Kapitel 5 + 6

Kapitel 5

Ein Junge schob die Einkaufswagen eines Supermarkts außerhalb von Buckley, Washington, zu einem Zug zusammen und sprang mit einem Satz hinten drauf, als er sich Richtung Eingang in Bewegung setzte. Wir hatten haltgemacht, um auf dem Weg zum Campingplatz im Mount-Rainier-Nationalpark noch Lebensmittel zu kaufen. Dort würden wir mit Stephanie, einer weiteren Schwester von Didi, und deren zwei Töchtern zusammentreffen.
»Hör nur, diese Wagen machen garararar-gyat-gyat-gyat -was für ein schöner Klang«, freute sich Aama. Der junge Mann schob die Wagen zu ihrem Platz und nickte uns lächelnd zu. Ich wollte Aama gerade die draußen aufgeschichteten Prestologs zeigen, eine bestimmte Art amerikanisches Feuerholz, da öffneten sich aber schon die hydraulischen Glastüren wie von magischer Hand und luden uns mit ihrem Summen zum Eintreten ein. Aama war wie hypnotisiert von all den Farben, Geräuschen und Gerüchen, die auf uns einströmten. Didi zeigte ihr einen Einkaufswagen, und sofort legte sie beide Hände auf den Griff und schob ihn vor sich her. Der menschliche Einkaufsreflex.
Wir tauchten in den Regalreihen unter. Aama nahm den Wagen in Besitz wie ein Teenager ein frisiertes Motorrad; Anleitung war unerwünscht, ein oder zwei Sekunden genügten, um das Feeling dafür zu bekommen. Sie steuerte schnurstracks auf die Fleischabteilung und die Kühlregale mit Milchprodukten zu.
»Jetzt biege zur Seite ab«, sagte Didi laut. Die Köpfe der Kunden drehten sich zu uns. Aama kippte den Wagen auf eine Seite, so daß er auf zwei Rädern zu stehen kam und beinahe in ein Regal gekracht wäre, wenn ich nicht einen Satz gemacht hätte, um ihn zu halten. Sie fuhr gleich wieder los und stieß wie ein aufgezogenes Spielzeugauto an die Regale.
»Mero baajay - du liebe Güte - schau dir diesen Basar an, all diese Lebensmittel in Reih und Glied, hier eine Reihe Fleisch von einer Sorte, daneben eine andere Sorte, und da der Fisch... Wird das nicht alles schlecht, bevor es die Leute überhaupt essen können?« Ihre Augen und Ohren schienen die Energie des strahlend hellen Neonlichts und der munteren Ladenmusik aufzusaugen, so wie die Energie von Koffein und weißem Zucker sich von den Regalen via Osmose direkt in unsere Adern zu ergießen schien. Wir befanden uns auf einer Besichtigungstour durch eine Traumfabrik.
»Dieser Knoblauch ist ja riesig... und diese Mengen von Eiern! Aber ich sehe gar keine Hühner.« Ihr Blick streifte über das Gemüse und Obst. »Soviel grünes Gemüse. Ich möchte es kochen und essen, wenn ich nur Zähne hätte. Das Obst sieht reif aus; wahrscheinlich ist es süß. Bei uns im Dorf stehlen die Kinder das Obst immer schon von den Bäumen, bevor es reif ist.«
Didi füllte Bananen, Birnen, Pflaumen und Erdbeeren in Tüten. Aama schaute sich um und fragte: »Nehmen die Leute, denen das alles gehört, die Sachen nachts mit nach Hause und legen sie am nächsten Tag wieder hin? Und wo sind alle die Menschen, die das Ganze kaufen? Sie wissen vielleicht gar nicht, daß es hier einen Basar gibt; wenn es sich erst herumspricht, wird es hier ein Gedränge geben.«
Wir kamen zur Alkoholabteilung, und Erinnerungen wurden wach. »Laßt bloß nicht meinen Schwiegersohn hier rein, diesen Tunichtgut.« Sie imitierte seinen schwankenden Gang, den er mit philosophischen Platitüden zu untermalen pflegte, und wollte schier vor Lachen platzen. Früher war es nur peinlich gewesen, aber jetzt hatte er sich zum Gespött des Dorfes gemacht.
Didi warf eine Plastikflasche mit Mundwasser in den Wagen und sagte, sie hoffe etwas für Aamas Atem gefunden zu haben.
Die zwei oder drei verbliebenen Zähne in ihrem Mund waren verfault.
Aama legte ihre Hand auf Didis Unterarm und sprach leise. »Meine Urenkelinnen tragen jetzt feshion, wie sie das nennen, und sie haben mich gebeten, ihnen den Stoff mitzubringen, mit denen ihre Freundinnen sich heutzutage die Brust bedecken. Können wir sowas hier bekommen?« Didi ergänzte unsere Einkaufsliste um das Wort »Büstenhalter«. »Und ich soll den Leuten im Dorf Armbanduhren mitbringen, aber wozu brauchen sie die bei uns? Uhren sind teuer und gehen kaputt. Ich werde sagen, daß wir in Amrita keine guten Uhren finden konnten - aber das müßt ihr dann auch bestätigen, okay? Ha!«
Am Ende eines Regals teilte eine Frau auf einem Tischchen bereitliegende kostenlose Probierhappen aus. Als wir unseren Wagen an ihr vorbeischoben, bot sie uns mit lautem Hallo Kostproben einer neuen Hühnchensorte an, die speziell für die Mikrowelle aufbereitet war. Aama legte ein Stückchen auf ihre Zunge und zermalmte es genüßlich. »Schmeckt gut. Und es ist weich - ich brauche es kaum zu kauen.«
Die Frau bemerkte, daß Aamas Blick weiter an den aufgereihten Fleischstückchen hängenblieb, und reichte ihr ein zweites. Aama nahm's und aß es wieder mit sichtlichem Appetit. »Schmeckt wirklich gut. Wieviel müssen wir hier zahlen?« »Nichts. Sie hat es uns gegeben, damit wir probieren.«
»Dann solltest du gehen und etwas für diese Frau kaufen.«
»Ich bin nicht sicher, ob wir...«
Aama entließ Didi und mich mit einer Handbewegung. Sie würde hier gerne auf uns warten, und schon hatte sie ein drittes Stück in der Hand.
»Aama, ich glaube, wir brauchen nicht...«
»Warum sollte sie hier stehen und das einfach verschenken?«
»Sie will uns dazu bringen, dieses neue Lebensmittel zu kaufen.«
»Was soll das heißen, neues Lebensmittel Seit wann ist Hühnchen ein neues Lebensmittel?«
Wir fuhren mit dem Wagen zur Kasse, und Didi und ich legten die Waren auf das Fließband.
»Hunh. Ihr handelt nicht mit ihnen, das sieht man an der Kassiererin. Aber woher weiß sie die Preise von jedem Stück? Sie hat doch gar nicht auf die Schachteln geschaut, wo, wie du gesagt hast, die Preise stehen?«
»Siehst du das rote Licht hier, Aama? Das ist wie ein mechanisches Auge. Es liest den Preis auf der Packung ab und bucht ihn in einer anderen Maschine.« Sie seufzte. »Ich habe mir schon gedacht, daß es mit einer Maschine geht - wie alles. Es ist so leicht. Aber ich wette, diese Sachen sind nicht billig.«
Didi rollte unseren Einkaufswagen nach draußen. »Dürfen wir den Wagen mitnehmen?« fragte Aama. Als ich nicht antwortete, hakte sie nach. »Sie sind nützlich und haltbar, und wir könnten einen brauchen, um die vielen Tüten und Flaschen darin aufzubewahren, die wir gesammelt haben.« Didi und ich schauten einander an und mußten Aamas logischen Überlegungen leider widersprechen. Wenn wir Aama in der Stadt verlören, dann wußten wir, wonach wir suchen mußten: nach einer Alten mit Einkaufswagen. Sie hatte einen ganzen Stapel Papier- und Plastiktüten unter ihrem Autositz gehortet, die wir nicht wegwerfen durften - jedenfalls durften wir uns nicht dabei erwischen lassen. Die kleineren Tüten hatte sie sorgfältig in die größeren gesteckt, und daneben lagen Flaschen und Büchsen sowie eine wachsende Kollektion aller möglichen Gegenstände.
Als wir wieder auf der Schnellstraße waren, deutete Aama auf den Gegenverkehr. »Schau dir all diese Autos an. Sie haben wahrscheinlich von dem Basar gehört und wollen möglichst schnell hinkommen.«
Auf dem White-River-Campingplatz im Mount-Rainer-Nationalpark stellten wir unseren Wagen ab und gesellten uns zu Stephanie und ihren Töchtern in deren Wohnwagen. Das Gefährt mühte sich die Zickzackstraße bis zum Parkplatz hinauf, der an einer Wiese namens Sonnenaufgang lag.
Auf halbem Weg bremste Stephanie sachte ab, weil sie ein junges Reh gesehen hatte, das am Rande einer Ausweichstelle nach Futter suchte. Als der Wagen stand, öffnete Didi leise die Tür. Aama hatte um Brot gebeten, krabbelte heraus und näherte sich dem Reh bis auf ein paar Fuß. Das Tier hob den Kopf, hatte aber merkwürdigerweise keine Angst.
Aama hockte auf dem Boden, so daß ihr Kopf niedriger war als der des Rehs, vermied Augenkontakt und lockte mit ihrer rauhen, aber sanften Stimme: »Ahh, ahh, ahh...«, der Ruf für ihre Hühner und Rinder. Sie streckte die Hand aus, und das Reh nahm das Stückchen Brot.
»Es ist schwer, sich wilden Tieren zu nähern«, sagte sie, als sie wieder im Auto saß. »Du weißt nicht, was sie tun werden, und umgekehrt ist es das gleiche. Wie kommt es, daß sie so zahm sind? Gibt es hier keine Tiger oder Jäger?«
Beim Aufwachen strömte uns der herbe Geruch alpiner Wildblumen in die Nase. Aama und Didi schlenderten auf einem Touristenpfad über die Bergwiese, die sich am Fuß des Mount Rainier nach oben zog. »Der Berg«, wie ihn die Menschen im Nordwesten einfach nennen, sieht schon auf Fotos ehrfurchtgebietend aus, hier aber schien seine eisbedeckte Silhouette vor dem dunkelblauen Himmel zu vibrieren und eine vulkanische Atmosphäre zu verbreiten, die zum Fürchten war.
So wie Mount Rainier hier monumental über dem Wald thronte, so ragte auch der Berg Kailash im tiefen Westen von Tibet einsam in den Himmel. Er beherbergte die Quelle des Ganges und das selige Reich Shivas, des Zerstörers. Die Hindus sagen, Kailash sei der Himmel, wo die Aghori Babas wohnen, jene Saddhus, die Shivas Form ganz und gar angenommen haben. Er ist nie bestiegen worden. Es würde ihn entweihen, denn Kailash ist ebensosehr ein Bewußtseinszustand wie ein Ort und verkörpert Befreiung aus der materiellen, physischen Ebene.
»So wie Pilger zum Kailash wandern, so kommen die Amerikaner von weit her, um diesen Berg zu sehen«, erläuterte ich Aama, »nur daß die Leute normalerweise nicht zu Fuß gehen und ihn auch nicht anbeten.« »Aber sie kommen, um ihn zu sehen, und schon das ist ein Verdienst«, meinte Aama.
Eine Frau ging auf mich zu, begleitet von ihrem Mann und zwei Kindern, und sprach uns an.
»Auf dem Weg hier herauf haben wir versucht, diese Frau zu fotografieren, als sie das Reh gefüttert hat, aber unsere Kamera hat nicht funktioniert.« Nachdem ich begriffen hatte, daß sie uns nicht anzeigen wollte, weil wir ein Tier aus dem Park gefüttert hatten, erwartete ich die gleiche Frage, welche die meisten stellten: Woher Aama komme. »Aber irgendwie«, fuhr sie fort, »machte das nichts, denn plötzlich wurden wir ganz still, wir blieben einfach stehen, als sei nur noch die Aura dieser Frau sichtbar. Wir konnten sie fühlen.«
Ihr Ehemann nickte zustimmend, und die Kinder bestaunten Aamas Schmuck und ihre Runzeln. Ich konnte dazu nur sagen, daß auch ich es bemerkt hätte und daß Aama eine Art Energie ausstrahle, bei der sich die Tiere wohlfühlten.
Noch eine zweite Frau mittleren Alters kam auf mich zu: »Entschuldigen Sie, ist diese Frau eine amerikanische Indianerin?« fragte sie neugierig. Hinter ihr hatte sich ein Häuflein Menschen angesammelt, die Aama aus der Nähe betrachten wollten, als sei sie eine lebendige Quelle der indianischen Legenden dieses Berges, die den Schlüssel ihres Geheimnisses barg. Inmitten dieser Menschenmenge wuchs um Aama eine Atmosphäre geheimnisvoller Autorität.
»Nein, sie ist aus Nepal«, erklärte ich. »Aber sie stammt von der gleichen Rasse ab wie die amerikanischen Indianer. Ihre gemeinsamen Vorfahren sind vor vielen, vielen Jahren über die Landbrücke der Beringstraße aus Asien eingewandert und haben sich hier in Nordamerika angesiedelt.«
»Wir sind vor zwei Wochen von Brooklyn gekommen.« Die Frau legte ihre Hand auf meinen Arm und bat mich eindringlich: »Sagen Sie ihr, daß ihre Kleidung wirklich etwas ganz Besonderes ist.« Ich teilte Aama den Eindruck der Frau mit. »Möchte sie meine Kleider haben?« fragte Aama in allem Ernst. »Sie kann sie haben, wenn sie will.«
»Wie gefällt ihr Amerika?«
Ich übersetzte die Frage der Frau.
»Ich überlege, ob ich hierbleibe«, gab Aama zurück, »damit jeder mich anschauen und mich fotografieren kann.«
»Es gefällt ihr«, verkündete ich.
»Wir würden Sie so gerne einmal wiedersehen«, sagte die Frau.
»Wenn ich dann nicht tot bin. Ich kann heute sterben, aber es könnte auch morgen sein.«
Majestätische und spirituelle Orte, solche wie der Muktinath-Schrein im Himalaja, weckten etwas Spitzbübisches in Aama und manchmal die Neigung zu philosophischen Ratschlägen. Da sie nicht Englisch sprach, konnte sie sich äußern, wie sie wollte, und es mir überlassen, ihre Worte den jeweiligen Gegebenheiten anzupassen.
»Jetzt weißt du, wie ich mich fühle, wenn ich in deinen Bergen herumwandere«, sagte ich zu Aama. »Die Leute starren mich dort genauso an, wie sie dich hier anglotzen.«
»Manchmal fühle ich mich wie ein Lamm in einem Rudel von Schakalen.« Aama schaute mich an. »Nani, wenn ich Gurung spreche, dann habe ich dir etwas Privates zu sagen, das nicht jeder hören soll.« Da ja selten Leute herumstanden, die Nepali verstanden, fragte ich mich, ob sie mir vielleicht etwas zu sagen habe, das nicht für Didis Ohren bestimmt war, denn sie konnte kein Gurung.
»Ich weiß, daß sich die Leute über mich wundern, und manchmal sehe ich, wie du in dein Notizbuch schreibst. Wenn dich jemand fragt, wer die alte Frau an deiner Seite ist, oder wenn du etwas über mich schreibst, dann sage: >Sie ist eine Bäuerin. Sie ist weder reich noch arm. Sie ist mittendrin, eine gewöhnliche Frau, die Tochter von gewöhnlichen Leuten, zwischendrin. Sie ist weder überglücklich noch todtraurig - lediglich mittendrin.< Das sollst du ihnen sagen.« Didi schaute mich an, als frage sie sich, ob Aama wirklich so gewöhnlich sei.
»Armut ist relativ«, sagte ich zu Didi und bestärkte Aamas Selbsteinschätzung. »Auch wenn sie Kuhfladen aufsammelt, die sie auf dem Weg findet, könnte sie mit ihrem Schmuck ein anständiges Steinhaus bauen; des weiteren läßt sie sich, wie du gesehen hast, keine Gelegenheit entgehen, Bettlern und Obdachlosen etwas zu schenken.«
»... Und bestimmt erkundigen sie sich nach meinem Alter«, fuhr Aama fort. »Sag ihnen, daß ich vierundachtzig bin und nur deswegen solange am Leben geblieben bin, weil mein Schwiegersohn, dieser Halunke, möchte, daß ich sterbe. Und diese Freude will ich ihm nicht machen - das hält mich auf den Beinen!« Stephanies Wohnwagen rollte leise zum Campingplatz hinunter, während Aama weiter ihren Schwiegersohn in der Mache hatte. »Dieser undankbare Kerl hat mich doch tatsächlich gefragt, ob ich mein Land schon jetzt aufteilen würde, noch bevor ich sterbe, und ich habe nein gesagt. Wahrscheinlich hockt er jetzt in seinem Haus unter meinem und hofft, daß ich unterwegs zur Leiche werde...«
An unserem Platz am Flußufer packten wir die Essenstüten aus, und Stephanies Töchter, die zehnjährige Genna und die drei Jahre jüngere Nicole, führten Aama zum Picknicktisch. Zärtlich strich Aama durch Nicoles Haare und drehte ihr Gesicht mit beiden Händen von einer Seite zur anderen. Sie betrachtete jede Linie wie ein Phrenologe, der aus den Gesichtszügen das Schicksal herausliest.
Die Mädchen untersuchten ihrerseits Aamas Hände, ihr Gesicht und ihre Runzeln, als sei sie eine Phantasiegestalt, die aus einem Kinderfernsehfilm herausgetreten ist und jetzt mit ihnen im Wald sitzt. Im Auto hatte Nicole Aama bereits mit ihren Stofftieren bekannt gemacht.
»Du hast zwei Mädchen«, sagte Didi zu ihrer Schwester, als sie Bierdosen aus einer Kühltasche nahm. »Und ich habe jetzt auch eins.« Didis Lächeln war ironisch, aber mit einem Anflug von Stolz.
»Didi«, rief Aama vom Tisch, »die Töchter deiner Schwester sollten ihre Ohren stechen lassen. Ihr müßt doch wissen, daß man taub werden kann, wenn man die Ohren nackt läßt. Unsere werden uns schon im Alter von drei Tagen gestochen.« Die Mädchen schauten mich an, und ich übersetzte.
»Yeah, Mom, darf ich meine Ohren stechen lassen?« fragte Nicole ihre Mutter hoffnungsfroh, diesmal endlich ein Ja als Antwort zu bekommen.
»Du darfst, Nicole - aber erst, wenn du älter bist. Du bist noch zu jung, um ständig Schmuck zu tragen. Und tust du es nicht, so wachsen die Löcher wieder zu.« Mütter fanden immer gute Gründe. Doch Aama hatte auch einen.
»Als ich jung war, hieß es, daß Kinder ohne Löcher in den Ohren den Dschungel-Schamanen anziehen, einen männlichen Dämon, der nur drei Fuß groß ist und langes, verfilztes Haar hat. Seine Füße gehen rückwärts, und er lebt in einer Höhle mit goldenen Wänden, wie ein Königspalast. Die Dschungel-Schamanen essen nicht mit den Fingern oder von der Handfläche wie wir, sondern vom Handrücken. Wenn du von einem verhext wirst, dann mußt du auch so essen, um wieder loszukommen. Sie singen kunirurururu und gehen herum, um Kinder zu fangen. Sie fressen die Mädchen und lehren die Jungen, wie auch sie Dschungel-Schamanen werden, und schicken sie dann aus, um noch mehr Buben und Mädchen zu fangen, die keine Löcher in den Ohren haben. Aber ein einfaches Netz schützt vor ihnen. Als wir Kinder waren, haben wir immer ein kleines Netz mitgenommen, wenn wir in den Dschungel gegangen sind.«
Ich ertappte mich dabei, wie ich kurz zum Wald hinüberschaute, der schon im Schatten der Abenddämmerung lag. Ich faßte Aamas Geschichte für die Mädchen ein wenig zusammen, denn ich wollte ihnen weder angst machen noch ihnen Munition gegen Stephanie liefern. Auch war es auf die Dauer mühsam, jedes Wort zu übersetzen.
»Seht ihr, was für große Ohrringe ich habe?« fragte Aama, als könnte irgend jemand ihren prachtvollen goldenen Ohrschmuck übersehen, und drehte den Kopf hin und her.
»Sie waren ursprünglich noch viel größer, aber ich habe sie verkleinern lassen, damit sie nicht so schwer sind und ich mir nicht die Wange verbrenne, wenn ich in der Sonne sitze und den Kopf drehe, um mit jemandem zu sprechen. Auch hatte ich Angst, daß sie gestohlen werden könnten. Großer Schmuck paßt nicht zu älteren Frauen, und ich brauchte das Geld.«
Nicole hob das Geschmeide prüfend hoch und inspizierte dann die vielen Löcher an Aamas Ohrmuschel - Löcher, die wie eine Kerbe in der Zeit waren, Knotenpunkte der Erfahrung und die Geschichten von Glück, Trauer, Abenteuer, finanziellem Gewinn und Verlust erzählten. Sie studierte sie, als wolle sie ihre Geschichte entziffern aus einer Zeit, die bis weit über ihre Geburt zurückreichte.
»Meine ursprünglichen Ohrringe waren reines Gold«, erzählte Aama weiter, »aber der Goldschmied hat minderwertiges hineingemischt, als er diese anfertigte. Jedesmal, wenn Gold geschmolzen und neu geschmiedet wird, verliert es an Qualität. Es wird, wie wir sagen, vom >ältesten Sohn< zum >zweit- oder drittältestem. Der >jüngste Sohn< ist die vierte Qualität und von hellerer Farbe, ähnlich wie Messing.«
In Nepal sah ich Aama, wie sie maiskorngroße Goldstücke auf einem glatten, schwarzen Stein rieb und dann den gelben Farbton überprüfte. Die Fähigkeit, die Qualität von Gold zu beurteilen, gehört in den Dörfern zum Allgemeinwissen. Die Leute trauen dem Papiergeld nicht und tauschen alles, was sie in die Finger bekommen, gegen Gold oder Silber ein. Schmuck zu tragen ist sicherer, als das kostbare Metall in Häusern aufzubewahren, die man schwer abschließen kann.
»Übrigens«, warf Didi ein, die sah, wie fasziniert die Mädchen von Aamas Schmuck waren, »die Korallen, die am Gold hängen, sind nicht echt. Ich weiß nicht, wo die Gurung sie herhaben - aber diese großen Korallen sind Imitationen.«
»Was soll das heißen?« erwiderte ich ärgerlich. »Natürlich sind sie echt. Glaubst du, Aama würde falschen Schmuck tragen?« Vielleicht war Didi eifersüchtig und wollte lediglich, daß auch ihrem Aussehen jemand Beachtung schenkt. Ich konnte mich nicht zweiteilen, und jetzt war Aama an der Reihe. Allerdings kannte sich Didi mit Schmuck aus.
»Vielleicht weiß sie nicht, daß die Korallen falsch sind«, räumte ich ein, »aber alles andere ist echt.«
Aama verfolgte zunächst amüsiert unseren Wortwechsel, dann wurde sie ungeduldig und hob den Arm.
»Oh, da fällt mir noch etwas ein... Wißt ihr, daß auch meine Nasenwand hier in der Mitte ein Loch hat? Dieses Loch«, sie faßte es mit Daumen und Zeigefinger und wackelte daran herum, »wird nie mehr zugehen, so wie die anderen. Ich hatte einen dicken Goldring, einen bulaanki, daran hingen kleine Goldketten mit Verzierungen, die mir vor dem Mund herumbaumelten, wenn ich mit dem Kopf genickt habe. Beim Essen mußte ich sie mit der freien Hand hochhalten.« Sie hob ein kleines Stöckchen vom Boden auf und steckte es durch das Loch in der Nasenwand, was ihre Nasenflügel auseinanderspreizte und sie beim Sprechen beeinträchtigte. Sie sah aus wie die Karikatur eines Kannibalen. Die Mädchen prusteten vor Lachen, und Aama wackelte zum Spaß mit dem Kopf und drehte sich im Kreis, damit es jeder sehen konnte. Didi und Stephanie lachten genauso laut wie die Mädchen.
»Um das Nasenloch zu stechen«, dolmetschte ich für Aama, »nehmen wir einen langen Dorn von einem Busch hoch aus den Bergen, tauchen ihn in flüssiges Gold, lassen ihn abkühlen und drücken ihn dann durch die Nasenwand.« Die Mädchen schauderte es bei der Vorstellung. »Man muß das Loch offenhalten, indem man es allmählich mit einem Zweig weitet, der von einem bestimmten Baum stammen muß, damit sich nichts entzündet.«
Didi und Stephanie stellten kaltes Hühnchen auf unseren Picknicktisch, frische Maiskolben und verschiedene Salate in Plastikgefäßen. Wir langten herzhaft zu und genossen die Abwechslung zu nepalesischem Essen, das zwar gesund, aber eintönig war, von den Chilis einmal abgesehen.
»Es ist schön, für jemanden wie Aama zu kochen«, sagte Stephanie, »die jede Kleinigkeit schätzt und der das Essen als solches wichtig ist. Ich habe das Gefühl, als sei sie unsere Mutter.« Stephanies weiche Gesichtszüge widerspiegelten jene warmen Gefühle, die ich im Flugzeug bei Didi gesehen hatte, als sie Aama dort sitzen sah. »Als Aama bei uns im Haus war...« Stephanie wurde leicht verlegen, »... da habe ich so eine Reinheit, Sicherheit und Güte gefühlt, wie von einer alten Ahnfrau.«
Ich saß recht unbequem auf der harten Bank und erlaubte mir, mich an der frischen Luft von einem gewissen Druck zu befreien, ganz leise, so daß man es kaum hören konnte - erst einmal und dann noch einmal. Aama wartete, bis sie den Bissen hinuntergeschluckt hatte, dann sagte sie, ohne vom Teller aufzuschauen:
»So eßt ihr also - ihr kaut ein bißchen, dann furzt ihr, anschließend kaut ihr wieder und furzt noch einmal.« Ihr Gehör funktionierte besser, als ich annehmen konnte. Sie war die einzige, die mich erwischt hatte, und sie reagierte mit dem gleichen Ton und Gesichtsausdruck, wie meine Mutter das getan hätte - einer Mischung aus Ermahnung, Spott und Wohlwollen. Ich starrte sie an; da war es wieder, dieses Dejà-vu-Gefühl, das mich manchmal überkam.
»Aber du hast doch gesagt, daß du nicht mehr gut hörst«, gab ich zurück.
»Ach weißt du, die schlechten Dinge hören meine Ohren noch recht gut. Sie bekommen die guten Dinge nicht mehr besonders gut mit und das immer weniger.«
»Worüber redet Aama?« erkundigte sich Genna.
»Sie hat etwas an meinen Tischmanieren auszusetzen. Du weißt ja, wie Mütter sind.« Aama wischte ihren Teller mit einem Stück Brot sauber und fuhr sich dann mit der Zunge über den blanken Gaumen. Sie lehnte sich zufrieden zurück, verkündete, daß sie satt sei, faßte den Papierteller am Rand, und ehe wir uns versahen, segelte er in Richtung Bäume, wo unser Zelt stand.
»He!« riefen drei von uns wie aus einem Mund, so als könnte das Wort den Teller mitten im Flug stoppen. Wir schauten uns an und lachten über unseren einprogrammierten Reflex.
»Das tun wir hier nicht, Aama«, erklärte ich ihr und versuchte nicht zu lachen.
»Was? Du willst einen Papierteller noch mal benutzen?« Auf eine andere Idee kam sie nicht, denn für die Menschen in den entlegenen Bergdörfern waren Verpackungen eine Art Statussymbol, das man wie zufällig vor dem Haus liegen ließ, damit Vorbeikommende sahen, daß man ein teures, modernes Produkt konsumiert hatte. Für sie war diese Art von Müll auch eine kleine Gefälligkeit gegenüber dem Papiersammler aus einer niedrigen Kaste, der es zur Wiederverwertung einsammelte. Ich versuchte ihr in Kurzfassung unsere Einstellung zu Müll begreiflich zu machen und verglich unsere Nationalparks mit den königlichen Wäldern, von denen die Gurung-Dörfer umgeben waren, verlor jedoch Aamas Aufmerksamkeit auf halber Strecke.
In der kühlen Morgenluft verabschiedeten sich Stephanie und die Mädchen mit langen Umarmungen von Aama, und wir machten uns auf den Weg nach Ost-Washington, wo es bekanntlich sehr heiß war. Am Parkausgang hielt Didi noch einmal an, um sich frisch zu machen. Diese Gelegenheit nutzte ich, um meine Tante und meinen Onkel telefonisch auf unsere Ankunft vorzubereiten. Als ich wieder zurückkam, fragte Aama:
»Woher hast du gewußt, daß du gerade jetzt hier angerufen wirst?«
An einer Tankstelle außerhalb von Yakima machten wir zum ersten Mal Halt, nachdem wir östlich des Kaskadengebirges in die Gegend gekommen waren, wo sich Obstplantagen mit Wüstenstrichen abwechselten. Ich zögerte, die Klimaanlage voll aufzudrehen; so ein schwerer alter Schlitten würde mit der zusätzlichen Belastung vielleicht nicht zurechtkommen, besonders bei dieser Hitze. Ich fragte Aama, ob ich ihr irgend etwas in dem Tankstellenladen besorgen solle.
»Gib erst dem Auto Futter. Es macht die ganze Arbeit, während wir einfach nur dasitzen. Um mich brauchst du dich nicht kümmern, ich habe ja nichts getan.«
Während ich tankte, beobachtete Aama einen Ford Sedan, der neben der Servicestation für Luft und Wasser geparkt hatte. Ein Mann stieg aus. Mit Papiertüchern in der einen Hand und einer Flasche in der anderen reinigte er seine Windschutzscheibe, wobei er beim Hinüberlehnen sorgsam darauf achtete, nicht mit dem Staub seines Autos in Berührung zu geraten. »Warum putzt dieser Mann sein eigenes Fenster?« fragte Aama, als ich wieder im Auto saß. »Gibt es keine Leute, die solche Sachen für euch erledigen?« »Nicht mehr. Diener kann sich heute keiner mehr leisten. Wir versuchen alles selbst zu machen.«
»Mir fällt es schon schwer genug, die Männer von den Frauen zu unterscheiden. Wenn jeder gleich aussieht, wie wißt ihr dann, zu welcher Kaste oder zu welchem Stamm jemand gehört? Gibt es hier nicht eine eigene Kaste für die Landarbeit und weitere Kasten für andere Arbeiten?«
»Wir haben Gesetze, Aama, denen zufolge Leute bei Anstellungen nicht wegen ihrer Farbe, ihres Stammes oder ihres Geschlechts bevorzugt werden dürfen. Wir kennen eigentlich keine Kasten.«
»Ich wette, daß ihr früher auch Kasten hattet, aber ihr habt sie verdorben und vergessen und alles in einen Topf geworfen, luttar-puttar. Im Dorf habe ich gehört, daß Amrita ein Land ist, in dem es nur eine Kaste gibt; aber wir haben doch Schwarze gesehen. Als ich jung war, hieß es, Schwarze würden Menschenfleisch essen. Das kam mir immer komisch vor, und die Schwarzen, die wir in der Stadt und in den Bergen getroffen haben, haben nicht danach ausgesehen. Sprechen sie wie du?«
»Ja. Vor hundert Jahren waren die Schwarzen noch Sklaven der Weißen - aber jetzt nicht mehr. In vieler Hinsicht sind sie wie die Weißen geworden. Einer hat sogar als Präsident von Amerika kandidiert. Trotzdem vertragen sich die Weißen und die Schwarzen nicht so gut wie die Brahmanen und die Unberührbaren.«
»Ich habe Weiße und Schwarze gesehen, aber kaum jemand wie mich. Es ist nett, daß sich manche herunterbeugen und mit mir sprechen; aber mir ist auch aufgefallen, daß einige so tun, als sei ich gar nicht da.«
Über die dunkle Lößerde von Palouse breiteten sich wie ein goldenes Tuch unübersehbare Weizenfelder. In Dayton, in der Nähe von Walla Walla, lebten Onkel Chad und Tante Darlene und führten dort ein ländliches Leben, eingebunden in Landwirtschaft und Gemeinde. Darlene stand der Kirche nahe und hatte Jahre damit verbracht, das Eisenbahnlagerhaus der Stadt in ein Museum zu verwandeln. Chad hatte die Farm von seinem Vater übernommen, und wenn er nicht in seinem Büro war, dann fuhr er in einem Lastwagen herum, führte Bodenproben durch und trieb die Rinder zusammen.
Die Sitze von Chads Lastwagen waren mit einer Schicht Getreidestaub überzogen, und auf dem Boden lagen altgediente Werkzeuge und eine Ausgabe des Wall Street Journal - Symbole unserer modernen westlichen Gesellschaft. Wir drückten uns auf dem Vordersitz zusammen, und Chad fuhr uns durch ausgetrocknete Flußläufe, die gelegentlich von einem Grüpp-chen Christusdornbäumen beschattet waren. Goldbraune Weizenfelder wogten in der Sommerbrise ungeduldig der Ernte entgegen, und ihr warmes Licht fiel auf unsere Gesichter.
Staubsäulen erhoben sich wie Rauchsignale in der Ferne, das erste Zeichen der Ernte. Chad bog vom Feldweg ab auf ein Stoppelfeld und hinauf zur Hügelkuppe. Im Tal unter uns donnerten drei gewaltige Mähdrescher in geschlossener Formation wie gefräßige Riesenheuschrecken über das Feld. Am Fuß des Hügels vollführte einer nach dem anderen eine scharfe Wende; sie rotierten in einem Tempo um die eigene Achse, als wollten sie der Wolke aus Staub und Spreu entkommen, die ihnen wie ein Insektenschwarm folgte. Die Erntemaschinen verlangsamten ihre Fahrt nur für die Lastwagen, die sich wie Lotsenfische an die Seite klemmten und im Nu mit jeweils drei Tonnen Getreide angefüllt waren.
Wir stiegen aus. Aama ergriff Didis Hand und stand wie angewurzelt da. Wie sollte sie begreifen, daß diese Maschinen in zwei Minuten so viel ernten wie ihr ganzes Dorf in einem Jahr? Ihr Mund öffnete sich mehrmals und schloß sich wieder, ohne daß sie ein Wort hervorbrachte. Sie versuchte sich einen Reim auf diesen Hohn ihrer Existenz zu machen. Der Landwirtschaftsschock. Das Korn und das Heu und das Land, ja selbst die Götter schienen von diesen Maschinenmonstern in den Schatten gestellt zu werden, die sich in ihrer Arroganz anmaßten, sich zu Gottheiten aufzublähen. Und wo waren die Menschen? Kein Singen, kein Scherzen in den Feldern, kein gerösteter Mais und keine süßen Leckerbissen, die in Körben aufs Feld getragen wurden; keine Vertrautheit, keine Gemeinschaft zwischen Hand und Erde.
Nach einigen Augenblicken schien sie den Schock des Fremden zu verdrängen und das, was sie sah, aufzunehmen. »Ob sie den Weizen wohl zur rechten Zeit gepflanzt haben?« erkundigte sie sich schließlich, als wolle sie irgendeinen hilfreichen Beitrag zur Ernte leisten. »Ist der Stand der Planeten beachtet worden? Wir tun das immer vor dem Pflanzen und Säen, damit es eine gute Ernte gibt und sie vor Hagel geschützt wird. Und wenn der Weizen nicht lang genug an der Ähre reift, dann wird er faul beim Lagern.« Chad rieb eine Weizenähre zwischen den Handflächen und schüttete Aama die Körner in die Hand. »Ja, sie sind groß und voll«, bestätigte sie, »und es sieht so aus, als seien sie auch trocken genug.« Sie schaute wieder auf die Mähdrescher.
»Aber was geschieht mit den Halmen, nachdem die Maschine den Weizen genommen hat?« fragte sie, als müßten solch riesige Freßmaschinen Knochen oder sonst ein Abfallprodukt hinter sich lassen.
»Wenn die Erntemaschine den Weizen drischt, dann häckselt sie auch gleich das Stroh klein und streut es als Mulch und Dünger wieder über die Felder«, erklärte ich ihr. »Und wohin kommt das Korn?« »Das schauen wir uns an.«
Der Verladebahnhof lag am Stadtrand. Aama staunte über die Ansammlung von Getreidespeichern neben den Schienen. »Ihr Amerikaner seid alle so reich. Ihr besitzt soviel Getreide und soviel Land. Und ihr baut nicht einmal Reis an!«
»Dafür ist es hier zu kalt, und wir haben auch nicht genug Wasser für Reis.«
»Ja, ihr scheint nur das Wasser zu haben, das vom Himmel fällt, außer ihr holt Wasser von den großen Flüssen durch Bewässerungskanäle. Aber warum baut ihr überhaupt Getreide an, wenn ihr fast nur Fleisch eßt? Wenn die neue Generation kommt, wird sie das Getreide auch mit Maschinen anbauen, oder werden sie die Hände in die Erde stecken, so wie wir? Vermutlich nicht. Hier studieren die jungen Leute, und die Maschinen machen die Arbeit.«
Darlene bereitete ein ländliches Sommerfrühstück mit Omeletts, Honigmelone und Kaffee und legte Chad die Morgenzeitung hin, der die Immobilienpreise durch die untere Hälfte seiner doppelt geschliffenen Brille überflog. Wir saßen beisammen, schauten auf den Kirschbaum und die sanft abfallenden Hügel am Fuß der Blue Mountains und sprachen über die Veränderungen in unserem Leben. Ich erinnerte mich an die Sommerferien auf der Farm während meiner Collegezeit, wie ich einen Weizenlaster gesteuert hatte, und wir waren uns einig, daß uns meine Mutter - Chads jüngste Schwester - ebenso fehlte wie ihr Vater, Gramps. In einem unbeobachteten Moment flüsterte mir Darlene zu, Didi sei ein Edelstein.
Nach dem Frühstück führte ich einige Telefonate. Als ich ins Wohnzimmer kam, saßen Darlene und Aama nebeneinander auf dem kleinen Sofa und hatten die Köpfe in ein Fotoalbum gesteckt. Didi übersetzte Darlenes Kommentare zu den verschiedenen Verwandten auf den Bildern.
Aama sagte zu Darlene, wie sie sie um ihr Glück beneide, gesunde Kinder zu haben, und sie dafür bewundere. Sie klagte darüber, daß unser Leben kurz und enttäuschend sei, denn sobald wir etwas lieben, müssen wir es wieder verlassen. Die Bilder ihrer einzigen Tochter standen ihr vor Augen und der vielen verstorbenen Verwandten, und eine Träne kullerte auf ihre Bluse. Darlene schaute weg, aber auch sie hatte feuchte Augen bekommen; und so weinten sie unisono.
»Obwohl das Leben bei uns in den Bergen schwer ist, wie sicherlich auch in euren Bergen«, sagte Aama, »muß ich immer wieder daran denken, wo ich geboren wurde und aufgewachsen bin. Wie kann man einen solchen Ort vergessen? Die Seele verläßt ihn niemals. Meine Mutter starb, als ich neun und meine jüngere Schwester sieben Jahre alt war. Sie konnte besser als ich voraussehen, daß die Kinder der nächsten Generation ein schweres Leben haben würden; darum hat sie nie geheiratet. Hier, wenn ich gut esse und schöne Dinge sehe, so wie heute früh, dann denke ich an Sun Maya, die das Leiden meines Lebens trägt und ihres.«
Darlene entsann sich ihrer eigenen Verwandten, der verstorbenen und der weit entfernten, und ihrer Kinder, die schon aus dem Haus waren. »Es ist traurig, daß nur ein Sohn Farmer geworden ist - aber wer weiß, vielleicht ist es auch gut so. Die Landwirtschaft bringt wenig Lohn für die ständige Mühe.« Aama war ganz der gleichen Meinung; sie schien Darlenes Worte zu verstehen, bevor Didi sie übersetzte.
»Ja, aber wenn dir Gutes geschehen soll, dann kommt es zur rechten Zeit. Wir wissen nicht genau, wie wir hierhergekommen sind; wir wissen nur, daß Bhagwan uns hier auf die Erde gesetzt hat, damit wir unsere Arbeit verrichten. Und wenn wir ehrlich arbeiten und spielen, dann bleiben wir gesund und gedeihen. Und doch ist es, als würden wir über einen breiten Fluß schwimmen. Wir schwimmen und schwimmen, aber wie weit wir auch kommen mögen - unsere Zeit geht zu Ende, bevor wir das andere Ufer erreichen.«

Kapitel 6

Die blitzende, verchromte Stoßstange unseres Kombis schrammte leicht an der Betonwand entlang, als wir etwas zu forsch in die Tankstelle außerhalb von Walla Walla einbogen. Ich mußte blinzeln, weil mich die Mittagssonne auf dem Pflaster blendete. Während ich tankte und das Kühlwasser auffüllte, suchte Didi mit Aama die Toilette auf. Ich schloß die Haube und drehte die ausladende Kühlerfigur zur Seite, um den Luftwiderstand zu verringern und auf diese Weise ein wenig Benzin zu sparen. Besonders beim Beschleunigen gab der Vergaser ein durchfallähnliches Geräusch von sich, das nichts Gutes ahnen ließ. Der Sohn des Straßenfegers schien sich auch nicht viel besser zu halten als sein Vorgänger. Didi hatte mich darauf aufmerksam gemacht, daß unser Benzinverbrauch gedrosselt werden könnte, wenn ich die Handbremse beim Fahren lösen würde.
Während ich bei offener Fahrertür die Karte studierte, kamen Didi und Aama zurück. Aama steckte den Kopf herein, ergriff mit beiden Händen den Türrahmen und zog sich hoch, so daß sie - winzig und gebeugt, wie sie war - vor dem Vordersitz zu stehen kam. Sie machte zwei wacklige Schritte hin zu mir, hielt sich mit einer Hand am Rückspiegel fest, den sie dabei wie üblich verdrehte, und kam dann mit einer 360-Grad-Drehung auf ihrem Ausguck zu sitzen - dem Unterteil eines großen Autokindersitzes -, so als würde sie in ein vorzeitliches Modell einer Raumkapsel klettern. Nepals Pionierin im inneren Raum Amerikas.
Didi schnallte Aama an.
»Müssen wir diesen Gürtel jedesmal festmachen, wenn wir einsteigen - so wie im Flugzeug -, damit wir nicht herausfallen? Ach ich weiß, ihr habt Angst, daß ich weglaufen könnte!« »Man darf nicht ohne angelegte Gurte autofahren«, erläuterte ich. »Die Polizei könnte uns festnehmen.«
»Euch vielleicht, weil ihr eine alte Frau fesselt.«
Der Wind rüttelte leicht am Auto, als wir auf der Schnellstraße am Südufer des Columbia River in Richtung Portland brausten. Auf dem Fluß tanzten Schaumkronen, die fast bis auf die Straße spritzten und in der Sonne wie Sternschnuppen glitzerten. Zu unserer Linken ragten dunkle Basaltsäulen in den kobaltblauen Himmel. Die Schnellstraße war glatt, sauber und bot die perfekten Bedingungen für entspanntes Überlandfahren. Aama beobachtete die Straßenschilder, wie sie auf uns zukamen und hinter uns verschwanden. Ein gelbes Schild »Kurvenreiche Strecke« mit einem Zickzackpfeil huschte vorbei.
»Das sieht aus wie ein Tausendfüßler«, bemerkte sie. »Vielleicht kommt ein Gewitter. Vor einem Sturm kriechen die Tausendfüßler unter den Steinen hervor, legen sich auf den Rücken und wedeln mit ihren Beinchen in der Luft. Wir sagen, sie verspotten den Himmel, und zur Rache schlägt dann der Blitz ein. Es sieht nach Regen aus, meinst du nicht? Aber hier bin ich mir nicht sicher.«
Der dunkel gefärbte obere Rand der Windschutzscheibe hatte sie vorher glauben lassen, der Himmel sei bewölkt. Sie hatte von Augenproblemen gesprochen, und ich fragte mich, ob ihre Augen vielleicht schlechter seien, als wir annehmen konnten. Ich hielt zwei Finger in die Luft und forderte sie auf, sie zu zählen.
»Natürlich kann ich zählen. Das sind drei Finger. Oder zählt man in Amrita anders? Du willst dich wohl lustig machen über mich.« »Ich glaube, Aama«, warf Didi ein, »wir brauchen eine Brille für dich.« »Meine Augen sind wirklich ein bißchen komisch und trüb geworden. Eine Kerze sieht aus wie zwei oder drei Kerzen, und der volle Mond gleicht einer weißen Rose, deren Blätter bald abfallen. Würde eine Brille helfen?«
»Vielleicht. Wenn du keinen grauen Star hast.« Didi setzte sich auf die Sitzkante, drehte sich zu ihr und forderte sie auf, die Augen weit zu öffnen. Sie schaute hinein und sah tiefbraune Dunkelheit. Aama kicherte.
»Ich weiß nicht, warum ihr noch für jemanden wie mich eine Brille besorgen wollt, wo ich doch sowieso bald sterbe - aber wenn, dann eine starke. Was ich eigentlich noch mehr brauche als eine Brille sind Zähne. Ich sehe, wie die Leute Sachen essen, die man kauen muß, und das macht mich neidisch. Im Dorf sagen sie, daß man beim Arzt künstliche Zähne bekommen kann, aus Knochen oder so etwas.« Sie drehte den Rückspiegel wieder so, daß sie sich darin sehen konnte, und öffnete ihren Mund, um hineinzuschauen: leer, so wie er es schon lange war. Ihr Blick sagte, daß sie sich damit abgefunden hatte, aber wer weiß, was in Amrita alles möglich war.
»Wenn du zum Doktor gehst, um eine Brille oder Zähne für mich zu besorgen, dann soll er Didi untersuchen und feststellen, warum sie keine Kinder kriegt.«
Didi schaute zu mir herüber und ich zu ihr, überrascht über diese Wendung des Gesprächs. Aama hatte ihre Augen auf den stetigen Rhythmus der gebrochenen weißen Linie in der Mitte der Straße geheftet. Ihre Bemerkung erforderte eine Antwort von mir - das stand fest -, aber ich hatte nicht gleich eine parat. Didi wartete neugierig, wie ich mich wohl herauswinden würde.
»Wir hier in Amerika praktizieren Familienplanung, weißt du, Aama? Es ist teuer, Kinder aufzuziehen, darum müssen wir das sorgfältig planen.«
»Wie kann man so etwas planen?« Sie verdrehte ihre weichen Hände mit der Krokodilshaut und den schwieligen Fingern zu Fragezeichen, so, als habe sie meine Ausrede schon erwartet. »Kinder kommen, ob du sie willst oder nicht. Du brauchst sie so oder so, damit jemand im Alter für dich sorgt. Wie groß dein Leiden auch sein mag - Kinder zu haben erleichtert dein Herz. Wenn dein Karma gut ist, dann bekommst du welche.«
Ihre Lippen bewegten sich, als wolle sie noch etwas hinzufügen, aber dünn gab sie mit einem kleinen Seufzer auf und schaute mich vertraulich von der Seite an. »Ich habe dir das noch nicht gesagt, aber weißt du, dadurch daß ich nach Amrita gekommen bin, kann ich euch vielleicht helfen, Kinder zu bekommen.« Ich fühlte Didis Blick auf mir ruhen. Ein paar Augenblicke konnte ich den beiden noch ausweichen, indem ich die Spur wechselte und ein anderes Auto überholte. Ich sagte zu Didi, es sei wahr, ohne Kinder seien wir keine richtige Familie. Aber dadurch, daß wir Aama mit uns nach Amerika genommen hätten, sei unsere Familie doch schon etwas größer.
»Du kannst nicht Geld anhäufen und keine Kinder haben«, sagte Aama mit Nachdruck. »Die Mutterkuh findet ihr Kalb in einer großen Herde. Was aber findet die unfruchtbare Kuh außer Gras?«
Aama legte den Kopf schief und schaute mich an. »Wenn bei uns eine Frau unfruchtbar ist, dann rufen wir einen Priester, der manchmal herausfindet, daß die Unfruchtbarkeit durch eine schlechte Stellung der Planeten verursacht wird. Wenn das so ist, dann empfiehlt er meistens, daß der Mann eine zweite Frau nimmt.« Es war klar, daß sie eine jüngere Frau im Sinn hatte, denn Didi war mit 37 nach nepalesischen Vorstellungen zu alt fürs Kinderkriegen. Aama vertiefte sich wieder in den weißen Mittelstreifen.
Sie spielte sowohl die Rolle der Mutter als auch jene der Schwiegermutter. Es war einfach: Zwei Schwiegertöchter wären besser als eine. Die eine könnte mit ihr ins Dorf zurückkehren und ihr bei der niemals endenden Arbeit helfen. In einem Versuch, die Unterhaltung ein bißchen aufzuheitern, sagte ich zu Didi:
»He, ich habe gehört, daß nur die zweite Frau verpflichtet ist, suttee zu begehen und ihrem Mann auf den Scheiterhaufen zu folgen, wenn er vor ihr stirbt. Du brauchst dir also keine Sor...«
»Bisher bin ich noch nicht einmal deine erste Frau«, warf Didi mit einem Lächeln ein, das nicht zum Ton ihrer Stimme paßte. Ich fragte Aama: »Wenn ich sterben würde, müßte Didi dann suttee begehen?«
»Wir Gurung machen es nicht, aber es heißt, suttee sei gut für das Karma von Mann und Frau.« Aama nahm wieder ihr ausdrucksloses Gesicht an und wartete auf Didis Antwort. »Aama, bei uns funktioniert das nicht mit den zwei Frauen. Sie kämen hier schlecht miteinander aus.« Aama nickte. »Ja, das stimmt. Es können Schwierigkeiten zwischen der ersten Frau und der zweiten Frau entstehen. Aber die erste Frau sollte froh sein, wenn eine zweite Frau ein Kind von ihrem gemeinsamen Mann hat.« Aama blieb nicht verborgen, daß Didi sich für ihren Vorschlag nicht erwärmen konnte.
»Also gut, dann hast du eben keine Kinder; du hast nur eine Frau und hortest Geld, zusammen mit den ganzen Kleidern, die du in den Beuteln mit dir herumträgst. Wir Gurung haben nicht genug Stoff, um Gästen eine Decke bieten zu können, wenn sie in unser Dorf kommen, und ihr in Amrita besitzt so viele Kleider, daß ihr ein spezielles Zimmer braucht, um sie aufzuhängen. Und ihr lauft über dicke Wollteppiche mit Schuhen. Uns kommt das komisch vor, weil wir uns nicht mal Teppiche leisten können, um darauf zu schlafen.«
Eine Kluft aus Schuld tat sich zwischen Aama und mir auf - die Schuld der reichen Amerikaner, die den armen Asiaten Almosen zukommen lassen. Hier saß eine arme Asiatin leibhaftig neben mir und sprach aus, was wir sonst nur aus Zeitungsappellen oder von unserem Gewissen hören.
»Hier«, versuchte ich unbeholfen zu erklären, »dreht sich fast alles um Geld. Die meisten Menschen besitzen kein Land. Sie müssen ständig arbeiten, um genug zu verdienen, damit sie etwas für ihr Alter zurücklegen können.« »Kümmern sich die Kinder nicht um ihre alten Eltern?« »Manchmal. Aber die Regierung zahlt den Alten auch etwas.« »Warum? Was tun die Leute für die Regierung?« »Es ist wie eine Pension für die, die ihr ganzes Leben für die Regierung oder für Firmen gearbeitet haben.« »Wie einfach«, sagte Aama trocken. »Vielleicht sollte ich hier leben.«
Aama könnte hier leben, und Didi und ich würden für sie sorgen, das heißt vor allem Didi: sie baden, mit ihr auf die Toilette gehen, ihr das Essen zerkleinern, ihre Hand halten - einfach alles. Unser Leben hatte sich bereits sehr verändert, so als hätten wir plötzlich ein Kind, und zwar ein großes, das von uns, einem spontanen Impuls folgend, adoptiert worden war. Ich erinnerte mich an Warnungen von Freunden, wie schnell man dazu komme, Kinder zu verwöhnen oder sich von ihren Forderungen manipulieren zu lassen - oder von alten Eltern.
Wir fuhren eine Weile schweigend dahin, dann fragte ich Didi, ob wir besser in Portland oder in San Francisco eine Brille und vielleicht neue Zähne für Aama besorgen wollten.
Es gab keine freien Campingplätze entlang der Columbia-River-Schlucht, und vermutlich würden wir im Hochsommer in der Nähe der Schnellstraße überhaupt keine freien Campingplätze finden. Wir waren müde vom langen Fahren im heißen Auto, so bogen wir in den staatlichen Campingplatz bei den Multnomah-Fällen ein und bekamen einen der letzten Plätze. Unser Fahrzeug nahm sich neben zwei riesigen Luxus-Aluminium-Wohnwagen, die mittels zweier Nabelschnüre mit Elektrizität und Wasser gespeist wurden, geradezu ärmlich aus. Immerhin mußten wir auf diese Weise nicht den Lärm und die Abgase von Camping-Generatoren in Kauf nehmen. Aama studierte diese merkwürdigen Metallmonolithen.
»Aama, das sind Häuser auf Rädern«, erklärte Didi. »Neben ihrem Haus in der Stadt oder auf dem Land besitzen manche Leute noch ein Haus, mit dem sie herumfahren.«
»Warum brauchen sie denn dann noch die anderen Häuser, wenn sie so hübsche aus Metall auf Rädern haben?«
»Sie verfügen wahrscheinlich über genügend Geld, um sich zwei Häuser leisten zu können - oder sie leihen sich das Geld -, und sie wohnen da, wo sie arbeiten; sie möchten andererseits aber auch gerne reisen, so wie du. Warum auch nicht?« fügte Didi hinzu. Ihre Stimme klang etwas ungehalten. Es war ihrer Stimmung nicht gerade förderlich gewesen, daß Aama mir ohne Umschweife geraten hatte, mich nach einer Zweitfrau umzusehen, und zwar nach einer jüngeren. Außerdem begann ich zu spüren, daß, seit wir wieder in Amerika waren, sich auch Didi ein Zuhause wünschte, mit oder ohne Räder, und danach zu suchen war vielleicht eines ihrer Motive, uns zu begleiten. Aber eigentlich war es Aama, die Didi und mich begleitete.
Ein Campingplatzwärter kam vorbei, um die Gebühren zu kassieren. Er schrieb die Platznummer auf ein Schreibbrett, notierte unser Nummernschild und betrachtete argwöhnisch unseren tibetischen Teppich und die Gurung-Decken, die wir aufs Gras gelegt hatten. Während ich mit ihm sprach, machte er sich weitere Notizen - vielleicht, weil er uns als Problemfälle betrachtete. Ich gab ihm einen Zehndollarschein und steckte eine gekritzelte Quittung in die Tasche.
Aama zog mich am Ärmel. Sie wollte wissen, wieviel ich für die Karte, die er mir gegeben hatte, zahlen mußte, und was man dafür bekomme und tun dürfe. »Ungefähr 250 Rupien. Dafür können wir hier einmal übernachten.« »Hunhh?« Sie schaute zu mir hoch und dachte nach. »Das ist teuer, wie alles hier. Und wann bringen sie das Essen?« »Essen?« Ich verschluckte mich fast an dem Wort. »Sie bringen kein Essen. Wir müssen Lebensmittel kaufen und sie selbst kochen - deswegen haben wir diesen ganzen Klimbim mitgenommen und den Campingkocher.« Didi holte gerade alles aus dem Wagen und stellte es auf den Campingtisch, über den sie ein rotes Wachstuch gebreitet hatte. »Wir müssen dafür bezahlen, daß wir draußen schlafen dürfen, und sie bringen nicht einmal Essen?« Aama schüttelte staunend den Kopf und starrte Didi mit ihren Tüten und Kisten an. »Kein Essen... nur fürs Schlafen 250 Rupien... Hunh.« Ich hielt inne. Aama schüttelte irritiert den Kopf. »Was sind das bloß für Menschen, was ist das für ein Leben, wo wir Geld zahlen müssen, um nachts draußen im Wald zu schlafen?« Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. »Also, dieser Platz hier wird vom Staat unterhalten. Er ist sogar noch billiger als ein privater Campingplatz.«
»Wenn er dem Staat gehört, dann sollten sie kein Geld nehmen, oder? Wird in diesem Land denn überhaupt nichts für das Dharma getan, für die Religion, für Fremde auf der Durchreise? Es ist unsere religiöse Pflicht - und zählt als Verdienst - Reisenden Essen und Quartier anzubieten, egal wann sie ankommen. >Ein Abendgast bringt Glück<, sagen wir und verlangen niemals Geld von einem Gast. Mein Haus ist direkt unter dem Weg, so daß oft Reisende bei mir auftauchen, die ich noch nie gesehen habe.« Sie unterbrach sich für einen Moment und fügte hinzu: »Morgengäste sind nicht so wichtig.«
Aama begann sich nun wirklich zu erregen und verlieh jedem Punkt mit einer heftigen Handbewegung Nachdruck. Erst richtete sie sich an uns, dann an die Bäume, dann an die Baumspitzen; sie flehte, daß die Menschen, die es anging, sie hören und verstehen würden. Wie sollte sie diese Welt begreifen? Mein Blick folgte dem ihren zu den Bäumen, und ich hoffte, daß ich fähig sein würde, ihr zu antworten.
»Und wo gibt es auch nur ein Zeichen dafür, daß dein Volk die Götter ehrt - Götter, die ganz gewiß hier sind: überall, in allem, was uns umgibt in diesem wunderbaren, schönen, großen Land. Bhagwan, der Gott der Götter, der Geist des Dharma, ist anwesend. Ich kann es fühlen, aber dein Volk scheint nichts davon zu wissen.«
Sie hockte sich an den Picknicktisch und starrte in die Ferne. Ich setzte mich neben sie auf die Holzbank und fuhr mit dem Daumennagel auf der abgesplitterten Farbe hin und her, auf der Suche nach einem Beispiel oder einer Metapher, mit der sie etwas anfangen konnte. Mir fiel aber nichts ein. Der großartige Anblick des Kaskaden-Gebirges hatte sie begeistert, ebenso die unendlichen Weizenfelder und die Eleganz und Faszination der Technik. Aber ich spürte, daß sie nach mehr suchte, nach irgendeinem Zeichen, daß das amerikanische Volk dem Geist Achtung und Ehrerbietung entgegenbrachte, dem Geist, der uns führt und unser Leben überhaupt erst ermöglicht. Eine solche Orientierung auf das Heilige war nicht so leicht zu finden in Amerika, möglicherweise überhaupt nicht.
»Die meisten Amerikaner wissen gar nicht, wie schön und reich unser Leben hier ist, Aama«, begann ich zögernd, »weil sie nichts anderes kennen. So etwas wie dein Dorf haben sie nie gesehen, die Mehrheit von ihnen war noch nie im Ausland. Ich schäme mich, dir mein Heimatland zu zeigen, in dem es keine religiöse Andacht gibt.«
Ein Vogel stimmte sein Abendlied an, und die Geräusche auf dem Campingplatz wurden intensiver und lebendiger. Aama schaute sich um.
»Was tun all diese Leute - gibt es denn bei euch gar keine Religion?« fragte sie herausfordernd mit durchdringendem Blick. Ihr Gesichtsausdruck und die Spitzen ihrer zitternden Finger zeigten deutlich, daß sie sich fehl am Platz und allein fühlte. Sie schien plötzlich zu spüren, wie anders sie war, ihre Kleinheit, ihre Kleidung, ihre Isolation, ihre Machtlosigkeit. Wie konnte ich ihre Enttäuschung mildern? Ich fühlte mich hilflos. Mich für unser Land zu entschuldigen, wäre überheblich und sinnlos.
»Vielleicht begegnen wir noch Menschen, die religiös sind«, brachte ich vor, um ihre Stimmung zu verbessern. »Es gibt auch hier Götter. Bhagwan ist hier. Du sagst ja selbst: Man braucht nur die Augen aufzumachen. Religion und Spiritualität sind nicht überall, aber es gibt Menschen, die das Göttliche verehren.« Die Hoffnung, ihnen zu begegnen, war nicht ganz unrealistisch.
Sie erwartete von Amerikanern nicht, daß sie sich wie Hindus verhielten, aber sie hatte angenommen, daß auch hier die Menschen auf einer spirituellen Basis lebten: tragende, selbstverständliche Werte wie Gottesverehrung und Dienen. Die Buddhisten und Muslime, denen sie in Nepal begegnet war, verhielten sich so wie sie, und sie hatte das Gefühl, daß sie aus demselben spirituellen Stoff gewebt waren, auch wenn ihre Bilder und Erklärungen anders aussahen. Wo waren unsere? Vermutlich irgendwo in den Fernsehgeräten, vermutete ich.
Didi merkte, daß Aama Hunger hatte und daß auch das ein Auslöser für ihre düsteren Gefühle war. Schmollend kam Aama zum Picknicktisch, und wir aßen schweigend, was Didi hastig zubereitet hatte. Wie Eltern, die darauf warten, was ihr rebellisches, halbwüchsiges Kind wohl als nächstes von sich geben würde, saßen wir angespannt am Tisch. Didi holte Eis aus der Kühltasche und füllte Aama eine Schale voll. Aama erinnerte sich an die Eistüte auf der Fähre und folgte dem Weg der Schale zum Tisch erwartungsvoll mit den Augen. Der Genuß der weichen, kühlen, glatten, süßen Creme versöhnte sie wieder etwas mit der unmittelbaren amerikanischen Wirklichkeit. Sie stellte sich vor, wie ihre Verwandten reagieren würden, wenn sie ihnen erzählte, daß wir fürs Schlafen unter freiem Himmel hatten bezahlen müssen, und wir lachten gemeinsam schon im vorhinein.
Nun konnten wir wieder sprechen. Ich teilte Aamas pessimistische Gefühle über den spirituellen Charakter unseres Kontinents - vielmehr den Mangel daran: eine Gemeinschaft von Menschen ohne Persona. Wie konnten sich die meisten von uns so weit von einfachen Prinzipien und Freuden entfernen? Keine Frage, Amerika war von durchaus freundlichen Menschen bewohnt, die in guter Nachbarschaft miteinander lebten, hingegeben an ihre Arbeit, ihre Familie und ihre Freizeitvergnügen; aber dem Land fehlte die Art von universalem Glaubenssystem, das den Kitt eines Gurung-Dorfes ausmachte. Geld war in Amerika allgegenwärtig, aber es band die Menschen mehr an Schulden und Pflichten als an die Mitmenschen und die Gemeinschaft.
Aama war ihre Kultur an- und eingeboren, und so lag es an Didi und mir, aus der Perspektive einer anderen Sozialisierung zu reflektieren und zu beschreiben, was Aama und die Gurung von Amerikanern unterschied und auch mit ihnen verband.
»Hier sind es die Schullehrer, die Therapeuten, die Rechtsanwälte und die Gerichte, die zu oft darüber entscheiden, was richtig und was falsch ist«, sagte ich. »Von den bezahlten Spezialisten lernen wir die Regeln, oder wir müssen die Konsequenzen tragen.«
»Im Unterschied dazu«, meinte Didi, »werden die Regeln und Normen in den Dörfern des Himalaja ganz und gar von der Religion, der Familie und der Gemeinschaft getragen und durchgesetzt. Das ist ein starker Verhaltensregulator, der die Gesellschaft fast nichts kostet. Und ob sie es nun so nennen oder nicht, immer steht dahinter ein Verständnis von Karma.«
Sehr viel konnte mit dem Karmaprinzip erklärt werden, jenem unentrinnbaren Gesetz von Ursache und Wirkung. Die Summe der eigenen Handlungen, das Plus und das Minus ihrer Folgen, bestimmt die Qualität des gegenwärtigen Lebens. Die Wirkung der eigenen Handlungen reicht über diese Lebensspanne hinaus ins nächste und in weitere Leben. Nach und nach reift das Karma.
Didi und ich fühlten uns beide nicht in der Lage, amerikanische Werte angemessen darzustellen und zu interpretieren. Aber ich versuchte, Aama dennoch ein Bild zu geben, und wurschtelte mich irgendwie durch.
»Unsere Familienstruktur hier in Amerika hat sich in den letzten hundert Jahren ziemlich aufgelöst«, bemühte ich mich um eine Erklärung und fragte mich, ob es vielleicht aus schlichter Vernachlässigung geschehen war. »Zuerst sind die Siedlungsgemeinschaft und die Großfamilie verschwunden« - sofern es die in unserer westlichen Pionierkultur der Expansion je gegeben hat -, »und jetzt ist sogar die Kernfamilie bedroht.« Aber ich konnte Aama nicht sagen, warum. Irgendwie ist unser Rechts- und Wohlfahrtssystem zum Ersatz für Familie und Gemeinschaft geworden. Aufgrund ihrer eigenen schleichenden Dynamik oder Versäumnisse sieht sich die Regierung in die Zwangslage versetzt, die Scherben aufzusammeln.
Aama quittierte meine Aufrichtigkeit mit einem Lächeln und war allem Anschein nach erleichtert, daß mich noch andere Dinge beschäftigten als Geld, Herumfahren und das Horten von Gegenständen. Während ich sprach, hatte sich ihre Stimmung wieder aufgehellt. Sie schien bereit zum Schlafengehen.
Wir krochen alle drei unter eine einzige große Steppdecke und schauten in den Sternenhimmel, der sich über uns ausbreitete. Während Aama ihr Abendgebet sang, durchforschte ich mein nebulöses, schwankendes Bild von Amerika nach einem Bezug zum Heiligen, nach einem Zeugnis für die kollektive Achtung für das Land und seine Menschen. Unsicher, wie ich ausdrücken konnte, was ich fühlte, rutschte ich zu Didi hinüber, schaute sie in der Dunkelheit an und sprach im stillen ein Gelöbnis aus. Sollte es irgendwo in Amerika ein Empfinden für das Spirituelle oder sogar echte Religiosität geben, dann würden wir versuchen, sie im Strudel der Ablenkungen zu finden. Ich hielt mich zurück, Aama diesen Entschluß mitzuteilen, denn ich fürchtete ihren Spott darüber, daß wir hier nach etwas suchen mußten, was für sie als selbstverständlicher Teil zur Landschaft gehörte, die wir bewohnen, und der Luft, die wir atmen.
Ich war als Sonntagsschulen-Protestant aufgewachsen und kannte die Bibel nur aus der Perspektive von Kindergeschichten. Aber Didi stammte aus einer traditionellen katholischen Familie, und sie wußte vielleicht, wo wir mit unserer Suche beginnen konnten. Sie dachte einige Augenblicke nach, und ich spürte, daß sie meinen Entschluß nicht abwegig fand. Sie seufzte, flüsterte etwas, das sich anhörte wie »gute Idee« und meinte, wir müßten jetzt schlafen. Ich lag auf dem Rücken und arbeitete mich systematisch durch den Sternenbaldachin, indem ich versuchte, die Sterne zu Gruppen zu organisieren. Als ich zu den ersten Gruppen zurückkehrte, sahen sie anders aus. Astrologen hatten recht: Die Sterne wußten. Sie wußten soviel wie wir über unser Karma und wohin uns unsere Reise führen würde.
Didi und ich wachten bei Sonnenaufgang auf. Angeregt von der frischen Nordwestluft, schlüpften wir in unsere Pullover und setzten Kaffee auf dem Kocher auf. Aama schätzte den kalten Luftzug, der an sie herankroch, gar nicht und zog sich die Decke eng über die Ohren. Nur noch ein paar silberne Haare waren von ihr auf dem tibetischen Teppich zu sehen.
»Ist meine Schwiegertochter schon auf?« rief sie zum Spaß unter der Decke hervor. »Sag ihr, daß sie sich gefälligst hochmachen soll! Die Sonne geht auf. Der Boden und der Eingang müssen mit frischem Kuhdung und Ton gepflastert werden. Mach dann das Feuer an, setz Teewasser auf und dresche Korn. Danach muß der Reis für Mittag aufgesetzt werden, und dann nehmen wir unsere Hacken und gehen aufs Feld! Aber natürlich mußt du zuallererst Wasser holen...« Sie riskierte einen Blick über den Rand der Bettdecke, um zu sehen, ob ihr Morgenappell an die Schwiegertochter unseren Zeltplatz im Wald vielleicht doch in ein quirliges Dorf im Himalaja verwandelt hatte.
»Und wohin geht's heute?« Sie warf die Decke zurück. »Ich bin auf. Was gibt's zu sehen? Also dann, los!«
An einem Informationsstand für Touristen fiel mir eine Broschüre mit dem inspirierenden Titel »Das Versprechen und der Traum: Das Heiligtum unserer Schmerzensreichen Mutter« in die Hand. Gemeint war damit eine religiöse Enklave außerhalb von Portland mit Namen »Die Grotte«. Dort hatten die Brüder und Schwestern des »Ordens der Diener der Maria« ein 26 Hektar großes Waldgelände in einen katholischen Garten mit Schreinen, Kapellen, Statuen und den Stationen des Kreuzwegs verwandelt. Didi fuhr, während ich Aama einen Teil der Broschüre übersetzte, in der ausgeführt wurde, wie »die Diener der Maria« danach streben, das Leiden der Welt zu lindern, indem sie die Barmherzigkeit Marias, wie sie sich in ihrem Dienst an Jesus zeigt, zu leben versuchen. Aama schloß daraus sofort, daß dies ein heiliger Platz sein müsse und wir endlich etwas täten, was sich lohnte. Unsere Pilgerreise hatte endlich begonnen.
»Wenn ich gewußt hätte, daß wir heute den Göttern etwas opfern, dann hätte ich nach dem Aufstehen gebadet und gefastet. Ein religiöser Pilger sollte das tun, bevor er vor den Göttern erscheint. Ich habe Tee getrunken, aber das dürfte nichts schaden.« Während sie mit dem rechten Daumen die Fingerspitzen derselben Hand nacheinander berührte, zählte sie auf, was wir alles brauchten: »Reis, Räucherstäbchen, Kerzen, Zündhölzer, Blumen... und frischen Kuhdung. Kannst du Kuhdung bekommen?«
»Hier in der Nähe wohl kaum.« Ich wußte, daß Kuhdung Bhagwan günstig stimmte, und blickte suchend auf die Wiesen jenseits des Parkplatzes. Mit Kuhmist düngen die Gurung ihre Felder, kochen ihr Essen und verputzen, gemischt mit Tonerde, damit ihre Fußböden und Wände. Es ist ein Nebenprodukt - oder besser: Produkt - von Lakshmi, der Göttin des Wohlstands, der Quelle von Milch und Butter. Aama erinnerte uns an die Kühe, sehr kleine Kühe, die wir auf der Fahrt durchs Autofenster gesehen hatten. Bestimmt würden wir dort auf der Weide neben der Autobahn Kuhfladen finden, aber wir waren schon lange von der Autobahn herunter. Außerdem wußte ich nicht recht, was ich sagen sollte, wenn mich jemand dabei erwischte, wie ich einen Kuhfladen einsammelte. In Oregon würden die Leute sicher annehmen, daß wir hinter halluzinogenen Pilzen her seien.
Didi entdeckte den Wegweiser zur »Grotte«, und wir gelangten auf einen Waldweg. Ich hatte einen Freund in Portland angerufen, einen Arzt, der eine Klinik in Katmandu leitete, und mich mit ihm am Parkplatz verabredet. Aama kannte ihn als Doktor Sah 'b, obwohl sie nie seine Patientin gewesen war. Er war auf Urlaub zu Hause. Kuhfladen konnte auch er leider nicht auftreiben.
Aama gab uns Anweisungen zur rituellen Vorbereitung. »Schau, die Blumen da drüben. Didi, pflücke welche - nein, ich mache es selber. Vielleicht hast du gerade deine Periode. Ideal wäre es, wenn ein jungfräuliches Mädchen sie pflücken würde.«
»Aama, wir dürfen die Blumen nicht pflücken«, wandte Didi ein, die sich zwar über Aamas religiösen Eifer freute, aber Sorge hatte, daß sie uns in Schwierigkeiten bringen könnte. »Auf dem Schild steht, daß es verboten ist.«
»Was soll das heißen: Wir können die Blumen nicht pflücken? Letzte Nacht mußten wir dafür bezahlen, daß wir draußen geschlafen haben ohne Essen, und jetzt dürfen wir die Blumen nicht pflücken? Kaha hunchha«, stieß sie hervor, was soviel heißt wie: »Jetzt reicht's aber!«
»Wenn wir sie pflücken, dann können andere Leute sich nicht daran freuen.« Es klang, als würde Didi die »Grotto«-Politik erläutern. »Sehen sie nicht schön aus, bunt und fröhlich, wie sie dort im Beet stehen?«
»Natürlich sind sie schön, deswegen brauchen wir sie ja - als Gabe für die Götter.« Sie schaute uns nacheinander an. »Blumen sind nicht von Menschen gemacht, von unseren Händen. Sie existieren nicht, weil wir das so wollen, sondern weil Bhag-wan sie geschaffen hat. Alles, was wir sehen, ist von Bhagwan geschaffen. Wie sollten Menschen verbieten können, daß wir sie pflücken? Ich verstehe überhaupt nichts mehr!«
Sie ging zum Blumenbeet hinüber, das den Parkplatz unterteilte, und pflückte trotzig einige Stiefmütterchen. Es ging ihr ganz und gar gegen den Strich, daß wir sie in ihren religiösen Verrichtungen behindern wollten.
Das Geräusch einer hydraulischen Tür zog unsere Aufmerksamkeit an. Ein Bus mit der Aufschrift »Catholic Charters« hatte mitten auf dem Platz gehalten: ein Pilgermobil. Die meisten Reisenden, die daraus langsam hervorquollen, sahen aus wie Lateinamerikaner und Asiaten. Die Frauen trugen Mantillas und Rosenkränze, das katholische Äquivalent zur Mala der Hinduisten und Buddhisten, einer Kette mit 108 Rudraksha-Samen, welche die meisten älteren Menschen beim Besuch heiliger Stätten in Asien zur ständigen Wiederholung ihrer Mantras und Gebete benutzen.
Didi, Absolventin eines katholischen Konvents, sagte, daß in unserer Generation die meisten gläubigen Katholiken Mexikaner und Filipinos seien; sie glaubten noch daran, mittels einer Pilgerreise Verdienste sammeln zu können. Nachdem sie ihre Augen an das grelle Sonnenlicht des Nordwestens gewöhnt hatten, schauten einige von ihnen unbekümmert zu, wie Aama Blumen pflückte. Ich erwartete jeden Moment, daß ein Ordnungshüter eingreifen würde. Aber sie tat es mit einer solchen Selbstverständlichkeit, daß sich keiner daran störte. Den üppigen Strauß reichte sie an Doktor Sah 'b weiter. »Ich ziehe hier meine Schuhe aus«, sagte sie und schritt sogleich zur Tat. »Man trägt keine Gürtel und keine Schuhe, wenn man einen Tempel oder Schrein besucht oder eine Pilgerstätte -jedenfalls nicht, wenn sie aus Rindsleder sind. Ist an meinen neuen Schuhen nicht auch Leder?«
Gehorsam streiften wir alle unsere Schuhe und Socken ab, verstauten sie im Auto und gingen ehrfürchtig den geteerten Schlängelweg zur »Grotte« entlang, der von der Flora des Nordwestens gesäumt wurde: Rhododendron, Oregonwein und Adlerfarn. Die Luft war mit dem feuchten Duft von Douglastannen und verrottender Rinde gesättigt, heimatliche Gerüche der Pazifikküste hier im Nordwesten. Aamas Zehen spreizten sich wie Finger und erforschten den Boden bei jedem Schritt. Katholische Pilger schlenderten hinter uns her, und andere gingen zu den Bussen zurück. Sie nickten Aama, die sie wahrscheinlich für eine Katholikin aus einem alten Land irgendwo in Südamerika oder Asien hielten, freundlich zu. Eine Frau fragte sie, wie alt sie sei. Als Doktor Sah 'b antwortete, 84, meinte sie, sie habe sie für älter als 100 Jahre gehalten. Ich sagte Aama, daß die Frau, die mit dem Doktor spreche, und die anderen asiatisch aussehenden Leute sämtlich Pilger seien.
»Sie sehen nicht gerade wie Pilger aus. Sie haben keine Kerzen, keine Räucherstäbchen und keine Blumen bei sich; außerdem tragen sie Schuhe. Vielleicht haben sie sich verirrt und wissen nicht, daß dies hier ein heiliger Ort ist - oder sie haben die Geschichte geglaubt, daß man keine Blumen pflücken darf. Wie dem auch sei - jedenfalls erwerben sie sich Verdienste einfach durch ihr Hiersein«, meinte sie nachsichtig.
Mit den gespreizten Fingern ihrer freien Hand deutete sie auf die Büsche am Wegrand. »Laßt euch nicht einfallen, hier hinzupinkeln«, ermahnte sie uns eindringlich. »Das Gelände um einen Schrein ist heilig, und der Weg dorthin soll mit Respekt begangen werden. Einem heiligen Ort mußt du dich mit reinem Geist und reinem Körper nähern - und einem leeren Magen. Ihr wußtet doch, daß wir zu einem heiligen Ort gehen, aber ihr habt vorher gegessen, nicht wahr? Hat Doktor Sah 'b auch gegessen?«
Ich brauchte nicht an die Pizza aus dem Schnellimbiß erinnert zu werden, die Didi und ich an einem Drive-in der vierspurigen Zubringerstraße erworben und hungrig heruntergeschlungen hatten. »Wenn dein Magen leer ist«, belehrte uns Aama weiter, »dann hast du mehr Respekt. Du zeigst auf diese Weise den Göttern, daß du bereit bist, zuerst ihnen Nahrung zu geben, bevor du selbst ißt.« Sie hatte nichts gegessen. Ich fühlte mich schlaff, und nun machte sich auch noch mein schlechtes Gewissen bemerkbar. Als Aamas Dharma-Sohn hätte ich es schließlich besser wissen sollen. Ich fragte mich, ob ich mich so verhalten sollte, als sei dies mein Land, oder als sei es Aamas Land. Allmählich bekam ich das Gefühl, es sei ihres.
Aama verließ den Weg und trat an den Rand eines Baches, der quer durch den Garten floß. Sie beugte sich tief nach unten und spritzte Wasser über ihre Füße, um sie dann gründlich mit den Fingerspitzen hinter den Knöcheln und zwischen den Zehen zu waschen. Sie schaute sich nach einem runden Stein um, wie er an der Dorfquelle zu liegen pflegt, um angetrockneten Schmutz von der Feldarbeit zu entfernen, aber sie sah nur Büsche und feuchten Waldboden. Sie stand auf; unter dem Sarong glänzten ihre runzeligen und schwieligen Füße wie moderne Kunstobjekte.
Leise ätherische Musik geleitete uns zu einem natürlichen Amphitheater, einer Art Freiluftkathedrale mit Kirchengestühl und Altar. Als wir uns umdrehten, standen wir vor der Grotte. Sie beherbergte eine weiße Marmorstatue der Jungfrau Maria, die den sterbenden Christus in den Armen hält, eine Kopie der Pietà von Michelangelo. Opferkerzen, die noch bis vor kurzem nach Belieben in der Grotte aufgestellt werden konnten, waren jetzt in einen Käfig eingesperrt. Im Laden für religiöses Zubehör wurde uns mitgeteilt, Kinder hätten Kerzen weggenommen und damit gespielt; doch wenn man das Personal beauftragte, eventuell auch telefonisch, eine Kerze anzuzünden, dann würde sie garantiert sieben Tage lang brennen.
Aber für Regeln war keine Zeit. Aama, autorisiert von ihrer eigenen Frömmigkeit, zog die Kette weg, die am Betreten der mit Moos und Flechten bewachsenen Grotte, des Heiligtums der Jungfrau Maria, hindern sollte. Sie stand direkt unter der Statue und hatte die Hände locker zusammengelegt, als hielten sie eine Kerzenflamme oder eine Lotusblüte kurz vor dem Aufspringen. Ihr Körper schien warm durchstrahlt durch die Nähe zu einer gütigen Gottheit. Bewegungslos murmelte sie mehrmals ihr Mantra und wandte sich dann uns zu, um die Opfergaben zu übernehmen. Sie zündete die Kerzen auf den Altarstufen an und schützte die Flamme sorgsam mit beiden Händen, um kein Streichholz zu verschwenden, denn Streichhölzer sind im Dorf teuer. Dann stellte sie die Kerzen oben auf den Altar, entzündete an der Flamme die Räucherstäbchen, nahm sie zwischen die zum Gebet aneinandergelegten Handflächen, so daß es schien, als ströme der Rauch aus ihren Fingerspitzen, trat zwei Schritt zurück und bewegte die Räucherstäbchen im Uhrzeigersinn kreisend vor ihrem Gesicht. Ein Sonnenstrahl fiel schräg in die Grotte auf die andächtige Gestalt und hüllte sie in einen Lichtkranz.
Doktor Sah'b, Didi und ich schauten gebannt zu. Aamas kleine Gestalt war ganz und gar Hingabe, wurde fast zu einem Teil der Grotte selbst, zum Gegenüber der Jungfrau Maria, die erhaben und allwissend über ihr thronte. Die Zeit schien sich zu dehnen und plötzlich stehen zu bleiben, so wie ein Auto mit quietschenden Bremsen zum Stehen kommt, um einen Blinden über die Straße zu lassen. Uns, die wir hinter Aama standen, kam es so vor, als seien wir über Zeit und Raum hinweg in einen nepalesischen oder indischen Tempel vor ein paar hundert Jahren versetzt.
Aama legte die Räucherstäbchen vor den Altar, kniete sich nieder, legte die Handflächen auf den sauberen Schieferboden der Grotte und berührte ihn mit der Stirn. Sie verneigte sich noch zweimal, während sie das Gebet sprach, das ihr spontan aus dem Herzen kam.
»Wir sind hier in Unwissenheit. Mögen alle Menschen von diesem heiligen Ort erfahren. Gib ihnen die Möglichkeit, herzukommen, ihre Opfergaben zu bringen und den Segen zu empfangen. Wir alle sind von einer Rasse, von einem Blut, o Bhagwan. Vergib meine Sünden und die Sünden aller Menschen Amerikas und der ganzen Welt, und schütze uns alle. 0 Bhagwan, schenke uns Frieden und Glück, bewahre unsere Gesundheit und unser Wohlergehen. Mögen jene, die keinen Besitz haben, ihn nicht vermissen, und jene, die Besitz haben, ihn nicht mißbrauchen. Ich bringe diese Gaben in Demut im Namen meiner Verwandten und Ahnen dar, o Bhagwan...«
Die Pilger aus dem Bus in ihren kurzärmeligen Hemden und geblümten Sommerkleidern starrten Aama mit offenem Mund an. Sie waren wie verzaubert von ihrer resoluten Hingabe. Hier war eine alte Hindufrau aus Nepal, die an ihrer Stelle und für uns alle den Katholizismus mit innigster Frömmigkeit zum Ausdruck brachte. Wie es von einem echten Pilger verlangt wurde, hatte sie Leiden ertragen, ihr Zuhause im hohen Alter verlassen, auf dem Weg Mühsal auf sich genommen und war hier glücklich angekommen, um in einem heiligen Schrein vor das Angesicht der Götter und Göttinnen zu treten. Aber jetzt schritt sie darüber hinaus, ließ uns in der profanen Welt zurück und schien selbst einen sakrosankten Raum zu betreten. Die umstehenden Pilger sahen aus, als wollten sie zu ihr und bei ihr sein. Vielleicht konnte sie uns alle mit sich nehmen.
»Es ist Gott, der mich hierhergebracht hat. Diese Gottheiten haben eine andere Form als unsere, aber es sind dieselben Götter«, sagte Aama, die leicht zitterte, als habe sie sich mit kühlem Wasser erfrischt. »Welcher Gott ist das in der Höhle?« fragte sie mich.
»Es ist die Jungfrau...« »Ist auch egal«, unterbrach sie mich, »Bhagwan ist ein Wesen, ein Geist, der in vielen Formen erscheint, in vielen Gottheiten. Bhagwan kommt nicht zu uns und sagt: >Ich bin der Gott mit diesem Namen.< Nur wir Menschen machen Unterschiede zwischen den Göttern. Wenn Bhagwan in der eigenen Seele ist, dann kann man ihn sehen.«
Eine dreißig Meter hohe Felswand unterteilte den Garten in zwei Ebenen. Wir gingen zu dem Freiluftaufzug, der die Besucher von der Grotte zum Obergarten transportierte. Davor mußte man ein Drehkreuz passieren. Aama zog die obere Stange mit ausgestreckten Armen zu sich, was zur Folge hatte, daß ihr die untere an die Beine stieß. Ich winkte ihr zu, sie solle nach vorne gehen und nicht nach rückwärts, aber Aama duckte sich kurzerhand und kroch unter den Stangen durch, so, wie sie vielleicht einen kleinen Hinduschrein betreten hätte. Ein Aufpasser schaute lächelnd zu, als ich ihr die Hand reichte und sie hochzog.
Doktor Sah 'b hielt uns die Aufzugtür auf und fragte in feierlichem Tonfall: »Himmel, Hölle oder Fegefeuer?« Wir brachen in Gelächter aus und lösten so den Bann der andachtsvollen Szene in der Grotte. Didi übersetzte Aama Doktor Sah'bs Scherz, was uns eine Rüge für unsere Albernheit und mangelnde Ehrfurcht eintrug. Der Obergarten war als Passionsweg angelegt und jede der Leidensstationen Christi in Marmor gehauen. Aama beobachtete Didi, wie sie sich hinkniete und betete, und kniete sich neben sie. Sogleich übernahm sie die Führung und schritt mit uns dreien im Schlepptau zur nächsten Station, kniete sich hin, betete laut auf Sanskrit und berührte den Boden mit der Stirn.
Wir entdeckten die im Garten angelegte Rosenkranz-Mala, die in der Broschüre beschrieben war. Aama nahm Doktor Sah 'b, den sie nach seiner unpassenden Bemerkung im Aufzug für besonders absolutionsbedürftig hielt, an der Hand und ging mit ihm - Mantras murmelnd - hinter den anderen Pilgern her, die den Rosenkranz im Uhrzeigersinn umschritten. Er bestand aus Plastikschwimmern, wie man sie an Fischernetzen verwendet, die auf eine Schnur gezogen und um ein Blumenbeet gelegt waren. So wurde der jüdisch erzogene Doktor Sah 'b nun von einer alten hinduistisch-buddhistischen Frau durch ein katholisches Ritual geführt. Er konnte nicht anders, als Didi und mir angesichts dieser erstaunlichen Kombination von Umständen über die Schulter zuzulachen.
Aama unterbrach den Fluß ihrer Segenssprüche. Tadelnd fiel ihr Blick auf Doktor Sah'b. »Jetzt schaut euch das an! Doktor Sah 'b lacht!« Auch Didi und ich konnten uns ein Grinsen nicht verkneifen. Sie hatte uns erwischt. Aama umrundete den Rosenkranz ein zweites Mal, war aber nicht bei der Sache. Sie blieb vor uns stehen und sagte streng: »Ihr lacht alle. Ihr wißt nicht, wie man die Götter verehrt. Ihr wollt nur zuschauen und lachen. Aber Bhagwan hört euer Lachen.« Wir wischten uns das Lächeln verlegen vom Gesicht. Sie hatte uns in den gegenwärtigen Augenblick zurückgebracht, in ihren Augenblick, auf ihren Boden. Geläutert vollführte Doktor Sah'b mit Aama einen dritten Umgang, bevor sie ihn losließ. Schweigend standen wir da und betrachteten die Bäume und Statuen des Parks. Uns wurde klar, daß wir im Grunde über uns selbst gelacht hatten, und Doktor Sah'b schwor, daß er sich niemals mehr über die religiöse Hingabe eines Menschen lustig machen würde. Angesichts der Demut in Aamas Gesicht und Stimme konnten auch wir nur still werden.
Die Fahrt nach unten mit dem Aufzug glich einer Rückkehr zur Erde. Als wir ins Auto stiegen, erkundigte sich Aama, ob noch etwas von dem Essen übrig sei, das so gut gerochen, und ob es ausreichte, um es auch mit Doktor Sah'b zu teilen.