Kapitel 7
Der Geruch von Seeluft am Unterlauf des Columbia River hatte unseren Appetit auf die Küste geweckt, und Highway 101 war unsere Straße nach Kalifornien.
Sattes Blau schien durch die Windschutzscheibe, als unser Wagen eine lange Steigung hinaufkletterte. Die weiße Sandbank und der Besenginster, durch den der Wind fuhr, deuteten darauf hin, daß es zum Ozean nicht mehr weit war. Die Straße wurde eben, ich nahm den Fuß vom Gas, und wir rollten auf einen Parkplatz. Vor uns ausgebreitet lag der Pazifik in seiner ganzen Herrlichkeit. Didi drehte das Fenster herunter, und feuchte Meeresluft, aufgeladen mit negativen Ionen, strömte in unsere Lungen.
»Aama, das ist der Ozean«, erklärte Didi, die - stimuliert von einer Art kalifornischen Freiheitsgefühls, das der Anblick des Ozeans weckt - einem Impuls folgte, ihre Haare zu öffnen und zu schütteln. »Es ist das größte Meer der Welt und reicht halb um die Erde.«
Aama hob leicht das Kinn und starrte zum Horizont.
»Einen Teil des Ozeans haben wir nachts überflogen«, fuhr Didi fort, »aber es würde fast einen Monat dauern oder noch länger, um ihn mit dem Schiff zu überqueren. Du könntest von hieraus mit dem Boot bis nach Kalkutta segeln und von dort die Flüsse hinauf durch Indien und Nepal bis zum Seti-Fluß direkt unter deinem Dorf.«
Aamas Blick schien in die Ewigkeit gerichtet zu sein, an einen Ort, wo sie vielleicht verstehen könnte, was das alles zu bedeuten hatte. Langsam senkte sie den Blick zur horizontalen Linie, wo sich Meer und Land im Schaum der sich brechenden Wellen begegnen. Ihre Lippen zitterten, aber ihre Augen leuchteten wie bei einer göttlichen Offenbarung.
»Das ist Gangeswasser«, sagte sie mit der Sicherheit einer Urgroßmutter. Sie hob die Hände in Gebetshaltung an die Stirn und verharrte so.
Natürlich - der Ganges, die heilige Arterie und das Krematorium des indischen Subkontinents. Er mündet in den Golf von Bengalen, dessen Gewässer mit dem Pazifischen Ozean verbunden sind. Der Ganges, Träger von Opfergaben, Asche, Nahrung und Ausscheidungen mehrerer hundert Millionen Menschen; das Badewasser und Tonikum einer Nation; die Quelle des Lebens und der Begleiter und Träger des Todes. Vor mir sah ich das Bild eines Pilgers, wie er mit einem zahnstochergroßen Bambussplitter Blätter zusammensteckt, um ein wasserdichtes Votivlämpchen herzustellen. Der Baumwolldocht nährt sich von Kuhbutter, und die Flamme tanzt hüpfend daran herum, wenn der Pilger das Lämpchen bei Sonnenuntergang dem Strom anvertraut, um seine Gebete zu Agni, dem Gott des Feuers, zu schicken. Vielleicht werden diese Lämpchen nach einer langen Reise an den Strand von Oregon gespült.
»Die Flüsse, die in den vier Himmelsrichtungen entspringen, kommen hier zusammen.« Aama schaute mich an. »Du hast mir nicht gesagt, daß wir hier auf Gangeswasser stoßen.« Sie schien zu vermuten, daß dies allgemein bekannt sei, die Information in Amerika jedoch vielleicht unterdrückt werde. »Oder es bedeutet den Leuten hier möglicherweise nichts.«
Ich verzichtete darauf, mich damit zu rechtfertigen, daß ich einfach vergessen hatte, ihr etwas vom Ozean zu sagen, da sie darauf vielleicht genauso kritisch reagieren würde wie meine Mutter. In meiner Jugend hatte ich gelernt, daß Vergessen keine Entschuldigung war, sondern Vorwürfe nach sich zog.
»Du bist an diesen Ort mit genausoviel Unwissenheit gekommen wie ich! Hast du nicht gehört, daß ich den Namen Ganga Sagar ausspreche, wenn ich bete? Ganga Sagar ist die Insel mitten im großen Gangesozean, das heiligste aller tirthas, aller heiligen Badeplätze. Du hast gesagt, wir würden durch Amrita fahren, und das klang gut; aber das hier hast du verschwiegen.« Sie blinzelte wieder zum Horizont. »Die Insel Ganga Sagar muß irgendwo da draußen sein.«
Mit unserem überladenen Wagen rauschten wir den Berg hinunter und landeten in einer der Küstenstädte Oregons, Lincoln City. Wir fuhren an Hotels und Läden vorbei, die direkt ans Meer gebaut sind. Aama schaukelte hin und her in dem Versuch, den Blick auf den Ozean, der sich zwischen den Gebäuden auftat, zu verlängern. Eine aggressive Brise pfiff vom Meer her durch das spaltbreit geöffnete Fenster.
»Bestimmt sind hier Pilger, Yogis und Saddhus«, vermutete Aama, »die alles aufgegeben haben, um an der Küste zu meditieren und Gott zu verehren. Und wo sind die Ghats, wo die Pilger baden können?«
»Ich glaube, wir kommen gerade zu einem«, sagte Didi.
Aama schaute zu einem Wohnblock hinauf, an dem wir vorbeifuhren. »Das muß ein Dharamsala sein, wo die Pilger wohnen können, von denen sicher viele auf den Tod warten. Und wo sind die Verbrennungsplätze?«
Auf der anderen Seite der Stadt mündete Highway 101 in ein riesiges Parkareal für den Lincoln City Beach. Es war Wochenende, und auf Hochglanz polierte Autos suchten im Schritttempo nach einer Parklücke. Plötzlich stieg mein Adrenalin-und Hormonspiegel und das altbekannte Gefühl machte sich wieder bemerkbar: Freitagnachmittag in der High School, losgelassen in die Freiheit des Wochenendes. Da waren Wellen, die zum Surfen genutzt werden wollten, glatter, warmer Sand, über den es sich wunderbar rennen ließ, und Mädchen, die man in waghalsige Gespräche verwickeln konnte.
Der Strand war dicht bevölkert mit Sonnenanbetern, Sandburgenbauern, rennenden, tanzenden, Frisbee spielenden Menschen in Badetextilien, die so hoch geschnitten waren, daß man die Hüften sah. Drachen von der Größe eines Leichtmotorflugzeugs wurden von zischenden Kampfdrachen mit langen, regenbogenfarbenen Schwänzen verfolgt. Die Drachenlenker sprangen und rannten und stemmten die Fersen in den Sand, um sie halten zu können.
»Kann ich baden?« fragte Aama ungeduldig. »Es müßten Nepalesen hier sein oder Inder; sie sind überall, wo man in Gangeswasser baden kann. Aber die Pilger hier haben weniger an als wir - sie sind fast nackt. In unserem Dorf würden sich die Frauen schämen, Männer ihre Beine sehen zu lassen oder ihr Haar, außer es ist geölt und fest zurückgebunden. Haben wir eine Flasche, um etwas Ozeanwasser mitzunehmen? Das ist bestimmt sauber. Wer weiß schon, wo das Wasser herkommt, das aus dem Hahn fließt?«
Aama wußte, wo wir waren. Für sie verkörperte der Ozean eine flüssige Verbindung mit Asien. Die Aktivitäten am Strand waren in ihren Augen keine Freizeitvergnügungen, sondern freudige Bestätigung der göttlichen Wirklichkeit. Wir parkten das Auto und stiegen aus. Aama legte ihren Sarong in Falten und ließ sich den Wind ins Gesicht blasen. »Sicher kommt ein Sturm auf!« rief sie laut, um das Tosen der Brandung zu übertönen.
»Es bläst fast jeden Tag so«, antwortete Didi. »Der Wind hat freie Bahn über den Ozean und trifft hier auf das Land.« Sie ging mit Aama zum Wasser, das sich, da gerade Ebbe war, weit nach draußen zurückgezogen hatte. Der Sand wurde zunehmend feuchter. Wir wateten durch schaumiges Wasser, das Zungen im Sand bildete und aussah wie ein großes, rankendes Gewächs. Ein Junge auf einem Sperrholzteller glitt an uns vorüber und drehte neugierig den Kopf nach Aama um. Er sprang herunter und betrachtete uns einen Augenblick, bevor er seine Fahrt fortsetzte.
Die Gischt überspülte unsere Füße und lief hinter uns weiter eilig zum Strand. Aama beugte sich hinunter und warf drei Handvoll Wasser in die Luft. Wieder griff sie in den Schaum und holte eine Prise Sand hoch. Sie bog den Hals nach hinten und drückte den Sand gegen die Kehle und auf die Mitte der Stirn. Sie nahm noch einmal eine Prise, drehte sich zu uns und erteilte uns den Tika-Segen. Didi legte die Hände zusammen, beugte sich zu Aama hinunter und hielt ihr die Stirn hin. Danach empfing ich Aamas tika. Sie wünschte mir Frieden, viele Kinder und ein langes Leben.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich Leute näherten. Der Junge auf der Scheibe kam mit anderen Kindern auf uns zugelaufen und blieb vor Aama stehen. Ungefragt drückte sie jedem von ihnen sogleich Sand-tikas auf die Stirn. Als seien sie gebürtige Hindus, legten die Kinder die Hände zusammen und verbeugten sich respektvoll, bevor sie davonrannten. Sie mußten wohl Didi und mich vorher beobachtet haben.
Die Wellen donnerten auf den Strand und erzeugten einen Ton, der an Klostergongs erinnerte und uns zum Meer rief. Aama ließ sich nicht halten, ihr Gesicht war durchtränkt von der Salzgischt und der Vitalität der Brecher, einem brodelnden Zeugnis für die Gegenwart der Götter. Seit wir Nepal verlassen hatten, war fast alles, was wir zu Gesicht bekamen, von Menschen gemacht oder von Menschen verändert. Die Lava-Plateaulandschaft von Ostwashington war durchpflügt und besiedelt. Der Mount Rainier war für Bergsteiger erschlossen worden. Sogar der Columbia River wurde mit Dämmen gezähmt. Aber die Brandung des Ozeans war von Dauer und verläßlich wie der Himalaja.
Didi und ich prüften, wie weit wir ins flache Wasser hinausgehen und zumindest teilweise eintauchen konnten, ohne Gefahr zu laufen, von der Unterströmung mitgerissen zu werden.
»Wie baden die Leute in diesem Mahlstrom?« schrie Aama, war aber kaum zu hören. Angesichts der Größe und Wucht der Wellen blieb sie ehrfürchtig stehen. »Ich wasche diesmal nur mein Gesicht. Und vergeßt nicht - gegen bewegtes Wasser darf man nicht kämpfen, es ist stärker als ihr.« Wahrscheinlich hatte sie das von den Gurkha-Soldaten gehört.
Das Wasser reichte uns fast bis zu den Knien. Aama beugte sich nach vorne und schöpfte mit beiden Händen Wasser aus der Strömung, um es sich über den Kopf zu gießen. Sie rieb sich die Augen, öffnete und schloß sie ein paarmal und massierte sich das Salzwasser in jede Falte, als würde sie einen weichen Lederbeutel ölen. Und noch einmal, und noch einmal. Schließlich war sie fertig und wandte sich zum Strand. Ich fotografierte. Eine Welle donnerte krachend herbei - die größte bisher -, überschlug sich in unendlichen Salti und kam erst nach etwa vierzig Metern zur Ruhe; dann lief das Wasser zurück. Die Widersee gewann an Geschwindigkeit. Aama schaute auf ihre Füße hinunter, die jetzt vom Schaum verdeckt waren. Ganz langsam, als würde sie von einer unsichtbaren Kraft nach unten gezogen - dem Geist des großen Gangesozeans -, verlor sie den Halt und sank mit durchgedrückten Knien nach vorne, als ließe sie sich in eine Schneewehe fallen. Durch den Sucher der Kamera sah ich sie mit dem Gesicht nach unten ins Wasser tauchen.
Panik - ich sprang zu ihr. Wo sollte ich sie fassen? Sie war so zerbrechlich. Qualvolle Augenblicke des Zögerns, während das Meerwasser über ihren Hinterkopf spülte. Ich hockte mich neben sie in die Strömung und drückte ihre Rippen mit beiden Händen. Der Sog von Sand und Wasser hielt sie wie ein Stück durchnäßtes Treibholz am Boden. Könnte ich ihr etwa die Rippen brechen, wenn ich sie aus dem Sog riß? Warum hatten wir sie nicht festgehalten? Seit Jahren hatte die Furcht vor dem Hinfallen sie begleitet; jetzt war es eingetreten.
Ich zog sie vorsichtig hoch. Langsam, als würde sie aus dem Schlaf erwachen, faßte sie auf dem strömenden, nassen Sand Fuß und hob den Kopf. Sandige, nasse Haarsträhnen hingen ihr übers Gesicht. Sie spuckte Sand und Wasser aus, wir stützten sie von beiden Seiten. Offenbar hatten wir uns noch mehr erschreckt als sie. »Hare R-R-Ram, was ist das Wasser sa-sa-salzig. So habe ich also doch im Ganges-Ozean geba-ba-badet«, stammelte sie befriedigt, tropfnaß, zitternd, grinsend, begeistert von ihrer Taufe. Eins der Kinder, das vorher tika von ihr empfangen hatte, rannte herbei und gab ihr ein Handtuch.
Beim Rückweg zum Strand konnte sie gar nicht mehr aufhören, über ihr unfreiwilliges Bad zu reden. »Ich hatte daran gedacht, meinen ganzen Körper einzutauchen - das wäre ideal.
Aber wenn du untergehst und nicht mehr hochkommst und zuviel Wasser einatmest, dann kannst du ertrinken. Ich habe deswegen nicht geatmet, als mein Kopf unter Wasser war. Ein Junge aus meinem Geburtsdorf ist einmal fast in einem Teich ertrunken, der am Bach aufgestaut war. Die Männer fischten ihn heraus, legten ihn auf den Bauch und schlugen ihm auf den Rücken, bis er wieder anfing zu atmen. Manche Leute nehmen Unterricht, um schwimmen zu lernen, aber wenn du am Wasser aufwächst, dann lernst du es ganz von alleine, einfach beim Spielen im Wasser...«
Didi ging mit Aama ins öffentliche Badehaus, um ihre Kleider zu wechseln. Dort versuchte eine Mutter energisch, die Haare ihrer Tochter zu frottieren, die sich dagegen zeternd zur Wehr setzte: »Okay, Mom... Okay, Mom!« Als Didi Aama abrubbelte, ahmte sie im Rhythmus ihres klappernden Unterkiefers lachend das Mädchen nach: »Okay-Mom-okay-Mom«.
Mit Hilfe des Warmluftgebläses wurde das Auto zu einem uterusartigen Zufluchtsort.
»Das Schicksal hat mich diesmal noch nicht in den Tod gerufen«, sagte Aama. »Wenn du leben sollst, dann wirst du leben, was auch geschehen mag. Und wenn es an der Zeit ist, daß du stirbst, dann kannst du nichts tun, um dein Leben zu verlängern. Aber wenn dir dein Leben vor der Zeit genommen wird, vor dem vorherbestimmten Ende, dann wird deine Seele ziellos als Geist zwischen dem Leben und der Ruhestätte der Seelen umherschweifen. Diese rastlose Seele kann den Angehörigen Schwierigkeiten machen, bis ihre normale Lebensspanne zu Ende geht.«
Aamas Worte weckten Gedanken an meine Mutter. Ihr Tod kam unerwartet, vor der Zeit. Sie war plötzlich im Schlaf an einer Herzstörung gestorben.
»Aber das wäre kein schlechter Platz zum Sterben gewesen, hier in diesem Ozean, weil es ein Glücksfall ist, Gangeswasser auf den Lippen zu haben, wenn deine Zeit gekommen ist.« Dennoch freute sich Aama, daß sie noch am Leben war. Ich lenkte das Auto zum Ausgang. »Warte«, sagte Aama und hielt die Hand ans Ohr, als würde sie auf etwas horchen. »Hole etwas Sand und Steine von den Ghats, wo ich gebadet habe.« Ich parkte in der zweiten Reihe, ließ die Tür offenstehen, rannte zum Strand und kam mit einer Handvoll trockenem Sand und kleinen Steinen zurück.
»Ich werde das auf meinem Speicher aufbewahren, wo niemand drankommt«, sagte sie und wickelte Sand und Steine in ein Stück Plastik, das Didi ihr gereicht hatte. »Didi darf sie nicht anfassen. Sie sind eine Opfergabe und würden beschmutzt, wenn eine menstruierende Frau sie berührte.«
Mit einem resignierten Lächeln fügte sich Didi in Aamas Weltsicht und frottierte weiter behutsam ihre Haare. Ich sagte Didi, daß es Dinge gebe, die auch ich nicht berühren dürfe, wie zum Beispiel den tragenden Dachbalken, der senkrecht durchs ganze Haus verlaufe. Die Schutzgottheit des Hauses wohnt ganz oben in diesem Balken. »Jedenfalls«, hatte ich Didi noch vor der Reise beruhigt, »wird es in Kalifornien nachts nicht so kalt sein wie im Dorf, wenn du auf dem Verandadach schläfst.« Aber wir wußten beide, daß nur Brahmanen-Frauen ihre Häuser während der Periode überhaupt nicht betraten. Die Gurung waren da entspannter; sie strebten erst gar nicht nach der erhabenen Reinheitsebene der Brahmanen.
Das Camping entlang der Küstenstraße ging glatt; Aamas Wahrnehmungen sprudelten in einem ständigen Erzählstrom hervor. Als wir an einem Golfplatz vorbeifuhren, wunderte sie sich, daß Erwachsene wie die Kinder einem Ball nachliefen. Die Sache erschien ihr sinnvoller, als ich ihr erzählte, daß manchmal Geldwetten über das Ergebnis abgeschlossen werden.
Dichter, salziger Morgennebel dämpfte die Geräusche des Highways. Die vorübergleitenden Umrisse der Erdbeerbäume und Kiefern erinnerten an Tempel auf den Ghats von Benares, und wo der Sand sich in der Weiße verlor, glaubte ich fast, Hindupilger zu sehen, die eingehüllt in einfache Baumwolltücher in den Wassern des Ozeans badeten und die Morgensonne andachtsvoll begrüßten.
Wir verlangsamten unsere Fahrt, als wir nach Florence, Oregon, hineinkamen, einer Stadt von Pensionären, von denen viele im Ocean Air Restaurant zu sitzen schienen. Sonnenstrahlen durchbohrten den Nebel und fielen auf Didis Gesicht. Ich schaute sie voller Verlangen an. Wir hatten keine Rückzugsmöglichkeit vor Aama, die nachts im Zelt wie eine mißtrauische viktorianische Anstandsdame zwischen uns lag und noch dazu die meiste Zeit wach war.
Die Kellnerin, mit einer Frisur wie ein Bienenstock, füllte unsere Wassergläser und brachte Besteck, Servietten und einen Ahornsirupspender. Didi erkundigte sich bei ihr nach dem Weg in den Süden und hörte etwas von Höhlen, die wir unbedingt sehen müßten.
»Was ist das?« fragte Aama und nahm das Gefäß mit Ahornsirup in die Hand.
»Es ist so etwas wie Molasse aus Zuckerrohr. Wir streichen es auf die Pfannkuchen, die sie uns gleich bringen wird.«
Aama schüttete eine Kostprobe in ihre Hand und leckte sie auf.
»Es ist süß. Du kannst der Frau sagen, daß wir nicht soviel brauchen, sie kann das meiste zurücknehmen.«
Sie drehte sich um und rollte die Lippen nach innen, so daß ihr Mund aussah wie der Saum eines Beutels. Eine Frau, die so breit wie hoch war, schob sich an unserem Tisch vorbei.
»Wie schläft die Frau in der Nacht? Es sieht aus, als habe sie eine hundert Meter lange Schärpe unter der Bluse um sich gewickelt. Manche Leute sind hier so dick, daß ihr Bauch immer schon vor ihnen am Ziel ist.« Die meisten Nepalesen kennen Fettleibigkeit nur vom Hörensagen, sofern sie nicht in Indien gewesen sind und Punjabis gesehen haben, für die Körperfülle ein Statussymbol und ein Zeichen für Gesundheit ist - ein verständliches Ideal in einem Land, das von Hungersnöten heimgesucht wird.
Die Kellnerin brachte unsere Bestellungen. Aama plazierte mit der Gabel ein Stück Pfannkuchen andachtsvoll auf der Zunge, als sei es das Sakrament der Heiligen Kommunion - oder Prasad, von der Hand des Gurus gereichte gesegnete Nahrung, deren Einverleibung Unreinheit beseitigt. Sie jedenfalls beseitigte im Handumdrehen zwei Pfannkuchen und ein Stück Kuchen und spülte sie mit Orangensaft und Milch hinunter.
Sie rülpste stolz, als wir nach draußen gingen. »Wann schmeckt es besser - wenn du hungrig bist, oder wenn du satt bist?« fragte sie in dem ironisch-spitzfindigen Tonfall, den sie für ihre koanartigen Sinnsprüche parat hatte. Mit ihren achtzig Pfund bewegte sie sich zum Auto wie ein Reptil, das das Mehrfache seines Körpergewichts verschlungen hatte. Auf ihrer Samtbluse glänzten Krümel in der Sonne. Didi bürstete sie mit den Fingern ab und betrachtete Aama nachdenklich wie eine Mutter, die sich fragt, ob das Kind schon allein die Straße überqueren kann. Zu mir sagte sie: »Ich glaube, wir sollten Vorsorge treffen für den Fall, daß Aama uns vielleicht einmal verlorengeht.«
Aama sprach kein Englisch außer »Saft« und »bye-bye«. Auf eine Visitenkarte schrieb ich Anns und Gregs Telefonnummer mit der Aufforderung: »Falls Sie diese Frau finden, rufen Sie bitte folgende Nummer an.«
»Aama«, sagte ich und wartete, bis sie mir ganz zuhörte, »das ist eine Karte mit Ann Toris Telefonnummer.« Seattle war für sie »Ann Toris Platz«. »Steck sie in deine Schärpe, und solltest du uns jemals verlieren, so zeigst du sie den Leuten, die dich finden. Sie rufen dann Ann Tori an, und dann können wir kommen und dich holen.«
»Gut. Das brauche ich. Man kann in diesem Land leicht verlorengehen, und niemand würde mich verstehen.« Sie betrachtete die Karte aus verschiedenen Richtungen. »Besser, du bewahrst das für mich auf«, meinte sie und gab mir die Karte zurück. »Ich habe keinen guten Platz dafür, und sie darf nicht verlorengehen. Du solltest sie zu meinem Paß legen. Oh, das das auch...« Sie holte eine Handvoll Münzen aus ihrer Schärpe und reichte sie mir. »Diesen Haufen Geld hast du auf dem Tisch liegen lassen, bevor du zum Klo gegangen bist; aber
Didi hatte doch schon unser Essen bezahlt, da habe ich das Geld wieder mitgenommen.«
Didi rannte zurück, um das Trinkgeld auf den Tisch zu legen. Die Kellnerin lachte noch immer und sagte, sie habe die ganze Szene beobachtet, und auch die älteren Leute an den Nebentischen lächelten Didi freundlich zu.
An einem Aussichtspunkt hoch über dem Strand gingen wir so nah an den Felsabhang heran wie möglich. Wie Aama und Didi dort am Rand der Steilküste standen, glichen sie den exotisch-ethnischen Gestalten auf den Bildern des Fotografen Cartier-Bresson. Ein guter Ort, um die Gegenwart Bhagwans zu spüren. Drei zerklüftete Felsen ragten steil aus dem Wasser und erschienen wie ein steinernes Porträt der Trinität: Vater, Sohn und Heiliger Geist. Brahma der Schöpfer, Vishnu der Erhalter und Shiva der Zerstörer. »Zusammen sind sie Gott«, hatte mir ein gelehrter Brahmane gesagt. »G-O-D: >G< für Generator (Schöpfer), denn Brahma ist der große Erschaffer, der Schöpfer des Universums. >0< für Operator (Betreiber), weil Vishnu uns alle erhält und bewahrt. Und >D< für Destroyer (Zerstörer) - Shiva natürlich. Das ist Gott.«
»Diese Felsen hat Bhagwan hierhergestellt«, sagte Aama und beschrieb mit ihrer Hand einen weiten Bogen über den Horizont. »Was wissen die Menschen wirklich über diese Dinge? Wir sind nicht fähig zu verstehen, wie Bhagwan das alles macht; wir können nur lernen, seinen Namen zu sagen. Schau nur, was alles aus dem Ozean kommt: Schneckenmuscheln und Kaurimuscheln, Perlen und Edelsteine, Fische und Wasser. Sogar die Kühe und Elefanten sind einst aus dem Ozean gekommen, wie es in den Schriften heißt.« Geheimnisvoll fügte sie hinzu: »Die Menschen machen sich auf die Suche nach der Quelle des Ozeans, aber niemand hat sie je gefunden und ist von dort zurückgekehrt.«
Nicht weit entfernt gelangten wir zum Eingang der Seelöwen-Höhlen. Wir gingen durch den Geschenkeladen und von dort mit anderen Touristen zum Aufzug, der uns zweihundert Meter unter die Erde transportierte.
Die Türen öffneten sich, und wir standen in einer düsteren Kammer, die etliche Fuß unter dem Meeresspiegel lag; von dort öffneten sich zwei Höhlen. Aama trat an die beleuchtete Plakatwand heran, auf der die größere Höhle beschrieben war, fuhr mit den Händen darüber und berührte sie mit der Stirn. Dort war zu lesen, daß in der Form und Zeichnung der Felsen bei rechter Beleuchtung sowohl die Gestalt eines indianischen Mädchens als auch jene der Freiheitsgöttin zu erkennen sei. Weiter gab es keine Hinweise auf die zwei Frauen, die jenseits der Reichweite ihrer Arme in ewiger, unerwiderter Liebe erstarrt waren, eine Metapher für die gespaltene Persönlichkeit, die Amerika in seiner Geschichte entwickelt hat.
Aama ging zu dem Aussichtspodest und verfolgte die undeutlichen Flugbewegungen der knapp unter der Decke vorbeihuschenden Seetaucher mit den Augen. Die Seelöwen thronten auf ihren Plätzen über dem schwappenden Wasser, als würden sie für ein Gruppenfoto posieren, und bellten laut wie Ausrufer vor dem Zirkuszelt. Aama beobachtete sie wie ein Biologe. Mit beinahe wissenschaftlicher Akribie identifizierte sie die jungen und die alten Tiere, die Männchen, die Jäger, die Weibchen und ihre Jungen, und stellte Verbindungen zwischen ihnen her. Sie teilte sie in soziale Verbände, Stämme und Verwandschaftsgruppen ein - die ersten Großfamilien, die sie seit der Abreise von Nepal zu sehen bekam -, ein Bild der Einheit von Arbeit und Spiel, wie sie in einer verlorenen Zivilisation existiert haben mochte.
Aama spürte Zuneigung zu denen, die mit Zuneigung versehen sind. »Sie ziehen ihre Jungen groß, sie schützen sich gegenseitig, sie spielen, sie geben an und sie kämpfen - genau wie die Menschen...« Wie dein Volk oder wie Asiaten im allgemeinen, wollte ich hinzufügen. Tatsächlich hatte das soziale Gefüge der Seelöwen Ähnlichkeit mit den Familienstrukturen, wie sie vor einem oder zwei Jahrhunderten noch bei den meisten Völkern und Gesellschaften der Welt bestanden haben mochten. »Wir Gurung sind in vier Clans unterteilt: Ghale, Ghotane, Lama und Lamchhane. Ein Gurung muß natürlich einen Gurung heiraten, aber nicht aus demselben Clan...« Aama war nur schwer zum Gehen zu bewegen.
Wir fuhren mit dem Fahrstuhl hinauf und traten in den sonnenhellen Geschenkeladen. Aama steuerte zielstrebig an dem ganzen Glitzerkram vorbei auf das Regal mit den Muscheln zu, das sie schon beim Hineingehen interessiert hatte. Sie nahm eine nach der anderen in die Hand und untersuchte sie eingehend.
»Sind alle Schneckenmuscheln hier nach links gedreht? Die rechtsgedrehten halten böse Geister ab, aber sie sind selten.« Ich wollte nachfragen, aber ihre Aufmerksamkeit war von einer Kaurimuschel gefesselt, der größten, die sie je gesehen hatte; solche gab es wohl nur auf der amerikanischen Seite des großen Gangesozeans. Kleinere Kaurimuscheln gelangen auch nach Nepal und werden dort zu Ornamenten und zu Spielwürfeln verarbeitet.
Aama wählte ein paar aus und drückte sie mir geistesabwesend in die Hand, während sie schon am nächsten Stand war, bei den Jakobsmuscheln.
»Ich werde jedem meiner Verwandten und Nachbarn so eine mitbringen, für Votivlampen; aber wir brauchen die richtige Art. Wenn sie zu dünn sind, können sie brechen; und wenn sie zu dick sind, dann lassen sie sich nur schwer tragen.« Die schalenförmigen Jakobsmuscheln stellen eine geöffnete Hand dar, in die Lämpchen gestellt und den Gottheiten geopfert werden.
Didi erzählte mir, daß diese Muscheln ihren Namen vom heiligen Jakob haben und daß sie von christlichen Pilgern bei ihrer Rückkehr aus dem Heiligen Land als Abzeichen getragen wurden.
»So wie wir«, sagte ich, als ich ihr die Muscheln abnahm und Bargeld aus der Tasche zog, »auch wir sind Pilger, nur haben wir das Heilige Land noch nicht gefunden.«
Aama hatte mich nicht gefragt, wieviel die Muscheln kosteten, und ich sagte es ihr auch nicht. Gegenstände aus der Natur müßten natürlich umsonst zu haben sein, und ich wollte nicht noch einmal eine Szene wie auf dem Campingplatz am Columbia River heraufbeschwören. Als Didi die ganze Muschelladung vor der Kasse ablegte, hütete ich mich davor, ihre Preise zu addieren, aber ich begann mich doch zu fragen, wie lange wir das Geldthema noch würden vermeiden können. Ich nahm mir vor, mit Aama im Auto darüber zu sprechen.
Aama war zu dem Popcornbehälter gegangen und drückte Hände und Gesicht gegen das Plexiglas, so daß sie nichts mehr sah außer einen riesigen Berg aufgesprungener, gelbweißer Maiskörner.
Ein dreijähriger Junge stand neben ihr und zog sie am Rock. »Hi, hi«, rief er zu ihr hinauf. Er hielt ihr einen kleinen Lastwagen vor die Nase, den ihm seine Mutter gerade gekauft hatte, und bedeutete Aama, ihm in eine Ecke zu folgen. Beide setzten sich auf den Boden und rollten den Minilaster zwischen sich hin und her.
Lachend ins Spiel vertieft, bemerkte keiner von beiden, daß sich ein weiter Halbkreis von Zuschauern um sie bildete. Das Auto rollte unter die Popcornmaschine. Der Junge rannte ihm nach, fischte es wieder heraus und lief in Aamas ausgestreckte Arme zurück. Zärtlich fuhr sie ihm mit den Händen durch die Haare. Er ließ die Arme sinken, legte den Kopf zurück auf die Schultern und lächelte in ihr runzeliges Gesicht. Die Mutter des Jungen und alle anderen Zuschauer standen bewegungslos da, gebannt in diesem zeitlosen Augenblick.
Aama hatte den Jungen verzaubert. Er betrachtete das Auto in seiner Hand und reichte es ihr, ohne zu zögern, »da, für dich« - irgendwie ein Geschenk von uns allen.
»Ich liebe Kinder einfach, sobald ich sie sehe. Manche fürchten sich zuerst vor mir, aber meistens sind sie überhaupt nicht schüchtern. Die Kleinen, die noch nicht sprechen, kommen als erste auf mich zu. Wenn sie sprechen lernen und entdecken, zu welcher Kaste sie gehören, dann werden sie vorsichtiger. Die Kleinen lieben mich, weil sie noch nicht gelernt haben, wie man Menschen nicht liebt.«
Wir vertäuten Aama auf ihrem Kindersitz. Sie schaute neugierig in die Tüte mit den Muscheln, als würde sie eine Überraschung erwarten oder das Rauschen des Ozeans hören. Eine Muschel nahm sie heraus.
»Schau, Nani«, sagte sie und knöpfte an mein zuvor gezeigtes Interesse an, »das ist eine linksgedrehte Schneckenmuschel, die einzige Art, auf der man bläst. Die rechtsgedrehten sind Manifestationen von Lakshmi und bringen Reichtum. Krishna und Shiva haben eine in der Hand. Weil sie so selten und so wertvoll sind, hauen einen die Inder manchmal übers Ohr und behaupten, sie hätten eine rechtsgedrehte, obwohl es eine linksgedrehte ist. Ich besaß eine rechtsgedrehte in meiner Mansarde und habe sie zur Andacht benutzt, bis sie mir Vorjahren gestohlen wurde. Der Dieb muß sie mit einem Stock durchs Fenster gezogen haben, denn selbst ein Kind hätte nicht zwischen den schweren Holzbrettern hindurchkriechen können, die mein Mann dort angebracht hat. Als ich es meinem Cousin, dem Schamanen, gesagt habe, erzählte er mir die Geschichte von einem armen Mann, der einst eine rechtsgedrehte Schneckenmuschel auf dem Boden gefunden hatte. Der Mann nahm sie mit nach Hause und verschloß sie in einer Kiste, und jeden Tag um Punkt zwölf Uhr tönte es aus der Kiste Bwaaaahn... Bwaaaahn. Der Mann hatte dann immer Glück und wurde sehr reich und mit ihm seine Familie, bis der jüngere Bruder, getrieben von Neid und Gier, eines Tages die Schneckenmuschel stahl. Der Mann verfiel wieder in Armut, und mein Vetter hörte, daß die Muschel in den Händen des gierigen Bruders mittags stumm blieb.«
Ich wartete auf die Moral der Geschichte und fühlte, wie Aama mich anschaute. Ihr Mund blieb geschlossen, aber das Blitzen in ihren Augen ließ mich das Ende erraten. Wenn etwas zu dir kommen soll, dann geschieht dies zur rechten Zeit, hatte sie mehr als einmal gesagt. Wenn du ihm hinterherjagst, flieht es vor dir. Das waren Worte, die ich zu oft vernachlässigt hatte.
Kapitel 8
Das hier sieht aus wie das Ende der Zivilisation«, sagte Didi. Wir standen vor einer Wand aus Bäumen, dem Rand eines alten Pazifikwaldes - aber daß es Wildnis sei, konnte man nicht direkt behaupten. Zehn Meter über uns öffnete sich der mechanische Mund eines riesigen Holzfällers aus Zement und begann zusprechen: »Hal-lo und will-kom-men im Zau-ber-wald«, begrüßte uns die Stimme des Riesen in tiefem Baß. »Ich bin Paul Bunyan, und das ist mein Ochse Babe. Komm hier entlang und sieh die Wunder der Natur.« Ein meergrüner Auerochse von sechs Meter Schulterhöhe stand treu neben dem Holzfäller.
»Er redet, aber sein Mund bewegt sich nicht richtig«, sagte Aama zu Didi, als wir vom Parkplatz auf Paul Bunyan zugingen. »Ich sehe schon, daß er kein echter Mann ist, aber was hat er denn gesagt?« Didi faßte Aama an der Hand und lotste sie an fahrenden Autos vorbei. »Warte, ich weiß, was er gesagt hat. Er hat gesagt: >Wie lange ist es her, Aama, daß du nach Amrita gekommen bist?< - Ha!«
»Er hat gesagt, wir sollten den Weg hinter ihm weitergehen, um noch mehr große Bäume zu sehen«, erklärte ihr Didi. »Aber wir müssen erst bezahlen.«
»Das hab' ich mir gedacht. Wie viele verschiedene Wege gibt es eigentlich, um Geld zu machen?«
Didi und Aama setzten sich auf eine Bank in der Nähe der Füße von Paul Bunyan. Aama hob eine Hand hoch und imitierte das knarrende, roboterhafte Winken von Pauls Zementhand. Wahrscheinlich glaubte sie, sie sei zu klein, als daß er sie überhaupt sah, und so nahm sie die andere Hand noch dazu und fuchtelte über dem Kopf herum wie ein Einpersonen-Fanclub. Sie wollte Paul Bunyan signalisieren, daß sie ihn als echt akzeptierte, oder ihn davon überzeugen, daß sie genauso unecht war wie er. Jedenfalls suchte sie nach einer gemeinsamen Kommunikationsbasis und tat alles, um den Kerl zum Sprechen zu bringen.
Ich wollte weiter zu den echten Redwoods. Wir waren zu Touristen geworden und verloren unsere Fähigkeit, uns kommerziellen Attraktionen von zweifelhaftem Wert zu entziehen. Bei unserer gegenwärtigen Geschwindigkeit würde es noch Wochen dauern, bis wir zu Didis Haus in San Diego kämen. Wir hatten Oregon gerade erst verlassen und wußten, daß uns in Kalifornien eine Ablenkung nach der anderen verlocken würde.
»Warum machen sie eine so schlechte Imitation?« meinte Aama. »Wenn sie einen echten Riesen, der wirklich gelebt hat, neu erschaffen wollen, dann sollten sie das Original ausmessen und es ganz genau nachbauen. Ich bin ja nicht herumgekommen und habe nichts von der Welt gesehen. Aber die Leute von Amrita sollten eine alte Frau wie mich doch täuschen können -selbst die armen Yogis, die von Indien zu uns ins Dorf heraufkommen, sind dazu in der Lage.«
»Wir müssen jetzt gehen«, sagte Didi zu Aama, als Paul Bunyan sich zu wiederholen begann, obwohl es keine Tonbandstimme war. Ich entdeckte ein Fenster mit zugezogenen Vorhängen im Nebengebäude: eine günstige Position für einen Kerl am Mikrofon, der wahrscheinlich eine Sonnenbrille trug, Zigaretten rauchte und vor sich hingrinste.
»Sag dem Holzfäller bye-bye«, forderte Didi Aama auf.
»Bye-bye«, schrie Aama krächzend zu ihm hinauf, wie David, der den gestrauchelten Goliath verhöhnt. Und zu sich selbst meinte sie kopfschüttelnd: »Hör dir das an - da sage ich doch tatsächlich >bye-bye< zu einem Zementklotz.«
»Bye-Bye«, tönte es langsam und abgehackt zurück, wie aus einem riesigen, maskulinen Aufziehspielzeug. Wir bekamen es fast mit der Angst zu tun. Ich warf einen schnellen Blick auf das Fenster und glaubte, der Vorhang habe sich bewegt. Aama und Didi konnten sich auf dem Weg zum Parkplatz nicht beruhigen vor Lachen und stützten sich auf Autos, um nicht umzufallen. Didi versuchte, Aama nicht weiter anzuschauen, um nicht mehr lachen zu müssen - der Bauch tat ihr schon weh -, aber jedesmal, wenn sie den Kopf drehte, wiederholte Aama mit rollenden Augen »bye-bye« wie ein Komödien-Mantra. Eine Touristenfamilie ein paar Parkplätze weiter schaute uns zu und konnte nicht anders als mitlachen.
Highway 101 wand sich weiter in großen Bögen an der Pazifikküste entlang, die mal vom Ozean wegführten und dann wieder zu ihm hin, ein dramatisches Vorspiel zum Redwood-Nationalpark. Plötzlich befanden wir uns in einem grünen Tunnel aus Baumriesen.
»In welchem Land sind wir jetzt?« erkundigte sich Aama. Unsere Augen mußten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Ab und zu blitzten Sonnenstrahlen auf unsere Windschutzscheibe. »Mil-ik, mil-ik. Bhagwan hat eine Kamera und macht bei uns im Auto Fotos«, übersetzte sie. »Mero baajay - du liebe Güte - in unserem Land würden die Bäume niemals so hoch, weil die Leute sie fällen, sobald sie groß genug sind, um damit ein Haus zu bauen.«
Die Einhaltung der Geschwindigkeitsbegrenzung bei der Fahrt durch die Redwoods einzuhalten glich einem Wettlauf in der Kirche. Hinter uns staute sich eine Reihe ungeduldiger Autofahrer, bis Didi von der Straße abfuhr und sie vorbeiließ. Es schien ein guter Ausgangspunkt für einen Waldspaziergang zu sein.
Der weiche Waldboden dämpfte unsere Stimmen, die aus Ehrfurcht vor den gewaltigen Redwoods sowieso schon ganz verhalten klangen. Aama machte ein paar Schritte in den Wald hinein, hob einen Stock auf und benutzte ihn wie einen Zeigestock im Klassenzimmer. Sie deutete auf einen am Boden liegenden Stamm, der vor sich hinrottete. »Ein Baum ist hier umgestürzt und dient neuen Bäumen als Nahrung zum Wachsen, wie Dünger auf den Feldern. Das ist ein heiliger Platz, den man nicht beschmutzen darf. Bhagwan hat hier nur Baumsamen verstreut, keine Menschensamen. Wenn es hier Menschen gäbe, wäre das Feuerholz, das hier herumliegt, schon längst eingesammelt worden.«
Ein alternder, verwachsener Redwood erhob sich neben dem Pfad. Er schien eine düstere, aber charmante Bitterkeit darüber auszudrücken, daß er für immer in diesem Boden festgewurzelt war. Sein gespaltener Stamm - Zeichen einer frühen Verwundung durch Sturm oder Blitz - wuchs in sieben Meter Höhe wieder in eins zusammen und reckte sich dem Sonnenlicht entgegen. Die Öffnung konnte man durchschreiten. Aama rief mich und Didi herüber.
»Kommt, wir gehen durch diesen Baum.«
Ich kannte diesen Brauch schon. Unter den Wurzeln eines Baumes - seiner Quelle der Gesundheit - durchzukriechen, soll Fruchtbarkeit und langes Leben bringen, ebenso wie unter einem Elefanten durchzugehen.
»Wir gehen durch den Stamm und umkreisen ihn dreimal nach rechts«, erklärte Aama, »und dabei singen wir Magenbeschwerden - fort!< Du, Didi, hast ja noch keine Kinder gehabt, deswegen singst du >Uterusprobleme - fort!<«
Didi schaute mich zweifelnd an, aber Aama hatte schon meine Hand ergriffen und bedeutete mir, Didis zweite Hand zu nehmen. Wir drückten uns alle drei durch die Öffnung im Stamm und umkreisten den Baum dreimal, wobei Aama als Vorsinger agierte. Nach dem dritten Umschreiten hielt Aama an, schleuderte ihren Spazierstock nach oben und fing ihn an der Spitze wie ein Tambourmajor geschickt wieder auf. Mit dem Knauf ihres Bambusstocks hieb sie heftig auf den Stamm ein. Ein morsches Stück Rotholz wurde unter der Rinde sichtbar, und es schien, als könnte es abspringen, wenn man nur hart genug daraufschlug.
Instinktiv schauten Didi und ich uns nach Parkwächtern um, die uns sicherlich ohne viel Federlesens alle drei anzeigen würden. Wenn Aama vorhatte, dieses Stück Rotholz mitzunehmen, dann sollte sie besser nicht soviel Radau mit ihrem Stock verursachen, weil dadurch Aufpasser alarmiert werden könnten. Als sie einmal innehielt, brach ich das Stück Holz kurzerhand mit den Händen ab und reichte es ihr. Sie gab es an Didi weiter, die es wie Schmuggelware unter ihre Bluse steckte und den Reißverschluß des Mantels hochzog. Sie sah schwanger aus.
»Das gelbe Sandelholz wird zur Verbrennung von Fürsten und ganz reichen Leuten benutzt«, erklärte Aama, »aber dies sieht wie rotes Sandelholz aus, die Sorte, die mein Vetter, der Schamane, in seine Medizin mischte. Wir nehmen das Stück mit und probieren es aus.« Wir schlenderten zu einer Fußgängerbrücke. Ein Parkwächter ging an uns vorbei, als Aama gerade auf Didis Bauch zeigte und ihren Test erklärte.
Didi verstaute das Stück Holz unter dem Vordersitz und chauffierte uns zur Avenue der Riesen, wo die ältesten Redwoods standen. So plötzlich, wie die Straße in den Wald eingetaucht war, so führte sie uns jetzt auf eine sonnenhelle Lichtung, wo die Natur wieder der Herrschaft und den vielfältigen Zwecken des Menschen unterstellt war. Didi entdeckte einen Wegweiser zu einem riesenhaften Baum und bog ein. Die Leute, denen der Baum gehörte - oder welche die Konzession dafür besaßen, oder ihre Vorfahren - hatten ein tunnelgroßes Loch in den Stamm geschnitten, um denen Geld abzuknöpfen, welche die Schandtat aus nächster Nähe sehen wollten, ohne ihr Auto verlassen zu müssen. Didi zahlte die Gebühr und fuhr ganz langsam auf den Baum zu, nachdem ich die Außenspiegel eingeklappt hatte. Wir krochen schweigend voran. In der Mitte des Baumes rief Aama aus: »Autoprobleme - fort!« Ich stimmte in die Invokation mit ein und betete zum heiligen Christophorus, dem Schutzpatron der Autofahrer, daß er uns erhören möge. Mit 130 000 Meilen war unser Straßenfegersohn ebenso betagt wie Aama - in Autojahren.
Wir machten es uns bequem, um nach San Francisco durchzustechen, wo wir am Abend ankommen wollten. Ich fuhr und hörte Aama bei ihrem Monolog zu.
»Es gibt nicht wenig Land in Amrita und keinen Mangel an unterschiedlichen Landschaften. Wir haben Bäume gesehen, die dicker sind als mein Haus, weite Ebenen ohne einen Zweig und einen Stein, Wiesen, auf denen das Gras so hoch und dick und grün steht, daß ich am liebsten meine Sichel schärfen und etwas davon schneiden möchte. Was ist besser - in der Stadt zu leben oder auf dem Land? Die meisten Leute scheinen ihre Zeit im Auto zu verbringen, um entweder aus der Stadt heraus- oder hineinzufahren.«
Im Laufe ihres Lebens ist Aama Zeugin geworden, wie die zerklüfteten, teilweise bewaldeten Berghänge ihrer Jugend in einen intensiv bebauten Lebensraum für Menschen und Tiere verwandelt wurden. Subsistenzbauern des Himalaja können nicht mehr darauf hoffen - wie das ihre Vorväter taten und der ganze Westen immer noch tut -, daß der Wohlstand von Generation zu Generation zunimmt. Die Bevölkerung wächst, während die Produktivität des Bodens konstant bleibt oder sogar abnimmt, und schließlich müssen die Menschen in den Dörfern feststellen, daß es einfach nicht genug Nahrung und Ressourcen gibt, um alle am Leben zu halten. Viele haben sich der Völkerwanderung in die überquellenden Städte angeschlossen.
Aama schaute zu mir auf. »Du hast wohl nicht gedacht, daß mir solche Dinge auffallen, nicht wahr?«
»Nein. Aber sind dir die auch schon aufgefallen?« fragte ich und deutete auf eine Schafherde, die rechts auf einer Wiese graste.
Aama schaute hinüber und wunderte sich: »Junge, was laufen diese Schafe schnell - nein, warte, wir fahren schnell, und die Schafe stehen einfach nur da!« Highway 101 näherte sich dem Meer, und Aama ließ ihren Blick über die Schafe hinaus zu dem marineblauen Streifen Wasser schweifen, der durch die vereinzelten Bäume schimmerte.
»Ist das dieselbe Küste des großen Gangesozeans, in dem wir neulich gebadet haben?« Als Didi dies bestätigte, sagte Aama: »Die Pilgerinsel Ganga Sagar liegt westlich von Kalkutta, weit draußen im Ozean; sie muß also in der Nähe sein. Ich habe gehört, daß dort Yogis und Saddhus im Winter und im Sommer leben und am Fuß eines wunderbaren goldenen Schreins meditieren, beten und Yoga ausüben, umgeben von Ghats. Aber mein Brahmanenpriester hat gesagt, Ganga Sagar sei nicht viel mehr als ein kleiner Haufen heiliger Felsen, der immer mit Wasser überflutet ist, außer an einem Tag des Jahres, dem ersten Tag unseres Wintermonats Magh, wenn sich das Meer öffnet, um Hindupilger aufzunehmen. Du mußt dich beeilen, baden, deine Opfergaben darbringen und noch am selben Tag nach Kalkutta zurückkehren, sagte er, weil das Wasser wieder steigt und die Felsen überspült. Die Menschen sind weggeschwemmt worden, die versucht haben zu bleiben.«
Aamas Gesicht war abzulesen, daß sie einen solchen Grad an Risiko durchaus in Betracht zog. »Wenn ich gewußt hätte, daß wir diesen Ozean sehen, dann hätte ich meine Gurkha-Verwandten nach Ganga Sagar gefragt. Sie haben erzählt, eine Gruppe Soldaten sei bei ihren Reisen um die Welt auf die Insel gestoßen, und man könne sie auch an mehr als einem Tag im Jahr besuchen. Können wir nicht hinfahren? Die Pilger an den Ghats, die ganz weit draußen in der Strömung gebadet haben, wissen bestimmt den Weg.«
An der Stadtgrenze von Eureka beugte sich Didi über Aama, um die Benzinanzeige zu überprüfen, und erinnerte mich daran, daß wir tanken mußten. Ich ließ die erste Tankstelle aus und nahm die zweite, wo das Benzin einen Cent billiger war, wahrscheinlich auch ein Oktan niedriger.
»Du hast doch erst gestern Kerosin - ich meine Benzin - ins Auto getan«, sagte Aama. »Das ist schon weg. Das Auto braucht Nachschub.« Ich stieg aus und fühlte mich schlaff und abgespannt vor Hunger und Hitze. Seit unserem Imbiß auf der Fahrt klebten Salz und Zucker an Aamas Händen. Didi hielt die Metalltür zur Toilette auf, und Aama machte einen Schritt über die Aluminiumschwelle, in der Annahme, daß man nicht drauftreten dürfe. Didi ließ heißes und kaltes Wasser ins Becken laufen, drehte den Spender mit blauer Seife um und spritzte Aama etwas in die Hand. Sie führte die Hand zum Gesicht, als wolle sie sich waschen, ließ statt dessen jedoch die Seife in den Mund laufen, legte den Kopf zurück und gurgelte laut. Da fiel Didi ein, daß ja auch ihr Mundwasser blau war, aber da hatte sich Aamas Mund schon mit Seifenschaum gefüllt, und es half nichts mehr, ihr jetzt den Unterschied zu erklären.
Ein offener Eimer mit einem weißen Müllsack stand neben dem Waschbecken. Aama stellte sich mit gespreizten Beinen darüber und begann ihren Rock hochzuheben, doch diesmal war Didi schnell genug, dem Irrtum zuvorzukommen, und führte sie in die Toilette.
»Ich darf wohl überhaupt nichts mehr selber machen«, sagte sie zu Didi und der gekachelten Wand, noch halb lachend über ihr Bild im Spiegel mit den Seifenblasen im Mund, aber auch den Tränen nahe. »Du mußt mich aufs Klo setzen, mich baden, mich anziehen. Und lesen kann ich auch nicht.« Doch Weinerlichkeit war nicht ihre Sache, und im nächsten Augenblick blitzte Selbstvertrauen in ihren Augen: »Ich weiß die Dinge eben auf meine Weise.«
Ich tankte, kaufte ein paar Lebensmittel und fuhr mit dem Auto dorthin, wo die Toiletten waren. Ich schob unser Campingzeug und die Teppiche zur Seite und nahm den Ersatzreifen aus der Halterung. Wenn wir den Reifen auf dem Dach befestigten, konnte sich wenigstens einer von uns ausstrecken. So tauschten wir größeren Benzinverbrauch gegen höheren Fahrkomfort, auch wenn wir einen Anstrich von Flüchtlingen bekamen. Der größere Luftwiderstand durch den Reifen würde unseren pfeifenden Motor noch mehr belasten, so daß ich mir vornahm, beim nächsten Tanken Super dazuzumischen - ein weiteres Beispiel für die heimtückische Kostenspirale des Lebens im Westen. Je mehr man ausgibt, desto mehr braucht man, um das zu erhalten oder zu schützen, was man erworben hat.
Aama, Sun Maya und die anderen Dorfbewohner entziehen sich diesem Geldstrudel, indem sie sich erst gar nicht darauf einlassen. Sie geben so gut wie kein Geld aus, reisen nie und tun nichts, was das erfordern würde. Bei den Bergstämmen von Nepal gilt Sparen oder Investieren als Egoismus, und reiche Händler oder Geldleiher sind Beispiele für den Archetyp der Gier. Für den Gurung bedeutet Sparen, daß eine wertvolle Ressource aus der Zirkulation genommen wird.
Als wir alle wieder im Auto saßen, fragte Aama ruhig: »Weiß hier jemand vielleicht, wie wir nach Ganga Sagar kommen?« Als ich nicht antwortete, fügte sie hinzu: »Könnte sein, daß wir auf dem Weg eine rechtsgedrehte Schneckenmuschel finden.« Sie ließ ihre Augen anerkennend über das flache Dach gleiten, das die Zapfsäulen beschattete, als seien die klaren Linien und die leuchtenden Farben ein Zeichen dafür, daß es sich hier um eine Einsiedelei großer Yogis oder um eine Sammlung heiligen Wissens handle. Für uns fühlte es sich nicht wie ein heiliger Platz an, aber es ließ sich nicht von der Hand weisen, daß ein Ort, der Benzin verkauft, eine Art Kraftplatz ist.
Aama insistierte: »Geh jetzt da hinein. Es muß dort Leute geben, die deine Sprache sprechen und die uns sagen können, wie wir zu dem Tempel mitten im Ozean gelangen können.«
»Gut, ich frage«, antwortete ich, »aber ich glaube nicht, daß sie es wissen. Sie sind wahrscheinlich keine Hindus, und außerdem haben wir nur ein Auto, das uns dafür nichts nützt. Wir brauchen ein Boot.«
»Ein Boot könnte an Felsen stoßen und dann sinken. Vielleicht gibt es eine Brücke. Wenn nicht, dann wissen die Leute da drinnen vielleicht, was man tun muß. Jahrelang habe ich von Ganga Sagar gehört: durch meinen Vater und meinen Onkel, der uns die Sutren vorgelesen hat, die großen religiösen Bücher, in denen die Kämpfe und Dharma-Taten Krishnas und anderer Gottheiten erzählt werden. Ich bin nur eine einfache Pilgerin, die vor den Tempel treten möchte, um dort ein paar Öllampen im Namen meiner Eltern, meiner Ahnen und verstorbenen Brüder und Schwestern anzuzünden sowie Opfergaben darzubringen und dann zurückzukehren.«
»Didi, würdest du hineingehen und dich erkundigen, wie wir nach Ganga Sagar kommen?«
»Nein. Sie ist deine Dharma-Mutter. Frage du.« Ich stieg aus und verschwand in dem Glaskasten, um Kaugummi zu kaufen.
»Sie sagen, sie haben keine Ahnung«, log ich, als ich wieder im Auto saß.
Von der Tankstelle schaukelte das Auto auf die Straße wie ein kleines Boot, das die Heckwelle eines Schiffes kreuzt. Aama kramte in der Lebensmittelkiste.
Allmählich wußten wir, was ihr schmeckte: Meerestiere, besonders Fisch und Chips aus Drive-ins, die Art, die man mit Senf und Tatarsoße aus Wachsbechern in sich hineinstopft mit einer Serviette unter dem Kinn und einer zweiten über den Beinen, und deren Geräuscheffekte beim Essen die Verdauung unterstützen. In Aamas Fall war das Geräusch ein spontanes Zungenschnalzen, auf das ein explosiver Seufzer folgte.
Und Saft in viereckigen Packungen. Sie hatte gelernt, zuerst vorsichtig etwas Saft abzusaugen und sich dann eine Fontäne von Saft in den Mund zu spritzen. »Hast du das Obst in dieser kleinen Schachtel ganz ausgedrückt?« fragte sie. Multivitamin -Gemüsesaft für den Salzbedarf und Tortilla-Chips. Ihr schlechtes Gehör hinderte sie nicht daran, wie die fast zahmen Bergziegen des Olympic-Nationalparks aus weiter Ferne das Geräusch einer knisternden Chipstüte auszumachen. »Was ist das? Möchte ich welche? Eigentlich nicht, aber wenn ihr sowieso etwas eßt...« Ihre Hand verschwand in der knittrigen Tüte und holte genau drei Chips heraus: eins für den Dharma-Sohn, eins für Didi und das letzte für Aama.
Didi steuerte drei Granolariegel bei, aber sie schien beunruhigt zu sein. »Ich rieche Benzin«, sagte sie mit besorgter Stimme.
Ich schnüffelte nach hinten und mußte ihr zustimmen. Es roch eindeutig nach Benzin. Ich überlegte, was die Ursache sein könnte, und mir dämmerte, daß ich den Tankverschluß auf der Zapfsäule hatte liegen lassen. Ich nahm es als gerechte Strafe dafür, daß ich Aama angelogen hatte.
Wir waren schon etwa vierzig Meilen südlich von Eureka. Ich bog auf eine Zubringerstraße ab, stieg aus und starrte auf den offenen Tank. Sollte ich mich damit herausreden, der Deckel sei abgefallen oder so was?
»Verdammt, ich habe den Deckel vergessen«, verkündete ich sogleich, als ich ins Auto stieg in der Hoffnung, durch Selbstkritik Didis Anwürfen zuvorzukommen.
»Du vergißt jedesmal den Tankdeckel«, polterte sie zurück. »Und du hättest wahrscheinlich deine Eier vergessen, wenn du sie nicht in kleinen Säcken herumtragen würdest. Vielleicht vergißt du ja nächstes Mal mich oder Aama.«
»Scheiße!« beschimpfte ich das Steuerrad und ignorierte sie.
»Warum verlierst du dauernd dein Zeug?«
»Schau, ich habe meine Gedanken eben meistens woanders.«
»Das kann man wohl sagen!« meinte sie trocken.
Aama saß zwischen uns, und ich wußte jetzt, warum: um uns vom Streiten abzuhalten. Entspannt und reglos thronte sie friedlich zwischen uns wie ein mir bekannter tibetischer Lama mit seinem unverschämten, beinahe einschüchternden Lachen, das tief aus dem Bauch kam. Worte waren ja nur die Garnierung der wirklichen Botschaft, welche die Augen und das Gesicht übermittelten.
»Gyaaskyap«, machte uns Aama lachend nach. »Wißt ihr, was das in der Gurung-Sprache heißt? Ich sag' es euch nicht, weil es schmutzig ist. Ha! Gyaaskyap.«
»Dein adoptierter Sohn spricht über den Tankdeckel, den er verloren hat«, klärte Didi Aama auf. Sie starrte auf den Kiesstreifen am Rande des Highways und fing an zu singen: »Heiliger Sankt Antonius, komm und hilf uns, wir haben was verloren und sind ganz ratlos.«
»Warum verlierst du immerzu etwas?« hakte nun auch Aama ein. »Du würdest deinen Kopf verlieren, wenn er nicht angewachsen wäre.« Nicht schon wieder ein Dejàvu. In meiner Erinnerung bildete sich ein Klumpen aus all den Sachen, die ich in der letzten Zeit verloren hatte. Die hinduistisch-katholische Schuldpatrouille war eine Zeitlang untätig gewesen, rottete sich aber nun wieder gegen mich zusammen.
»Was ist denn so schlimm! Wir können uns doch leicht einen Ersatzdeckel besorgen«, sagte ich zuerst auf Nepali, dann auf englisch.
»Es ist Verschwendung, Dinge zu verlieren, und es bringt Verdruß«, antwortete Aama. »Du verlierst etwas, jemand findet es, du siehst das Ding bei der Person, die es gefunden hat, beschuldigst sie, es gestohlen zu haben, was geleugnet wird. Alle werden sauer. Wir sagen: >Zieh die Schnur deines Geldbeutels fest zu, damit du deine Freunde nicht des Diebstahls verdächtigen mußt.<« Sie schaute mich finster mit einem Blick an, dem ich nicht ausweichen konnte, der gleiche Blick, den meine Mutter auf mich zu richten pflegte, wenn sie herausbekommen wollte, ob ich schwindelte. Mir fielen die Notlügen ein, mit denen ich versucht hatte, mich aus der Affäre zu ziehen.
Aama kratzte sich am Kopf und hoffte, daß ich mir ihre Worte zu Herzen nehmen würde. Eine Weile fuhren wir schweigend weiter.
»Malaysia liegt doch am Meer, also müßte die malaysische Kaserne der britischen Armee hier in der Nähe sein, nicht wahr?« Sie nutzte meinen schuldbewußten Zustand aus, um meine Ehrlichkeit mit einer Frage zu testen, die noch nicht angemessen beantwortet worden war.
»Es ist weit«, sagte Didi.
»Bei unserem Tempo müßten wir schon daran vorbeigekommen sein. Bist du sicher, daß es hier in der Nähe nicht junge Gurung in den Gurkha-Regimentern gibt?«
»Nein, das glaube ich nicht«, sagte Didi und wiederholte dankenswerterweise, was ich Aama zuvor mitgeteilt hatte.
»Wenn irgendwelche Gurkhas in Amerika stationiert wären«, fügte ich hinzu, »dann würden wir bestimmt alles tun, um sie zu sehen.« Aama gab keine Antwort und dachte darüber nach.
Die untergehende Sonne überzog das rostfarbene Gitterwerk der Golden Gate Bridge mit einem majestätischen Leuchten. Aama hielt gerade ein Nickerchen, als wir nach San Francisco hineinfuhren und von der Straßenbrücke in den Marina District abbogen. Von einer Tankstelle riefen wir unsere Freundin Efale an, um uns den Weg zu ihrem Haus beschreiben zu lassen. Aama wachte auf und schaute sich schläfrig um.
»Warum bleiben wir heute nacht nicht einfach in Ann Toris Haus?« meinte sie in einem sauren, aber gefaßten Ton.
»Was? Wir sind fünf Tage von ihrem Haus entfernt - mehr, als man in einem Monat laufen könnte. Wie kommst du auf die Idee, wir sollten dort übernachten?«
»Nein, es muß in der Nähe sein. Ich kenne diesen Platz hier.« Sie deutete auf die Zapfsäulen, die Werbeplakate und andere Eigentümlichkeiten einer Chevron-Tankstelle. »Wir waren schon einmal hier.«
Auf Whidbey Island hatten wir zweimal an einer Chevron Tankstelle haltgemacht. »Die Straße, auf der wir gefahren sind, kommt mir auch bekannt vor«, meinte Aama unbeirrt. »Welcher fluch liegt auf dir, daß du im Kreis herumirrst? Oder hast du mich hinters Licht geführt? Ich habe die Sonne und den Mond beobachtet, sie stehen jetzt anders. Bhagwan sagt mir, wo Norden und Süden sind, weil die Sonne und der Mond im Osten auf- und im Westen untergehen.« Sie schoß mir diesen durchdringenden Mutterblick herüber. »Die Sonne und der Mond lügen nicht, und wenn Menschen lügen oder irgend jemanden täuschen, dann sehen es die Sonne, der Mond und Bhagwan.«
Und bestimmt auch Aama. »Die Amerikaner haben einen Menschen auf den Mond gebracht«, war alles, was mir als Antwort einfiel.
»Hat der Mann dort Bhagwan gesehen?« gab Aama schnell zurück. »Wenn wirklich ein Mensch auf dem Mond gewesen ist, hat er dann irgend etwas getan, um seinen Respekt zu erweisen, um die Götter günstig zu stimmen und seinen Besuch zu heiligen? Du sagst, daß dein Volk an diesen Orten gewesen ist, all diese Dinge getan hat, diese Speisen ißt, diese Kleider trägt, dieses Getreide anbaut, dieses ganze Land besitzt - aber mißt du daran den Wert des menschlichen Lebens?«
Ich fühlte einen Anflug von Stolz, gemischt mit Scham, als sie von uns als »deinem Volk« sprach, als hätten wir Amerikaner eine Stammesidentität, eine fest verbundene soziale Struktur, die wir vielleicht nicht verdienen.
Efales Haus stand auf einem Hügel über einem Industriegebiet. Sie küßte uns alle überschwenglich auf beide Wangen und bemühte sich, ihren Hund daran zu hindern, an uns hochzuspringen. Didi machte Suppe warm, während Efale uns Wein eingoß. Ich hielt mich an die Popcorn-Schüssel. Aama nahm sich auch ein paar heraus.
»Eigentlich kann ich das gar nicht essen, seit die Mühle in meinem Mund glatt geworden ist. Meine Oberlippe ist nach innen gefallen, wo früher meine Zähne waren, und die zwei einsamen Zähne, die unten noch übriggeblieben sind, stoßen an die Oberlippe, wenn ich esse. Und beide Lippen flattern beim Sprechen herum, so daß meine Nase auch noch daran beteiligt ist und rauf- und runterhüpft. Es muß komisch aussehen.« Sie fuhr sich mit dem Finger über den Gaumen. »Hört nur, wie ich spreche - erstaunlich, daß die Leute mich überhaupt verstehen. Manchmal kommt das Gegenteil heraus von dem, was ich sagen will.«
Ich rief einen Zahnarzt an, den Efale kannte, um mich nach den Möglichkeiten für Zahnersatz zu erkundigen, und beschrieb ihm Aamas Mund.
»Ein Gebiß würde bei ihr vermutlich nicht funktionieren«, sagte er unumwunden mit der Stimme eines Wissenschaftlers. »Leuten über achtzig macht man kein Gebiß mehr, wenn sie vorher noch keins hatten, denn wenn die Zähne schon einige Jahre weg sind, dann zieht sich der Kieferknochen zurück, und das Gebiß hat keinen Halt. Der Patient nimmt es die meiste Zeit heraus.« Ich gab Aama die Auskunft weiter.
Sie schien nicht weiter enttäuscht. »Du solltest sowieso andere Dinge planen - für dich und Didi. Warum Geld für eine alte Frau ausgeben?«
Dann war da noch das Problem mit Aamas Augen. Ich suchte im Telefonbuch unter »Optiker« und strich einige Nummern an, die ich am nächsten Vormittag anrufen wollte. Didi lotste uns mit Hilfe einer Straßenkarte durch San Francisco, die mir am Beifahrerfenster die Sicht versperrte, während ich versuchte, mich in dem engen Einbahnstraßensystem zurechtzufinden. Aama hatte auf die Schnelle einen Termin bekommen, und wir durften nicht zu spät kommen.
»Jetzt sag endlich, wie wir fahren müssen«, fuhr ich Didi an.
»Hawa jahaaj girgun khoi?« fragte Aama und machte meinen ärgerlichen Tonfall nach, »wo ist der Flughafen?« Sie lachte ihr glucksendes Bauchlachen. Der Verkehr war zum Stillstand gekommen, so daß wir unser Navigationssystem einstellen konnten. Aama schaute zum Himmel, um die Sonne zu entdecken -für sie der sicherste Orientierungspunkt - aber sie wurde durch einen Lastwagen verdeckt, hinter dem sich eine lange Autoschlange staute.
»Dieser Lastwagen sieht aus wie die Mutterkuh, und dahinter sind die Kälbchen, die auf die Wiese geführt werden.« Sie horchte: »Die Stadt gibt das gleiche Geräusch von sich wie dort, wo Ann Toris Haus ist. Es klingt wie der Ozean.«
Wir waren schon an dem Laden vorbei, als Didi mich darauf aufmerksam machte. Ich setzte die beiden an der Ecke ab und fuhr einen Block weiter, wo ich ein Parkhaus fand.
Als ich in den Laden kam, traute ich meinen Augen nicht: Aama saß im Warteraum und war tief in eine Unterhaltung versunken. Sie sprach nicht Nepali, sondern Gurung mit ihrem Gegenüber, einem jungen Asiaten, der nur noch Augen und Ohren für Aama hatte. Ihr blumiger tibetisch-birmanischer Dialekt war ein Zauberteppich, der sie beide über Bergkämme trug, über Felder und Wiesen, durch enge Dorfgassen und tief in die Rhododendron-Wälder der Annapurnas. Ich betrachtete ihn näher. Eine Träne schimmerte im Augenwinkel. Didi kam auf mich zu und nahm mich beiseite.
»Stell dir vor, er ist ein Gurkha-Soldat und ein Gurung. Er ist in London stationiert und vor ein paar Tagen in die USA geflogen, um seine Verwandten zu besuchen, die hier ein Restaurant betreiben. Am Wochenende muß er schon wieder zurück nach London. Wir waren gerade ausgestiegen, als er uns auf dem Bürgersteig entgegenkam und Aama auf Nepali mit den Worten ansprach: >Oh Großmüttern Und sofort verfielen sie in Gurung. Er fing am ganzen Leib an zu zittern.«
Der Gurung-Soldat zitterte noch immer. Aama hatte sich entspannt zurückgesetzt und schwelgte in Erzählungen über ihre Verwandten und ihre Tiere, über Fairneß und Ungerechtigkeit, Geburt und Heirat, Armut und Tod; wie sie und er an all dies gebunden seien durch die gemeinsame Kultur, wenn nicht gar durch Verwandtschaft um ein paar Ecken.
Er schaute mich flehend an, als brauchte er eine Bestätigung dafür, daß dies alles real sei. Ich hätte ihn gerne gefragt, aus welchem Dorf er stamme, aber er war von Aama mit Geschichten gefangengenommen worden, die nur auf Gurung erzählt werden konnten - Geschichten, in denen sich Druck angesammelt hatte und die jetzt ins Leben hinausplatzten. Er hörte mit offenem Mund zu und schien von der Art des Erzählens ebenso verzaubert zu sein wie vom Inhalt der Geschichten, als würden sie einer traumhaften Manifestation seines eigenen kulturellen Erbes entspringen.
Mit einer Hand hielt Aama die Armstütze, während die ausgebreiteten Finger der anderen Hand in der Luft vergangene Ereignisse beschworen.
»... Und dann war da der Mann meiner nächstälteren Schwester. Du wirst ihn nicht kennen, weil dein Dorf ja etwas weiter entfernt ist - zwei Tagesmärsche hast du gesagt? -, aber er wurde im großen Krieg getötet, im Krieg Nummer eins. Oder wenigstens dachten wir das. An dem Tag, an dem die Lamas die Totenzeremonie und das Reinigungsritual angesetzt hatten, kam er zum Dorf hereinspaziert. Er sagte, er sei dem Feind in die Hände gefallen, in Gefangenschaft geraten und geflohen...«
Der junge Gurung wandte sich an mich: »Ich schaue Aama an und kann immer nur an meine eigene Großmutter denken, sie ist genauso wie sie.« Auch seine Großmutter trug die Stammeskleidung der Gurung-Frauen: eine Bluse aus kastanienbraunem Samt, die unter den Armen zusammengebunden wird. Seit einem Jahrhundert bringen Gurkhas, die aus dem Ausland zurückkehren, Ballen dieses luxuriösen Stoffes mit in die Dörfer.
»... Natürlich wäre es für ihn kein gutes Omen gewesen, das Haus wieder zu betreten, wenn wir die Totenzeremonie schon beendet hätten, und noch schlimmer, wenn er von den Ritualen gehört hätte, wie das einem anderen Familienangehörigen mal passiert ist. Dieser Verwandte ist verschwunden und nie mehr ins Dorf zurückgekehrt; er war böse, daß seine eigene Totenzeremonie sein Leben verkürzt hatte, was in solchen Fällen ja, wie du weißt, vorkommen kann...«
Tränen standen dem Jungen in den Augen vor Heimweh und aus einem Anflug von Reue, daß er seine Tradition und Familie verlassen hatte, um einem anonymen, utilitaristischen Ziel nachzugehen. Aber der Militärdienst wurde von den meisten Gurung - auch wenn er siebzehn Jahre dauerte - als etwas Vorübergehendes betrachtet. Die Loyalität der Gurkhas zu den heimatlichen Bergen und ihre Treue zur Familie stand selten in Frage, auch wenn sie lange von zu Hause weg waren. So gut wie alle kehrten zurück.
»... Dann, nach dem Tod des Mannes der ältesten Schwester, tauchte ein betrunkener Tunichtgut im Dorf auf und behauptete, er sei niemals dem Feind in die Hände gefallen, sondern sei desertiert, und deswegen bekomme er keine Pension. Aber wie hat er reagieren können, wenn er tot war? Das machte meine Schwester und uns alle sehr ärgerlich...«
Erst jetzt hatte Aama voll mitbekommen, daß auch ich im Laden war. Sie schaute mich vorwurfsvoll an.
»Nani, und es gibt doch überall Gurung-Rekruten der britischen Armee. Du hast sie vor mir versteckt.« Der Gurung merkte meine Verlegenheit und versicherte Aama, daß bestimmt nicht viele seines Schlages hier in der Gegend seien. Aber seine leibhaftige Gegenwart machte diese Aussage in Aamas Augen unglaubwürdig.
Der Gurung-Junge, wie Aama ihn nannte, wollte uns zu einem traditionellen Mittagessen mit Reis, Linsensuppe und Gemüse zu seinen Verwandten einladen. Er rief sie an, aber keiner war zu Hause.
»Mach dir nichts draus«, tröstete ihn Aama. »Deine Verwandten müssen sicher sehr viel arbeiten. Vielleicht sind sie schon so geworden wie die Leute mAmrita. Es ist hier anders als bei uns in den Bergen.«
Die Empfangsdame rief »Mrs. Gurung«, und Didi streckte die Hand aus. Aamas Augen baten inständig darum, die Untersuchung zu verschieben. Aber der Gurung-Junge sagte, er müsse jetzt sowieso gehen, und ich schrieb seine Telefonnummer auf. Er verbeugte sich leicht vor Aama, Didi und mir und entfernte sich, ohne den Blick von uns zu wenden. Erst an der Tür drehte er sich um.
Didi begleitete Aama in ein kleines Zimmer. Der Optiker, ein freundlicher, weißhaariger Herr, ließ Aama vor einem Apparat Platz nehmen, der die Netzhaut diagnostiziert. Er schaute an einer Seite hinein, wo er einen klickenden Schalter bediente, und Aama an der anderen.
»Sie hat den grauen Star auf beiden Augen«, sagte er und bestätigte damit, was wir befürchtet hatten. Ihre Sehfähigkeit war aber noch nicht ernsthaft eingeschränkt, so daß eine Brille ihren Astigmatismus korrigieren konnte. Wir warteten darauf, daß die Linsen geschliffen wurden.
»Wie gefällt dir deine Brille?« fragte Didi, als wir auf die Straße traten.
»In der Ferne kann ich jetzt besser sehen, aber in der Nähe schauen die Dinge milchig aus. Die Brille meiner Schwester, die ich Vorjahren probiert habe, saß anders auf der Nase, weiter oben, glaube ich. Aber jetzt sehe ich so aus wie die Mutter eines Gurkha-Soldaten und fühle mich auch so - besonders seit ich dem Gurung-Jungen begegnet bin. Als er mich auf der Straße angesprochen hat, war es, als hätte mich ein Verwandter im Traum begrüßt.«
Kapitel 9
Der Verkehr auf der Interstate 80, östlich von San Francisco, schob sich langsam an uns vorbei. Aama glaubte im ersten Moment, wir würden rückwärts fahren, dann machte sie sich Sorgen über die rotierende Trommel eines Betonmischers in der Nebenspur.
»Sie sollten das besser festmachen; das Ding rollt herum und kann jederzeit herunterfallen.«
Cecilia, eine Tiertrainerin und Freundin, hatte uns nach Vallejo in den Vergnügungspark »Marine World Africa« eingeladen, wo sie in der PR-Abteilung arbeitete. Die Anlage wurde als ein Safaripark beschrieben, obwohl die Reklamewände neben der Schnellstraße eher wie Werbung für einen privaten Fernsehkanal aussahen, wenn wir nicht den Text gelesen hätten. Der dichte Verkehr aktivierte mein Adrenalin, und ich kämpfte mich aggressiv durch, bis wir auf dem Parkplatz angekommen waren.
Wir trafen Cecilia auf einer Service-Straße hinter den Büros, und sie zeigte uns die Giraffen. Ein Königstiger wurde angekettet von zwei Dompteuren an uns vorbeigeführt. Aama sprach sanft mit ihm und streichelte sein Fell, wie ein Kind eine Katze streichelt.
»Erstaunlich, wie ehrfürchtig und mutig Aama mit dem Tier umgeht, wenn man bedenkt, daß im Süden von Nepal Menschen von Tigern angefallen werden«, sagte Cecilia. Sie schaute auf die Uhr und schlug vor, zum Aquatheater zu gehen, wo es eine Delphin- und Killerwal-Show gebe; sie habe ganz vorne, neben dem Spritzdeck, Sitze für uns reservieren lassen.
Das Freilufttheater war proppenvoll. Als das Wasser des Bassins in Bewegung geriet, wurden die Kinder ganz aufgeregt und stellten ihren Eltern ungeduldig Fragen.
Ein Mann am Mikrofon stellte Yaka vor, den weiblichen Killerwal des Parks. Unsere Köpfe wanderten hin und her auf der Suche nach Lebenszeichen des Tiers, aber die Wasseroberfläche beruhigte sich wieder auf unheimliche Art.
Plötzlich, als habe der Wal nur darauf gewartet, daß ihm das Publikum zublinzelte, schoß Yaka aus der Tiefe des Bassins nach oben und landete auf dem Spritzdeck. Mit hoch gebogenem Schwanz blickte sie wie ein übergroßes Badewannenspielzeug freundlich in die Menge.
Dann glitt die Walfrau wie ein Schiff nach der Taufe ins Wasser zurück, mitten unter einen Schwärm von Delphinen, die im Gleichtakt durchs Wasser tanzten. Die Show war eröffnet.
»Diese Fische sind abgerichtet wie Hunde und sehen aus, als wollten sie etwas zu fressen. Von was ernähren sie sich?«
»Von anderen Fischen, von kleineren«, sagte ich.
»Hat deine Freundin Fische, die wir ihnen zuwerfen können?«
Nachdem die Delphine ihren Auftritt beendet hatten, tauchte Yaka wieder auf und führte die Nummern der Delphine noch einmal im Zeitlupentempo vor: Sie sprang über ein Seil, das mannshoch über das Wasser gespannt war, spielte mit einem Ball und ließ einen Mann auf ihrem Rücken reiten.
Langsam leerte sich das Aquatheater. Die Kinder waren jetzt noch lauter als vor der Show und erzählten Geschichten von wirklichen Tieren, die noch besser waren als die im Fernsehen. Cecilia arbeitete sich gegen den Strom der Menschen vom Ausgang zu uns vor und rief: »Würde Aama gerne den Killerwal begrüßen?«
Ich sagte Aama, daß sie eingeladen worden sei, dem Riesenfisch persönlich zu begegnen, sie dürfe ihn sogar berühren.
»Welchen der großen Fische?« fragte Aama. Für Erklärungen war nicht viel Zeit. Didi und Cecilia nahmen sie in ihre Mitte und führten sie zum Rand des Bassins.
»Wo ist er?« fragte sie mit skeptischer Neugierde und ließ ihre Augen über die Wasseroberfläche gleiten. Die Trainerin, die eine Pfeife zwischen die Lippen gepreßt hatte, beugte sich über den Rand und schlug mit der flachen Hand heftig an die Bassinwand, ein Signal, das uns - wie wir aus der Welt der Fernseherfahrung wußten - ein baldiges Wasserereignis verhieß.
Yaka schoß wie eine Rakete aus dem Bassin und bäumte sich hoch über Aama auf. Während sie auf ihrer Schwanzflosse balancierte, drehte sie den Kopf zur Seite und schaute mit ihrem rechten Auge auf die winzige Gestalt herunter. Aama wich vor dem Koloß einen Schritt zurück, wischte sich einen Wasserspritzer aus dem Gesicht, beobachtete, wie sich die Walfrau tiefergleiten ließ, und streckte ihr die Arme entgegen, als wolle sie sich der lockenden Rachegöttin Kali selbst als Opfer darbringen, um so Verdienste für sich und andere zu erwerben - einer Göttin, die Blut liebt, ganz besonders das menschliche. Aama bekam das Maul von Yaka zu fassen und ertastete es mit den Händen wie eine Blinde. Sie zog sich an der Unterlippe der Walkuh hoch, reckte sich auf die Zehenspitzen und gab ihr einen dicken Kuß aufs Maul. Dann drückte sie ihre Stirn an Yakas Unterkiefer und segnete sie, als würden sie dieselbe Sprache sprechen. »Mögest du gesund sein, viele Kinder haben und hundert Jahre alt werden, in Frieden und Harmonie mit deinesgleichen leben und mit all den anderen Fischen und Lebewesen des Meeres. Möge dir nicht das Unglück beschieden sein, daß Menschen dich essen, und bitte iß auch du keine Menschen, sondern finde genügend kleine Fische, um dich davon zu ernähren...«
Langsam ließ sich Yaka zurück ins Wasser sinken. Aama hielt dennoch das riesige Maul fest. Ihr Segen war noch nicht vollständig. Didi und mir stockte der Atem. Aama ließ nicht los, sie wurde nach vorne gezogen, und wir sahen sie schon mit dem Wal in der Tiefe verschwinden, um dort vielleicht doch noch Ganga Sagar zu entdecken. Im letzten Augenblick gab sie widerstrebend nach, und wir sprangen nach vorne, um sie zu halten. Sie lächelte uns mit einer Mischung aus Triumph und Bedauern an. Wir kletterten in unser Walmobil, durchschifften den ozeanähnlichen Parkplatz und gelangten auf den Freeway. Aama schwärmte von der Schönheit des Tigers und der Anmut der hochbeinigen Tiere mit dem langen Hals, die sich Blätter von den Baumspitzen pflücken - man könne sie gut als Futtersammler einsetzen. Dann rühmte sie die Kunstfertigkeit der Amerikaner, denen es gelänge, einen solch riesigen mechanischen Fisch zu bauen, daß man fast meinen könne, er sei lebendig.
Didi und ich schauten einander verblüfft an. »Was?« stotterte ich, »du... du denkst, der große Fisch sei nicht echt, nicht lebendig?«
»Uhn-uh. Er ist eine Maschine«, schnaubte sie selbstgewiß, »und ich bin stolz, daß ich mich nicht habe reinlegen lassen; das Ding ist doch nur dazu da, Leute hinters Licht zu führen.«
»Aber Aama, es ist ein wirklicher Wal, der im Ozean mit anderen Walen schwimmt«, erklärte Didi. »Er atmet sogar so wie wir, deswegen kann er an der Luft sein, und er bekommt wie wir Kinder. Er legt keine Eier.«
»Versuch nicht, mich für dumm zu verkaufen«, gab Aama zurück. Es ärgerte und belustigte sie zugleich, daß Didi ihr etwas ausreden wollte, was sie schließlich selbst erlebt hatte. Didi und ich grinsten uns staunend an, was es noch schwerer machte, überzeugend zu klingen. Ich gab es auf, mich im Verkehr vorwärtszukämpfen, und setzte mich hinter einen Lastwagen, um Aamas Darlegungen aufmerksamer folgen zu können.
»Kein Fisch von dieser Größe könnte jemals so hoch springen; die kleinen Flügel an den Seiten helfen ihm wahrscheinlich zu fliegen. Ich bin zwar aus den Bergen, aber ich kenne mich trotzdem mit Fischen aus - wir fangen manchmal kleine im Bach unterm Dorf. Und diese riesige Maschine war auch nicht schleimig wie ein wirklicher Fisch. Sie fühlte sich so rauh an wie die Papiertaschentücher, mit denen du die Scheibe putzt. Wahrscheinlich ist das Ding aus Gummi, und innen drin besteht es aus Federn und Drähten und Strom. Oder vielleicht sind es zusammengenähte Tierhäute, ich war mir nicht sicher.« Ich wußte, daß jeder Widerspruch ihre Überzeugung nur noch mehr festigen würde. Meine Gedanken rasten, ich suchte nach einem anderen Ansatzpunkt.
»Gut, wenn der Fisch eine Maschine ist - warum hast du ihn dann gesegnet?«
»Ich habe es getan«, antwortete sie ganz sachlich, »um euch und allen, die zuschauen, einen Spaß zu bereiten. Die Leute, die das ganze Ding leiten, sind doch eure Freunde, nicht wahr? Ich wollte nicht vor allen sagen, daß ich weiß, daß das Ding nicht echt ist, das hätte euch nur in Verlegenheit gebracht. Wir sollten doch glauben, es sei echt, oder wenigstens ich sollte es glauben. Sie haben wahrscheinlich im Publikum herumgeschaut und gesehen, daß ich die einzige Ausländerin war, jemand, der noch nicht erfahren hat, daß es ein Trick ist, und deswegen haben sie mich nach vorne gerufen.« »Aber er ist echt«, flehte ich sie an, »glaub es mir.« Sie hatte mir geglaubt, als ich ihr gesagt habe, die Erde sei rund. »Hast du ihn angefaßt? Hast du ihn gefühlt?« blitzte sie mich und Didi an. »Nein, aber...«
»Aber ich habe ihn berührt, und ich weiß, daß es eine Maschine ist. Wenn wir noch mal eine sehen, zeige ich es euch. Aber sag deinen Freunden nicht, daß ich ihr Geheimnis kenne. Vielleicht hätte ich es euch gar nicht sagen sollen.«
Didi und ich wollten noch zum Laden an der Ecke, um für eine Party am Abend einzukaufen. Aama war auf der Couch eingeschlafen. Sie hatte Ähnlichkeit mit einer Moorleiche. Ich horchte auf ihren Atem, wie es Eltern bei ihrem neugeborenen Baby tun. Vielleicht war es ihr vergönnt, dem Tod im Schlaf zu begegnen oder ihm näher zu kommen als wir anderen, weil sie sich nicht so wie wir ans Leben klammerte. Wir hatten sie fast nur im Auto dösen sehen, weil sie nachts kaum länger als vier Stunden schlief. Als wir zurückkamen, war Aama verschwunden. Ich suchte im Eßzimmer nach ihr und im Fersehzimmer und fühlte einen Augenblick den Alptraum von Eltern, die ihr kleines Kind vermissen. Aber da hatte sie Didi schon auf dem Küchenboden vor dem Kühlschrank entdeckt.
»Mir war kalt, und ich bin aufgestanden und habe nach einer Decke gesucht, da habe ich diese große weiße Kiste gefunden, aus der unten heiße Luft hervorkommt. Manchmal kommt heiße Luft, dann wieder nicht, aber die Kiste macht vorher immer ein Geräusch.«
Wir stellten die Lebensmittel auf den Küchentisch. Aama hatte Langeweile und wollte etwas tun. Didi legte ein Brett vor sie auf den Boden mit zwei großen Zwiebeln und drückte ihr ein Messer in die Hand. Wie ein Küchenchef machte sie sich sofort daran und schien froh darüber zu sein, daß sie Arbeit hatte. Didi reichte mir ein kühles Bier und goß Wein in einen Kaffeebecher, den sie neben Aama auf den Boden stellte.
Efale brachte noch mehr Lebensmittel und Getränke, und ein weiterer Freund gesellte sich zu uns: der gutgenährte Fred, Weltreisender und Treckführer im Himalaja. Fred sprach fließend Nepali und hockte sich neben Aama auf den Boden, um sich mit ihr zu unterhalten. Wie immer bei Fremden wollte sie zuerst wissen, wie viele Kinder er habe.
»Oh, natürlich viele, viele«, witzelte er. »Und warum auch nicht? Du siehst ja an meinem Umfang, daß ich ein reicher Mann bin.«
Weitere Gäste umringten die beiden auf dem Küchenboden, angezogen von Aamas und Freds sichtbarem Gefühl sprudelnden Wohlbehagens. Ein paar standen noch im Wohnzimmer und unterhielten sich.
Aama winkte ihnen durch die offene Tür zu. »Ruft alle her und sagt ihnen, daß unter dieser Kiste warme Luft herauskommt. Diese Betten mit den weichen Seitenteilen im großen Zimmer sind nicht zum Sitzen da, sondern zum Schlafen.«
Aus der Stereoanlage ertönte Musik, und weitere Wein- und Bierflaschen wurden geöffnet.
Didi und Efale mußten an den Kühlschrank. Aama stand auf, um Platz zu machen, und stützte die Hände auf die Knie. Sie starrte auf die überquellenden, hell erleuchteten Fächer.
»Mein lieber Mann. Das ist ja ein Schaufenster! Kann man das alles kaufen?« Tatsächlich war der Kühlschrank nicht viel kleiner als die kleinen Buden auf dem Basar, wo der Ladeninhaber jeden Gegenstand erreichen kann, ohne sich vom Platz zu bewegen.
»Das ganze Essen ist nur für die Leute hier«, sagte Didi.
»Aber eure Freundin lebt doch allein«, entgegnete Aama. »Das kann sie doch unmöglich alles essen! Und warum habt ihr noch mehr gekauft?«
Mehr. Ein Schlüsselwort unserer Kultur. Ich fühlte mich in die Enge getrieben.
»Es... es ist so ähnlich wie eure Gurung-Hochzeiten, wo die Leute Wagenladungen von Brot und Reis und Gemüse verzehren und ganze Wasserbüffel.«
»Habt ihr für diesen Abend einen Wasserbüffel geopfert?« fragte sie hoffnungsvoll.
Didi und Efale drängten uns sanft ins Wohnzimmer, um in der Küche Platz fürs Büffet zu schaffen. Fred brachte Feuerholz aus dem Keller.
»Was tust du?« fragte Aama. Nichts war sicher vor ihren Attacken, die vom Wein beflügelt wurden.
»Ich mache Feuer hier im Kamin.«
»Warum so ein schönes Haus unter Rauch setzen und alles schwarz machen?«
Fred übersetzte Aamas Kommentar, und sie wurde immer mehr zum Mittelpunkt. Während die Gäste sich der bunten Fülle auf ihren Tellern widmeten, nutzte Aama die relative Stille, um sich über die Eigenheiten von Amerika zu verbreiten für den Fall, daß sie uns noch nicht aufgefallen wären. Und den meisten von uns waren sie in der Tat noch nicht zu Bewußtsein gekommen. Sie betrachtete die Aschenbecher und allen möglichen Schnickschnack, der auf den Tischen und Bücherregalen herumstand. »Die Leute hier lassen ihre schönen Sachen herumliegen, so daß sie jeder mitnehmen kann. Und sie halten die Türen ihrer Häuser tagsüber zu. Überall, wo wir hinkommen, scheint es, als sei niemand zu Hause. Wenigstens in den Abendstunden, bei Sonnenuntergang, sollten die Türen offen sein, damit die Götter zurückkehren und das Haus schützen können.«
»Sogar in L.A.?« fragte ein Gast.
»Und jemand hat zwei Autos im Nebenzimmer abgestellt«, sagte sie und deutete auf das Garagentor. »...und ihr kocht unten euer Essen und dann geht ihr hinauf und pinkelt und scheißt direkt über der Küche. Wer weiß, wo es hingeht, wenn es vom Wasser weggespült wird. Das große weiße Gefäß, das halbvoll ist mit Wasser, auf dem ihr sitzt, das sieht aus wie eine große Schüssel, in die man bei einem Fest Reis füllen könnte.« Fred hielt seinen Teller am ausgestreckten Arm von sich weg und verzog argwöhnisch sein Gesicht.
»Unsere Leute sind vielleicht arm, aber wir würden nie solche Dinge tun.« Aama nahm einen kräftigen Schluck Wein, leckte sich über die Lippen und schaute dann jeden einzeln an. »Wer seid ihr? Ihr wißt nicht einmal, wer ihr seid.«
Fred brauchte ihre dramatische Tonlage nicht zu übersetzen. Die Gäste hörten auf zu essen und betrachteten einander. Eine Frau stellte die Musik leise. Die meisten Leute hier hatten diverse Midlifekrisen durchlitten oder sonstige karmische Knotenpunkte. Sie hatten im Anschluß daran oft neuen Sinn in ihrem Leben entdeckt, manche suchten immer noch nach neuer Orientierung oder taten sich, wie Fred von sich sagte, an dem existentiellen Sahnekuchen gütlich, den Gott oder Buddha oder Bhagwan oder sonst jemand aus dem Ärmel zieht, wenn du es am wenigsten erwartest.
»Hier in Amerika können die Leute tun, was sie wollen«, sagte ich, »deswegen fällt ihnen die Entscheidung schwer, was sie tun sollen.« Aama schaute mich an, als sei das nur ein Teil der Angelegenheit.
»Ihr behandelt eure Verwandten wie Fremde und Fremde wie Verwandte. Deine Brüder und Schwestern sind überall verstreut, und ich frage mich, ob du überhaupt weißt, wie sie mit dir verwandt sind. Du redest und lachst mit jemandem, und im nächsten Augenblick läßt du ihn fallen und fängst mit jemand anderem an - über dieses Radio oder Telefon oder was es ist. So verlierst du deine Aufrichtigkeit und deine Vertrauenswürdigkeit. >Wenn du eine Kuh aufziehst, schenkt sie dir Nahrung, aber wenn du einen Bruder aufziehst, dann schenkt er dir Bruderschaft^ Und warum sind manche Paare verheiratet und haben keine Kinder, während andere Kinder haben und nicht verheiratet sind? Und jeder hetzt zu seiner Arbeit, als gäbe es die Arbeit nicht mehr, wenn er später hinkommt. Heute nachmittag habe ich Leute auf einer Bank an der Straße gesehen, die Tüten aufgemacht und Essen herausgeholt haben. Jeder saß allein da und las etwas beim Essen. Haben sie darüber gelesen, wie man ißt? Ich glaube schon-weil ein anderer mit einer Hand geschrieben hat, während er sich Essen in den Mund steckte. Er muß wohl die Lehren über richtiges Essen aufgeschrieben haben, welche die anderen dann gelesen haben.«
In früheren Jahrhunderten waren Lesen und Schreiben in Nepal für religiöse Texte reserviert, und das geschriebene Wort galt als heilig. Später, als Schreiben für Regierungszwecke eingesetzt wurde, machte man sich die Heiligkeit des geschriebenen Wortes zunutze, so daß die Regierung und jetzt die Wirtschaft ungewohnten Respekt genießen.
»Manche Leute sind groß und andere klein, aber ich war schon immer der Meinung, daß die Körpergröße nichts mit dem Verstand zu tun hat.« Der gut genährte Fred setzte einen entrüsteten Ausdruck auf: außer bei mir natürlich.
»Und nur, weil du lesen kannst und vielleicht reich bist, heißt das nicht, daß du weißt, wie man richtig lebt. Dazu brauchst du auch Weisheit. Nur wenige Menschen wissen im voraus, welche Wirkung ihre Handlungen haben werden.« Aama hatte alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen und schaute jeden in der Runde an. Allein mit der Modulation ihrer Stimme führte sie eine tragikomische Oper auf mit Streichern, Pauken und Trompeten, und jede Stanze wurde von einem Lachen gekrönt.
»Irgendwie erschafft ihr aus Büchern und Maschinen ein Leben, das ihr produktiv nennt. Maschinen können sprechen, schreien, sie können sich bewegen, und es gibt sogar ganz schlaue, riesengroße Fischmaschinen, die atmen und schwimmen wie wirkliche Tiere...«
Efale hatte von unserem Ausflug zum Safaripark gehört. Während Aama redete, schlug sie Didi vor, auf dem Weg nach Süden das Monterey Bay Aquarium zu besuchen, wo man Meeressäugetiere und vielleicht sogar Wale in Bassins hinter Glaswänden beobachten konnte. Vielleicht würde sie das überzeugen.
»... Aber für euch ist das wahrscheinlich gar nichts Besonderes. Vermutlich könnt ihr sogar einen Toten zum Atmen und Sprechen bringen, indem ihr seinen Körper öffnet und eine Atemmaschine und eine Sprechmaschine einbaut, wie diesen Kasten, mit dem man Stimmen einfangen kann. Es ist komisch, daß ihr das alles könnt, und dabei versteht ihr es nicht, mit euren Händen zu arbeiten, zu säen und zu ernten - das machen ja auch Maschinen. Was würdet ihr ohne sie tun? Maschinen sind eure Götter. Wenn sie es nicht wären, dann hätte ich inzwischen doch mal jemanden gehört, der Bhagwans Namen anruft, oder nicht?«
Sie schöpfte Atem, und wir atmeten mit ihr. »Und wenn ihr mit jemandem sprechen wollte, dann redet ihr in eine Maschine und hört den anderen aus der Maschine heraus antworten. Vielleicht ist Bhagwan da drinnen, und er ist es, mit dem ihr alle sprecht.«
Aama hatte das Telefon auf dem Kaffeetisch im Auge. Plötzlich lehnte sie sich vor, als würde es klingeln. Sie mußte wohl gespürt haben, daß jemand anrufen wollte, denn dies war tatsächlich der Fall, als sie den Hörer abnahm. Die Gäste beobachteten sie schweigend. Sie packte den Hörer mit beiden Händen und hielt die Ohrmuschel wie ein großes Mikrofon vor ihren Mund. Zwar hatte sie der Wein sehr mutig gemacht, aber die Erwartung, die Stimme einer wichtigen Person zu hören, schüchterte sie doch ein. Zögernd, aber laut sprach sie auf Hindi in die Ohrmuschel, in der Sprache der heimkehrenden Gurkhas, die Weitläufigkeit signalisierte: »Aachaa, bya baat hai? - Ja, was gibt es?« Hurtig legte sie den Hörer wieder auf, als habe sie etwas falsch gemacht. Ohne aufzuschauen, wußte sie, daß ihr Publikum vor Lachen beinahe platzte. Sie versuchte ihre Gesichtszüge zu beherrschen und wiederholte das Spielchen. Erneut nahm sie den Hörer ab und rief in die Ohrmuschel: »Hallo, Bhagwan? Bist du es...? Was? Ich kann dich nicht hören... Ich kann gar nichts hören...« Sie legte den Hörer zurück.
»Nein, da drin ist er nicht«, sagte sie lakonisch.
Am nächsten Morgen wachte ich mit einem Kater auf, aber auch mit Lust. Didi wurde langsam wach, und durch die Parterrefenster betrachteten wir die Lagerhäuser, welche die Aussicht auf die Silhouette von San Francisco verstellten. Aama schlief in einer Nische um die Ecke; vermutlich war sie schon aufgestanden und geisterte wie üblich in der Wohnung herum; aber es war nichts zu hören. Die Aufregung der letzten Nacht hatte ihr vielleicht doch etwas zugesetzt, so daß sie sich ausschlief. Didi und ich lagen auf dem Rücken und genossen die Ruhe und das Alleinsein, bevor uns der Alltag wieder voll in Beschlag nehmen würde, in dem wir die Rolle verantwortlicher Eltern übernehmen mußten. Didi amüsierte sich noch über Freds Gummigesicht, als er die Eigenheiten der Dorfbewohner, der ausländischen Touristen und der Regierungsbürokraten nachmachte, und über Aamas Imitation des wohlbeleibten Fred, der einen schmächtigen Lastenträger auf einem Bergpfad zum besten gegeben hatte.
Heftiges Verlangen wallte in mir auf, das sich nun schon seit geraumer Zeit angestaut hatte. Ich biß Didi sachte in die Schulter. Sie sagte, ihr Rücken täte ihr weh, und rollte sich auf ihre Seite. Mit den Knöcheln meiner rechten Hand wanderte ich methodisch ihre Wirbelsäule hinauf. Sie seufzte müde, noch war sie nicht bereit für den Tag. Ich knetete ihre weichen Schultern und ließ meine ausgebreiteten Hände über ihre Brüste und runden Hüften gleiten. Am Morgen waren ihre Muskeln steif, und ich gab ihnen Zeit, sich zu lockern. Allmählich schmolz ihre Zurückhaltung, ihr Körper wurde weich und geschmeidig wie Ton beim Kneten. Sie drehte sich zu mir, und wir fielen einander wie Puzzlesteine in die Arme und Beine. »Yoga bedeutet Einheit«, murmelte ich geheimnisvoll im Akzent eines indischen Pandit.
»Aama schläft noch - können wir leise sein?« flüsterte sie.
»Ich weiß nicht. Kannst du es?«
Ich hatte vergessen, die Rollen des Ausziehbettes festzustellen, so daß es hin und her schwankte und an die Holzverkleidung der Wand stieß. In Ermangelung anderer Hilfsmittel benutzte ich meine Hand als Stoßdämpfer zwischen dem Aluminiumrahmen und der Wand, was mich hinderte, mich einer ansonsten angenehmen Empfindung zu überlassen. Die Federn quietschten, der Rahmen knarrte und die Räder rumpelten...
Aama rührte sich. Wir versuchten uns zu beeilen. Geräuschvoll stapfte sie, bekleidet mit Unterrock und einem Tom-und-Jerry-T-Shirt, in denen sie geschlafen hatte, aus ihrer Nische heraus.
»Kray-kray-kray«, sang sie vor sich hin, als würde sie jemanden rufen. »Kray-kray-kray. Wo seid ihr? Kommt heraus, bestimmt habt ihr Hunger.« Didi und ich erstarrten. Offenbar sah uns Aama nicht unter dem Berg aus Leintüchern, Decken und Kissen, aber das, wonach sie rief, schien sie unter unserem Bett zu vermuten. Sie legte eine Hand auf das Fußende und beugte sich tief nach unten, um unter das Bett schauen zu können. »Irgendwo müssen diese Hühner doch sein... Wer hat sie bloß ins Haus gelassen, sie werden Dreck machen.«
Didi unterdrückte ein Lachen; wohl oder übel mußte ich die Störung hinnehmen und lachte mit ihr. Aama hörte uns nicht, als sie aber merkte, daß sich das Bett bewegte, fuhr sie hoch. Ich hob den Kopf, während Didi unter den Decken verborgen blieb, aber ihr Körper zeichnete sich deutlich neben mir ab.
»Ach, da seid ihr. Da sieh mal einer an. Yeeehhh. Das ist es also, was ihr beide tut.« Aama saß am Fußende des Bettes.
»Didi sollte aufstehen und über deine Beine fallen«, fügte sie sarkastisch hinzu. Aama war neulich sehr ärgerlich geworden, als Didi im Halbschlaf auf dem Weg zum Bad fast über sie gestolpert wäre. Man nennt das Nagnu, eine Respektlosigkeit, wenn es absichtlich geschieht: wegen der beschmutzenden Energie, die in Wellen aus den Fußsohlen ausströmt. Ich hatte Didi eingeschärft, stets darauf zu achten, aber in Amerika vergaß sie es manchmal, besonders am Morgen, bevor sie Kaffee getrunken hatte. Ich hatte Didi offenbar nicht genügend diszipliniert, wie ich Aamas Ton entnahm, in dem die Eifersucht mitschwang, daß ich Didi mehr Aufmerksamkeit gab als ihr.
»Ich habe auch schon mal gesehen, daß Didi über dich einen Schritt gemacht hat«, fuhr Aama fort, »über ihren eigenen Ehemann. Sie ist einfach über deine ausgestreckten Beine getreten und in ihren Gummisandalen weitergelaufen, pitik, pitik, pitik. Wir sagen, daß dadurch deine Lebenszeit verkürzt werden kann. Aber wer bin ich schon, daß ich euch so etwas sage? Wenn es hier jeder tut, dann macht es vielleicht nichts. Aber es ist wichtig, seinen Ehegatten zu achten.«
Den Gatten jedenfalls mehr als die Schwiegertochter, hätte ich beinahe eingewandt. In Aamas Augen verkörperte ich eine gute Partie, wohlhabend und intelligent; mir nicht ehrerbietig gegenüberzutreten, war ein Zeichen von Egoismus und Torheit. Aama war jedoch von Didi abhängig. Sie begann uns beide zu manipulieren, und wir waren leichte Beute, da wir uns der Herausforderung, Kinder aufzuziehen, noch nicht gestellt hatten. Wir waren Eltern, ohne zu wissen, wie - Eltern, die weder verheiratet noch geschieden waren. Didi seufzte, schlüpfte in ihren Morgenmantel und verschwand im Bad - die Gelegenheit für Aama, mir leise ihre Ansichten mitzuteilen.
»Warum holst du dir nicht eine Neue?«
»Was für eine Neue?«
»Frau.«
»Aber wir sind nicht verheiratet.«
»Nun - du brauchst Kinder, damit du jemanden hast, dem du dein Erbe vermachen kannst, um Glück in dein Leben zu bringen und deinen Geist zu entspannen.«
»Und was ist mit Didi? Was würde sie sagen, wenn ich sie einfach verließe?«
»Nein, wer sagt denn etwas von verlassen? Du nimmst dir einfach noch eine Frau dazu, das habe ich dir ja schon früher gesagt. Natürlich mußt du Didi zuerst heiraten, bevor du dir eine zweite Frau nehmen kannst.« Ich war erleichtert, daß sie doch nicht so schlecht von Didi dachte. »Eine zweite Frau erhöht deine Chancen, Nachkommen zu haben. Die Männer in unserem Dorf haben Zweitfrauen meist dann, wenn sie genug Geld und Land besitzen, um sie zu unterhalten. Du baust einfach zwei getrennte Küchen für sie. Das kannst du dir doch sicher leisten.« Ich hatte schon genug Entscheidungen zu treffen - zwischen potentiellen Partnerinnen, unterschiedlichen Lebensstilen, im beruflichen Bereich. Ich wußte nicht einmal, in welchem Land ich leben wollte. Kein Wunder, daß ich verwirrt war. Ich dachte an alte Freundinnen und an relativ neue, von denen ich im stillen hoffte, daß sie noch auf mich warteten. Warum auch nicht, schließlich war ich ja nur eine Weile in Asien gewesen. Ich könnte sie nach unserer Reise anrufen, wenigstens um Hallo zu sagen. Als Aama damals in Oregon das erste Mal auf das Thema Zweitfrau zu sprechen kam, hatte ich es für einen Witz gehalten. Jetzt schien es mir, wenn ich von den gesetzlichen Hindernissen in Amerika absah, eigentlich eine vernünftige Idee zu sein. Aama schaute mir ins Gesicht. »Sage aber Didi nichts davon, daß ich das vorgeschlagen habe.«
Didi kam aus dem Bad zurück und kroch im Morgenmantel unter die Decke. Sie lag auf dem Rücken, schaute an die Decke und sprach mit ungewohnter Deutlichkeit.
»Ich habe schon mitbekommen, daß Aama etwas von Heiraten gesagt hat. Es ist ihr peinlich, verstehst du, daß wir nicht verheiratet sind. Sie versucht es sogar, vor anderen zu vertuschen. Hast du nicht gehört, daß sie den Verwandten im Dorf und Fred und dem Gurung-Jungen gesagt hat, wir seien verheiratet?« Sie sah mich ernst an. »Gestern abend, nachdem du Aama zu Bett gebracht hast und betrunken weggeknackt bist, habe ich noch mit Efale gesprochen. Weißt du, was sie mir geraten hat?« Sie wartete darauf, daß ich ihr den Einsatz gab.
Aama füllte die Pause: »Ihr beide schlaft miteinander, obwohl ihr nicht verheiratet seid. Bei uns Gurungtun das ein Junge und ein Mädchen nur, wenn ihre Eltern zugestimmt haben, daß sie heiraten. Heutzutage gehen die Teenager in die Schule und tun, was sie wollen, ohne Erlaubnis der Eltern - so wie ihr. Aber ihr solltet vorsichtig sein, sowohl euren Eltern als auch euch zuliebe.«
»Ich muß jetzt aufstehen und mich bewegen«, erklärte ich Didi und Aama und stieg aus dem Bett. Ich zog mir eine Trainingshose und ein Sweatshirt über, um joggen zu gehen. So konnte ich der unerfreulichen Diskussion entfliehen, die ich kommen fühlte, und meinen Kater loswerden. Ich spürte Aamas Gereiztheit und Didis Enttäuschung, als ich das Zimmer verließ.