Boden gelegt hatte. Im Trubel der Wartehalle hatten wir zu Mittag gegessen, waren aber dann weitergefahren, ohne das Schloß gesehen zu haben. Die Schlange war zu lang, ein Zeugnis für die weitverbreitete Sehnsucht, einen Blick hinter die Kulissen der Reichen zu werfen -wie abgehoben und einsam sie auch sein mochten. Vivekananda und Jesus konnten solchen Massenandrang nicht aufweisen.
»He, Didi«, rief ich vom Boden des Fernsehzimmers, wo ich unter der Couch nach dem Stock suchte, »wie geht dieser Sankt-Antonius-Vers noch, wenn man etwas verloren hat?« Vielleicht war das Ding ja doch irgendwo im Haus.
»Komm, wir wollen los«, rief Didi von draußen. »Wir sitzen im Auto und warten auf dich.« Ich lief hinaus und suchte ein letztes Mal unter dem Vordersitz, bevor ich einstieg. Geoff saß am Steuer. Er mußte in den ersten Gang hinunterschalten, um die Steigung zum San-Marcos-Paß hinaufzukommen. Oben bog er auf die Old Wagon Road ab und parkte unseren mechanischen Walfisch.
»Können wir denn nicht im Schatten anhalten?« fragte Aama. Ich gab den Vorschlag an Geoff weiter, der den Wagen wieder anließ und einen neuen Platz suchte, wobei er irgend etwas murmelte wie: »... daß andere Leute immer schlauer sein müssen ...«
Eine Musikband hatte sich mit ihrem ganzen technischen Zubehör draußen aufgebaut, und Rock 'n' Roll dröhnte durch den dichten Laubwald, der Cold Springs Tavern umgab. Wir mischten uns unter die alternden, aber respektablen Easy Rider in Ledermontur und die Ex-Hippies und Künstler aus einer benachbarten Kolonie, die aus baufälligen Ferienhäuschen bestand und sich Forellen-Club nannte. Ein paar Leute sprachen Didi und Janet an und fragten, ob Aama eine Indianerin sei. Eine der Frauen wollte sie berühren; in einem Lokal, wo der Paarungsinstinkt vorherrschte, folgte sie einem Mutter-Tochter-Instinkt. Aama reichte allen Umstehenden die Hand.
Am Picknicktisch neben uns saß eine blonde Frau und stillte ihr vier Monate altes Baby. Kinder, alte Menschen, Schwache und andere, die nicht auf der Höhe des Lebens stehen, scheinen sich abseits der zwanghaft Jungen zusammenzufinden.
»Wie viele Kinder hat diese Frau?« fragte die junge Mutter.
»Nur eins, aber sie hat vier Enkelkinder und einen Urenkel«, antwortete Didi.
»Weiß sie, was man tun muß, wenn eine Frau keine Kinder bekommen kann? Meine Schwester kann es nicht.«
Didi gab die Frage an Aama weiter. Aamas Gesicht leuchtete auf- endlich jemand, der Kinder haben wollte.
»So etwas liegt in der Hand Gottes«, übersetzte Didi. »Erinnere deine Schwester daran, daß sie jeden Morgen beim Waschen den Namen Bhagwans sagt, und laß einen Priester ein Ritual ausführen. Oder vielleicht weiß einer eurer Ärzte Rat. Und wenn sie einen Weg gefunden hat, um fruchtbar zu werden, dann laß es unbedingt meine Schwiegertochter wissen«, fügte Aama noch schnell hinzu in der Hoffnung, daß ihre Worte die Frau erreichen würden, bevor Didi mitbekommen hatte, was sie da gesagt hatte.
Aama fischte ein paar Münzen aus ihrem Geldbeutel und drängte sich dann durch den Haufen kraftstrotzender Kerle, die mit dem Bierglas in der Hand herumstanden. Sie stieg auf eine der Band-Plattformen und warf die Münzen vor einem Mikrofon auf den Boden. Der Sänger dankte lachend und schaute sie neugierig an. Durch die Geldspende hatte Aama den musikalischen Darbietungen ihre Reverenz erwiesen und erwartete nun, daß die Straßenmusikanten weiterziehen würden, um sich anderswo ein paar Münzen zu verdienen.
Aber es war Aama, die zur Vorderseite der Taverne weiterzog. Sie setzte sich auf eine Bank neben zwei alte Frauen, die ihre Hände auf den Stock und den Kopf auf die Hände gelegt hatten und vergnügt dem bunten Treiben zusahen. Sie besuchten in der Gegend ihre Söhne, wie sie mir sagten. Ihr silbergraues Haar hatte einen bläulichen Schimmer, der sie wie eine Aura umstrahlte. Aama fragte sie, aus welcher Art von Pelz ihre Hüte seien.
Ein schwerer, aber muskulöser Mann mittleren Alters, einer der Söhne, gesellte sich zu der Gruppe alter Damen. Er war sauber angezogen, aber seine Tätowierungen und seine buschigen Koteletten ließen auf eine Vergangenheit schließen, die im wesentlichen um Harleys gekreist sein dürfte. Er sprach mich an:
»Gehören Sie zu dieser Frau?« »Ja.« »Woher kommt sie?« »Aus Nepal.« »Hat sie einen Stock?« »Hm, nein, im Moment gerade nicht. Sie hatte einen, aber ich habe ihn gestern verloren, oder vielleicht heute.« Der Ex-Motorradfahrer griff nach hinten und zog eine dicke Brieftasche aus seiner schwarzen Levis. Er holte einen Zwanzigdollarschein heraus und reichte ihn mir. »Hier, kaufen Sie ihr einen.«
Es war mir zwar peinlich, aber ich gab das Geld an Aama weiter und erklärte ihr, es sei ein Geschenk, um einen neuen Stock zu kaufen. Sie betrachtete den Schein mit der Neugierde eines Teenagers, der auf dem Speicher seines Großvaters eine Kiste mit ausländischen Münzen gefunden hat. Wieviel es wert sei, fragte sie. Über fünfhundert Rupien, sagte ich ihr. Sie schaute zu dem Mann auf und zog ihre Lippen zu einem engen Kreis zusammen, eine der Möglichkeiten, Dankbarkeit auszudrücken, wenn es dafür, wie im Nepalesischen, kein besonderes Wort gibt. Er nickte.
Aama zu mir: »Du hast meinen Stock also wirklich verloren.« Ich versuchte, das Bild loszuwerden, wie Aama auf der Straße hinfallt, die wir gerade überquert haben.
»Ich glaube, wir haben ihn in der Halle stehenlassen, wo wir gestern gegessen haben. Er hat dir doch nicht wirklich gefehlt, oder?«
>»Wer etwas vergißt, bleibt anderen in Erinnerung<«, zitierte sie mißbilligend. »Aber du willst doch nicht wirklich einen neuen Stock kaufen, oder? Ohne Stock komme ich sehr viel besser zurecht als ohne die Nahrungsmittel, die man mit diesem Geld kaufen kann. Du liebe Güte, kaufen hier die Leute wirklich Stöcke für so viel Geld? Ich schneide mir einfach einen neuen Bambusstock ab, wenn ich wieder im Dorf bin.«
»Sie sagt vielen Dank«, teilte ich dem Mann mit, »und wenn es mehr Geld als nötig ist, dann wird sie mit dem Rest Kleider für ihre Enkel kaufen.« Das war hart an der Grenze. Irgendwann wird man mich erwischen, besonders weil die Leute intuitiv mitbekommen, was Aama sagt. Aber sie hatte bestimmt nichts dagegen, wenn ich höflich ihren Dank zum Ausdruck brachte.
»Dieser Mann muß alte Leute mögen. Oder vielleicht gibt er nur mit seinem Geld an. Oder er ist verrückt. Und was hat er eigentlich alles auf seinen Arm gestempelt?« »Sie ist Ihnen wirklich sehr dankbar«, sagte ich wenig überzeugend, Janet kam herüber und meinte, wir sollten aufbrechen, um das Abendessen vorzubereiten. Gäste seien eingeladen. »Aama, winke dem Herrn doch zum Abschied noch mal zu.« Schließlich war es eine mildtätige Geste an diesem Sonntag. Sie vollführte eine Geste mit ihrer Hand, die unter den Gurung soviel bedeutet wie: »Geh vorsichtig und bleibe gesund«, die für Amerikaner aber heißt: »Schau, daß du weiterkommst, hau ab!«So konnte eine Geste in ihrer Kultur Achtung und Segnung bedeuten, während sie in unserer ganz andere Emotionen hervorrief. Ich nahm ihre Hand und zeigte ihr, wie wir winken.)
»Bewege deine Hand hier am Handgelenk rauf und runter, nicht hin und her.« Sie legte den Kopf zur Seite und schaute ihrer Hand zu wie ein Kind einer Handpuppe. »Ja, so ist es richtig«, ermutigte ich sie. »Oder du hältst die Hand still und winkst nur mit den Fingern.« Sie versuchte es, und es gelang ihr. Dann probierte sie, ob eine Kombination beider Bewegungen vielleicht noch besser wäre, und schnappte nach ihrem Daumen, als würde sie einen Moskito fangen. Im Auto übte sie weiter»>Bye-bye< winkt man nur, wenn man geht, nicht, wenn man ankommt, richtig?« »Richtig.« Und was tust du mit deiner Hand, wenn du jemanden begrüßt?« »Du schüttelst die Hand.« »Oh ja, das tun die Männer in unserem Dorf jetzt auch, wenn sie aus den Städten zurückkommen.«
Kapitel 11
Aama beobachtete Janet, die eine Artischocke aß. »Ein Armee-Pensionist hat sie mal in unserem Dorf angepflanzt. Er hatte die Samen aus Indien und nannte sie Haatichaivk. Elefantenbiß, aber ich habe nie gewußt, wie man sie ißt, erst recht nicht ohne Zähne.«
Didi schabte für Aama das Fleisch von den Artischockenblättern auf den Teller. Mit zerlassener Butter würde Aama diese graugrüne Substanz sicherlich genießen. Butter und Kalorien bedeuteten, daß man nicht gleich nach dem Essen wieder hungrig wurde. Schweres Essen symbolisierte Sicherheit und Wohlstand und verlieh Aama, wenn es auf dem Tisch stand, ein Gefühl von Selbstvertrauen.
»Ihr eßt grüne Blätter, roh...« die Gäste nahmen sich mit einem Holzbesteck Tomaten und Salatblätter aus einer übergroßen Salatschüssel ».. .wie Kühe und Büffel das Gras.«
Ich verstand, was sie meinte, und teilte die Meinung der Gurung über Diät-Nahrungsmittel: Warum mehr zahlen für Essen, das weniger Energie liefert? Die Bauern in Nepal berechneten den Nährwert ihres Ernteertrags pro Quadratmeter und versuchten, ihn durch die Fruchtfolge zu maximieren. Gemüse und Obst waren zwar schmackhaft und dekorativ, aber von geringem Nährwert.
»Mir ist aufgefallen, daß die Leute hier den Mais direkt vom Kolben herunteressen und dann Maiskörner liegenlassen. Und irgendwo haben deine Freunde etwas gegessen, das aussah wie lange, weiße Würmer. Sie haben den Kopf oder den Schwanz der Würmer in den Mund gesteckt und den Rest eingesaugt, so wie Enten fressen.« Es klang, als läge eine ihrer spontanen Strafpredigten in der Luft. Ich lehnte mich zurück und nahm einen Schluck Wein.
»Nicht nur das, die Leute stehen auch mitten beim Essen auf und nehmen sich mehr. Sie beschmutzen die Schüsseln mit den I landen, mit denen sie gerade gegessen haben. Immerhin gehört ihr alle zur selben Kaste. Haltet ihr euch an gar keine Gebräuche, wenn ihr eßf?«
»Deswegen bekommst du immer als erste, Aama, damit du dich nicht vergiftest.«
»Und warum servieren sie keinen Tee?«
»Aber du hast gesagt, daß du keinen Tee trinkst.«
»Sie sollten ihn trotzdem anbieten.«
»Du solltest uns nicht mit vollem Mund kritisieren«, gab ich als Retourkutsche zurück. Sie sah mich zweifelnd an. Ich fühlte, wie wenig sie unsere Kultur und unsere Motive gutheißen konnte, aber ich war nicht sicher, ob es irgend jemanden kümmerte. Es war Sommer, und wir waren in Kalifornien.
»Wir alten Leute sagen einfach, was uns in den Kopf kommt, da kann man nichts machen - also sei drauf gefaßt! >Wenn wir Gelegenheit haben zu essen, dann geht alles auf einmal hinein. Wenn wir Gelegenheit haben zu sprechen, kommt alles auf einmal heraus.<«
»Nettes Sprichwort, Aama.« Meine weingetränkten Worte waren eher folgsam als aufrichtig.
»Wer würde Sprichworte sagen, die nicht nett sind?«
Wir spürten beide, daß wir möglicherweise zuviel gesprochen und getrunken hatten. Aama stand auf, trug ihren Papierteller zur Küchenspüle, drehte beide Hähne voll auf und hielt den Pappteller in den aggressiven Strahl. Sie klatschte die aufgeweichte Pappe aufs Abtropfgestell und kehrte zu ihrem Platz zurück. Didi stand auf und drehte die Hähne zu. Sie erklärte den Gästen, daß in Gurung-Dörfern, wo es Wasserleitungen gibt, das Trinkwasser frei aus den Hähnen läuft, unbeschränkt wie die Bäche in den Bergen. »Diese Strohmatte hier, wo mein Teller stand, ist mit Essen verschmutzt«, nörgelte Aama. »Didi, wirf sie weg.«
Didi unterhielt sich weiter mit Janet über Disneyland. Janet konnte uns nicht begleiten, aber wir drei würden ihren Sohn Josse mitnehmen. Didi erzählte Aama von unserem Plan, ein außergewöhliches Fest zu besuchen mit Tänzern und Spielen und riesigen ausgestopften Tieren.
»Wo ist es? Müssen wir viele Tage fahren?... Vielleicht bekommen wir gar keine Eintrittskarten«, setzt sie höflich hinzu, um nicht direkt zu zeigen, daß sie sich etwas wünschte.
Als wir sie ins Bett brachten, gähnte sie wie eine satte Löwin.
»Ruf diese Leute und die Tiere hier herüber, damit ich ihnen Geld geben kann - auch die jungfräulichen Mädchen, die da tanzen. Wieviel brauchen sie?«
Aama saß auf der Tribüne, an der die Disneyland-Parade vorbeizog, und kramte in ihrer Schärpe. Kinder und Eltern, Bummler, Einkaufstüten und Ballons umgaben uns. Ein Wagen in der Form eines Düsenflugzeugs fuhr an uns vorbei. Märchenhafte Wesen tanzten und drehten sich und hopsten auf den Flügeln und um die bauchigen Räder herum. Parademusik kam aus den Bäumen und den Gebäuden. Wir mußten schreien, um einander zu verstehen.
»Wir haben schon gezahlt, Aama, als -...«
Sie warf eine Handvoll Münzen in das bunte Treiben und breitete dann ihre Arme aus, als wolle sie Gott und die Welt umarmen oder ihren alten Körper hinter sich lassen und mit den Farben, der Bewegung, den Kindern und dem Lärm verschmelzen.
Der Zug bog langsam nach rechts ab, die Menschen verließen die Tribüne und zerstreuten sich.
»Kann ich eins von diesen glänzenden Dingern haben, um es meinem neuen Urenkel mitzubringen?« fragte Aama. Ein silbriger Ballon in Form eines Mäusekopfes schwebte über Aama; er war am Handgelenk eines Kindes angebunden, das neben ihr stand.
»Wie willst du denn damit ins Dorf zurückreisen?« erkundigte ich mich, denn ich hatte nicht viel Lust, vier Dollar für etwas zu bezahlen, das den Tag kaum überstehen würde.
»Wir haben doch das Geld, das uns der Mann für den Stock gegeben hat«, insistierte Aama. Ich nahm mir vor, den Stock bald zu kaufen, damit Aama nicht immer auf die Spende zurückkommen konnte. Didi suchte für Aama und Jesse einen Ballon aus und band sie ihnen ans Handgelenk.
Die Menge schob uns weiter bis zur Hauptstraße. Didi kaufte an einem auf alt getrimmten Handwagen eine Tüte Popcorn und reichte sie Aama. Sie warf sich ein paar Körner einzeln in den Mund, aber sie landeten alle hinter ihr. Schneewittchens sieben Zwerge marschierten vorbei - drei Schritte vor, zwei zurück, drei Schritte vor, zwei zurück - und schwangen ihre Arme in einem perfekten, absurden Rhythmus. Aama hielt ihnen eine Handvoll Popcorn hin, als ob sie Tiere anlocken wolle. Ihre Backen waren zu einer Vorratskammer für Popcorn geworden und wölbten sich prall nach außen. In einer komischen Choreographie kamen die Zwerge zum Halten, indem die ersten stehenblieben und die anderen aufrückten, bis sie dicht an dicht standen. Sie konnten gerade noch Aamas »Namaste« erwidern, bevor sich eine Horde Kinder auf sie stürzte.
In einem Geschäft an der Hauptstraße begrüßte uns ein Disneyland-Botschafter in Rock und Krawatte mit Walkie-talkie in der Hand und plauderte mit Didi und mir, während Aama sich umsah. Er machte uns die vertrauliche Mitteilung, das Mickymaus höchstpersönlich in Kürze in Erscheinung treten werde, beugte sich zu uns und flüsterte hinter vorgehaltener Hand: »Dieser Ort ist verzaubert.« Sein steifer Kragen widerstrebte dem heftigen Versuch seines Zeigefingers, ihn zu lockern.
Aama war wieder bei uns angekommen.
»Aama, wir werden jetzt einem Tier begegnen, das in Amerika eine Art Gottheit ist«, sagte ich und mühte mich wie gewöhnlich um eine treffende Übersetzung. »Mickymaus ist die Königin der Tiere und der ganzen Tierkaste, die du neulich mit Jesse im Fernsehen gesehen hast.«
Durch einen Wald von Ballons und Zuckerwatte erblickten wir Mickymaus, wie sie vor einem Schloß auf und ab paradierte und wie ein Politiker der Menge zuwinkte. Wir drängten uns nach vorne, und sie blieb hoheitsvoll vor Aama stehen. Aama versuchte, ihre übergroßen behandschuhten Hände zwischen ihre Hände zu nehmen und führte sie bei jeder Silbe ihres Segensspruchs auf und nieder, als würde sie einem Boxer zusprechen. Mit den Fingerspitzen tastete sie über die Höhen und Tiefen des künstlichen Gesichts, um ihren Segen durch die biegsame, aber undurchdringliche Gummihaut zu zwingen. »Ich bitte um Entschuldigung, daß ich unvorbereitet komme, aber in aller Bescheidenheit möchte ich meinen Respekt ausdrücken, meinen Segen überbringen und dafür beten, daß deine Wünsche und die deiner Kinder, die dich lieben, in Erfüllung gehen mögen...« Zum Abschluß zwickte sie Mik-kymaus so fest in die Nase, daß die Adern auf ihrer Hand hervortraten.
Didi zog Aama zur Seite, um sie in Sicherheit zu bringen. Ein Haufen Kinder fiel über das riesige, vermenschlichte Nagetier her - Kinder, die ihr ganzes Fernsehleben darauf gewartet hatten, vor das leibhaftige Angesicht ihres Idols zu treten. Hier war sie, die Königin aller Mickymäuse, unsterblich wie vielleicht der eingefrorene Walt Disney selbst, und schlich sich wie ein Trojanisches Pferd in die Herzen der Kinder, den Bauch voller unwiderstehlicher Konsumgüter. Eine überdimensionale Inkarnation von Ganeshs heiligem Reittier, der Maus.
In den frühen siebziger Jahren hatte uns unser Anthropologie-Professor daran erinnert, daß »Animation« vom lateinischen Wort anima abstammt, was Seele bedeutet. Er sagte auch, daß das innere Heiligtum des magischen Königreichs für einfache Touristenpilger nicht zugänglich sei und daß das Aschenbrödelschloß - in das wir nicht hineindurften - in Wahrheit leer sei. Das Schloß spiegelte, wenngleich das seinen Entwerfern unbewußt sein mochte - die diversen Ziele von Pilgerreisen wider: den mühevollen Pfad zu Shivas Eisphallus in Indiens Amarnath-Höhle; die Kaaba, das Heiligtum von Mekka, in dem der heilige schwarze Stein bewahrt wird, dem sich die Muslime aller Welt beim Gebet zuwenden.
Wie großartig und göttlich auch die Hüllen dieser heiligen Stätten sein mögen, in ihrem Kern sind sie buchstäblich leer. In der Tat pulsiert das Herz der tibetischen, tantrischen Philosophie um den Begriff der Leere: Alle Phänomene haben ihren Ursprung im Geist. Dabei hat der Geist keine unabhängige, nachprüfbare Existenz. Er existiert - wie die buddhistischen Weisen lehren - als Licht und Erkenntnis, ohne Form, doch allgegenwärtig. »Wenn du glaubst, dann ist es Gott, wenn nicht, dann ist es nur ein Stein«, hatte Aama gesagt. Die Dorfbewohner bemalen gewöhnliche Steine mit Farbe, so daß sie sich in Gottheiten verwandeln. Technisch gesehen ist die Farbe aber nicht wesentlich.
Wir schlenderten die überfüllten Wege entlang und hielten mit der Kamera die mythischen Mediengestalten aus Didis und meiner Jugend fest. Es fühlte sich vertraut an, wie eine aufsteigende Erinnerung - das kollektive Unbewußte. Alle Menschen sind auf ihrer Pilgerreise verbunden, denn sie streben zum selben Ziel: drei Schritte vor, zwei zurück. Der Gedanke war lustig, wenn auch schwer vorstellbar, wie eine Disneyland-Theologie uns bei der Befreiung aus dem Kreislauf von Geburt, Tod und Widergeburt würde helfen können.
Die Stimung im Park nahm bei Sonnenuntergang noch in ihrer Ausgelassenheit zu und tauchte uns in ein Chaos aus Musik, Trillerpfeifen, dem Klamauk der Fahrt auf das Matter-horn und bunten, korpulenten Amerikanern. Aamas Gesicht bewegte sich langsam nach oben. Der Himmel war mit bunten Ballons gesprenkelt, die den zunehmenden Mond umtanzten. Sie legte die Hände zusammen und verneigte sich, ohne die Menschen um sie herum zu beachten.
Wir machten uns auf den Weg zurück zum Parkplatz. Dort öffnete ich alle Autotüren, um das Wageninnere abkühlen zu lassen. Jesse kam weinend ums Auto herum. »Mein Ballon ist weg - und auf den Berg bin ich auch nicht gefahren.« Sein Ballon schwebte dreißig Meter über uns und war auf dem Weg
zum äußeren Weltraum. Didi hatte Aamas Ballon ins Auto getan, wo er an der Decke klebte.
»Gib Jesse diesen«, sagte Aama. »Solange wir hier auf der Erde sind, besitzen wir etwas und sagen, >das ist meins«. Aber wenn wir gestorben sind, welchen Sinn hat dann noch >mein< und >dein<?«
»Wir müssen Geschenke für Didis Mutter kaufen - besonders du, Nani, denn sie ist deine Schwiegermutter.«
»Blumen?« »Blumen sind gut, aber das genügt nicht.« »Ich könnte ihr die Holztöpfe schenken, die wir bei den großen Bäumen gekauft haben. Sie ist eine Gärtnerin und kann sie mit Blumen bepflanzen.«
»Holztöpfe für deine Schwiegermutter? Ist das keine Beleidigung? Wie wäre es mit Kupfer oder einem Ballen teuren Stoff?« Aama hatte Verständnis für die Erwartungen einer neuernannten Schwiegermutter. Wenn ich ihr Angebot annehmen und in die Heirat eines Dorfmädchens einwilligen würde, dann mußte ich in diesen Fragen auf dem laufenden sein. Wie konnten die Gurung so leichtlebig sein und gleichzeitig alles so genau nehmen?
»Manchmal geben wir einem nahen Verwandten einen Schal. Wenn wir ihn überreichen, dann legen wir ihn dem anderen um den Hals und singen >Shaaaaaaaai, shaai, shaai, shaab - >sie ist eingefangen< -, was bedeutet, daß seine Seele einen sicheren Platz in ihm gefunden hat.« Aama drehte sich in ihrem erhöhten Sitz zur Seite, legte Didi die Hände auf die Schultern und hauchte ihre shaais in einem beruhigenden, tiefer werdenden Tonfall - wie ein Reifen, dem die letzte Luft entströmt.
Didi sagte, ihre Verspanntheit sei weniger geworden, als ob Aamas Hände sie aufgesaugt und an die Erde abgegeben hätten. »Ich habe noch einen Pashima-Schal übrig, Aama«, sagte sie. »Und ich glaube, du solltest ihn meiner Mutter geben.«
Mrs. Thunder kam uns in der Einfahrt entgegen. An ihren Armen hatte sie frische Kratzer von den Rosen und an den Beinen Erde vom Unkrautjäten. Ihr Gefolge bildete eine Schar von Neffen und Nichten. Die jüngeren hielten abwechselnd Aamas Hand und berührten ihr Kleid auf dem Weg zum weitverzweigten Adobe-Ranchhaus aus den fünfziger Jahren. Ein Gemälde des heiligen Michael, des Erzengels und Behüters der Kinder, hing im Eingang.
Vom langen Gang zweigten die Türen zu zahlreichen Kinderzimmern mit Stockbetten ab und getrennten Badezimmern für Mädchen und Jungen. Die Wände waren mit den Fotos dreier Generationen der Thunder-Familie bedeckt - ein beeindruk-kender Bevölkerungsquerschnitt Amerikas: Ingenieure, Missionare, Geschäftsleute, Studenten, Eltern und Großeltern. Mrs. Thunder-Didi sagte, ich solle sie Genevievenennen-war ihnen allen auf der Spur geblieben. Sie vermutete, daß Didis Großmutter, die in den sechziger Jahren gestorben war, mittlerweile 147 lebende Nachkommen hatte. Bei dieser expansiven Reproduktionsrate würde es, über den Daumen gepeilt, in hundert Jahren an die zehntausend von ihnen geben.
Aama hatte ein angeborenes Gespür für das Verwandschaftsgeflecht, die Linien, aus denen sich die Netze bilden, die uns zusammenhalten und auffangen, wenn wir fallen. Didi holte den Schal hervor, und Aama überreichte ihn Didis Mutter mit beiden Händen; er wirkte wie ein Strang aus diesem Netz. Genevieve dankte Aama und gab ihr ein kleines Fenster aus bemaltem Glas, das sie selbst gefertigt hatte. Wie Aama zog Genevieve ein paar Enkel auf, und beide hatten neuerdings einen Urenkel.
Ich beneidete Didi um ihre Mutter und wünschte mir, meine eigene Mutter könnte hier dabeisein. Ich war neunzehn, als sie starb, genau so alt wie Didi beim Tod ihres Vaters.
Als Didi ein Kind war, hatte Genevieve den Spätnachmittag damit verbracht, für ihre vierzehn Kinder zu kochen, die fast auf zwei Generationen verteilt waren. Sie aßen in Schichten-zuerst die Jüngsten - in einem achteckigen Eßzimmer, das ans Haus angebaut worden war. Mittendrin stand ein runder Eßtisch von
drei Meter Durchmesser. Didis Vater hatte in der Mitte eine Drehplatte eingebaut, damit jeder leicht ans Essen herankam; wenn sie in Bewegung war, bekam man das unangenehme Gefühl, als drehe sich der ganze Raum.
Als wir abends am Tisch saßen, fragte jemand Genevieve flüsternd, ob wir Aama mit in die Kirche nähmen, wenn wir in San Diego wären, und ob Didi sich denn gar keine Mühe gebe, sie zu bekehren.
»Was sagt Aama?« wollte eine von Didis Nichten wissen.
»Sie sagt, daß Mom sicher mehr als zehn Kilo Reis braucht, um uns alle sattzubekommen, und daß das sehr teuer sei.«
»Reis ist teuer?«
»Ja, dort, wo Aama herkommt, schon. Sie ißt meistens Mais und Hirsebrei.«
»Was ist das?«
»Sie lebt genauso wie Familie Feuerstein!« rief ein Neffe aus.
Ein anderer Neffe, ein Teenager, schrubbte unter dem Tisch einen Riff auf einer imaginären Gitarre und sagte, er finde es cool, seine Stratocaster-E-Gitarre in die Schule mitzunehmen und die Mitschüler auf Heavy Metal anzuturnen. Er ähnelte dem Porträt des jungen Mannes, das hinter Didis Stuhl hing: ihr Urgroßvater Major George Francis Thunder bei den königlichen Füsilieren in Bombay. Während wir den Tisch abdeckten, studierte Aama das Gemälde, als sei darauf ein Mitglied eines verlorenen Stammes abgebildet.
»Als mein Mann und ich vor fünfzig Jahren in Indien waren, sah ich weiße Sah 'bs, die Briten, in Automobilen ohne Dach herumfahren. Sie führten kleine Hunde an Leinen herum und nahmen die Tiere sogar mit in die Wagen. Die Memsah 'bs hatten helle Haare und trugen Kleider, nicht Saris. Sie gingen anders als wir, und sie schauten sich ins Gesicht und lachten laut, als würden sie bellen. Wir hatten Angst vor ihnen, aber ich sah sie nur aus der Ferne - von meinem Platz in der Sonne, wo die Gurung-Soldaten ihre Stiefel putzten. Sie wienerten sie, bis sie glänzten und das Licht wie eine Messerklinge reflektierten; und wenn sie herumgingen, dann machten die Stiefel krrik-krrik...«
Es gab nicht genug Schlafzimmer im Familienhaus, so daß Didi, Aama und ich bei Didis Schwester Barbara übernachten mußten. Im Auto meinte Aama. »Bei so vielen Brüdern und Schwestern, Didi, sollten der Hals und die Arme deiner Mutter mit Goldschmuck bedeckt sein. Und Nani, dir hätte ein Ehrenplatz gebührt; man hätte dir Brot und Alkohol servieren und dir ein weißes Stück Stoff als Turban um den Kopf schlingen sollen - als neuem Schwiegersohn...«
Eher ein neuer Außenseiter, dachte ich. Ich hütete mich davor, Didis Familie zu nahe zu kommen, vor allem deshalb, weil ich nicht wußte, ob ich Didi näherkommen wollte. Unter achtzehn Verwandten konnte man eine gewisse Anonymität wahren, und von ihrer Familie ging kein Druck aus.
Insbesondere nach dem Tod des Vaters wurde, so erzählte mir Didi, keinem der Kinder besondere Aufmerksamkeit zuteil, und sie hatten gelernt, nicht darum zu bitten. Die jüngeren Mädchen trugen Socken und Unterwäsche gemeinsam, die nach der Wäsche in eine große Schublade kam, auf der »Mädchen« stand. Ich verstand jetzt, warum Didi das Gefühl hatte, ich würde Aama verwöhnen. Oder war sie eifersüchtig auf Aama, weil ihr so viel Beachtung geschenkt wurde wie Didi in ihrem ganzen Leben nicht?
In Barbaras Haus schaute ich durch die Glasschiebetür auf die von unten beleuchteten Wolken über San Diego. Aama saß aufrecht auf der Matratze neben uns, bis zur Taille unter der Decke. Sie sprach zu dem leblosen Fernsehbildschirm, als würden darauf die Gesichter von Didis Schwestern erscheinen.
»Jeti... Maaili... Saaili... Kaaili...« Sie benutzte die Verwandtschaftsbezeichnungen, die Didis Geschwister nach dem Alter einordnete. Bei jedem Namen wurde sie nachdenklicher, als ob sie sich an ihre eigene verlorene Verwandtschaft erinnerte. »Welche war Kaaili? Ach ja, die in Hongkong. Dann Raaili - das bist du, Didi... Und Taaili war mit uns im großen Wald, in der Nähe von Ann Toris Haus. Danach kommen Tulo Kaanchi und Saano Kaanchi... wie viele sind das insgesamt?« »Acht«, antwortete ich ermattet in die Dunkelheit.
»Aber waren es nicht neun Schwestern?« »Du kannst dir die ganzen Schwäger und Schwägerinnen besser merken als ich.« »Aber wie rufst du jemanden, wenn du nicht weißt, wie er mit dir verwandt ist - ach ja, du rufst sie bei ihren Namen, und dazu mußt du dir deinen Mund verdrehen, um ihn rauszukriegen.« Sie atmete tief ein und redete schnell, um an diesem Punkt einmal Klarheit zu schaffen. »Also gut, ich will dir sagen, wie du sie auseinanderhältst: Die Männer deiner Schwester werden Byena genannt. Sie nennen deine Schwest... - ich meine, die Schwestern ihrer Frauen, Didi. Die Kinder deiner Schwestern sollten deine älteste Schwester Jyethi Aama nennen, dann MaaüiAama und so weiter bis hinunter zu RaailiAaji - das bist du, Didi, für die Kinder deiner Schwestern - nicht Didi, weil ja, wie wir alle wissen, Didi >ältere Schwester< bedeutet, und irgendwie haben dir deine Leute den Namen >Didi< gegeben -und dann weiter hinunter bis zu Kaanchi Aama. Das ist so viel leichter, als sich Namen zu merken.«
Ein gewöhnlicher Name offenbarte wenig. Verwandtschaftsbezeichnungen jedoch, die verschieden waren, je nachdem, wer wen anspricht, machten das ganze Gewebe der Abstammungs-linien deudich - Verwandte, die sich in ihrer Beziehung zueinander definierten.
»Ich habe schlecht geschlafen«, verkündete Aama wie gewöhnlich am Morgen. Der weichen Matratze fehlte die gewohnte Unbehaglichkeit einer einfachen Strohmatte. Wie die meisten älteren Menschen schlief sie weniger als in jüngeren Jahren, hatte das aber noch nicht ganz akzeptiert. Für einen Bauern oder einen Fischer gibt es selten gute Tage oder gute Jahre.
Sie richtete sich lustlos im Bett auf und bat mich, das Haaröl warmzumachen, das wir für sie gekauft hatten, um es in die Kopfhaut einzumassieren. Das Öl auf dem Eßlöffel spritzte und zischte, als ich es über der Gasflamme erhitzte. Ich goß es in den Müll und nahm statt dessen Pflanzenöl, das vielleicht nicht so verunreinigt war. Am Abend vorher hatte sie über Arthritis geklagt, Maisöl auf Arme und Beine gerieben und »a-wee, shyaa« gejammert, wenn sie die Beine in eine unbequeme Position bringen mußte. Die Altersbeschwerden ähnelten einem Kater.
Didi warf sich einen dünnen Morgenmantel über und stieß meinen Kleiderhaufen mit dem Fuß zur Seite.
»Da ihr zwei so tut, als wäret ihr verheiratet«, sagte Aama und schaute Didi an, »solltest du da nicht jeden Morgen Nanis Füße waschen als Zeichen deines Respekts?«
Didi lachte, dann wurde sie ernst. »Nein. In Amerika machen die Frauen und Freundinnen, was sie wollen. Wir sind unabhängig.« Sie wühlte in Aamas Reisetasche nach ihrer Schärpe. Muscheln, Steine, kleine Geschenke, diverse Fundstücke, die zwischen den Kleidern verstreut waren, fielen heraus. Die Sammlung wurde immer größer.
»... Ich fürchte, Nani«, sagte Aama, während sie Didi zuschaute, »daß du den Leuten sagen wirst, welche Geschenke ich in Amrita bekommen habe. Wenn ich es nicht schaffe, diese Dinge alle ins Dorf zu bringen, dann wird mich mein Schwiegersohn fragen, wo sie sind, und er wird behaupten, daß ich sie verstecke oder verkauft habe, um Geld zu machen. Dann werden sie das Geld sehen wollen. Wirklich, diese Geschenke könnten eine Last werden.
>Oh Hirte in deinem Hirtenwagen, Hast du Käse und Honig für uns?< >Madam, ich kann nicht allen geben, Wie kann ich also einem geben?<«
»Wenn du dir Sorgen machst, Aama, daß du in Amerika zu viele Dinge ansammelst - warum werfen wir das ganze Zeug nicht einfach weg?« meinte Didi mit Nachdruck. Aama sank noch ein wenig mehr in sich zusammen, als Didi ihre Tasche umstülpte. »Ich fang' mal damit an, daß ich einige von diesen Kleidern wasche.« Als Didi sie aus dem Haufen herauszog, fielen noch weitere Mitbringsel auf den Boden. Ich sagte Aama, sie solle sich keine Sorgen machen, und holte eine Schachtel aus Barbaras Garage, um Aamas Kostbarkeiten nach Seattle zu schicken und auf diese Weise unser Gepäck zu erleichtern. Persönlich belastete mich die Familie mehr als die Sachen.
Didi verlor allmählich den Spaß an der Sache - wir beide, Aama und ich, waren für sie schwierig. Von mir war sie frustriert, weil ich nicht auf sie einging, und Aama reizte sie, weil sie ständig wegen dem Heiraten stichelte. Didi war das Dienstmädchen einer Ersatzmutter eines Nicht-Ehemannes geworden und hatte es satt, sich Aamas Mißbilligungen, ihren Sarkasmus und ihre versteckten Vorwürfe weiter anzuhören. Aber viel ändern konnte sie nicht daran, und wahrscheinlich würde unsere gemeinsame Reise nicht mehr allzu lange dauern.
Ich umarmte Didi, und wir redeten kurz miteinander. Aama war schlecht gelaunt, was uns nicht überraschte. Allerdings hatte Didis Familie sie tief beeindruckt, insbesondere weil sie so groß war. Aama sagte nicht viel dazu, aber es war deutlich, daß Didi dadurch in Aamas Augen eine starke Aufwertung erfuhr und sie ihr jetzt für eine formale Heirat weit geeigneter erschien - deswegen die Idee mit dem Füßewaschen.
Didis Schwestern wollten uns nicht abreisen lassen, bevor wir einen Ausflug über die Grenze nach Mexiko zur Stadt Tecate unternommen hatten - in Erinnerung an ihre heimlichen Wochenendspritztouren mit Tanz und Tequila, fern vom Konvent und den US-Gesetzen.
In Tecate kamen wir in der Nähe des Marktplatzes an einer Hochzeitsgesellschaft vorbei samt einem Cadillac-Kabrio, das in glitzernden Regenbogenfarben bemalt und mit Blumen geschmückt war. Ja, das wäre eine Hochzeit nach Aamas Geschmack.
Das Gasthaus, in dem die Schwestern sich ausgetobt hatten, war laut und voll. Der Geruch von Gewürzen hing in der Luft, und pompöse Ölbilder zierten die Wände.
Aama war erschöpft, aber die Schwestern wollten noch tanzen. Da der Parkplatz des Gasthauses bewacht wurde, brachten Didi und ich Aama in Barbaras Kleinbus, klappten die Liege herunter und deckten sie zu. Wir hofften, daß sie einschlafen würde. Fünfzehn Minuten später kamen wir zurück, um nach ihr zu schauen. Sie kauerte zitternd unter den Decken, und dicke Tränen rannen ihr über die Wangen. Sie führte uns vor, was sie glaubte, das ihr zugestoßen sei. »Ich dachte, ich hätte etwas gesehen. Banditen haben vielleicht mein Gold und meinen Schmuck bemerkt, als ich ins Auto stieg. Nicht alle Menschen hegen gute Absichten. Mein Dharma-Sohn und Didi sind da drinnen beim Tanzen, sicherlich sind sie inzwischen betrunken und nicht mehr bei sich. Jetzt ist es soweit, ich bin allein und verlassen. Was ist das? Jemand leuchtet herein, und Leute schauen durchs Fenster und sehen mich. O Bhagwan, was nun? Ich verstecke mich unter der Decke, daß es so aussieht, als sei niemand da. Ich zittere. Wenn ich heute abend meinen letzten Atemzug tue, dann ist es Bhagwans Wille. Jetzt bewegt sich das Auto. Ich bin tot. Nein, ich weine. Sie schleppen das Auto zu dem Wald, an dem wir vorbeigefahren sind, und dort werden sie mich fertigmachen. Vielleicht könnte ich meine Ohrringe abnehmen und sie ihnen geben, aber ich kann nur hier liegen und den Namen von Bhagwan aussprechen. O Bhagwan. Meine Enkelinnen kommen mich auch nicht mehr so oft besuchen wie früher, und meine Verwandten vergessen mich. Wann wird wohl meine Tochter erfahren, was mit mir ist, und was wird sie tun, wenn man es ihr sagt...?«
Das war mehr als ein bißchen Angst bei Dunkelheit. Von Krankenhausnachtschwestern hörte ich später, daß alte Menschen oft völlig die Orientierung verlieren, wenn sie in einem dunklen Zimmer aufwachen. Daß sie nicht gerne reisen, liegt nicht an der Beschwerlichkeit des Reisens, sondern daß sie Angst haben, nicht mehr nach Hause zurückzukehren. Das Draußen, die Ferne, ist bedrohlich, das Zuhause erscheint sicher.
»Ich habe vor nichts Angst, außer vor Menschen«, sagte Aama schließlich. »Ich habe einen Tiger geküßt und einen großen mechanischen Fisch, habe Brücken über Bergflüsse überquert und bin dreimal hingefallen - aber ich bin nicht gestorben.«
Didi versprach Aama, sie nie mehr allein zu lassen, und ich schloß mich ihr an.