Kapitel 12
Der Wagen schluckte Benzin wie ein Düsenflugzeug, als wir das Becken von Los Angeles hinter uns gelassen hatten und die San-Gabriel-Berge hinaufkletterten. Der Verkehr wurde dünn, die kahlen Berghänge öffneten sich zur Mojavewüste, und ein Gefühl von Weite und Freiheit wurde in uns wach.
»Spielen ist wie eine Droge«, sagte Aama warnend, als sie sich daran erinnerte, was ich ihr am Abend vorher über Las Vegas erzählt hatte. »Es hat viele meiner Verwandten ruiniert. Frauen spielen sowieso nicht. Nani, du kannst ja gehen und wetten, während Didi und ich im Auto bleiben. Stell dir vor, es sähe mich jemand. Bestimmt würde es das Dorf erfahren, und alle würden auf mich deuten und mich auslachen: >Schaut nur, eine alte Spielerin ist sie geworden und hat das bißchen Vermögen weggeworfen, das sie fürs Alter gespart hatte.«
Besonders spaßig würde es für niemanden sein, herumzuhängen und ein paar Männern, die auf Strohmatten saßen, beim Kartenspielen zuzuschauen. Aber es war unwahrscheinlich, daß sie die zwei kostenlosen Nächte im Las Vegas Hilton ausschlagen würde, die meine Tante und mein Onkel bei einer Tombola gewonnen und an uns weitergeschenkt hatten. Das Essen in den Kasinos war billig. Wenn wir uns nicht zum Spielen verführen lassen würden, sagte ich zu Didi, dann könnte diese Spielhölle billiger sein als ein Campingplatz. Ich nahm die Ausfahrt nach Las Vegas, und als wir in der Lobby des Hilton-Hotels standen, genoß ich es ein paar Augenblicke, mich wichtiger zu fühlen, als ich wirklich war.
Wir aßen am Büffet im Tropicana. Danach schlenderten wir den Bürgersteig entlang und blieben an der Ecke von The Dunes und Caesar's Palace stehen. Aama betrachtete staunend das wogende, bunte Lichtermeer. Für sie war es eine Opfergabe mythischen Ausmaßes.
Sie hob die aneinandergelegten Handflächen dreimal zur Stirn und murmelte dabei vor der 25 Meter hohen Lichtorgel von The Dunes ehrerbietige Grußformeln. Sie hatte die Form eines Minaretts und war mit Hunderten kleiner Glühbirnen bespickt. Die Lichter gingen nacheinander an und aus, so daß in weniger als einer Sekunde eine Lichtwelle vom Boden bis zur Spitze lief.
»Diese Lichter steigen und fallen ohne Pause, als würden sie >Namaste< sagen. Und diese Farben - was für ein wunderbares Geschenk an die Götter! Ob die Leute, die sie bedienen, auch nicht vergessen, die Götter anzurufen, wenn sie die Lichter ein-und ausschalten?« Sie sprach in Richtung einer Limousine, die an einer Ampel hielt. »Wenn hier nicht schon Gottheiten sind, dann kommen sie bestimmt gerne her.« Aama hatte oft gesagt, man solle so viel Licht anzünden, wie man sich leisten könne, egal ob Neon oder sonst etwas. Die Götter, insbesondere Lakshmi, die Göttin des Wohlstands, kommen nicht gerne zu dunklen Plätzen. Der lange Weg durch die Wüste erschien mir als eine passende Vorbereitung auf die Lichterflut und das Dolcefarniente. Läge Vegas näher an einer großen Stadt, dann wäre es nur ein weiterer Vergnügungspark und eher ein Dorn im Fleisch einer Stadt als eine funkelnde Oase der Phantasie und Hoffnung.
»He, warte einen Moment...« Eine halbbetrunkene, halbkultivierte Stimme ertönte von hinten auf dem Bürgersteig. Ich drehte mich um und sah einen Mann, der uns zuwinkte. »Ich weiß, wer diese Frau ist!«
Ich hatte ein illustriertes Buch über Aama und ihr Leben im Dorf geschrieben, das seit ein paar Jahren vergriffen war. Sollte hier in Vegas etwa jemand sein, der es gelesen hatte? »He, Joe.« Er drehte sich nach seinem Freund um, während seine Arme weiter ausgestreckt blieben. »Guck dir diese Frau an, Joe. Es ist Mutter Teresa.«
Er schaute in meine Richtung und kniff die Augen zusammen. »Sind Sie mit ihr unterwegs?« fragte er mißtrauisch. Offensichtlich hatte er erwartet, daß ein Begleiter von Mutter Teresa einen heiligeren Eindruck machen würde als ich.
»Ja, aber...« »Ist gut. Nicht zu glauben. Was für ein Zufall! Hat sie Lust zu spielen?«
Zögernd sagte ich ja und fragte ihn um Rat. Er schien sich hier gut auszukennen. Kurz zuvor hatte Didi gemeint, sie würde doch ganz gerne in ein Kasino hineinschauen - einfach nur so. Jetzt stand sie hinter dem Mann und signalisierte mir, daß etwas nicht in Ordnung sei. Ich zuckte mit den Schultern.
»Caesar's Palace«, verkündete der Mann und leckte sich einen Tropfen Spucke von der Unterlippe. »Ich geh' mit euch rein -Junge, sie wird begeistert sein!« Aama fragte: »Ist das wieder ein Freund von dir, der plötzlich aus dem Nichts auftaucht, nachdem du dich am Telefon mit ihm verabredet hast? Manchmal habe ich das Gefühl, daß auch ein entfernter Verwandter von mir zu Besuch kommen wird, und meistens kommen sie dann tatsächlich daher.« »Nein, der hier nicht«, sagte Didi. »Aber ich werde spielen, wenn du willst, Aama. Sollen wir einen Versuch wagen?«
»Um Glück im Spiel zu haben, solltest du ein Amulett tragen, das ein Stück von deiner Nabelschnur enthält - das Stückchen, das noch hängenbleibt nach der Geburt und abfällt, wenn es trocken ist - und die Plazenta von der Geburt einer schwarzen Katze. Ich weiß nicht, wo meins ist, aber meine Tochter hat ihr Amulett immer noch.« Das sollte wohl »ja« heißen. Sie sprach wie eine Anstandsdame, die sich genötigt sah, darauf aufzupassen, daß Didi und ich nicht den Kopf verloren.
Wir betraten einen erhöhten Gehweg, der uns an weiteren Lichtorgeln, Springbrunnen und Statuen römischer Götter und Göttinnen vorbeiführte - Glücksgottheiten, wie ich hoffte. Las Vegas muß wohl aufgrund der zufälligen Entdeckung geschaffen worden sein, daß der menschliche Körper Photonen, Alkohol und Hamburger in einen unwiderstehlichen Spieldrang verwandeln kann.
»Also vergeßt nicht«, gab Aama zu bedenken, »wenn ich hier irgend etwas Schlechtes tue, dann fällt das auf meine Familie und meinen Stamm zurück. >Aama ist an so einen Ort gegangen, und das und das hat sie getan.. .< Das werden meine Verwandten sagen.« Sie verlangte nicht von uns, die Sache zu verheimlichen, wollte uns aber doch wissen lassen, daß wir einfach vergessen sollten, was hier auf uns zukam. »Wir haben Glück, daß wir an einem Festtag hier sind«, meinte sie aufgeregt.
Die Halle mit den Spielautomaten hatte den Charme einer Schließfachabteilung im Bahnhof. Unser Begleiter war plötzlich verschwunden; wahrscheinlich arbeitete er als Abschlepper des Kasinos. Ich wechselte einen Zehndollarschein in eine Rolle Münzen, die ich aufbrach und in meine Jackentasche Hießen ließ. Wir setzten uns auf drei leere Hocker vor eine Reihe einarmiger Banditen.
Aama schaute zu, wie ich ein 25-Cent-Stück in den Schlitz warf und den Hebel herunterzog. Kein Gewinn. »Es müssen zwei oder drei gleiche Früchte in einer Reihe stehen, damit man gewinnt«, erklärte ich ihr und deutete auf die Fenster. Ich warf eine Münze in ihren Automaten und zeigte ihr, wie man den Hebel bedient. Sie packte ihn mit beiden Händen und zog und rüttelte mit aller Kraft daran herum, bis der ganze Automat wackelte. Dabei ließ sie die kreisenden Zitronen, Orangen, Pflaumen und Kirschen keinen Augenblick aus den Augen. Eine Frucht nach der anderen blieb stehen. Kein Gewinn. Sie hing immer noch an dem Hebel und riß daran, aber es rührte sich nichts.
»Du mußt wieder Geld einwerfen, sonst tut sich nichts«, erklärte ihr Didi, die an ihrem Automaten eine Pause einlegte. »Und wo sind die Münzen?« Ich gab ihr eine Handvoll. Sie schaute durch die mit Früchten beladenen Fenster hindurch und konzentrierte sich auf irgendeinen Punkt im Inneren des Apparats. Nach acht Versuchen klackerte ein kleiner Gewinn in die Schale. Es sei ja wohl an der Zeit, daß sie etwas gewinne, meinte sie trocken. Die fünfzehn Münzen in ihrer Hand waren bald weg. »Nimm die Münzen aus der Schale, mit denen kannst du weiterspielen«, riet ihr Didi. »Darf man sie wieder einwerfen?« Sie zögerte; dasselbe Geld wieder in dem Apparat zu versenken, erschien ihr wie eine Art monetärer Inzest oder Autokannibalismus. Aber es funktionierte: Zehn Münzen klackerten heraus, und dann sogar zwanzig. Das hielt sie bei Laune, aber es dauerte nicht lange, bis fast nichts mehr übrig war. Den Blick auf die Fenster fixiert, wischte sie mit den Fingern sorgfältig die Rundung der Geldauffangschale aus wie eine Blinde, welche die letzten Körner aus einer Reisschale streicht. Nichts. Sie suchte an beiden Seiten des Automaten, dann auf dem Boden und unter ihrem Hocker. Voller Optimismus zog sie noch einmal am Hebel. Keine Reaktion.
»Diese Maschine braucht mehr Geld, um weiterzuarbeiten.«
»Braucht die Maschine mehr Geld, oder brauchst du mehr Geld?« fragte ich sie. »Die Maschine braucht mehr.«
Ich griff in die Tasche, holte eine weitere Handvoll Münzen heraus und ließ sie in ihre Geldschale klimpern. Ihr Gesicht erhellte sich.
»Ach da sind sie. Du hast sie versteckt!« »Versteckt? Natürlich habe ich sie versteckt, damit du sie nicht alle verspielst. Diese Maschinen essen Geld und geben dir gerade so viel zurück, daß du glaubst, du würdest gewinnen.« »Aber ist das nicht Preisgeld, das dir die Maschine gibt?«
»Geld ist Geld - es ist genau das gleiche Zeug, mit dem wir auf dem Basar Lebensmittel kaufen. Aama, wir sind erst seit kurzem hier, und weißt du, wieviel wir schon verloren haben? Ungefähr achthundert Rupien. Stell dir mal vor, was du damit im Dorf kaufen könntest.«
Sie richtete sich kerzengerade auf und rührte sich nicht. Ihr Blick durchdrang die Fenster und die Rückwand des Automaten, während sie ihre Erfahrung der letzten paar Minuten bedachte. Der Bann wurde durch ein tiefes, glucksendes Gekicher gebrochen, und sie verfiel in ein stilles Selbstgespräch. »Wo bin ich nur hingekommen? Diese alte Frau aus den Bergen nimmt das ganze Geld und steckt es in diese Maschine. Ist mein Büffel im Stall, und hat er genug Futter? Ist in mein Haus eingebrochen worden? Meine Verwandten möchten sicher, daß ich Spaß habe, und so schlimm kann es nicht sein, weil esja hier auch Frauen tun - ich habe welche gesehen. Jedenfalls würde ich im Dorf nie spielen wollen, und ich benutzte ja nicht mein eigenes Geld - also spiele eigentlich nicht ich. Aber wie toll wäre es, einen großen Gewinn zu machen! Fünfhundert Rupien sind viel.«
Aama schaute mich wie ein ertapptes Kind an, das hofft, mit seiner Ausrede durchzukommen. Sie nahm die eine Münze, die ich noch in ihre Schale geworfen hatte, zwischen die Finger. Bedächtig, als sei es ein Ritualgegenstand, berührte sie damit die Stirn, murmelte ein kurzes Glücksmantra und küßte sie. Sie warf die Münze ein und zog sofort am Hebel. Zehn Geldstücke rasselten heraus. Eine Minute später schaffte sie fünfzig Münzen und beobachtete befriedigt, wie sie in die Geldschale klackerten. Sie war so auf das Gerät fixiert, daß sie die übergewichtige Dame, die an uns vorüberging- sonst ein beliebtes Objekt ihrer Kulturbetrachtungen -, gar nicht bemerkte.
»Aama, wir müssen gehen«, sagte Didi. Wir waren müde, und es war am besten, jetzt, im Aufschwung, abzubrechen.
»Mein Geldbeutel ist richtig schwer. Wieviel haben wir gewonnen?« Sie hatte diskret gewartet, bis wir draußen waren, bevor sie sich danach erkundigte; denn - wer weiß - vielleicht hatte jemand im Kasino ihren schamlosen Profit beobachtet oder uns in Nepali darüber sprechen hören. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und den Geldbeutel unter der Bluse versteckt.
»Nicht allzuviel«, sagte ich und versuchte die enttäuschende Antwort zu vermeiden, daß ihr praller Geldbeutel nur einen Bruchteil jener dreißig Dollar enthielt, die Didi und ich gewechselt hatten.
»Was hältst du davon?« schlug ich ihr vor, »wir lassen dich hier, du benutzt dein Mantra, um mit diesem Automaten klarzukommen, und Didi und ich bringen dir jeden Tag das Essen und sammeln deine Gewinne ein. Auf diese Weise finanzieren wir unsere Reise.«
»Ja, vielleicht«, meinte sie aufrichtig. »Ich habe bisher in meinem Leben Glück gehabt. Ich habe nie größere Schulden gehabt oder sonstige Geldprobleme. Das Mantra vermag schon zu helfen, aber es läßt sich nichts erzwingen. Spieler sind nervös. Sie sagen sich: >Komm, Geld; komm, Geld.< Doch wie kann jeder gleichzeitig gewinnen? Für die meisten Menschen ist Reichtum wie das Wetter. Aber ich habe gewonnen, weil Bhagwan sich einer alten Frau erbarmt hat. Wie könnte ich hierbleiben und Bhagwans Erbarmen ausnutzen?«
Wir stiegen in den Lift des Parkhauses und fuhren zum dritten Stock hinauf, wo unser Wagen stand.
»Uch, sie wiegen uns schon wieder«, bemerkte sie. »Nach dem großen Essen und mit all den Münzen sind wir jetzt bestimmt schwerer.«
Als wir am nächsten Morgen aus der Stadt hinausfuhren, grollte Aama immer noch darüber, daß Didi die Münzen eingesammelt hatte, die nun in kleinen Fünferhaufen auf dem Boden des Hotelzimmers gestapelt worden waren. Aama hatte sich im Unterrock und Tom-und-Jerry-T-Shirt zum Zählen hingesetzt, als Didi sie anziehen wollte.
Didi schaute aus dem Fenster und meinte, wenn wir wollten, könnten wir noch einen Tag bleiben und uns von einem Priester im weißen Anzug mit Cowboystiefeln trauen lassen in einer dieser winzigen Kapellen mit der falschen Fassade. Aama könnte als Trauzeugin fungieren.
Machte sie Witze, oder war das ein Teil ihrer schwelenden Rebellion gegen den Konvent. Ich verzichtete auf eine Antwort. Im Augenblick war mir das Auto wichtiger. Das Radio meldete, die Temperatur sei auf 35 Grad gestiegen.
Auf einem verwaisten Abschnitt der Route 66 brausten wir über die flimmernde Hochfläche von Arizona. Wir ließen Kingman und Peach Springs hinter uns und gelangten an den Grand Canyon.
Wenn man den Himalaja gesehen hat, fühlt es sich merkwürdig an, nach unten anstatt nach oben auf ein kolossales Naturphänomen zu schauen, das mehr von der Abwesenheit als vom Vorhandensein von Materie geprägt ist. Aama hielt sich am Geländer des Gehwegs fest und näherte sich vorsichtig dem Abgrund.
»Wohin bin ich gekommen? Eine alte Frau, die seit Monaten nicht nach unten zur Quelle am Fuß des Dorfes gegangen ist, sieht jetzt das. Warum hast du mir vorher nichts von diesem Platz erzählt?« fragte sie wie so oft. »Nicht im Traum hätte ich mir vorstellen können, daß es so etwas gibt.«
Didi und ich hatten aufgegeben, ihr im vorhinein viel zu erklären. Aamas Vorrat an Welterfahrung enthielt nicht genug Einzelteile, um sie zu neuen Bildern zusammenzufügen. Wenn wir es dennoch versuchten, so pflegten wir häufig zur Antwort zu bekommen: »Warum sollte eine alte Frau, die bald sterben wird, noch zu solchen Orten reisen wollen - ich habe schon alles gesehen, was es zu sehen gibt.«
Sie starrte auf den Fluß, der sich wie ein Band auf dem Boden des Canyons schlängelte, und wandte sich dann ab, als sei so viel Großartigkeit nicht auf einmal zu fassen. Dieses darshan von Bhagwan, der das machtvolle Zeugnis der Natur und der Göttlichkeit geschaffen hatte, war aus der Nähe kaum zu ertragen.
Eine weißhaarige Dame mit einem freundlichen, neugierigen Gesichtsausdruck kam auf uns zu.
»Entschuldigen Sie, aber darf ich diese Frau umarmen?«
»Ich werde sie fragen«, antwortete Didi.
Die beiden fielen sich in die Arme. Es schien das Natürlichste von der Welt. Die Frau war voller Energie. Ihr Mund bewegte sich, als sei sie uns eine Erklärung schuldig, könne aber nicht die richtigen Worte finden. Didi sagte etwas von der Begeisterung, die in uns allen steckt und gärt und die an solch überwältigenden Plätzen spontan freigesetzt wird und ansteckend ist. Wenn du deinen Geliebten nicht bei dir hast, dann mußt du den Nächstbesten umarmen. Didi und ich hielten uns eine Weile fest in den Armen. Ich spürte, daß ich gerne einmal hierher zurückkommen würde, um zu klettern und die Gegend zu erforschen oder mich auf dem Fluß treiben zu lassen und zu träumen.
Wir fuhren durch Arizona weiter gen Osten. An einer Tankstelle in Tuba City erblickte Aama jemanden, der wie ein Asiate aussah - ein Tibeter oder vielleicht sogar ein Gurung, meinte sie.
»Diese dunkelhäutigen Leute sind die Nachkommen der Ureinwohner von Amerika, die sich lange, lange vor den Weißen hier niedergelassen haben«, sagte ich ihr. »Vor vielen Jahren wanderten einige deiner weit entfernten Vorfahren vom Himalaja am Nordrand des großen Gangesozeans nach Amerika. Ein Teil siedelte sich auf den trockenen Ebenen an wie diesem Grasland, das du hier siehst, und mit Pfeil und Bogen jagten sie eine Art wilden Ochsen, der wie ein Wasserbüffel mit langem Fell aussieht. Noch vor weniger als zweihundert Jahren war die ganze Gegend, durch die wir gefahren sind, seit wir Ann Toris Haus verlassen haben, Wildnis, außer den kleinen Siedlungen deines Volksstamms. Sie hatten ihre eigenen Bräuche, Zeremonien, Feste und ihre eigene Religion, die in vieler Hinsicht deiner ähnlich war.«
An der Grenze des Navajo-Indianerreservats fuhren wir an einem indianischen Andenkenstand vorbei, zu dessen Besuch uns Schilder aufforderten, auf denen stand: Umdrehen - zurückfahren. Sie sind gerade an guten Indianern vorbeigefahren. Den nächsten Stand zierte ein nicht ganz authentisches Tipi. Wir hielten davor an, und ich erklärte Aama, daß dies die Art von Zelt sei, in dem der amerikanische Zweig ihres Volksstammes gelebt habe. Es war leicht auf- und abzubauen und konnte - auf der Suche nach guten Jagdgründen - von Pferden transportiert werden. Didi stieg aus und sah die Decken durch, die zum Verkauf angeboten waren, während Aama schnurstracks auf das Tipi zuging, die Türklappe zur Seite schlug und laut zu sprechen begann.
»Kennst du meine Verwandten?« erkundigte sie sich auf Nepali. »Wer bist du?« probierte sie es auf Gurung. Aus der Neigung ihres Kopfes war zu schließen, daß sie mit jemandem redete, der auf dem Boden saß. Ein Navajo-Teenager, der anscheinend gerade aufgewacht war, trat aus dem Tipi heraus. Aama schaute zu mir.
»Sie haben vergessen, wie man unsere Sprache spricht. Nani, frag den Jungen in deiner Sprache, ob sie irgendwelche meiner Vorfahren kennen.« Ich sagte zu ihm, daß Aama neugierig sei, was offensichtlich war. Er lächelte. »Sie müssen schon sehr lange von uns getrennt sein«, fuhr Aama fort, »deswegen kennen sie wahrscheinlich auch nicht unsere Ehegebräuche, und das heißt, daß sie nicht wissen, wen sie heiraten sollen. Auf diese Weise verlieren sie ihre Kultur. Wahrscheinlich vermischen sie sich auch noch mit euch Weißen.«
Wir gingen zurück zum Auto. »Auch wenn wir vielleicht Zweige aus demselben Baum sind, so haben sie getan, was sie tun mußten, um zu überleben, und so sind sie zu einem anderen Volk geworden.«
»Das ist nicht alles, Aama«, sagte ich in dem Bemühen, ihr unsere Geschichte nahezubringen. »Die ersten Weißen, die in Amerika angekommen sind, waren der Meinung, sie hätten Indien erreicht; sie trieben Tauschhandel mit dem amerikanischen Zweig deiner Rasse, den sie Indianer nannten. Aber sie merkten bald, daß es nicht Indien war: Es war Amrita, der Nektar der Unsterblichkeit, wie du es nennst. Und so muß ihnen das wilde, saubere, fruchtbare Land wohl erschienen sein.«
In jeder Pause meiner Erzählung steuerte Aama ein »unnh« bei, aber nach und nach zog sich der Laut in die Breite - ein Signal, daß sie abschweifte. Uuuhnh... Ihrem eigenen Bewußtseinsstrom mit all seinen Zuläufen vermochte sie eine ganze Tankfüllung lang zu folgen, aber wenn andere sprachen, döste sie ein, sofern sie nicht in das Gespräch verwickelt wurde.
»Meine Gurung-Vorfahren konnten nicht lesen und nicht schreiben, sonst hätten sie vielleicht aufgeschrieben, wann diese Leute aufgebrochen sind. Gibt es hier jemanden, der mehr darüber weiß?«
Das könnte sein. Die Parallelen zwischen der tibetischen und der indianischen Kosmologie, insbesondere des Zuni-Stam-mes, hatten mich schon lange interessiert. Freunde im Südwesten drängten uns, mit Aama zu Großmutter Carolyn Tawan-gyma zu fahren, einer Hopi-Ältesten.
Die rötliche Lateriterde des Hochlands, auf dem das Hopi-Reservat lag, war mit Felsbrocken übersät. Aama deutete auf den Horizont. »Kommen wir da drüben zu den Wolken?«
»Vielleicht.« Über dem Gipfel des dritten Tafelberges, des Third Mesa, türmten sich Gewitterwolken in blaugrauen Spiralen auf. Aama verfolgte den Regenbogen, der neben dem Auto mitzureisen schien.
»Wir sagen, wenn du zum Ende des Regenbogens kommst, dann findest du einen Geist, der eine Wasserpfeife raucht.« Wir bogen in einen Feldweg ein, und das Auto rumpelte durch Schlaglöcher und über Schotter. Inmitten der ersten Welt hatten wir eine dritte Welt betreten.
»Hoonna, hoonna, hoonna - >nein, nein, nein<, sagt uns das Auto. »Ich fühle mich nicht gut, ich fühle mich nicht gut.< Kannst du es nicht hören?« Ich konnte durchaus und ging mit dem Steuerrad und Gaspedal so sanft um, als würde ich ein altes Pferd reiten.
Großmutter Carolyn, ihre Tochter und ihr Schwiegersohn waren gerade nach Hause gekommen. Ihr Haus hatte den Charme der Siedlungen amerikanischer Ureinwohner, wie man sie auf Fotografien um die Jahrhundertwende sieht - als sei es um die Leute herumgewachsen, die darin wohnen. Wir wurden hineingebeten, und Carolyn schob ein Blech mit Plätzchen in den Ofen. Sie trug eine mit Rüschen verzierte Schürze.
»Ihr habt Glück, daß ihr mich erwischt habt«, sagte sie mit einer klaren und gleichmäßigen Stimme. »Ich war den ganzen Tag draußen, um Goldastern zu sammeln und im Garten zu arbeiten. Erst vor zwei Tagen bin ich aus Genf zurückgekommen.«
»Genf in der Schweiz?« Ich klang wie ein ignoranter US-Weißer. »Ja, ich war dort, um auf einer Friedenskonferenz zu sprechen. Aber immer wenn ich weg bin, muß ich an mein Maisfeld denken und an meinen Garten.« Es hörte sich so an, als läge Genf ganz in der Nähe, so wie sich Aama Nepal vorstellte. Von zu Hause fort zu sein, änderte bei beiden nichts daran, daß Feld und Garten ihre Aufmerksamkeit brauchten.
Ich erzählte Carolyn, daß Aama eine amerikanische Urein-wohnerin habe treffen wollen, um mehr über die gemeinsame Abstammung zu erfahren.
»Ja«, begann Carolyn, »unsere Prophezeiungen sagen voraus, daß ein Volk aus dem Osten kommen wird, um dem Westen Erwachen zu bringen. Und wenn der Westen die Lektion versteht und annimmt, dann wird sich die ganze Menschheitsfamilie auf dem gemeinsamen Weg an den Händen fassen. Aber wenn wir versagen, dann wird ein anderes Volk von dort kommen, wo die Sonne aufgeht, und sie werden in Massen vom Himmel fallen wie Regen. Sie werden kein Mitleid haben und dieses Land in einem Tag besiegen. Alle, die sich dem Großen Geist nicht anvertraut haben, werden vernichtet werden: Der >Kürbis der Asche<, die Atombombe, wird fallen.«
Die Hindus und Buddhisten kennen eine unheimlich ähnliche Prophezeiung: den völligen Umsturz am Ende des Kali Yuga, des schwarzen Zeitalters, der Ära der Zerstörung. Das Kali Yuga hat bereits begonnen.
Carolyn und andere Führer der amerikanischen Ureinwohner hatten ihre Friedensbotschaft auch den Vereinten Nationen überbracht. Während sie ihre dortigen Bemühungen beschrieb, zeigte sie uns die geflochtenen Kornschwingen und Zeremonienkörbe, die sie aus Goldastern geflochten hatte. »Von unseren Vorfahren haben wir gelernt, daß die Gebete der Menschen stark genug sind, um die Zukunft des Lebens auf der Erde zu beeinflussen.« Carolyn und Aama hielten die Körbe, als seien sie die physische Verkörperung dieses Gebets, durchtränkt mit Beharrlichkeit, und haltbarer als die vergänglichen, weltlichen Begriffe. »Der Schöpfer lehrt uns Mitgefühl für alles Leben und Liebe zu all seinen Geschöpfen. Und das Gesetz des Schöpfers kann nicht verändert werden, so wie die Gesetze des weißen Mannes in den sogenannten Demokratien.«
Ich übersetzte Carolyns Worte für Aama.
»Ihre Religion, ihr Dharma, ist ähnlich wie unsere«, sagte Aama. »Diese Frau ist nicht aus unserem Land, und doch kann sie die verschiedenen Formen Gottes sehen.« Sie schaute Carolyn an und dann deren Tochter. »So wie unsere Bergmenschen die Menschen aus den Ebenen nicht verstehen, so spricht deine Rasse eine andere Sprache als die Weißen. Wenn die Menschen sich nicht verstehen, dann hören sie einander nicht zu und haben manchmal Angst voreinander. Aber ob wir nun gemeinsame Vorfahren haben oder nicht - nichtsdestotrotz sind wir in Wirklichkeit alle ein Volk.«
»Ja, Aama, wir sind alle in der Schöpfung vereint«, sagte Carolyn. »Und jetzt, wo die tibetischen Buddhisten in dieses Land gekommen sind, hat sich ein spiritueller Kreis geschlossen. So wie das Bewußtsein für die Problematik Tibets wächst, so geschieht es auch mit der Anerkennung der Hopi.«
Ich empfand es als ironisch und traurig, daß die Hopi der Empörung der Amerikaner über die chinesische Besetzung Tibets bedurften, um Hilfe für ihre - oder besser: unsere -Lage hier zu bekommen.
Die kaukasischen und mongolischen Rassen kollidierten nicht nur in Nordamerika, sondern auch im Himalaja. Jahrhundertelang haben die Brahmanen und andere Indogermanen den buddhistischen und schamanischen Bergstämmen, wie die Gu-rung einer sind, die hinduistische Kultur aufgezwungen. Die Indogermanen sind Kaukasier, die Gurung Mongolen.
Aama wurde merkwürdig still, als sei Carolyn die Erscheinung einer verstorbenen Schwester. Sie schienen nicht so sehr verschiedenen Kulturen anzugehören als vielmehr komplementären Epochen - Aama der Vergangenheit und Gegenwart, während Carolyn die Vergangenheit und Zukunft überbrückte. Aama teilte Carolyns Sorge, daß »unsere Kinder sich auf alle Produkte stürzen, die diese zum Untergang verurteilte Kultur anbietet«. Die beiden schienen wie die Großmütter einer Welt von Jugendlichen, erhöht aufgrund ihrer Weisheit, aber ausgeschlossen durch ihr Alter.
Carolyn schenkte Aama eine Kachinapuppe, die ihr Schutz und Glück bringen sollte. Als wir uns verabschiedeten, sagte sie: »Wenn ihr durch Montana fahrt, dann müßt ihr den Häuptling Austin Two Moons besuchen, einen Bruder im Geiste.«
Wir stiegen ins Auto. »Wenn ich dich und Didi neben dem abgespaltenen Zweig meines Volkes betrachte«, sagte Aama, »dann seht ihr anders aus. Ihr seid so weiß.«
Didi fuhr, und als wir ein paar Minuten später am Rand des Hochplateaus auf glatten Asphalt kamen, beschleunigte sie unser Auto auf 120 Stundenkilometer. Wir arbeiteten uns jetzt nach Norden vor, in Richtung Wyoming.
Kapitel 13
Lange nach Einbruch der Dunkelheit rollte unser Country Squire auf den Parkplatz eines Betonmotels in Rawlins, Wyoming. Eine Weile überließen wir uns in einem Meer von weichen Bettdecken noch der Fernsehtrance, dann fielen wir in den Schlaf.
Tags darauf wechselten Didi und ich uns auf der Fahrt nach Dubois am Steuer ab. Das gleichmäßige Geräusch des Windes und des Motors verstärkte die Empfindung, nichts als kleine unbewegliche Figuren auf einer riesigen Bühne aus Himmel und Salbeibüschen zu sein. Didi ließ den Kopf in ein Kissen sinken und döste ein. Aama legte ihren Kopf nach hinten auf die Lehne und begann mit halboffenen Augen leise vor sich hinzusprechen.
»Wenn die Straße so gerade ist wie diese, dann sieht es aus, als würde das Auto sie in zwei teilen, die Welt in zwei teilen, und die zwei Hälften ziehen an der Seite an uns vorbei. Wir bewegen uns nicht, aber das Land an den Seiten... immer weiter und weiter...« Auch Aama nickte ein. Der Schlaf kam nur, wenn ihre Müdigkeit größer war als ihre Neugierde aufs Leben. Ich war allein mit der Straße.
Gleichmäßig verteilte Kumuluswolken türmten sich am Horizont wie die flockigen Verzierungen am Rand tibetischer Tangka-Rollbilder. Wir betrachteten Amerika in all seiner verwirrenden Großartigkeit mit den Augen eines Einwanderers. Wir waren Nomaden, asiatisch-amerikanische Pilger, welche die trockene Steppe des Hochlands überquerten. Ich stellte mir die Kamele vor, die von der US-Kavallerie im Westen Amerikas kurzzeitig zum Transport benutzt worden waren - ein wogender Zug aneinandergebundener, widerspenstiger Tiere, der diese alte Landschaft von links nach rechts durchquerte zu einem Ziel, das im Moment von der Sonnenblende an der Windschutzscheibe verdeckt war.
Die Blende diente als Stauraum für Äste, Blätter, Blumen und Ableger, die dahinter hervorquollen und vor der Windschutzscheibe herumbaumelten. Samenstände, die lose am Stamm hingen, waren trocken geworden, in der Wärme des Autos aufgesprungen und hatten ihren Inhalt über Kleider und die Sitzpolster verstreut. Aama hatte die botanische Sammlung mit Hilfe von Streichholzschachteln, Kaugummistanniol und Papierstreifen ein wenig zu ordnen versucht, so wie sie bei sich medizinische Kräuter in Papier einwickelte und sie zwischen die Bambuslatten und das Strohdach steckte, falls sie sie eines Tages brauchen würde. Steine und zerbrochene Muscheln, die noch nicht in ihrer Reisetasche gelandet waren, lagen über den Heizungsschlitzen auf dem Armaturenbrett.
Ich überlegte, ob ich vielleicht, während sie schlief, anhalten sollte, um einen Großteil davon hinauszuschmeißen. Aber nein, warte. Das war etwas anderes. Die Dinge waren mit Bedacht hingelegt worden, wie auf einen Altar.
Das Armaturenbrett und die Sonnenblende waren ein Schrein für die Windschutzscheibe geworden - für die Erzeugerin unserer Visionen und die Quelle unseres Staunens, das Medium, durch das sich das Drama der Landschaft und ihrer Gottheiten entfaltete - für etwas, das es durchaus wert war, günstig gestimmt zu werden. Ich schaute noch einmal hin. Vielleicht genügte es auch, die Opfergaben ein wenig aufzuräumen.
Aama wachte auf, nahm die Banane, die Didi ihr vorher gegeben hatte, und betrachtete die schafsgroßen Büschel Salbei und Steppenhexe. »Diese Gegend hat noch nicht einmal das Wort Regen gehört. Als Bhagwan den Menschen das Leben schenkte, gab er uns auch das Land und die Mittel, um das Leben fortzusetzen: Erde und Wasser. Aber hier gibt es das nicht. Die Menschen haben nicht die richtigen Rituale ausgeführt und die Götter nicht verehrt, so daß ihnen nur diese dürre, regenlose Wüste geblieben ist. Und wo sollen hier Bananen wachsen?« fragte sie und biß ein Stück ab.
»Die Oberfläche des Bodens hier mag verflucht sein«, stimmte ich ihr zu, »aber die Erde darunter ist mit Öl gesegnet - Erdöl, das, was wir ins Auto tun, damit es fährt.«
»Es ist bestimmt viel Geld wert. Und ich habe gehört, daß man gute Medizin daraus machen kann. Du kannst Verstauchungen und Brüche damit einreiben.«
Didi wachte auf und drehte das Autoradio an. Seit Seattle hatten wir nur einmal zufällig Nachrichten von einem Amerika gehört, zu dem wir vielleicht noch nicht wirklich zurückgekehrt waren. Die örtlichen Nachrichten klangen in unseren Ohren so weit entfernt, als würde über irgendeinen Tumult in Afrika berichtet. Es dauerte eine Weile, bis Didi einen klaren Sender fand. Eine magnetische, emotionale Stimme drängte uns, die Gelegenheit zur Erlösung zu ergreifen.
»... Und JETZT, meine Freunde, JETZT und immerdar, könnt ihr ErLÖsung...«
»...und auch dir NamasteU platzte Aama dazwischen. Sie warf die Bananenschale achtlos auf das Armaturenbrett und versuchte herauszufinden, woher die Stimme kam. »Er hat etwas auf Gurung gesagt, und dann >Namaste<. Ich verstehe auch, was er sonst noch sagt.« Wrir hörten zu.
»...immerwährende ErLÖsung, immerwährende FREIheit erlangen, meine Freunde, und dazu braucht ihr nur EINES zu tun, den Herrn Jesus Christus als euren ErLÖser anzunehmen ...«
Aama schaute mich fragend an, als versuche sie sich an meine Übersetzungen der emotional aufgeladenen Worte von TV-Werbespots zu erinnern. »Um, er sagt: >Beeilt euch, damit ihr ans Ziel kommt in eurem Auto, weil euer Essen schon gekocht ist, das Essen ist fertig... gutes Essen... ganz umsonst... es ist alles umsonst! < Das ist es, was er sagt.«
»He, toll! Aber hat er auch gesagt, wo der Platz ist mit dem kostenlosen Essen?« »Nein. Das hat er vergessen.« Wir brachen beide in Lachen aus. Keine schlechte Übersetzung des Monologs des Radiopredigers, meinte Didi. Er hat in der Tat zu verstehen gegeben, die Erlösung liege auf der Straße - und zwar kostenlos - ohne sich über Einzelheiten auszulassen.
»Nein, warte...« Aama fegte mit der Hand durch die Luft, als wolle sie die Reste der Unterhaltung wegwischen, um die Botschaft besser aufnehmen zu können. Aus dem Radio schwallten Informationen über Bücher, Tonbandkassetten und sonstiges Erlösungszubehör.
»Jetzt sagt er, der Platz mit dem Essen sei geradeaus und dann ein bißchen rechts... oder vielleicht links. Jedenfalls sagt er, wir seien fast da, und wir müßten unbedingt anhalten.« Didi und ich waren genauso hungrig wie Aama.
Wir parkten das Auto auf der Hauptstraße von Dubois und stiegen aus. Ein scheußlicher Fallwind und Regen ließen uns frösteln, wir flüchteten uns ins Cowboy Cafe an einen Fensterplatz und bestellten ein Mittagessen aus Fischburgern, Suppe und Pommes. Die Kellnerin in einer adretten Schürze brachte Besteck und Servietten, drei Gläser Eiswasser und einen flachen, gewebten Plastikkorb mit Salzcrackern in Zellophan.
»Sind die alle für uns?« fragte Aama mit Blick auf den Korb.
»So viele, wie wir essen können«, antwortete Didi. Aama sah so aus, als wolle sie fragen, ob sie das, was wir nicht schafften, mitnehmen dürfe, zögerte aber aus Angst, Didi könnte nein sagen. Sie versuchte erfolglos, ein Päckchen zu öffnen, legte es zurück und probierte es mit einem anderen. Didi half ihr. Aama nahm zwei Crackers in ihre rechte Hand. Sie stützte sie mit den Fingern der Linken und benutzte ihren linken Daumen wie einen Stößel, um im Mörser der rechten Hand die Cracker zu zermahlen, so wie ein Cowboy Schnupftabak herrichtet. Im großen Bogen warf sie sich den Krümelhaufen in den Mund, wobei es fraglich war, ob mehr im Mund oder auf Kleidern und Boden landete. Sie grinste uns an und kaute daran, als sei es ein zähes, über einem Lagerfeuer gegartes Stück Fleisch.
Das Essen kam. Aama zählte ihre Pommes frites und teilte sie in zwei Haufen. Einen legte sie auf Didis Teller, den anderen auf meinen - zu viele Crackers. Wenn wir einmal angefangen hatten zu essen, durfte nichts mehr vom Teller eines anderen genommen werden. Das schrieben die Hinduregeln zur Vermeidung von Ansteckung vor. Ich war froh, daß sie mittlerweile darüber hinwegsah, wenn Didi und ich diese Vorschriften verletzten und vom Teller des anderen kosteten.
Die Serviette, die Didi Aama in die Bluse gesteckt hatte, wölbte sich wie eine gestärkte Hemdbrust nach vorne. Aamas Tischmanieren wurden um so schlechter, je größer ihr Hunger war. Mit dem Essen zu spielen, schien dessen Geschmack zu verbessern, als sei es ein besonderes Gewürz. Auch Kinder finden viel Gefallen daran. Die Tischdecke und Aamas Kleider waren bald mit Krümeln übersät, die sich an manchen Stellen mit der Fischsoße mischten und in ihren Mundwinkeln eine kleine Kruste bildeten. Ihr seliges Lächeln ließ vermuten, daß dies der wirkliche Grund war, warum sie nach Amerika gekommen war.
Sie säuberte ihren Teller und wischte sich die Essensreste aus dem Gesicht, indem sie den Mund auf eine Seite zog, so daß die Falten glatt wurden, und dann auf die andere. Wieder fixierte sie den Korb mit den Salzcrackers. Sie lockerte eine Schärpenlage, so daß ein weiter Beutel entstand. Didi lächelte süßsauer. Aama griff nach dem Plastikkorb, nahm eine Handvoll Crackers heraus, legte sie vor sich auf den Tisch und stellte die Päckchen ordentlich aufgereiht in den vorbereiteten Beutel. Ihre Schärpe beulte sich nach außen, und der Korb wurde leer. Sie verschloß ihren Vorratsbeutel mit dem Endstück der Schärpe und schaute mit diebischer Genugtuung zu Didi und mir auf - über zwanzig Päckchen.
»Gut«, sagte sie mit einem verschwörerischen Blick, »dann laßt uns gehen.«
Didi nickte.
Ich zahlte die Rechnung am Büffet und ging voraus, um wegen des miserablen Wetters das Auto zum Cafe zu holen. Didi hinterließ ein Trinkgeld auf dem Tisch, und die beiden drückten sich mit dem Rücken zur Kellnerin aus dem Lokal hinaus.
Der Motor lief, als Aama mit gesenktem Kopf und schnellem Schritt um die Ecke kam. Didi versuchte lachend, sie zu stützen, aus Angst, sie könnte hinfallen. Ich lehnte mich über den Bei-fahrersitz und stieß die Tür zum Bürgersteig auf. Eiligst kletterte Aama auf den Vordersitz.
»Ich habe sie noch nie so schnell gehen sehen«, sagte Didi. »Sie rannte beinahe.« Heftig atmend, ließ sich Aama lachend und erleichtert gegen die Lehne fallen, ihr Gesicht strahlte über den gelungenen Coup. Endlich hatte sie materiell etwas zu dieser Reise beigesteuert. Sie drückte den knisternden Schatz unter der Schärpe an sich, als seien die Salzkekse wertvolle Fragmente des götdichen Geheimnisses unserer Kultur.
»Ich habe sie. Wir können fahren.«
Wir bogen in die Hauptstraße ein und mußten vor einer Ampel anhalten. In einem Polizeiauto mit Vierradantrieb saßen zwei Polizisten in Uniformen des örtiichen Sheriffbüros.
»Da ist Polizei«, sagte ich zu Didi, instinktiv paranoid. Wenn sie uns anhalten würden, fänden sie offene Sicherheitsgurte, eine oder zwei leere Bierdosen und weitere unvorhergesehene Regelwidrigkeiten heraus. An einem Tag, an dem sich nichts tat, war ein Vehikel aus einem anderen Staat vielleicht ein willkommenes Objekt der Kontrolle.
»Was für Polizei?« fragte Aama, die das Wort erkannte.
»Das Auto neben uns mit diesem Ding auf dem Dach ist ein Polizeiwagen«, sagte ich, ohne den Blick von der Straße zu wenden.
»Hunh«, meinte sie ohne sonderliche Beunruhigung. Sie lehnte sich zurück und schaute zu ihnen hinüber. »Wo sie wohl hinfahren?«
»Sie können hinter allen möglichen Gesetzesbrechern her sein«, sagte ich und setzte ein Schafsgesicht auf, »aber jetzt suchen sie wahrscheinlich nach alten Damen, die Crackers aus Restaurants mitnehmen.« Sie schien darauf gefaßt zu sein.
»Also gut, wenn sie uns anhalten und mich mitnehmen wollen, uh, dann sagst du ihnen, daß ich eine alte Frau bin, uh, und daß ich Crackers liebe und sie in meinem Dorf nicht bekommen kann. Sag ihnen, als die Leute im Restaurant das gehört haben, da haben sie gelacht und gesagt: >Nehmen Sie so viele, wie Sie wollen - wir haben sie für Sie auf den Tisch gestellt. ... in Ordnung?«
Eine neue Stimme im Radio erklärte, daß die Bergstraßen mit Schnee und Eis bedeckt seien, aber wir befanden uns schon auf der Bergstraße zum Togowotee-Paß und zu den Tetons. Didi drängte mich umzudrehen. Ich erinnerte sie daran, daß sie damit aufgewachsen war, zum Strand zu fahren, und schlug ihre Befürchtung, ein beladener Wagen mit Sommerreifen könnte einfach von der Straße rutschen, in den Wind. Die Tetons waren nicht mehr weit, und Freunde erwarteten uns dort.
Es fing an zu regnen, und obwohl wir noch weit unterhalb des Passes waren, mischten sich schon ein paar nasse Schneeflok-ken unter die Regentropfen. Didi protestierte wieder und verschränkte dann ihre Arme. Ich stellte den Scheibenwischer an. Aama verfolgte die Wischer lachend mit dem Kopf, und ihre Hände glichen sich automatisch der Hin- und Herbewegung an. Wie ein Kind von Eltern mit Eheproblemen führte sie eine komische Nummer auf, um Didi und mich aus dem Sumpf herauszuholen, in dem wir beide steckten - in dem Bemühen, die Familienharmonie mit Humor wiederherzustellen und eine zerbrechliche Zukunft zu sichern.
»Immer wenn es regnet, kommen diese Stäbe hervor und wischen die Fenster. Wissen sie irgendwie, wann es regnet, und beginnen von allein mit der Arbeit?« Wieder sah sich Aama einer automatischen Vorrichtung gegenüber, einer begrenzten, aber nützlichen Intelligenz.
»Hier ist der Schalter. Schau.« Ich legte meine Finger auf den Hebel am Steuerrad. »Wenn ich hier nach unten ziehe, dann hören die Stäbe draußen auf, und wenn ich den Hebel wieder hochdrücke, dann fangen sie wieder an zu wischen. Ich muß den Hebel bedienen.«
»So ist das also. Manche Maschinen brauchen Menschen, damit sie arbeiten.«
Wir fuhren weiter. Aama ließ ihren Blick zwischen dem Lenkrad und den Wischern hin- und herwandern. »Aber jetzt machst du nichts.« »Das muß ich auch nicht. Die Stäbe wischen so lange weiter, bis ich den Hebel wieder nach unten stelle.« »Wahrscheinlich ist es so wie die Maschine im Bauch des Riesenfischs.« Sie suchte an der Sonnenblende nach weiteren Anzeichen für mechanische Wunder und studierte dann die Muster der Tropfen und Wasserrinnsale auf der Windschutzscheibe, die von den Windböen flachgedrückt wurden. »Ein Teil des Wassers fließt nach oben«, sagte sie leise in der Erwartung, daß dieses Phänomen mit einem der zahllosen Prinzipien des modernen Lebens erklärt würde, das den Gesetzen der Physik, wie sie sie kannte, widersprach. »Der Wind bläst es nach oben.« »Wind hat noch nie Wasser den Berg hinaufgeblasen. Und Teile des Fensters werden gar nicht gewischt.«
Am Straßenrand tauchte eine Frau mit einem Bauarbeiterhelm auf und signalisierte, daß wir anhalten sollten. Sie beugte sich zum Fenster herein und klärte uns darüber auf, daß weiter oben Straßenarbeiter Sprengungen vornehmen würden. Wir sollten uns der langen Autoreihe anschließen, die hinter der Kurve verschwand.
»Sie zünden da oben Bomben, um die Straße zu reparieren«, erklärte ich Aama.
Didi seufzte ernst. »Was soll das Gerase? Du bist doch kein Collegestudent mehr.« Ich solle sie irgendwo absetzen, und sie würde morgen mit dem Bus über den Paß fahren.
Ich stellte den Motor ab. Während ich zusah, wie das Wasser an der Windschutzscheibe nach unten floß, versuchte ich einzuschätzen, ob sich ihre Stimmung bis zur Meuterei steigern würde. Aama saß teilnahmslos da, während wir über die Gefahren vom Fahren bei Schnee und Eis diskutierten und über Eile im allgemeinen.
>»Vermeide die drei Übel des Yogas zitierte ich einen Inder, den ich einmal auf einem Bahnsteig kennengelernt hatte. >»Eile, Sorgen und Curry.<« Immer wenn ich mich mit derartigen Witzen aus der Affäre zu ziehen suchte, erfolgte hinterher ein Anflug von Reue, denn ich wußte, daß meine Sprüche die Situation in keiner Weise erleichterten, vielmehr Didis Ärger noch steigerten. Ohne Regen und Matsch draußen wäre ich ausgestiegen, hätte mir die Füße vertreten und ein paarmal tief durchgeatmet, um meine Rastlosigkeit abzuschütteln und den Streit mit Didi. Ich war enttäuscht, daß sie meine Abenteuerlust nicht teilte. Immer war sie so vorsichtig und vernünftig.
>»Bei einem Kampf zwischen Stieren erwischt es die Ziege in der Mitte<«, sagte Aama, um uns daran zu erinnern, daß sie auch noch da war. »Dieses Auto hat euch eure Kraft genommen und euch das Blut ausgesaugt.«
Die Frau mit der Warnflagge in der Hand gab uns das Zeichen zur Weiterfahrt. Ich ließ den Motor an, und die Wischer quietschten klagend über die Scheibe.
»Horch...« Aama hielt ihr Ohr in Richtung Scheibe. »Jetzt sagen diese Stäbe >weiter Fahren, weiter Fahren, weiter Fahren^«
Der Regen klatschte leicht an die Windschutzscheibe, als wir beschleunigten. Ich stellte den Wischer auf mittlere Geschwindigkeit. Aus dem Augenwinkel sah ich, daß Aama nickte und mit gespitzten Lippen wie eine ehemalige Pfadfinderin versuchte, sich an Morsesignale zu erinnern.
»Umm... jetzt sagen sie >I-dup-pa-I-dup-pa-I-dup-pa<.«
»Und was soll das heißen?« Ich nahm an, daß sie wieder so einen abstrusen Spruch aus ihrem Dorf anbringen würde. »Ich weiß es nicht. Warum fragst du nicht die Stäbe, was sie meinen, wenn sie das sagen? Ha!« Didi produzierte ein schwaches Lächeln, das aber nur für Aama bestimmt war. Eine Meile nach der Sprengung begann es wie aus Kübeln zu schütten. Das Wasser prasselte aufs Dach und überzog die ganze Straße. Ich stellte den Scheibenwischer auf Hochgeschwindigkeit. Auf einer Seite knallte der Wischer jedesmal an die Chromeinfassung der Windschutzscheibe - für Aama eine klare Botschaft. »Jetzt sagen sie >Regen-Guss-Guss, Regen-Guss-Guss, Regen-Guss-Guss.. .<« Sie schaute mich und Didi an, die immer noch schmollte. »Aber warte, in der Gurung-Sprache sagen sie etwas anderes: >Hört auf zu Strei-ten, hört auf zu Strei-ten, hört auf zu Strei-ten .. .<«
Die Schutzgottheiten des Windschutzscheiben-Altars hatten gesprochen. »So wie ein Feuer nicht brennt, wenn man nicht in den Kohlen stochert, so haben zwei Menschen, die zusammen leben und arbeiten, Meinungsverschiedenheiten - das ist unvermeidlich«, erklärte Aama. Und weiter: »Aber meistens ist es ein Strohfeuer, das auflodert und schnell wieder verlischt.« »Weißt du, woran ich denke? An die Worte des Hellsehers in Hongkong«, sagte Didi plötzlich. Genau der richtige Zeitpunkt, um in die vollen zu gehen, dachte ich sarkastisch und ersparte mir eine Antwort. Regen und Matsch verwandelten sich nach und nach in trockenen Schnee. Ich schaltete herunter und stellte die Heizung an - das Autofeuer, wie Aama es nannte -, zum erstenmal auf unserer Reise. Die Schneeflocken trieben wie ein endloser weißer Konfettistrom von der Windschutzscheibe hinauf über das Dach. Didi schaute grollend aus dem Fenster. Die immergrünen Bäume waren nur noch als graue Schatten zu erkennen.
»Es kommt dick herunter und hört nicht auf, larr-ar-ar, larr-ar-ar-ar-ar«, sagte Aama. »Er könnte das Glas eindrücken. In unserem Dorf würde solcher Hagel die Tiere töten, die Ernte vernichten und die Blätter von den Bäumen reißen, so daß sie nur noch als Feuerholz taugen.« Sie senkte den Blick auf den Boden und erklärte, sie wolle gar nicht mehr hinausschauen.
Didi teilte mir mit, daß von der Gegenrichtung kein Verkehr mehr über den Paß komme. Dennoch folgte ich weiter den verschwindenden Reifenspuren eines Wagens, der irgendwo vor uns war. Und dann, ganz allmählich, rutschte unser Fahrzeug zur Seite, bis es fast quer zur Straße stand und sich dabei wieder nach vorn bewegte. Didis Muskeln krampften sich zusammen, doch ich hatte den Wagen schon wieder im Griff. »Wollten wir da hinten gerade auf eine andere Straße abbiegen?« fragte Aama.
An der nächsten Ausweichstelle fuhr ich raus und stellte den Motor ab, um durchzuatmen und den Streß etwas abzulassen. Der weiße Lärm des Adrenalins in meinem Kopf hatte sich zu einem Crescendo gesteigert. Didi wußte, daß es überflüssig war, etwas zu sagen. Alles war weiß. »Schauen wir uns den Schnee an«, schlug ich vor. »Nein, er ist nur kalt und scheußlich«, sträubte sich Aama. Sie kannte Schnee zwar nur aus der Ferne als Verzierung auf dem Annapurna-Gebirge, aber mit einem Verwandten des Hagels wollte sie sich nicht einlassen. Didi zog ein Paar lange Unterhosen hervor. »Was soll ich damit?« fragte Aama verdutzt. »So was tragen doch nur Männer. Von welcher Seite zieht man sie an? Und wie uriniert man?« Aama druckste kichernd herum, als Didi ihr hineinhalf. Ich nahm einen Arm voll Schnee, formte einen leichten Ball und zielte treffsicher auf Didi. Aama war überrascht, daß Didi sich den Angriff gefallen ließ. Sie warf zurück. Nun schwang sich auch Aama aus dem Auto, nahm eine Handvoll Schnee und prüfte seine Schwere, indem sie die Hand nach oben und unten bewegte. Sie stellte fest, daß er beinahe gewichtslos war. »Abhat, abhai, abhai«, stieß sie leise hervor, ein Laut, der anzeigte, daß ihr ein neuer Gedanke gekommen war. Sie ließ den Blick über die Landschaft schweifen. »Hier kann man nichts anbauen. Was kann man mit dem Schnee anfangen? Er legt sich auf die Bäume wie die Kruste unseres Hirsebreis am Topfboden. Bleibt alles weiß?« Im Auto wischte sich Aama die Hände an einem Papierhandtuch ab und legte es aufs Armaturenbrett zum Trocknen. Auf der Paßhöhe überquerten wir die Klimascheide in Richtung Gangesozean und wurden von blauem Himmel und einer großartigen Aussicht auf die Tetons begrüßt. Aama redete immer noch über ihre Begegnung mit dem Schnee, der wie Insekten durchs Fenster hereingeflogen war.
»Gut, daß du diese Hosen für mich hattest.«
Trotz der Kälte waren die Straßen des Yellowstone-Nationalparks noch voll mit Wohnmobilen. In Bridge Bay suchten wir einen Campingplatz auf und krochen in unser Zelt.
Nachdem die Sonne am Morgen den Frost auf den Planen weggetaut hatte, packten wir zusammen und fuhren nach Norden durch den Park. Im Hayden Valley stießen wir auf eine Herde Hunderter von Bisons, die im hohen Präriegras am gewundenen Ufer des Yellowstone River weideten. Die entfernten Berge waren mit Murrayskiefern gesäumt, die ab und an Brandstellen aufwiesen. »Das geschieht also, wenn der Mensch nicht eingreift - die Tiere vermehren sich, wie sie wollen; das Wild läuft herum, als seien es Haustiere; und die Pflanzen wachsen hoch. Es sieht aus, als habe eine große Hand alles arrangiert.« In Amerika schien das Gleichgewicht der Natur die Gegenwart des Menschen zu erfordern, um sie vor dem Menschen zu schützen. Am Midway Geyser Basin bewegte sich Aama leichtfüßig über den Bretterpfad, als könnten sonst ihre Schritte - ja sogar der Raum, den ihr Körper einnahm - die sprudelnden heißen Quellen stören. Ihre Stimme wurde ehrfürchtig. »Das Wasser macht boolook, boolook. Das ist eine Gottheit, die zwar hervorkommen möchte, es jedoch nicht geschafft hat. Wie heißt dieser Ort?« »Yellowstone.« »Yatrastan?« Das Land der Pilger. »Mmh, ja so ähnlich.« »Ich habe es mir gedacht. Das muß ein heiliger Platz sein. Bestimmt sind die Leute hier, um die Gottheiten anzubeten.«
Mehr als zweihundert Besucher hatten sich auf dem halbkreisförmigen Plankenweg versammelt, der Old Faithful umsäumte. Wir setzten uns an den Rand und betrachteten die Kalksteinfumarole, die in ihrer Form einer Brust ähnelte.
Mehrere Minuten lang spuckte der Geysir eindrucksvoll, blubberte, versickerte, sprang wieder halbherzig hervor, als habe er es darauf angelegt, durch seine unregelmäßigen Auftritte das Interesse der Zuschauer zu bannen. Schließlich erreichte er seine volle Höhe nicht mit explosivem Getöse, sondern mit dem sanften Brausen eines Springbrunnens, das so klang, als würde ein Stoß Papier vom Tisch rutschen. Die Wolke aus Sprühnebel zog nach Osten und löste sich wieder auf. Aama saß da und war förmlich zum Geysir geworden. Sie versank im Gebet.
Mit ein paar rebellischen Zuckungen verschwand Old Faithful in seinem Loch. Noch bevor er völlig versiegt war, rannten einige Touristen mit ihren Kindern zum Parkplatz in der Hoffnung, dem Nacheruptionsverkehrsstau zuvorzukommen. Die Ferien von Amerikanern sind so kurz, wie es die Spanne ihrer Aufmerksamkeit ist, und erfordern ständiges Planen, wo es als nächstes hingeht, wo Nachschub zu finden ist, ein Telefon oder Essen. Die übrigen Touristen spulten ihren Film zurück, überprüften ihre Videoausrüstung und zerstreuten sich langsam. Auf einer Tafel am Besucherzentrum wurde die geschätzte Zeit der nächsten Eruption angeschrieben.
Aama saß noch immer reglos am Rand des Weges, im Gebet dem kochenden Wasser zugeneigt, das sich jetzt zum Schlafen unter die Erde verzogen hatte, aber dennoch genauso real und lebendig war, als wenn es sich zeigte. Nach mehreren Minuten stand sie auf und verfiel in inbrünstige Sanskrit-Lieder. Ein Tiegel mit Feuer schien in ihr entzündet worden zu sein.
»Diese Leute hier, Männer, die aussehen wie Armeeoffiziere mit ihren geröteten Wangen und ihren dicken Frauen und Kindern -, sie hocken sich hin und essen und machen Lärm, während Gott vor ihren Augen seine Macht und Schönheit offenbart! Warum höre ich niemanden den Namen Bhagwans aussprechen?« Aama ging mit Didi auf dem erhöhten Plankensteig zurück. Ein Paar mittleren Alters, die ersten Ankömmlinge für den nächsten Wasserausstoß, schlenderte uns entgegen. Sie schauten Aama neugierig, aber verstohlen an. Aama bemerkte es, und als sie auf uns zukamen, blieb sie stehen, entzog Didi ihre Hand und trat ihnen in den Weg. Mit weiten, fragenden Augen sprach sie auf Nepali zu ihnen.
»Warum seid ihr hergekommen - nur um hier wie Schafe oder Ziegen herumzustreunen? Kennt ihr die Götter, die unter dem heißen Wasser wohnen? Wißt ihr, wie, wann und warum dieses Wasser hierhergekommen ist? Schamanen in unserem Dorf könnten in Trance gehen und die Geister finden, die das hier hervorbringen. Die Geister würden in ihre Körpern einfahren und ihnen sagen, welche mystischen Ereignisse sich vor langer Zeit an diesem Platz ereignet haben.«
Das Paar erstarrte.
In Aamas Augen war das keine angemessene Reaktion. »Vielleicht haben eure Vorfahren ja gewußt, was unter der Erde ist, aber diese Generation hat keine Ahnung mehr davon. Es ist, als würdet ihr durch eure Erziehung und euer Wissen davon abgebracht, Opfergaben zu bringen - und das in einem Land mit einem solchen Reichtum an Blumen und Früchten. Oder seid ihr nur gekommen, um es anzuschauen und dann wieder zu gehen?«
Das verdutzte Paar wich bis zur äußersten Kante des Weges zurück, als befürchte es, Aama würde schwarze Magie betreiben - und als sei schwarze Magie etwas, woran sie glaubten. »Mögen euch die Geister hier segnen und all eure Verwandten!« sagte sie laut und unterstrich ihre Worte mit großen Handbewegungen. Sie prallte dabei sichtlich gegen kulturelle Hindernisse. Die Begegnung hallte in der Stille nach, als wir unseren Weg fortsetzten. Aama trat von den Planken herunter, hob ein paar Kieselsteine auf und verstaute sie in ihrer Schärpe.
Ich stellte mir vor, wie Hindus mit dem Naturphänomen von Yellowstone umgehen würden. Der Geysir wäre umschwärmt von barfüßigen, gottsuchenden Pilgern, Swamis, Asketen, Yogis, Saddhus und Pandits. Und von Wasserverkäufern. Sie kamen wohl kaum dazu, so viel Wasser zu entnehmen, daß der Wasserspiegel absänke - sofern das Wasser nicht in der ganzen Hinduwelt Berühmtheit erlangte. Aber vielleicht würden sie die Form des Geysirs ändern, denn die Pandits würden - nicht zu Unrecht - behaupten, daß sich Kalkstein regeneriert.
Für Aama waren Old Faithful und Yellowstone prakriti - Urnatur. Sie drückte das so aus: »Ohne Ausnahme breitet sich Dunkelheit über die Nacht, und jeden Morgen kehrt die Sonne zurück. Die Sommermonate sind immer warm. Die Wintermonate sind immer kalt.« Die Menschen haben keine Macht über diese unabänderlichen Tatsachen der Natur, denn die Gesetze von prakriti werden niemals gebrochen. Würden sie brechen, so geriete das Universum aus dem Gleichgewicht, und nach Meinung der Hindus, wäre die Zerstörung allen Lebens die Folge. »Die Jahreszeiten verlangen von uns, zur rechten Zeit zu pflanzen«, sagte Aama, »genauso wie die Geburt unserer Kinder die Notwendigkeit unserer Liebe hervorruft. Wir brauchen zwei von allem, ein Ding und sein Gegenteil: Tag und Nacht, kalt und heiß, Regen und Sonne, Männer und Frauen, Geburt und Tod.«
Aamas Ausführungen über prakriti fügten sich teilweise zur Antwort auf meine wiederkehrende Frage zusammen, warum wir Landschaften und die Natur schön finden. Was ist es in unserer Seele, das sich damit so sehr identifiziert? Es ist die menschliche Natur. Unser kreatürliches Verhaftetsein mit der physischen Welt wohnt in unseren Gedanken und Genen. Diese Bindung an die Welt über unsere Ahnen und unsere Abhängigkeit von ihr ist ein Ausdruck unserer Urnatur. Am besten ist es, die Natur in ihrer ungestörten Form zu erfahren, so wie Meditation am besten durch Übung verstanden wird.
»Die großen Yogis gehen in den Wald, um in einen Zustand seliger Wonne zu gelangen«, fuhr Aama fort. »Aber das, was sie lernen, kann nicht direkt an uns weitergegeben werden. Menschen sind nicht fähig, anderen Menschen die Erleuchtung zu vermitteln. Aber es gibt etwas, das unser spirituelles Verstehen öffnet - selbst wenn wir nicht Gott anbeten und meditieren -, und das ist prakriti, die Natur, die natürliche Welt.«
Ein brahmanischer Pundit hatte mir allerdings gesagt, daß prakriti sich mehr auf die animalischen Instinkte des Menschen beziehe und daß die negativen Emotionen, die damit einhergehen, durch spirituelle Übung geläutert werden müssen, um bei weiteren Wiedergeburten nicht ins Tierreich zurückzufallen. Nur Menschen können Erleuchtung erlangen, wobei eine Wiedergeburt in einem Tierkörper nicht ungünstig ist - verglichen mit den verschiedenen Höllen und anderen Unterwelten, die durch intensive Qual charakterisiert sind. Etwas an den Worten des Pundits erinnerte mich an die Erbsünde. Ich fragte mich, was ich mit dieser Einsicht anfangen könne und ob ich sie wirklich hatte, aber ich spürte eine Verbindung zu den Gesetzen des Schöpfers, von denen Großmutter Carolyn gesprochen hatte.
Zu dritt standen wir da und schauten zu, wie eine neue Flutwelle von Autos den Parkplatz überschwemmte. »Ist die Erde selbst eine Gottheit?« fragte ich Aama.
»Mutter Erde. Auf ihrer Oberfläche gibt es heilige Plätze, Andachtsstätten werden auf ihrem Boden errichtet. So wie eine Mutter dem Kind Milch gibt, so versorgt uns die Erde mit allem, was wir haben. Wie sehr eine Mutter auch mit uns schimpft und uns warnt, die Liebe zu ihrem Kind und die Liebe des Kindes zu seiner Mutter stirbt niemals. Wir spucken auf die Erde, wir pissen und scheißen auf sie, wir graben in sie hinein -wir beleidigen sie andauernd. Und doch schenkt sie uns ohne Zorn immer weiter Getreide, Gemüse, Früchte, Gras, Bäume und Tiere zu unserem Gebrauch. Jeder Mensch, vom Kriminellen bis zum höchsten Gelehrten, wird von derselben Erde ernährt, ohne Unterschied. Ist das nicht eine Gottheit?« »Dieses heiße Wasser ist also ganz besonders heilig«, warf ich ein.
Aama seufzte und drehte sich zum Geysir um. »Ich weiß nicht, vielleicht haben die Götter dieses heiße Wasser aus Zorn geschaffen.« Damit stimmte sie zumindest mit der Auffassung der Indianer überein: Sie machten einen Bogen um den Geysir, denn sie sahen darin die Gesichter und hörten die Stimmen von bösen Geistern. »Aber wenn Bhagwan zornig ist«, überlegte Aama weiter, »warum ist dein Land dann so reich?« »Was sollten wir an einem solchen Ort tun, Aama?« fragte Didi. »Ihr solltet einen Schrein bauen wie den in Muktinath.«
Die beiden Orte hatten Ähnlichkeit miteinander. In einem der Tempel von Muktinath hoch oben im Himalaja springt eine Quelle aus einer Spalte im Fels, und eine ewige Flamme, gespeist von natürlichem Gas, tanzt über die Wasseroberfläche. Wie bei Old Faithful sind in Muktinath die drei Urelemente des Universums an einem Ort vereint: Erde, Wasser, Feuer - die Trinität. Brahma der Schöpfer, denn wir sind aus Erde geschaffen; Vishnu der Bewahrer, denn Wasser nährt und spendet Leben; und Shiva der Zerstörer, denn Feuer hat die Macht, andere Elemente zu transformieren. Aama wurde still. Sie war enttäuscht und erschöpft, und die beiden Gefühle verstärkten sich gegenseitig. Keine Geysire mehr für sie, wenn die Menschen sie nicht mit Ehrfurcht behandeln. Im Andenkenladen kaufte sie eine Porzellanglocke, auf die ein Bild von Old Faithful gemalt war. Sie wollte sie als eine Opfergabe in den Shivatempel auf dem Bergkamm über ihrem Dorf hängen.