April - Mai - Juni

30 Tage hat der April
Ihre Zeichen:

Akute Melancholie fällt an denen auf, die sich in diese Materie schon weit hineinbegeben haben, während eine unbeschwerte, verkicherte, tänzelnde Einbildungskraft diejenigen aufrechtzuerhalten scheint, die sich noch in den allerersten Stadien befinden: oberflächlich im Denken; arm an Konzentration; eine Neigung zum Hopsen, Hüpfen, Springen sowie dazu, das Auge unangebrachterweise auf jede einzelne oder mehrfache Erscheinung eines Mädchens in gleichgearteter Unpäßlichkeit zu lenken.
Darauf folgt Kühle oder nächtliche Ruhelosigkeit oder die unerklärliche tabellarische Aufstellung unbedeutender Gegenstände wie Schindeln für (wäre sie in London: Bärenfellmützen) Turmspitzen, Maulbeeren für Körbe, Ösen für Kleider, Hufe für Pferde und Sterne am Himmel.
Binnen sechs bis acht Wochen schafft das Raum für eine Nüchternheit, die Gedanken an Transmigration, Levitation, Myopie und Pusteln einschließt. Das Auge trieft, der Atem ist kurz, der Spleen greift um sich, und die Epiglottis hebt und senkt sich wie das unaufhörliche Schlucken des Herzens. Woraufhin man miterlebt, wie die Venen hervortreten, die Nerven zucken, die Handflächen feucht werden, die Füße ihre Rührigkeit einbüßen, die Eingeweide sich zusammenziehen, und so wie in alten Zeiten, als ein Mensch im letzten Stadium der Tollwut bisweilen junge Hunde im Urin fand, so findet man im Wasser dieser hier die vollständig bekleidete, auf dem Vormarsch befindliche Venusfigur, nicht größer als ein Kümmelkorn, in der einen Hand einen Dreizack und in der linken Faust eine Gänsewespe.
Von einer heißt es, sie habe in Todespein eine ganze Schule von Dirnen passiert, die auf einer Muschelschale lagerten, welchselbe feuerspeiend wütete, bis daß die Gesamtheit der Flüssigkeit in ihrem Nachtgeschirr dermaßen entflammt war, daß sie einem brennenden Brandy gleichkam und dergestalt über die Leidende rann, daß man erleben konnte, wie sie unter Rauchausbruch wieder in Dienst genommen wurde und auf diese Weise binnen weniger als einer Sekunde zu einem Stück Glut verkohlt war. Sei dem, wie wolle, es gibt nicht wenige, die dafür halten, die Krankheit und die Anzeichen derselben seien in einem Maße unterschiedlich, daß eine Klassifikation nahezu unmöglich werde; eine ganze Anatomie sei nötigenfalls zu entwerfen, um auch nur an die kleinste Fiber der Krankheit, des Leidens und der Agonie heranzukommen.
Andere haben ein Temperament von der Art, daß nichts sie aus der Fassung zu bringen vermag außer der Eitelkeit. Die kann man erleben, wie sie sich Efeu ins Haar winden oder sich einen Lorbeerzweig über die Schläfen hinzaubern, während sie »Ich bin ich!« intonieren, und so geruhen sie auch nicht, welchen Gram auch immer zu verspüren, es sei denn, irgendjemand fragte: »Na und?«, was sie in eine solche Wut versetzt, daß selbst das Gewand ihrer Begleitung in Gefahr gerät, und so verzerrt sind ihre Gesichter von sinnlosem Stolz, daß sie in nicht unbeträchtlichem Maße der Wölfin ähneln, der man ihre Jungen geraubt hat.
Wieder andere sind von wieder anderem Charakter und sind immer lieb und zärtlich und haben großes Vergnügen daran, Opfer zu bringen und Geschenke zu machen und Rosen zu streuen, ehe die Angebetete naht. An denen entdeckt man das klare Auge, den geschwungenen Mund, das seidige Kinderhaar, die bonne mine, die Ausgeglichenheit, die Charakterstärke und den Mut, der als Torheit gilt. Auf solche kann man zu jeder Stunde zählen, und sie werden, wenn sie tot sind, mit dem Ausdruck einer wackeren Standuhr begraben, die niemals nach- und niemals vorgegangen ist, sondern für die Dauer der Sterblichkeit exakt die Stunde geschlagen hat und nur dadurch und schnöde zum Schweigen gebracht wird, daß der Herr seine große Schere zückt und die Gewichte abschneidet.

31 Tage hat der Mai

Der liebliche Mai stand und legte die letzten geschlechtlichen Tupfer auf, während Patience Scalpel mit jener ebenso göttlichen wie ätherischen Stimme, für die sie berühmt war, Reden schwang, der Stimme einer, der die Cherubim an den Fesseln knabbern, wohingegen Dame Musset inmitten der Brücken doll Furious Gewißheit verschaffte.
»Was«, sagte Patience Scalpel, »könnt ihr Frauen bloß aneinander linden? Wo ist die Weggabelung und wo der Reiter, der jagt? Wo«, sinnierte sie, »es Prostitution und Trunksucht gibt, da gibt es notwendigerweise auch Unmoral, oder ich verstehe die Zeiten nicht recht, doch was ist denn das hier?«
»Und«, sagte Dame Musset und reckte sich im Bett empor, »das ist alles, und mehr gibt es nicht!«
»Aber ach!« rief doll.
»Nieder mit dir, Frau«, sagte Dame Musset aufs Freundlichste. »Vielleicht ist da ein Senfblütensamenkorn!«
Nun wurden die Schwestern Nip und Tuck, zwei tüchtige Mädel, die ganz Spanien als Folter beanspruchten und an die Läden pochten, eingelassen. »Wir sind gekommen«, sagten sie, »um Euch mitzuteilen, (laß in der Stadt ein Dreschflegel herumschwirrt, der zwischen Ecke und Nische schreit und zwar mit jener klagenden herkuleischen Stimme, die sich in unseren Ohren nach einer umherirrenden Schwester anhört, denn ganz gewiß ist das nicht das Quengeln der Mutterschaft, sondern ein mystischeres, dumpferes Gestöhne. So scheint uns denn als Mitgliedern der Sekte, wir sollten Euch diese Information nicht vorenthalten, damit Ihr reparieren könnt, was nie beschädigt worden ist.« »Es soll geschehen und mit aller Schläue«, sagte die Dame, schlang sich die Steenkerke um und zog sich mit ihrer Bärenfellmütze eins übers schurkische Knie. »Wo ward sie zuletzt gesehen und wohin unterwegs?«
»Sie randalierte im Bois«, sagte Nip, »und tobte durch die Champs-Elysees«, sagte Tuck, »und wurde zuletzt erblickt, wie sie in einer Staubwolke hinter einer historischen Tatsache herjagte.«
»Ein Samenkorn, ein Samenkorn«, jammerte Doll.
»Sie soll niedergeworfen werden«, sagte Dame Musset und achtete ihrer nicht, »und ordentlich gebrandmarkt an Hinterteil, Flanke oder erhabener Verzierung. Ihr auf der Fährte, wollen wir sie in einen Wirrwarr der Versuchung jagen!«
Wer war das nun anderes, den diese wackeren Frauen jagten, als Bounding Bess, die berühmt war für ihre Begeisterung für vergessene Dinge, und nachdem sie tüchtig die staubigen Abmessungen der Champs-Elysees abgeschritten hatten, trafen sie plötzlich auf sie, wie sie am Straßenrand stand und Maximen verfertigte. Sie war großartig in Geschichte, und ihre Konzentration grenzte nahezu ans Wunderbare, und so ergab es sich, daß die Schwestern Nip und Tuck und die ehrenwerte Hl. Musset stehenbleiben mußten, und so war sie ihrer auch kaum gewahr, als sie zu sich sagte (denn wer hat je behauptet, daß das Selbstgespräch Hamlet allein zusteht?): »Es hat große Frauen in der Geschichte gegeben, und wenn sie jetzt auch himmelwärts schauen, so stimmen sie mich doch mißvergnügt. Nicht die Geringsten darunter waren irgendwie der Liebe zugetan. Der tüchtigen Katharina von Rußland machte es nichts aus, mit zehn über einen Mann ins Zwitschern zu geraten und mit zwölf doch Diderot zusammenzustauchen oder jemand ähnlich Glanzvollen, und wurde nicht selbst Sappho, die doch dazu neigte, über schlaffen Mädchenkörpern zu singen wie nur irgendeine lärmige Nachtigall, nichtsdestoweniger von Philosophen ihrer Zeit sehr hoch geschätzt? Wieso sollte folglich ich, die ich selbst in mir eine Neigung zu jenem läppischen Geschäft verspüre, das hierzulande als Miss Spiritus bekannt ist, die Psalmen für die Rosenkreuzer
singt, oder was immer das für ein neuer Kult ist, mich, wenn ich jener Regung nachgebe, unbedingt als Fehlschlag herausstellen und für geistlos und unzulänglich befunden werden, und legte man mich auch der Länge nach auf ein liebliches Rasenstück? Es käme auf einen Versuch an! Nein, ich glaube doch, die Chancen stehen eins zu einer Million, daß ich beweisen kann, daß eine, um was für einen Berg auch immer es sich handeln möge, doch so gut bei Geisteskräften wieder herunterkommen kann, daß sie noch immer ernst genommen wird, wenn sie das Schicksal von Nationen erörtert.«
»Die Füße jener Frau«, sagte Dame Musset mit jener harten, nüchtern klaren Stimme, wie sie sich aus allen Lungen der ganzen Welt vernehmen läßt, wenn sie nur in einer spartanischen Brust pfeifen, «bestehen nur aus Hacken, und was kündigen die je anderes an als einen Wissensprotz? Sie sind auf alle Zeiten auf diese unsichere Gangart eingestellt und wissen nicht, ob sie in die Wahrheit hinein- oder aus ihr hinauswandern. Die ist nichts für uns!«, und mit diesen Worten ließ sie die Peitsche gegen ihren Stiefel schnellen und wandte sich einer Konditorei in unmittelbarer Nähe zu, Nip auf den Fersen. Da sie aber einen kurzen Laut in der Herde hörte, wandte die Dame sich noch einmal um, um dortselbst (wie gewohnt) Miss Tuck zu erblicken, die sich soeben ein wenig zu dicht neben der Geschichte, oder was Bounding Bess nun sonst ausstrahlen mochte, niedergelassen hatte und binnen jener flüchtigen Sekunde bereits mit unbedeutenden Details herumspielte, die so weit zurückreichten wie der Fall Roms.
»Eine liebreizende Beeinträchtigung des Schlafs ist sie und aller Folgerichtigkeit«, sagte Miss Nip, »war sie und wird sie immer sein, und wird zweifellos nach Hause kommen, zerrupft wie eine Mistel, wird in nicht unbeträchtlichem Maße der ersten Runde eines Metzgerpicknicks ähneln oder der ersten Hälfte eines Schrankkoffermords, denn jenes Mädchen«, sagte sie wohlgefällig, »hat eine Spur von Terrierblut in sich und muß auf alle Zeiten besorgt sein um jeden Unterrock, der in dieser unserer Zeit über eine Hüfte gestreift wird!«
»Es ist ein Segen«, bemerkte Dame Musset dazu, während sie zwei der glücklichsten Kuchenkombinationen auswählte, »daß einige von uns sterblich sind und den Tod erleiden müssen. Die Zukunft braucht das, wie wir Schlaf brauchen. Ich lebe«, setzte sie hinzu, »nur noch für zwei verbleibende Zügellosigkeiten: Essen und Verstehen.«
»Erzählen Sie mir davon!« sagte Nip, denn günstigstenfalls war sie ein bißchen neugierig, da sie in der harten Fron des Journalismus stand und sich kein Bröckchen entgehen lassen durfte, wenn sie auch genau wußte, daß es nirgendwo und in keinem Land gedruckt werden konnte, denn das Leben wird in keiner Stadt von einer Zeitschrift repräsentiert, die den Unterströmungen gewidmet ist oder, was das betrifft, sonst irgend einer echten Tatsache.
»In meinen besten Jahren«, sagte Dame Musset und sogleich schwand ein wenig das päpstliche Aussehen, das sie an sich hatte wie ein Habit, und es leuchtete die Schlauheit eines Mönchs hervor, der die Weihen in einem Land zu alt für jegliche Tradition empfangen hat, »in meinen besten Jahren war ich eine Pionierin und eine Bedrohung, damals war das nicht, wie es heute ist, chic und gewissermaßen witzlos, sondern so gewagt wie ein Kreuzzug, denn wo es heute eine Frau geschwätzig macht, so daß wir nicht ein einziges Geheimnis in unserer Mitte haben, da ließ es sie einstmals in Tränen und Verzagtheit zurück. Damals mußte man sie sich mit List und Tücke an die Brust locken, und heute«, sagte sie, »heute muß man sie geradezu wegscheuchen, um sich unter ihnen etwas vorstellen zu können. Welche Freude hat denn die Missionarin«, setzte sie hinzu, und ihre Augen verengten sich und ihre langen Ohren gerieten vor Enttäuschung in Bewegung, »wenn alle Heidinnen ihr Hallelujah zurufen, noch ehe sie den Mund auf- und Amen!, noch ehe sie ihn zugemacht hat? Ich wünschte«, sagte sie, »es gäbe irgendwo eine Frau, die ich wegen Lethargie zur Ordnung rufen könnte! Ach!«, seufzte sie, »Wieviele solcher Mädchen gab es nicht, als ich noch ein Mädchen war, und insbesondere erinnere ich mich an eine reizende alte Baronin, die nicht zu überzeugen war, bis ich, für die Wahrheit glühend, sie schließlich in jedem geräumigen Gemach jenes zauberhaften, altererbten Hauses so gründlich niedergerungen hatte, daß ich bis auf den letzten Knopf wußte, wie jedes einzelne Inlett dort aussah! Und was für eine Kunstlosigkeit herrscht nicht im Polsterergewerbe, insofern sie die unteren Partien von Sofas und Sesseln nicht im mindesten mit der Eleganz vollenden, die sie verschwenderisch an den Teil wenden, auf den das Auge fällt! Es sollte«, setzte sie mit einer Spur jener Energie aller Komiteevorsitzenden hinzu, wie sie in ihrer Schwester in tiefem breitem Strom dahinfloß, »eine Gilde für alle Kontakte geben, die über das wacht, worauf das lesbische Auge auf dem Marsch durchs Leben ruhen muß. Ich möchte jedoch«, sagte sie, »wiederum nicht so verstanden werden, daß ich mich in großem Stile nach den frühen Achtzigern zurücksehnte; damals waren die Mädchen stumm wie die Sticktücher und beschwerlich wie ein Krieg und wollten, daß ich die ganze Nacht hindurch anlegte, lud und feuerte, als ob«, schloß sie, »eine Frau, und sei sie besten Willens und eine Märtyrerin, sich für eine Konvertitin in Schwung bringen und dann noch die Kraft im Nacken haben könnte für die nächste. Gleichwohl«, bemerkte sie und nippte ein wenig heißen Tee, »es waren liebe Geschöpfe, und sie haben mich zu zufriedenen, erfahrenen Fünfzigern hingeleitet. Ich bin durchaus zufrieden. An meinem Schwert gibt es keinen Rost und an meinem Wappenschild soviele Flecken, daß ich auf diese Weise mein eigenes Banner und mein eigenes Siegel geschaffen habe. Ich habe an den Körpern aller Frauen alle Sitten kennengelernt, und aus ihren Köpfen haben alle Nationen ihre Geheimnisse preisgegeben. Ich weiß, daß die Orientalinnen kalt sind bis zur Hüfte und von dort ab im Nu in einem mächtigen knisternden Feuer lodern. Ich habe gelernt, daß Angelsächsinnen langsam auftauen, doch dann vom Kopf bis zu den Fersen, und genauso verhält es sich mit ihrer Seele. Die Asiatin ist zwar warm und willig, verlischt jedoch wie ein Feuerwerkskörper; die Nordländerin ist kühl und vorsichtig, brennt und brennt jedoch, bis man«, sagte sie erinnerungsschwanger, »die Kerze, die man in der Jugend angezündet hat, im Tode über seiner Bahre brennen sieht. Es ist an der Zeit, daß ich mir ein Nachtlicht suche, und was das nun genau für eine Blutfusion sein soll, das habe ich bis jetzt noch nicht bestimmt, doch — ich glaube, ich habe sie gefunden«.
»Wo denn?« rief Nip aus und blickte mit einer Spur von freundschaftlicher Besorgnis um sich.
»Das Nachtlicht der Liebe«, sagte die Hl. Musset, »brennt, dünkt mich, leicht gedämpft in den Ritzen aller Frauen, die unterm unablässigen Spielen des Frühlingsliedes ein bißchen stimmbrüchig geworden
sind, obwohl ich mich da irren kann, denn wohlgemerkt, ich habe mir in diesem Punkt noch keine Gewißheit verschafft. In unserer Mitte gibt es eine solche, auf die ich diese vielen Jahre lang ein Auge gehabt habe. Sie ist ein wenig zusammengebraut aus einer schlimmen Nacht in Venedig und einer schlauen Frau, die zur Morgenmesse geht, ihr Name schreibt sich von hier bis Sizilien Cynic Sal. Sie kleidet sich wie ein Kutscher aus der Periode Pecksniffs, doch fahren tut sie eine leere Mietsdroschke. Und das ist so eine Frau«, sagte sie, »die mich noch immer als Fracht linden wird, und wenn sie am Ende der Reise immer noch so scharf schnalzt wie eine Peitsche und nie auch nur ein einziges Mal vom Kutschbock gestiegen ist, um den Kopf ins Wageninnere zu stecken und nachzuschauen, was für eine zerknitterte Bedeutung darin sitzt, dann geht sie eben leer aus, dann mache ich mich in London auf und suche mir eine andere, die ein bißchen liebevolle Fürsorge für einen Fahrgast aufbringt.«
»Wenn das man nicht die Frau ist«, sagte Nip leichtsinnigerweise, »die einen so eitlen und eifersüchtigen Charakter hat, daß man es ihr um keinen Preis recht machen kann, und die, ob man nun dies sagt oder das, nicht zufriedenzustellen ist? Wenn sie das nämlich wäre, dann ist sie als Timid Tom oder Most-Infirm-of-Purpose bereits flüchtig in meinen Gesichtskreis getreten.«
»Kann sein«, sagte Dame Musset, »kann aber auch nicht sein.«
»Wie wahr, wenn das von einer Frau gesagt wird«, stimmte Nip zu, »kein Mann könnte je das eine und das andere gleichzeitig für uns sein, und nun«, sagte sie, »sehe ich Miss Tuck ihre Schritte hierher lenken, ganz erhitzt von der Jagd, und mich dünkt, sie braucht dringend ein, zwei Kleinigkeiten in Gestalt eines Sandwichs und einer Portion Tee, denn sie sieht mir ganz aus wie eine, die ein unfruchtbares Land verheert hat. Diesen mitleiderregenden Ausdruck beobachtet man gelegentlich im Gesicht unserer jüngeren, weniger gewitzten Generation; das Hängen ihrer Unterlippe läßt auf den Undank schließen, mit dem man ihr ihre Geschicklichkeit vergolten hat.«
»Oh weh mir!« seufzte Miss Tuck, während sie am Tisch Platz nahm und sich über ein winziges Einstecktüchlein beugte, »Ihr hattet, meine liebe Musset, wie immer völlig recht. Die taut nichts auf als Fakten, wie ich es auch anstellen mochte, nicht einmal ein unausgelotetes Geheimnis steckt in dem Weib! Oder, wie schade, auch nur eine einzige kleine Anwandlung, eine wie die, die die Taube zu ihresgleichen emporfliegen läßt, nein, und nicht ein einziges nicht tabellarisch erfaßtes Krümchen, und sei es noch so infinitesimal. Denn worauf ich auch zu sprechen kam, das Frauenzimmer hatte etwas dazu zu sagen! Eben war es Horaz, dann Spinoza und dann wieder die Abstammung des Menschen«, sie erschauderte, »und diese Abstammung«, sagte sie mit einem grauenerfüllten Flüstern, »mit der will ich nichts zu schaffen haben, jetzt nicht und später nicht! Wenn eine Frau in jedem einzelnen Glied so von exaktem und haltbarem Wissen gestählt ist, dann läßt sich da nichts machen, als daß man sie sich einer unmöglichen Null addieren und auf diese Weise an unvorhergesehener Akkuratesse zu Tode kommen läßt. Doch nun ja«, sagte sie und legte eine weiche kleine Hand in die Miss Nips, »du weißt ja, wie rasch ich mich erhole und wieviele Stunden der Tag lang ist.«
»Manche Frauen«, sagte Dame Musset, »sind Walrösser und manche sind Landsäue und wieder andere sind Würmer, die um unsere Almanache herumkriechen, doch manche«, sagte sie, »sind Schwestern des Himmels, und denen müssen wir folgen und uns nicht auf Abwege locken lassen.«
»Wie soll ich verhindern können, daß ich fehlgehe«, schrie Miss Lück, »wo doch jedes Gesetz der Liebe und des Begehrens einstmals so zusammengemischt wurde wie eine Verkehrsverirrung? Ich kann eine Sackgasse nicht von einem Boulevard unterscheiden und eine Querstraße nicht von dem, wo sie hinführen mag, und Verkehrszeichen dienen bei mir nie zu etwas anderem, als mich in Unruhe zu versetzen!«
»Du«, fiel Miss Nip ihr ins Wort, »würdest, hechelnd und blind vor guten Absichten, noch der Fährte einer Feldmaus folgen! Es gibt kein zweites Land, in dem so wenig Spuren verzeichnet sind, doch du würdest selbst in der Wüste noch ein tröstliches Fädchen finden und hättest dich, schier aus der Wut deiner Bereitwilligkeit heraus, noch vor
Sonnenuntergang in eine Suhle der Bedrängnis hineingehangelt!«
»Ach mein Gott, als ob ich das nicht wüßte!« schluchzte Tuck.

30 Tage hat der Juni

Vorzeichen Zeichen und Omen

Wenn Muckerl aufsteigt wie die Silbersichel
Die Muckerin verbleicht in nichtigem Gestichel
Norm Schnuppenfall der Welt und ihrer Omen Lauf
Und eine frische Prüde steigt den Frauen auf
Denn hin zum Weibe soll die Frau nun stürzen
Wenn, wohlgebimst, sie aus den Kinderschürzen
Und nirgendsonst hin, wie sie tat zuvor
Kein Knabe küss' sie mehr, kein Mann kniep' sie ins Ohr
Kein Bursche soll kopfüberhals sie froh empfangen
Noch auch sie betten zwischen Pfühl und Wangen
Noch sie besudeln mit der Vorbedeutung Zeichen
Noch ihrer Winzigkeit zum hohen Bild gereichen
Nein, das sei nimmer ihre Erdenspeise.
Ungleich dem Vogel der Erinnerung, verlornerweise
Zum Spätgekräh im hohlen Baum der Zeit bestimmt
Den rückwärts nur der Steigende erklimmt
Soll sie von selber irregehn, Gott weiß!
Da sie des Knäuels Faden feiner spleißt
Und in den Wind schlägt die kommune Hut
Grad' wie die Glocke es mit ihrem Wesen tut.
Denn derart ist ihr Stolz, hochfliegend und vertändelt
Hat erst die Frau mit ihrem Mädchen angebändelt.

Der vierte große Augenblick in der Geschichte

In der Zeit der Hitze, wenn die Blumen blühen und die Vögel singen und die Eichhörnchen brennen und der Mann sich der Liebe halber auf den Kopf stellt, riskierte auch Dame Musset wie manch ein Dandy mit seinen Zuckerstangen der Hoffnung und seinen Salbentöpfen der Liebe oder wie so ein Springinsfeld mit Fingerhutbukett und baumwollsamtenen Bombast ein Auge, wenn sie einen Spaziergang unternahm.
Der Jardin du Luxembourg konnte sich keiner Hecke oder Statue rühmen, die hinlänglich die Proportionen oder die Dichte besessen hätte, um ein Versteck für einen Unterrock abzugeben, denn die Musset kannte ihn bis ins letzte Hälmchen. Folglich war sie, mit doll am Arm eines heiteren Sonntags auf einem Spaziergang unterwegs (die Musset bildete sich nämlich ein, die Sache mit den Büschen und Schlupfwinkeln damit fein gedeichselt zu haben), nicht wenig überrascht, die andere folgendermaßen zur Sache kommen zu hören: »Liebster Schatz, jetzt ist aber wirklich der Zeitpunkt gekommen, wo du dir den vierten großen Augenblick der Geschichte anhören mußt (die anderen drei kennst du zweifellos schon), bei dem es um die von Saba und Jezabel geht. Und das, obwohl weder ich die von Saba bin noch du die Jezabel bist, genaugenommen sind wir weniger, also hör nur her.
Jezabel, jene leichtsinnige Unverblümte, pflegte viel Zeit damit zuzubringen, aus ihrem Fenster heraus zu angeln und Königen, die ihre Schritte auf diesem Wege in Krieg und Tod lenkten, >Huhu!< zuzurufen. Und einige bogen in ihre Tür ein, andere gingen weiter, freilich nicht viele. Dergestalt war Jezabel am Werke, als die Königin von Saba unter ihrem Fenster durchkam, und Jezabel lehnte sich hinaus und rief >Huhu!!
Und das war Jezabels letztes >Huhul<.«
Dame Mussets Blick erlosch.