Kapitel X und XI

X.
Seit ich die Zyklonen gesehen habe, schenke ich den Gewittern in Europa, die ich einst so liebte, keine Aufmerksamkeit mehr.
Dort stiegen ab und zu, wenn ich auf das Meer starrte und meine Gedanken schweifen ließ, vergangene Tage vor mir auf. Ich roch den Duft der Rosen, die hinten im Garten wuchsen, des frischgeschnittenen Heus in der Sommersonne, den bitteren Geruch des Hanfs, den ich früher so liebte; jetzt denke ich nicht mehr daran.

Alles sah ich wieder, tausend Einzelheiten, die mich früher nicht beeindruckt hatten, fielen mir wieder ein, wenn ich meine Erinnerungen durchwühlte; ich entdeckte, welche Opfer meine arme Mutter ohne Aufsehen und ohne Klage für mich gebracht hatte; sie hätte ihr Blut für mich hergegeben, so wie sie mich für Ideen, die sie nicht teilte, Stück für Stück alles nehmen ließ, was wir besaßen. Sie hätte gern in einem friedlichen Eckchen bei mir gelebt, in einer weitab in den Wäldern gelegenen Dorfschule. Arme Mutter! Jetzt ist alles aus; aber nach dir, nach dir ist mir nichts mehr wichtig (es sei denn die Revolution), als zu dir zu kommen, dorthin, wo du ruhst.

Nun können die Federn, die soviel Gift über mich verspritzt haben, wie Rabenschnäbel in mir herumwühlen, mein Herz werden sie nicht mehr finden, nur noch Stein.

Und dennoch blutet dieser Stein noch in manchen Stunden.

Gestern, am 24. Mai, zerriß ich weiß nicht welcher gellende Trompetenstoß die Luft; dieser metallene Klang fuhr mir eiskalt durch die Brust. Er war wie ein Echo der Maitage 71; werden unsere Soldaten immer noch gegen das Volk geführt, das sie vor den blutigen Auseinandersetzungen in Tongking[1] bewahren möchte, wo ihre Leichen die Erde düngen sollen?

Reden wir von früher.

In meiner Sonntagsschule in Numea konnte ich die Kanaken im täglichen Leben beobachten.

Nun, sie sind weder dumm noch feige, sie sind frei von diesen zwei berüchtigten Eigenschaften unseres Jahrhunderts!

Das Unbekannte erweckt bei ihnen ebensoviel Neugier wie bei uns, und vielleicht noch mehr; sie haben viel Ausdauer, und da sie Dinge, die sie interessieren, selbständig zu begreifen suchen, ist es bei ihnen keine Seltenheit, wenn sie erst nach Tagen oder sogar nach Jahren - das habe ich selber erlebt - ankommen und sagen: »Ich verstanden, was du neulich gesagt.« Für sie ist das neulich.

In ihre Gehirne, die unbeschriebenen Blättern gleichen, würden sich die neuen Erkenntnisse gut einprägen, vielleicht besser als in unsere, die von all den Doktrinen verwirrt und von all dem, was ausradiert werden mußte, befleckt wurden.

Bei den Kanaken muß man im Unterricht eine Methode anwenden, die lebendig und abwechslungsreich ist; ist diese aber nicht für jeden jungen Geist die geeignete, und lernen wir selbst nicht schneller, wenn der Stoff in einer dramatischen Darstellungsweise an uns herangetragen wird und nicht in trockenen Definitionen?

Da die Kanaken weder Zeit noch bequeme Möglichkeiten haben, die Hosen, die sich nicht einmal immer besitzen, auf der Schulbank abzuwetzen, und da ihnen im übrigen ihre Lehrmeister, die ihnen das wenige, das sie wissen, bisher beigebracht haben, möglichst schnell zu einer leserlichen Handschrift verhelfen wollen, sind die Methoden, die zu raschen Fortschritten führen, auf jeden Fall allen anderen vorzuziehen.

Lesen, Rechnen und die Anfangsgründe der Musik bekommen eine gewisse Lebendigkeit, die das Begreifen erleichtert, wenn man mit einem Stöckchen auf die an die Wand gemalten Buchstaben, Zahlen und das Notensystem zeigt, bei dem die Noten durch schwarze Fetzen dargestellt sind.

Das Schreiben lernen sie fast intuitiv; es ist erstaunlich, wie schnell diese armen Schwarzen lernen, anständig zu schreiben, wenn man sie die Wörter mit beweglichen Buchstaben zusammensetzen läßt.

Ich sage >anständig< mit um so größerer Überzeugung, da die Kanaken zum Schreiben und zum Zeichnen eine wunderbare Geschicklichkeit haben.

A propos Zeichnen: ihr Vertrauen, daß es ihnen gelingen wird, irgendwelche Konturen verfolgen zu können wie die Form der Buchstaben, hilft ihnen, eine Zeichnung mit der gleichen Vollendung nachzubilden wie eine Schriftvorlage.

Von hier braucht es nicht einmal einen Schritt, die gleichen Konturen im Relief auf kleinen Brettern nachzubilden: es ist dasselbe.

In Numea hatte ich ein Klavier, das die Freunde sicherlich nicht vergessen haben; einige Töne schlugen nicht an, und wenn man nicht dauernd dazu sang, war es nicht zu gebrauchen, bis zu dem Augenblick, als Boeuf es wieder instand setzte, so daß es ein echtes Instrument wurde; aber mit den leeren Tönen benutzten wir es auch.

Und so hat es gute Dienste geleistet bei einer Methode, die nicht ohne Ergebnisse blieb. Hätte man ein Übungsklavier, bei dem irgendwelche Federn bald diese, bald jene Töne für eine Weile verstummen lassen, so könnten die Schüler, wenn sie sich über die Lücken klar werden und sie bald durch Gesang nach den Noten des Übungsstückes, bald mit einem selbsterfundenen Tonsatz ausfüllen, dahin gelangen, neue Themen zu finden, die vielleicht oft sonderbar, zuweilen aber auch sehr schön klingen mögen.

Da ich gerade darüber spreche, möchte ich hinzufügen, daß ich diese Methode sowohl bei Schulkindern wie bei meinen kanakischen Sonntagsschülern ausprobiert habe. Am schnellsten läßt sich das musikalische Verständnis wecken, wenn man ein ganz einfaches Motiv transponieren läßt und durch Tonleitern und Akkorde [2]ergänzt, die zusammen angeschlagen oder als Arpeggio gespielt werden.

All das muß so einfach wie möglich dargeboten werden.

Für den Takt ist die Methode, den Schüler bei gleichbleibenden Noten den Takt wechseln zu lassen, nicht schlecht.

Ach! Kameraden, ihr habt über das kanakische Orchester gelacht, aber wartet nur ab; in meinen Sonntagskursen habe ich große Tayos mit mächtig abstehenden Ohren, um besser zu hören; ihnen hatte der Meereswind unter den Palmen ein prächtiges Wiegenlied gesungen, sie waren vom Tosen des Sturms gut durchdrungen. Und wenn sie fünf oder sechs Jahre lang das Wenige, das sie lernten, in ihrem Kopf bewegt und darüber nachgedacht haben, werden sie vielleicht mit diesem Wenigen etwas entdecken, was uns in Staunen setzen wird.

Ihr Zahlensinn ist - im Gegensatz zu dem unseren, den wir durch Reisen und Menschengewimmel an Unendlichkeiten gewöhnt haben - auf ganz kleine Zahlen beschränkt; es ist ihnen unmöglich, größere Mengen zu zählen, uns dagegen erscheinen diese Mengen recht klein.

Eine ansehnliche Menge wäre für einen Kanaken, der sie schätzen sollte, nombarou, das heißt, etwas, was man nicht mehr zählen kann; auch für uns ist sie nombarou, aber im entgegengesetzten Sinne: eine Handvoll, die sich nicht zu zählen lohnt.

Also muß man, um ihnen die Mathematik beizubringen, mit der Algebra beginnen und nicht mit der Arithmetik.

Laßt sie nur machen, sie werden über all das nachsinnen! Wenn man, wie es der Wunsch des Bürgermeisters von Numea, Monsieur Simon, war, zu den Stämmen Lehrer geschickt hätte, statt die noch unentwickelten Völker mit Flintenschüssen zu zivilisieren, so hätten die Stämme schon längst den Kriegsstein begraben, statt bei Mondschein das Miramem [3] zu pflücken.

Während meines Aufenthalts in Numea starb Perusset an den Folgen eines Schiffbruchs, dem er nur dank seiner ungewöhnlichen Energie entkommen war.

Längst hatte ich dem alten Seebär seine Weigerung an jenem Abend, als ich den ersten Zyklon erlebte, verziehen. Er hatte manch andere kühne Tat vollbracht; hatte er geahnt, daß ihm die Fluten den Tod bringen würden? Der Mensch hat, genau wie das Tier, seinen Instinkt, der ihn vor Gefahren warnt; wenn wir aber versuchen, ihm mit der Vernunft beizukommen, verlieren wir diesen Instinkt; das Pferd vertraut sich ihm ohne Zögern an und findet den unter dem Schnee verborgenen Weg, wenn sein Herr mit seiner Kunst am Ende ist und seine Zügel lockert.

Vielleicht wären wir wie vieles andere Strandgut in die Reede von Sydney getrieben worden, wenn er auf mich gehört hätte; wer weiß?

Von Zeit zu Zeit bemerkte ich bei meinem Sonntagsunterricht für die Kanaken das Gesicht Monsieur Simons am Fenster, und ich war sicher, hinterher alles zu bekommen, was uns fehlte: Kreide, Bretter zum Schnitzen, Hefte etc., außerdem noch Sprengkapseln, Tabak und anderes mehr, womit er die Tayos verwöhnte.

Was Mme Simon, die Lehrerinnen von Numea und andere Damen betrifft, so wissen sie genausogut wie die Freunde von 71 , die dort geblieben sind, wie teuer mir ihr Andenken ist; aber muß ich alles gestehen? Ja, vor allem habe ich Sehnsucht nach meinen schwarzen Freunden, den Wilden mit den leuchtenden Augen und dem kindlichen Herzen. Ja, ich habe sie lieb gehabt und liebe sie noch, und wer mich zur Zeit des Aufstandes beschuldigte, zu wünschen, daß sie ihre Freiheit errängen, der hatte wahrhaftig recht.

Ihre Freiheit erringen! Konnten sie es denn, ehe sie solche Beweise ihrer Intelligenz und ihres Mutes gaben? Möge man ein für allemal Schluß machen mit der Überlegenheit, die sich nur durch Zerstörung offenbart.

Zugleich mit der Kunde von der Amnestie erhielt ich die Nachricht, daß meine arme Mutter ihren ersten Schlaganfall erlitten hatte. Der Kummer zehrte an ihr, sie hatte Angst, mich nicht mehr wiederzusehen, ich hatte ebenfalls Angst, zu spät heimzukehren.

Meine Heimreise war also eine traurige; kaum daß ich mich hin und wieder dazu aufraffen konnte, an Deck zu gehen; der Gedanke, sie könnte vor meiner Ankunft verstorben sein, verfolgte mich.

Und doch war die Fahrt schön, und da wir durch den Suez-Kanal kamen, war die Weltreise, die ich auf der Virginie begonnen hatte, mit der Rückreise auf der John-Helder vollendet. Außer mir waren noch zwanzig andere Deportierte in Sydney eingetroffen, von wo ich dank des Unterrichts, den ich gab, und der Hilfe einiger Freunde mit dem Postschiff weiterfahren und schneller zu meiner Mutter gelangen konnte.

Der französische Konsul in Sydney war nicht gewillt, mich mit den anderen heimzuschicken; doch als ich ihm erklärte, daß ich mich in diesem Fall gezwungen sähe, ein paar Tage lang Vorträge über die Pariser Kommune zu halten, und den Erlös für meine Reise verwenden würde, zog er es vor, mich mit den anderen auf die John-Helder zu lassen, die nach London fuhr.

Ich weiß nicht, was der französische Konsul in Sydney für ein Mensch war. Aber in Holland habe ich später ein Bild gesehen: ein flämischer Bürgermeister sitzt friedlich vor seinem Krug Bier, der Gambrinus[4] gehören könnte; dieser glich genau dem Konsul: dieselbe Gesichtsfarbe, dieselbe Haltung, dieselbe tiefe Ruhe.

Vor diesem Bild habe ich noch besser begriffen als vor dem Konsul selbst, wie umstürzlerisch ihm unsere Ideen vorkommen müssen, und wie sehr ihm bei aller Güte, die sich hinter seinen Zügen verbarg, daran gelegen sein mußte, mich so schnell wie möglich zu meiner Mutter heimzuschicken.

 

Unsere Freunde, Henry und andere, überschütteten uns mit Leckereien für die Reise; wir stritten uns lange darüber, wer den kleinsten Teil davon haben durfte, so lange, bis wir schließlich überhaupt nicht teilten und sie es fertigbrachten, daß am Ende doch mir das meiste zufiel. Ich bin überzeugt, daß sie öfters auf Kaffee verzichteten, während ich immer welchen hatte.

Mit Mme Henry hatte ich mir die Umgebung von Sydney ein wenig angesehen; die Wälder, die von breiten Straßen unterbrochene Einsamkeit, wo man nichts als Wald sieht, immer nur Wald, mit seinen Gummi- und Eukalyptusbäumen.

Es soll dort Peitschennattern und andere Schlangen geben; wir haben keine einzige gesehen.

Allerdings war es zum Ende des Winters, als ich da war, und dort wie anderswo fürchten die Tiere die Kälte.

Ich habe auch keine Känguruhs gesehen, die mich sehr interessiert hätten; die Bequemlichkeit der schönen, breiten Straßen, die den Wald durchschneiden, wird die Tiere vermutlich vertreiben.

Sydney ist bereits eine alte Stadt, Melbourne selbst riecht schon nach Europa; doch nach einem von dem Fluten reingewaschenen Europa.

Noch einige Erinnerungen.

Ich besitze noch ein Album aus Sydney, auf dessen ersten Seiten Mme Henry und ihre Kinder, Lucien Henry und andere Freunde mir etwas aufgeschrieben haben. Bei der Durchreise in Melbourne besuchten uns unbekannte Freunde; sie schrieben ihren Namen in mein Buch.

Bevor wir uns trennten, haben meine zwanzig Weggenossen ebenfalls ihre Namen eingetragen.

Das ist alles, was mir von diesem Album geblieben ist. Die restlichen Seiten sind auf der John Beider auseinandergeflattert; auf ihnen hatte ich die allerliebsten, zarten Köpfchen zahlreicher englischer Babies gezeichnet, von denen die Reisenden im Zwischendeck ganze Sammlungen hatten, und zwar in ihrer doppelten Eigenschaft als wenig begüterte Leute und als Söhne Albions[5]

Den Armen gehören immer ganze Rudel Kinder; auf diese Weise beugt die Natur von vornherein dem Verlust der Schößlinge vor, die der Tod niedermäht.

Die Mütter, Engländerinnen, blond wie die Kleinen, haben sich diese Skizzen von mir ausgebeten; das war ihr gutes Recht.

Ein paar Skizzen von breitschultrigen Matrosen erlebten dasselbe Schicksal; nur eine Zeichnung ist mir geblieben, die ich unweit des Isthmus von Suez von jener Sandwüste angefertigt habe, wo die Felsen ruhenden Isisgestalten gleichen. In der Ferne nur Sand, soweit das Auge reicht, und am Ufer zwischen dem Nil und den blättrigen Felsen, die an die Rinde des Niaoulis erinnern und wie Mauern emporragen, ruht eine Karawane, deren Kamele den Hals auf den Sand gestreckt haben.

Ich hatte einige tenehme Erlebnisse; so zum Beispiel traf ich eine englische Dame, die sich speziell um diese unglücklichen Frauen kümmert, die man mit Schande überhäuft, weil man sie zu Prostituierten gemacht hat, als wäre die Schande für die Opfer und nicht für die Verbrecher gedacht.

Dabei fällt mir eine vergnügliche Geschichte ein, die hier erzählt sei für alle, die gern lachen.

Ich hatte von Numea meine fünf ältesten Katzen mitgenommen; die drei jüngeren und schöneren hatte ich Freunden anvertraut. Von Numea nach Sydney reisten die Katzen an Deck, wobei sie sich, so gut es ging, in einer Kiste gegen die Kälte schützten. Wenn wir in eine kalte Gegend kamen, wo der Wind rauh und eisig pfiff, schmiegten sie sich eng aneinander und sehnten sich wahrscheinlich nach der warmen Sonne ihrer Heimat; aber irgendwie begriffen sie, daß sie sich lärmender Äußerungen enthalten mußten, und weder dort, noch auf der John-Helder, auf der ich sie, alle fünf in einen Papageienkäfig gezwängt, eingeschmuggelt hatte und wo sie während der ganzen Überfahrt wie Hündchen unter meinem Bett angebunden lagen, ließen sie eine Klage laut werden und waren damit zufrieden, mich traurig zu umschmeicheln.

Doch als wir dann in London waren, streckten sie sich gähnend um eine riesige Schale Milch, die meine Freunde vors Feuer gestellt hatten, und da erst brachten der dicke rote Kater und die alte schwarze Katze ihre zweifellos wenig günstigen Eindrücke von dem englischen Schiff zum Ausdruck. Indes blickten die drei Kleinen andächtig begeistert ins Feuer.

Statt so viel Mühe aufzuwenden, um meiner Rückkehr, alberne Episoden anzudichten, hätten der Figaro[6] und andere drollige Blätter lieber die Augen weit genug aufmachen sollen, dann hätten sie gesehen, daß Marie, Jules Valles und ich etwas unter dem Arm trugen wie eine Mappe.

Dies unter unseren Mänteln so gut verborgene Etwas waren Katzen!

Drei leben noch, die alte schwarze Katze und zwei von den Kleinen; und möge lachen, wer will, dies lebendige Etwas, das mir von meinem Zuhause geblieben ist, diese armen Tiere, die in den zwei Jahren meiner Abwesenheit zu Füßen meiner Mutter oder auf ihrem Bett lagen, sind mir ein teures Andenken - sofern einem Menschen, der das erloschene Leben und das zerstörte Heim vor sich sieht, überhaupt etwas am Herzen liegen kann.

Vielleicht ist es besser, daß wir so sind; auf diese Weise blickt man nicht mehr zurück.

 

Barrikade in der Rue Legendre

XI.

Ich sagte schon, wie herzlich uns die Verbannten in London empfingen. Seit zehn Jahren hatten wir uns nicht gesehen; nach dieser Zeit wiedervereint, war uns, als erlebten wir noch einmal die Tage der Kommune.

Unterwegs hatte ich durch einen Brief von Marie erfahren, daß sich meine arme Mutter ein wenig erholt hatte, nachdem ihr meine Heimkehr angekündigt worden war, und andererseits war ich glücklich, wieder unter den Unsrigen zu sein; doch drängte es mich zu sehr, meine Mutter wiederzusehen, und ich wollte sofort nach Paris fahren

Nachdem unsere Freunde unsere Plätze bezahlt und jedem zehn Francs in die Tasche gesteckt hatten, brachten sie uns zum Bahnhof, von wo uns der Zug zu unserem Schiff bringen sollte, das zur Abfahrt nach Dieppe bereitlag.

Der Londoner Bahnhof erzitterte unter dem Gesang der Marseillaise, die wir noch lange von weitem dröhnen hörten, ohne daß sich die englische Empfindlichkeit auch nur im geringsten daran gestoßen hätte, und solange wir sie hörten, erwiderten wir sie, ohne daß jemand versuchte, unsere Haltung deswegen zu beanstanden.

In Dieppe wurden wir von Freunden erwartet; auf der nächsten Station stand meine liebe Marie mit Mme Camille B...

Marie hat mir ein paar Dokumente über meine Rückkehr aufgehoben.

Hier ein Brief, den ich an Rochefort und Olivier Pain richtete:

 

  • Liebe Bürger Rochefort und Pain,
    Ich habe eine Depesche von Pain erhalten, in der er mich um Einzelheiten über meine Ankunft ersucht.
    Doch Ihr wißt, wenn ich einwillige, Gegenstand eines dieser Empfänge zu sein, die mit dem ganzen Leben nicht zu teuer bezahlt sind, so möchte ich doch nicht, daß er meiner Person gilt, sondern einzig und allein der sozialen Revolution und den Frauen dieser Revolution.
    Im übrigen erinnere ich mich nur daran, daß ich Euch bei meiner Ankunft alle in die Arme geschlossen habe, und daß ich, ganz durcheinander bei dem Gedanken, meine Mutter wiederzusehen, nichts hören wollte und nichts verstanden habe, bis ich auf dem Bahnhof Saint-Lazare war. Ich habe nur diese große murmelnde Menge gesehen, die ich einst so liebte und seit meiner Rückkehr aus der Wildnis noch mehr liebe. Ich habe nur die Marseillaise gehört und im Sinn nur den einen Gedanken gehabt: daß es besser ist, nur einen einzigen Kopf aufs Spiel zu setzen, statt diese geliebte Menge einem neuen Blutbad auszusetzen, und daß die Nihilisten recht haben.[1]
    Es drängt mich, zu danken, es drängt mich, zu sagen, daß mir und den zehn Deportierten, die gestern ebenfalls heimgekehrt sind, auch in London von den letzten Verbannten ein so brüderlicher Empfang bereitet wurde, daß er uns fast auf den gestrigen Tag vorbereitet hatte, und er bewies, wie sehr wir Freunde sind, und wie gut wir uns über Zeit, Exil und Tod zu erinnern vermögen.
    Ich schicke gleichzeitig einen Brief an Joffrin wegen der Versammlung in Montmartre, vor der ich an keiner anderen teilnehmen kann; denn in Montmartre bin ich einst marschiert, und mit Montmartre marschiere ich auch heute.
    Ich umarme Euch herzlich,
    LOUISE MICHEL.

In früheren Kapiteln habe ich von dieser Versammlung von Montmartre berichtet, die in diesem Saal, dem Elysee-Montmartre, stattfand, der für mich so voller Erinnerungen ist. Ich berichte nun von einigen anderen; deren Zusammenfassungen fand ich in einem von Maries Büchern.

Darunter ist einer von der Versammlung im Salle Graffard. Übrigens weiß ich nicht, warum ich so oft unter gewissen Karikaturen, unter Porträts und, ich glaube, auch auf dem Anschlag am Musee Grevin gelesen habe: Louise Michel im Salle Graffard; denn in dem Salle Graffard habe ich sicherlich genauso ausgesehen wie in jedem anderen Saal; man ändert doch sein Gesicht nicht mit jeder Rednertribüne.

Ein sehr junger Maler, der Sohn Mme Tynaires, hat hartnäckig darauf bestanden, mein Porträt für die Gemäldeausstellung zu malen, und ich ließ ihn gewähren, obwohl mir die Sitzungen damals sehr ungelegen kamen, denn es war unmittelbar nach Maries Tod; dieser junge Künstler nannte das Bild: Louise Michel im Salle Graffard.

Ich habe ihn das Bild malen lassen, weil ich einem begabten jungen Menschen keinen Stein in den Weg legen wollte und weil ich aus zwei Gründen sicher war, daß man es annehmen würde. In erster Linie weil er tatsächlich gut malte, und zweitens, weil dieses Porträt in den Zügen und besonders im Ausdruck eine verblüffende Ähnlichkeit, wenn auch nicht mit mir, so doch mit einer alten Gefangenen hatte, die ich 1872 im Gefängnis von Aube-rive gesehen habe; sie nannte sich Mme Dumollard.

Ich streite nicht ab, daß ich häßlich bin, aber zwischen dem wunderbar gemalten Bild - das mir überhaupt nicht ähnlich ist - und mir gibt es den Unterschied, den jeder feststellen kann, wenn er irgendeine Photographie von mir neben das Bild hält.

Die Reaktion rieb sich vermutlich die Pfoten und sagte: Was für ein Scheusal!

Ich habe darüber gelacht, bis jemand die Dummheit besaß, meiner Mutter ein paar verdrießliche Vorfälle zu erzählen; allerdings verging auch ihr der Kummer bei der folgenden Szene:

 

Eines Tages kam ein geschniegelter und gebügelter Kerl, blöde und steif wie eine Holzpuppe, zum Boulevard Ornano Nr.45, wo meine Mutter und ich wohnten.

- Mademoiselle Michel? fragt er mich, wobei er seinen Zylinder abzunehmen vergißt und sich mit einem Spazierstöckchen auf die rechte Pfote klopft.

- Das bin ich.

- Nein, das sind Sie nicht.

- Wie! Das bin ich nicht?

- Na hören Sie mal, ich kenne Louise Michel, ich habe doch ihr Bild in der Ausstellung gesehen.

- Na und?

- Na und! Machen Sie sich ja nicht über mich lustig, und ausserdem macht eine Frau, die Wagen und Pferde besitzt, nicht selber die Tür auf. Holen Sie sie her! Ich wiederhole noch einmal, daß sie niemals selber die Tür öffnen würde.

- Nicht nur das, sie macht sie auch selber zu.

 

Und da der Schwachkopf noch nicht ganz drinnen war, schiebe ich ihn noch weiter hinaus und mache ihm die Tür vor der Nase zu. Er keift noch eine Weile hinter der Tür, und dann höre ich ihn, immer noch keifend, hinuntergehen.

Man hat mir tatsächlich Wagen und Pferde angedichtet, und man tat, als ob man glaubte, daß ich den Erlös der Versammlungen in die eigene Tasche stecken würde.

Da die Organisatoren wußten, was mit dem Erlös geschah, scherte ich mich kaum um diesen bösartig-dümmlichen Klatsch, das muß ich zugeben.

Wenn ich wegfuhr, blieb Marie bei meiner Mutter, und deshalb konnte ich durch den Süden reisen, wohin mich verschiedene revolutionäre Gruppen eingeladen hatten.

In Bordeaux war ich mit Cournet. Ich erinnere mich, daß bei einer Zusammenkunft im engen Kreis mit Vertretern der verschiedenen Fraktionen, die unterschiedliche Stufen unseres revolutionären Weges darstellen, die Frage des Todes angesprochen wurde.

- Wir werden aufrecht sterben! rief Cournet aus. Er dachte an die Umwälzung, die stattfinden wird, wenn die Revolution von allen Ecken und Enden das alte Wrack erstürmen wird.

An diesem Tag werden alle dabeisein, die Jungen wie die vom Blutbad verschonten, die vermutlich letzten Blanquisten; diese Verbundenheit wird die revolutionären Kräfte stützen wie eine Armee. In der ersten Reihe werden die Einundsiebziger ihren Platz einnehmen mit den Anarchistengruppen, die auch das Recht haben, aufrecht zu sterben. Doch klagt nicht, ihr Freunde, die am roten Jahrestag niedergemäht wurden, und die die blutgetränkten Fahnen zum Pere-Lachaise begleiten. Ihr seid gestorben, ohne den Kampf einzustellen; das aber heißt aufrecht sterben.

Was sich am 26. Mai auf dem Pere-Lachaise abgespielt hat, habe ich nur in groben Zügen erfahren, weil ich seit zwei Jahren keine Zeitungen mehr lese.

Es hätte unmöglich anders kommen können; das Verbot, Fahnen der verbotenen Farben zu tragen, ließ es vorausahnen.

meine Freunde, möge keiner von euch nach dem Sieg des Volkes so töricht sein, zu denken, er könne für sich irgendeine Macht erhalten.

Jede Art von Macht wird zu solchen Übertretungen führen, jede!

Wenn man das Nessusgewand[2] der Macht angezogen hat, spürt man gleichzeitig die Ausdünstungen von Charenton.

Möge diesmal das Volk Herr sein; der Freiheitssinn wird sich entwickeln. Vielleicht wird es für das Volk besser sein, wenn wir im Kampf fallen, damit es sich nach dem Sieg keinen neuen Stab zulegt, und damit es begreift, daß die Macht gerecht und groß ist, wenn sie allen gehört, und daß sie verwirrt, wenn sie in der Hand weniger liegt.

Ein Freund zitiert mir einen Passus aus einer Zeitung, weil er möchte, daß ich davon Kenntnis nehme. Nach den begangenen Grausamkeiten der von Wein und Blut Berauschten gibt es noch wie 71 die Anhänger, die ihnen Beifall zollen, sie anfeuern und finden, daß noch nicht genug Morde begangen sind.

Aber wir werden nach dem Sieg und selbst in dem Augenblick, da wir ihn erringen, hoffentlich anderes zu tun haben, als solche Schandtaten zu begehen.

Die Revolution ist furchtbar; aber da sie das Glück der Menschheit zum Ziel hat, besitzt sie kühne und unnachsichtige Kämpfer, es muß sein.

Glaubt ihr denn, wenn man Ertrinkende aus dem Wasser ziehen will, könne man erst lange wählen, ob man sie bei den Haaren oder sonstwo packt? Genauso handelt die Revolution, um die Menschheit aus dem Ozean von Schmutz und Blut zu ziehen, in dem Tausende Namenloser ein paar Haien zum Fraß dienen.

Nun, ich habe mich wieder hinreißen lassen! Jetzt erzähle ich weiter.

Nachdem ich wegen der Angelegenheit von Blanquis Jahrestag verhaftet wurde, erkrankte Marie.

Seit zehn Jahren litt sie unter einer Herzkrankheit; jede Aufregung war für sie verhängnisvoll; es war auch eine heftige Aufregung, mich verhaftet zu sehen.

Arme Marie!

Sie ruht in einem breiten roten Schal, den man mir gegeben hatte, um daraus notfalls ein Banner zu machen; er ist ein Leichentuch geworden; für uns ist das jetzt dasselbe.

 

MARIE FERRE

Meine Freunde, da wir sagen müssen, daß sie gestorben ist, 

Daß wir sie an der Schwelle unserer Gefängnisse nicht mehr sehen werden; 

Da keiner je das Tor öffnet zum kalten Nichts, 

Da unsere Rufe zu den Verstorbenen überflüssig sind; 

Sprechen wir von ihr einen Augenblick; möge ihr Name uns an die erinnern, 

Die wir verloren haben.

 

Bescheiden, sie wußte, heroisch und stolz zu sein. 

Oft bewunderten wir diesen anmutigen Gegensatz! 

Jetzt ist alles aus, in dem schwarzen Friedhof 

Für immer sie ruht, und in den Tod nimmt sie 

Unser letztes Lächeln mit; und mein Herz fühlt sich 

Unter ihrem Grabstein lebendig begraben.

 

Wenn wir manchmal solche schönen Schätze besitzen 

Zwischen leerem Himmel und der Rabenmutter Erde, 

Dann nur für den Tod, der sie uns raubt. 

Damit alles Trauer sei unter den roten Fahnen. 

Wie eine Weinranke im Feuer nehmen die Gräber die Lebenden, 

Alle, die wir lieben.

 

O Revolution! Mutter, die an uns zerrt, 

Und die wir lieben, höchste Gleichheit! 

Nimm unser zerbrochenes Los für eine Morgenröte, 

Über unseren geliebten Toten schwebe die Freiheit! 

Wenn der düstere Mai erschallt, laß uns wieder erwachen 

In deinem wunderbaren Glanz!

LOUISE MICHEL Februar 1882.

 

Mir war, als müßte ich sterben nach diesem schrecklichen Schicksalsschlag; mir blieb nur meine Mutter... meine Mutter und die Revolution. Jetzt habe ich nur noch die Revolution.

Werden diese Erinnerungen mehrere Bände fassen? Ich weiß es nicht! Es hängt von vielem ab. Wenn man alles sagen wollte, würde man endlos weiterschreiben.

Auf jeden Fall täte ich gut daran, in diesem ersten Band die Geschichte meiner Gefängnisaufenthalte zu skizzieren.

Es ist notwendig, daß man erfährt, wie viele tapfere Herzen sich unter diesen Unglücklichen befinden, die man verachtet; es ist notwendig, daß man eine Menge Dinge so sieht, wie sie sind, und nur wer es erlebt hat, weiß davon! Ich schließe das Kapitel der Vorträge und gehe zu dem der Gefängnisse über.

Ich zitiere noch einiges; hier ein Bericht von unserem Freund Deneuvillers. Das ist die ehrliche Gegenstimme zu dem, was sich am selben Tag im anderen Saal ereignete. Ich habe in einem vorherigen Kapitel von den Torheiten berichtet, zu denen sich die toll gewordenen Reaktionäre hinreißen ließen, weil die Leute mit gutem Willen unvoreingenommen zuhörten, wie über die Revolution gesprochen wurde.

Ich zitiere diesen Bericht nicht aus persönlichem, sondern aus revolutionärem Stolz. Man wird darin die Haltung des Volkes im Gegensatz zur Haltung seiner Ausbeuter erkennen, einerlei, ob sie sich der Rolle, die sie spielen, bewußt sind oder nicht.

 

LOUISE MICHEL IN GENT

Louise Michel hat am Mittwoch im Salle du Mont-Parnasse für die Sache des Sozialismus gesprochen. Dreitausend Genossen waren erschienen und haben die Rednerin, die über die revolutionäre Propaganda sprach, begeistert empfangen.

Als sich die Bürgerin zurückzog, um einen zweiten Vortrag im Hippodrome zu halten, diesmal vor einem bürgerlich-reaktionären Publikum, wollte ihr die ehrliche, tapfere Genter Bevölkerung das Geleit geben, um sie gegen die Beleidiger zu schützen.

Louise Michel hielt ihnen jedoch entgegen: Man darf bei den Feinden des Volkes nicht den Glauben aufkommen lassen, wir sähen in diesem oder jenem von uns einen Abgott. Nur der Revolution dürfen wir das Geleit geben. Deshalb bitte ich euch, mich allein gehen zu lassen.

So ruhig und begeistert sich die Arbeiter zeigten, so ungesittet und wütig haben sich die Reaktionäre im Hippodrome gebärdet!

Die Klerikalen hatten in ihrem Delirium seit drei Tagen Brüllchöre vorbereitet, die verhindern sollten, daß irgend etwas zu verstehen war. Man sah nur weit aufgerissene Mäuler, denen ein tollwütiges Geschrei entfuhr, und ein Aufgebot an Knüppeln, das einem Pietri Appetit gemacht hätte!

Aber man muß Humor haben: die Rednerin hat sich zum Andenken an die klerikalen Argumente ein zwei Kilo schweres Stück Bank aufgehoben, das ihr an den Kopf geworfen wurde.

Die katholische Meute versammelte sich auf der Straße und erhob die Stimme gegen die Sozialisten, auf deren Führer, den tapferen Anseele, ein Mordanschlag verübt worden war, und dem es nur deshalb gelang, ihren Händen zu entrinnen, weil wir in den Kampf eingriffen.

Bis zum Abend waren wir Augenzeugen der epileptischen Raserei jener, die glauben, die Religion und die Gesellschaft gerettet zu haben, wenn sie einen Vortrag abdrosseln.

Wir wissen nicht, was unserer Freundin ohne den Schutz des Bürgermeisters und des Oberpolizeikommissars widerfahren wäre, die sich mit wahrhaft heroischer Hingabe in den Kampf am Zirkus, und sogar bis zum Bahnhof, einschalteten.

Diese Schändlichkeiten werden den Wind der Freiheit nicht daran hindern, aus vollen Kräften zu blasen, und die Revolution in noch kürzerer Zeit noch unvermeidlicher machen.

DENEUVILLERS.

 

Ich bin gezwungen, meine Freunde zu zitieren, da ich die Wahrheit anderswo nicht finden kann. Im übrigen streiche ich, sofern es möglich ist, das für mich allzu Schmeichelhafte, mit dem meine Freunde mitunter den Übertreibungen begegnen, die bei meinen Feinden jedoch vom Haß diktiert werden.

Ich habe keinen besonderen Verdienst, da ich wie alle Geschöpfe und alle Dinge meiner Neigung folge, ebensowenig aber bin ich ein Scheusal.

Wir sind alle das Produkt unserer Zeit, weiter nichts. Jeder von uns hat seine Vorzüge und seine Fehler; das gilt für uns alle; aber was liegt schon daran, wie wir sind, wenn unser Werk groß ist und sein Licht über uns ausstrahlt; bei dem was wir in Angriff nehmen, geht es nicht um uns, es geht um die Zukunft der Menschheit, wenn wir nicht mehr sind.

An dieser Stelle möchte ich einen Auszug aus dem Intransigeant (dem Unversöhnlichen)[3] anführen:

Einerseits lesen wir im Voltaire[4] unter der Überschrift »Was die revolutionäre Propaganda abwirft«:

 

Die Vorträge, die Mlle Louise Michel in Brüssel hielt, wurden ihr mit je 5oo Francs honoriert, das macht für alle drei 1500 Francs.

Bei solchen Preisen werden die Aufrufe zum Aufstand zu einem recht guten Geschäft.

 

Andererseits bittet uns ein freundlicher Leser, der erstaunt ist über das fürstliehe Gesahenk, das Louise Michel durch unsere Vermittlung den Opfern von Chagot zukommen ließ, um Aufklärung über ihre Existenzmittel. Wie es sich diesem Herrn darstellt, müßte es die Spezialität unserer Freundin sein, >Idiotien< zu verhökern, >äie wir reizend finden<, und >Vergnügungsreisen auf Kosten von Dummköpfen< zu machen, >die durch ein Komitee von Schuften ausgebeutet werden<.

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Wir begnügen uns damit, diesem freundlichen Leser ein paar Zahlen zu unterbreiten, die zu benutzen dem Voltaire gern gestattet wird.

Wir fühlen uns um so wohler, dies an einer Stelle zu tun, da unsere kühne, vortreffliche Freundin abwesend ist, so daß wir auf die Gefahr hin, ihr Mißfallen zu erregen, einen dürftigen Teil unserer Gedanken über sie äußern können.

Von dem Erlös aus ihrem ersten Vortrag hat der Intransigeant, unabhängig von dem, was für die revolutionäre Propaganda bestimmt wurde, 100 Francs für die Verbannten von 1871 erhalten.

Von dem Erlös aus dem zweiten Vortrag gingen 100 Francs an die Bergleute des Borinage, weitere 100 Francs an die sozialistische Presse von Anvers, und weitere 300 Francs, also der Rest, standen gestern, als das fürstliche Geschenk, an der Spitze unserer Sammelliste zugunsten der Angeklagten von Chalon-sur-Saone[5] und ihrer Familien.

Von dem Erlös aus dem dritten Vortrag ist gewiß nicht weniger würdig und demokratisch Gebrauch gemacht worden.

Ist unser Briefschreiber nun zufrieden?

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Sprechen wir auch kurz über den Vortrag von Versailles. Als eine geschlossene Gruppe von Anarchisten hatten wir uns dort eingefunden und waren auf alles gefaßt, dennoch hielten wir es für unsere Pflicht, von dieser Stelle aus der Hinrichtungspfähle von Satory und der Mauer des Pere-Lachaise zu gedenken.

Ein Brief über diese Konferenz ist mir erhalten geblieben. Hier ist er:

 

September 1882.

Zu den Zwischenfällen bei der am letzten Sonntag von einer revolutionär-sozialistischen Gruppe in Versailles organisierten Versammlung hat die Bürgerin Louise Michel folgendes Schreiben an uns gerichtet:

»Haben unsere Freunde erwartet, daß uns ein anderer Empfang zuteil werden würde?

»Vor Revolutionären brauchen wir nicht von der Revolution zu sprechen, aber wohl vor denen, die es nicht sind. »Da wir mit Versailles begonnen haben, sehe ich nicht ein, was uns hindern sollte, mit der Bretagne aufzuhören. »Wir werden in Kürze eine Rundreise durch diese guten Lande des Königs machen.

»Wenn uns dort Leute mit der Mistgabel empfangen, so wird es auch andere geben, die wir durch die Propaganda für die soziale Revolution gewinnen werden. Ihre ganze bretonische Starrköpfigkeit wird sich der Wahrheit zuwenden; ihr ganzer Fanatismus wird für die Zukunft statt für die Vergangenheit eintreten. »Ich selbst denke schon lange an die Eroberung dieser Bretagne, schon seit jenem Tag, als ich auf dem Rathausplatz stand und voller Empörung die breiten Gesichter der blonden Bretonenburschen, die an den Fensterscheiben des Stadthauses klebten und nach dem Plan des Generals Trochu mit soviel Überzeugung aus gedeckter Stellung auf uns feuerten, sah. »Das war am 22. Januar.

»O ja, wir werden sie, diese Königstreuen, für die Revolution gewinnen wie alle anderen, genauso wie die anderen Proletarier.

»LOUISE MICHEL.«

 

Gestern hat unsere Freundin, die Bürgerin Louise Michel, dem Chefredakteur des Intransigeant einen Brief geschrieben, der sich auf den Artikel Erinnerungen an Satory bezieht:

 

»An den Bürger Rochefort,

»Mein lieber Weggenosse,

»Ich drücke Ihnen die Hand für Ihren heutigen Artikel.

»Wie konnten sich diese Leute einbilden, daß mich die Verfolgung und das Geschrei einer unwissenden Meute erschüttern konnten, während ich Satory vor Augen hatte?

»Das ist genauso, als hätte ich mir auf der Halbinsel Ducos die Zeit mit Klagen vertrieben, während vor mir am Horizont die Insel Nou lag.

»Wir haben erneut feststellen können, daß es unseren Gegnern an ernsthaften Argumenten fehlt. Sie behelfen sich mit Gebrüll: damit geben sie zu, daß sie verloren sind.

»Im übrigen mangelte es dieser Herde nicht an Malerischem; vor allem war da ein hinkender Bettler, der sich wie eine Spinne an seinen Krücken spreizte und gegen die Feinde des Eigentums zeterte.

»Haben Sie die Bettler[6]  von Callot gesehen? Man hätte meinen können, dieser Hinkende sei aus dem Rahmen gestiegen.

»Außerdem waren da ein paar große Halunken aus dem Gefolge der Amphitrite[7] und Gassenjungen (darunter mehr als ein zukünftiger Rebell), kurzum das ganze Bild der menschlichen Dummheit.

»Was soll's! Diese Szenerie wird dazu beigetragen haben, uns mehr als einen Hörer zuzuführen. Die Dinge besitzen eine Beredsamkeit, die die Worte nicht haben.

»LOUISE MICHEL.«

 

Nicht genug mit dem mündlichen Lauffeuer der Verleumdungen: verblendete Idioten ließen sogar in einer Zeitung (ich erinnere mich nicht mehr, in welcher) ganz niederträchtige Verleumdungen abdrucken, die sie erfolglos oder vielmehr mit einem ihren Absichten entgegengesetzten Erfolg in einer Versammlung vorzubringen versucht hatten, in der sich zufällig Deportierte der Kommune befanden.

Diesmal erhofften sie sich mehr davon, ohne daran zu denken, daß Tausende Tag für Tag gesehen hatten, wie ich lebte. Und wieder war es ein Kaledonier, der Rechtsanwalt Monsieur Locamus, ehemaliger Stadtrat und Offizier in Numea, der ihnen antwortete.

Die Beharrlichkeit der anonymen Verleumder zwingt mich zu wiederholtem Male, durch einen Brief, so schmeichelhaft er auch sein mag, mit diesen unverschämten Halunken endgültig abzurechnen.

Lohnt es sich überhaupt? Ja, denn wir alle, die wir bezeugen können, daß es Lügen waren, werden vielleicht bald sterben, und für die ewig lebende Revolution müssen wir uns rein erhalten.

Es ist nicht unnütz, die Schmutzflecken abzuschütteln.

 

Der Bürger Locamus, ehemaliger Stadtrat von Numea, hat an uns den folgenden Brief gerichtet:

Wir halten es für unsere Pflicht, ihn zu veröffentlichen, obwohl unsere Freundin Louise Michel keiner Bescheinigung bedarf, um diese schmutzigen Verleumdungen Lügen zu strafen, die durch ihr gesamtes Leben widerlegt werden:

 

 

»Paris, den 27. Februar.

»Sehr geehrter Herr Chefredakteur,

»Eben habe ich im Intransigeant die Zeilen gelesen, die der Antwort Louise Michels an ihre Verleumder entnommen sind. Die Verleumdung selbst habe ich nicht gelesen, bin aber wie Sie überzeugt, daß sie nur Verachtung verdient.

»Da sich jedoch Louise Michel zu einer Antwort herabließ, halte ich es für meine Pflicht, mich einzuschalten.

»Numea liegt weit, und die Antwort auf diese Verleumdungen könnte zu lange auf sich warten lassen. Glücklicherweise gibt es Numeaner in Paris.

»In meiner Eigenschaft als Stadtrat von Numea und als Beauftragter für das Erziehungswesen in den Jahren 1879 und 188o möchte ich unserer ehemaligen städtischen Lehrerin unsere Wertschätzung und Zufriedenheit bezeugen.

»Die städtische Kommission für das Erziehungswesen bestand aus drei Mitgliedern, Monsieur Puech, einem bedeutenden Kaufmann, Monsieur Armand, einem begnadigten Deportierten, und mir.

»Die städtischen Schulen, die wir in der Kolonie eröffnet haben, haben die besten Ergebnisse gezeitigt.

»Louise Michel, die auf Beschluß des provisorischen Bürgermeisters, Monsieur Simon, berufen wurde, uns dabei zu helfen, hat ihr Amt mit einer stetigen Hingabe erfüllt.

»Ihre Mitarbeit ist für uns äußerst nützlich gewesen.

»Hinzufügen möchte ich noch, daß die Haltung und Führung von Louise Michel in Numea selbst ihren politischen Feinden Achtung und Bewunderung abnötigte.

»Mit freundlichen Grüßen.

»P. LOCAMUS.»

 

Sprechen wir nun von den Londoner Vorträgen. Die Reisekosten wurden von den Bürgern Otterbein aus Brüssel und Mas aus Anvers bestritten; ich schulde sie ihnen noch heute.

In London habe ich, wie schon früher, bei unseren Freunden Varlet, Armand Moreau und Viard gewohnt; und wie immer haben sie mich alle ein wenig verwöhnt. Wenn ich nach London fahre,, bin ich weit davon entfernt, Geld auszugeben; im Gegenteil sind sie es, die Ausgaben haben; und was den Erlös aus den Vorträgen betrifft, so wissen unsere Freunde, was daraus wurde.

Da der Saal sehr teuer war, wurde bei einer Versammlung revolutionärer Gruppen das ergänzt, was fehlte; auch der Intransigeant steuerte einiges bei, denn unsere Freunde von 1871, die verkrüppelt worden waren, hatten die Zusicherung erhalten, daß man an sie denken werde.

Die Einnahme war sehr gering angesichts dessen, was wir seit langem vorhatten, nämlich eine mehr als bescheidene Einrichtung ins Leben zu rufen, in der die arbeitsunfähig gewordenen ehemaligen Verbannten - oder besser gesagt, denen die Arbeit verweigert wurde, denn die Kommunarden sind stolz, und es sind schon mehrere von ihnen den Weg des alten Malezieux gegangen - in der also, sagen wir, die alten und neuen Hungerleider wenigstens ein bißchen Brot und ein paar Tropfen Suppe bekommen sollten, und zwar ohne anderen Berechtigungsnachweis als ihr Elend. Den Unterhalt dieses Hauses, das, von Verkrüppelten unter dem Namen Suppe der Verbannten geführt, vielleicht Verzweifelte hätte rettem können, wollten wir durch Veranstaltungen bestreiten.

Die englischen Zeitungen, selbst die aristokratischsten und reaktionärsten, berichteten mit großer Sachlichkeit über meine Vorträge in London. Diese verhältnismäßig wohlwollende Einstellung war vielleicht der Böswilligkeit bürgerlicher Blätter im Departement du Nord zu verdanken.

Nichts ist für einen Menschen vorteilhafter, als wenn allzuviel Böses über ihn gesagt wird. Bei einem tüchtigen Verriß fallen einem sofort die gröbsten Übertreibungen auf.

Was die Berichte der opportunistischen Pariser Zeitungen angeht, so waren sie alle nach demselben Klischee hergestellt. Sie hatten es nicht nötig, Reporter zu entsenden. Es genügte ihnen, wenn sie wußten, in welchem Saal ich sprach, über welches Thema, und wer die Versammlung organisiert hatte, um über die »revolutionäre Furie» nach allen Regeln der Kunst herzufallen.

Meine Londoner Vorträge fanden in den Vierteln der Reichen statt, wo ich nur von dem durch meine französischen Feinde zu-sammengedichteten Märchen her bekannt war, und so waren meine englischen Zuhörer ganz erstaunt, daß ich weder so schlecht erzogen noch so lächerlich war, wie sie es gewöhnlich zu hören bekamen. Sie erkannten das scheußliche Bild, das man ihnen von mir gemalt hatte, überhaupt nicht wieder. Demzufolge befleißigten sich alle Zeitungen, sogar die aristokratische Fall Mall Gazette, mir gegenüber einer vollendeten Höflichkeit.

Sie waren sehr erstaunt, daß ich ihre Ansichten über die workhouses[8] nicht teilte. Sie sahen darin, übrigens sehr zu Unrecht, einen Widerspruch; aber ich werde meine Gedanken darüber später darlegen.

Sie irrten sich, wenn sie von meiner Begeisterung für diese Einrichtung sprachen. Solch ein Gefühl können die work-houses nicht hervorrufen. Ich stellte lediglich mit Freuden fest, daß England es für seine Pflicht hält, sich der Brot- und Obdachlosen anzunehmen.

Die Namen derer, die mir dort ihre Sympathie bezeugten, werde ich hier nicht nennen. Sie werden sich an jenen Winterabend erinnern, an jenen düsteren Winter in London, über dem ein Leichentuch von Nebel liegt, der unaufhörlich tropft und plötzlich in heftigen Regengüssen niederfällt; an einen eisigen Abend in dem großen kalten Saal vor dem korrekten, kühlen Publikum des Reichenviertels mit den riesigen Palästen, unter denen die Elenden in Löchern leben wie die Tiere! Über all das hinweg spürte ich dennoch die menschliche Anständigkeit, die trotz der verfluchten Fesseln fortbesteht, die man sich immer und ewig anlegt.

Die Anwesenden teilten meine Anschauungen nicht, aber sie waren aufrichtig, und ich weiß nicht, warum sie mir trotz ihrer Ernsthaftigkeit und Reserviertheit wie eine Familie vorkamen.

Wie ich mich einst in Vroncourt, als ich noch ein Kind war, und dann als ganz junge Lehrerin bei Mme Fayet auf dem Herdstein niedergelassen und mir alles vom Herzen geredet hatte, so stellte ich mich nun in diesen großen kalten Saal und malte die Bilder meines Lebens, von Vroncourt bis Neukaledonien, und ich hatte das Gefühl, daß die Vergangenheit wieder einmal auflebte.

Vielleicht werden sich manche daran erinnern, und ich habe ihnen auch gesagt, sie mögen daran denken, wenn uns die Gerichte bei unseren Prozessen unter einem Aspekt darstellen, der nicht der unsere ist.

Wenn wir, unser ganzes Geschlecht, noch das Tier in uns haben, so ist es nicht das Tier, das man herauskehrt; diese marktschreierische Reklame ist falsch; hier eben versagt die Klugheit der Schlangen, die auf demselben Krater zischen, auf dem die Löwen brüllen und darauf warten, daß die Lava uns fortschwemmt.

Eins hat mich in England überrascht, und das habe ich sofort geäußert: mit welcher Sorgfalt in einigen work-houses, in Lambeth zum Beispiel, das riesige Nest gepolstert wird, in dem das alte Albion das Elend einpfercht, damit es auf seiner für diesen Zweck günstigen Insel in Ruhe abwarten kann, bis das übrige Europa seine Revolution gemacht hat. Dann wird es die Torheiten, die es bei den anderen gesehen hat, vermeiden, und alles auf einmal vollbringen. Albion wird sich plötzlich erheben, den Staub von seinem weißen Gewand schütteln und das heilige Feuer dort anzünden, wo es die Winde von der offenen See beleben und nicht ersticken werden, so daß es zur Morgenröte erglühen wird.

Damit ihre überholten Einrichtungen noch länger fortbestehen, wärmen sie die Engländer an der schwärmerischen Begeisterung der Frauen auf. Die work-houses werden von Frauen geleitet; Frauen werden im Parlament sitzen.

Doch die grünen Zweige des alten Baums können den morschen Stamm nicht verjüngen; solange sie noch leben können, werden sie Blätter und Blüten hervorbringen, wobei sie das, was sie erhalten, nicht aus dem Saft ziehen werden, der längst versiegt ist, sondern aus der von warmen Ausdünstungen geschwängerten Luft.

In einigen work-houses sind die Greise und die Armen glücklich; das liegt daran, daß ihre Leiterin begriffen hat, daß die Freiheit notwendig ist, damit die Elenden, sowie die anderen, leben können.

Dort gibt es keine Hausordnung; sie hängt klar und deutlich an der Wand.

Und deshalb herrscht dort eine bessere Ordnung als sonstwo; die Uhr ist es nämlich, nach der man sich hier richtet.

Wenn die Zeit für das Essen, die Arbeit oder die Spaziergänge heranrückt, geht jeder ohne Zwang dorthin, wohin er soll, wie andere zum Essen nach Hause oder zu ihrer Arbeit gehen.

Ach! Sie glauben vielleicht, Miss M..., Miss X..., Miss F..., daß ich Sie vergessen habe? Nein, gewiß nicht!

Sie glauben vielleicht, Miss M..., daß das Buch nicht mehr existiert, in das Sie mir die Worte des alten de la Montagne geschrieben hatten: Weder Gott, weder Herr!

Doch, ich habe es immer noch.

Ich besitze ebenfalls noch das Lied des Hemdes, das Sie, Sir T.S..., ins Französische so gut übersetzt hatten.

 

Frauen verteidigen die Barrikade auf der Place Blanche. Zeichnung von Moloch