Moderne Frauen wollen ihre Söhne zeitgemäß erziehen.
Sie sollen dazu fähig sein, später partnerschaftlich zu leben.
Tatsächlich geben viele Mütter ihren Söhnen das Beispiel einer
starken, selbständigen und intelligenten Frau mit auf den Lebensweg.
Doch parallel dazu vermitteln sie eine zweite verhängnisvolle Botschaft.
Indem sie Ihre Söhne verwöhnen heillos verwöhnen -
bringen sie ihnen bei die Liebe einer Frau mit mütterlicher Hingabe,
weiblicher Selbstlosigkeit und freundlichem Diensteifer zu verbinden.
Sehr viele Frauen wollen ihre Söhne so erziehen, daß sie später einmal partnerschaftliche, faire und gefühlsfähige Männer werden. Und in diesem Zusammenhang denken die meisten Frauen darüber nach, was sie diesen Söhnen sagen sollen. Sie denken an Werte; sie überlegen sich, wie ihr Sohn denken, woran er glauben, was er gut und schlecht finden soll. Er soll Frauen respektieren. Er soll an die Gleichberechtigung glauben. Sie achten darauf, daß in seinen Kinderbüchern auch positive, starke Frauen und Mädchen vorkommen. Sie sorgen dafür, daß er genügend geschlechtsneutrale Spielsachen besitzt. Unsere Erkenntnis, daß dieses Bemühen viel zu abstrakt ist, entwickelte sich ganz langsam, im Zuge vieler kleiner Erfahrungen. Auch ganz persönliche Augenblicke gehören dazu. »Ich hasse Selbstbedienung«, kommentiert einer unserer Söhne die Aufforderung, sich doch selber das gewünschte Sandwich zu machen. Das soll ein Scherz sein, aber der Scherz kommt der Wirklichkeit zu nahe, um nicht auch nachdenklich zu stimmen. Persönlich sehr erhellend ist auch der Augenblick, in dem ich bemerke, wie ich mich ganz ungewollt beim Abendessen verhalte. Diensteifrig springe ich auf, um Ketchup zu holen, obwohl mein Sohn keines verlangt hat, obwohl er zehn Jahre alt ist und es sich ganz bestimmt selber holen könnte, obwohl ich am Tag davor aus dem Krankenhaus entlassen wurde und mir gar nicht nach Aufspringen zumute ist. Warum, bitte, tue ich das? Diese persönlichen Erfahrungen decken sich oft mit den Details aus dem Alltagsleben der vielen Frauen, die uns über ihre Söhne berichten. Aus den Schilderungen selbst der resolutesten, bewußtesten, selbständigsten Frauen geht eklatant eines hervor: Die meisten von uns verwöhnen die Söhne unglaublich. Wir bedienen sie. Wir entlasten sie. Wir setzen uns ständig zurück, um ihnen das Leben schöner, bequemer, leichter zu machen. Und es fällt uns oft gar nicht auf, in welchem Übermaß wir das alles betreiben.
Über die Mutterliebe
Der Wunsch, ein Kind zu verwöhnen, ist, das wollen wir gleich festhalten, den Müttern nicht wirklich als Fehler anzulasten. Er ergibt sich aus dem Kontext der Mutter-Kind-Beziehung. Am Anfang ist die Abhängigkeit des Kindes total, und noch jahrelang besteht die Beziehung aus Umsorgung. Man prüft am Handgelenk die Milchtemperatur und schneidet ihnen das Essen, putzt ihnen die Nase und schnürt ihnen die Schuhe zu. Es ist nicht leicht, eingefahrene Verhaltensmuster zu verlassen, nicht immer leicht, den Zeitpunkt zu erkennen, an dem sie etwas schon allein könnten, und schon gar nicht leicht, zwischen Fürsorge und Liebe zu trennen. Anfangs füllen wir den Saft in die Flasche, weil das Baby hilflos daliegt und noch nicht einmal mit dem Daumen in den Mund findet. Später füllen wir den Saft ins Glas, weil das kleine Kind das zwar gern selbst machen, aus dem tückischen Tetra-Pack dabei aber alles ausschütten 7"ürde. Ein paar Jahre später schenken wir den Saft ein, weil wir das Kind den ganzen Schul- und Bürotag lang nicht gesehen haben und ihm mit dem Saft auch ein bißchen Zuwendung, ein bißchen Fürsorge schenken wollen. Und am Ende schenken wir den Saft ein und waschen und bügeln die Kleider und kochen und räumen auf, weil wir es immer schon machten. Und ein bißchen vielleicht auch wegen des zufriedenen Lächelns, das wir dafür ernten. Daß am Ende dieser Entwicklung dann ein riesengroßer Mann auf einem Sofa lümmelt und sich von seiner Angetrauten das Bier aus dem Kühlschrank bringen läßt, daran denken wir nicht.
- Max ist zweieinhalb. Seit einer Woche geht er in den Kindergarten, von 9 Uhr bis 12 Uhr. Ich bringe ihn hin und bleibe dabei; das nennt sich »Eingewöhnung«. Am dritten Tag war er so in ein Singspiel involviert, daß ich mit seinem Einverständnis für eine Weile weggehen durfte. Im Etappenplan der Eingewöhnung sind wir jetzt an dem Punkt angelangt, an dem ich ihn hinbringen und dann weggehen soll. Wir haben darüber gesprochen, und er schien das zu akzeptieren, doch nun weint er und hält mich fest. Die Kindergärtnerin hebt ihn auf und trägt ihn davon. Sie setzt ihn strampelnd an den Frühstückstisch und bedeutet mir energisch, daß ich weggehen soll. Ich stehe im Gang. Ich kann ihn weinen hören. »Ah, ein Neuer«, meint anteilnehmend eine andere Mutter. Eine Kindergärtnerin kommt vorbei und erzählt mir, daß die Kinder immer weinen. Manchmal stehen dann die Mütter am Gang oder auf der Straße vor dem Kindergarten und weinen auch. »Das ist ganz natürlich«, meint sie aufmunternd. Ich stehe im Gang, und plötzlich überkommt mich die Erinnerung. Es hat wahrscheinlich mit einem eigenen Kindheitserlebnis zu tun, aber es vermittelt sich nicht als Erinnerung an ein Ereignis, sondern als Erinnerung an einen Geschmack. Es fällt mir ganz plötzlich ein, wie das schmeckt, wenn man sehr klein ist und beim Essen weint, wenn sich im Mund das Essen mit den Tränen vermischt. Eine Semmel mit Butter, Marmelade und Tränen. Wir lieben unsere Kinder, aber wir servieren ihnen Tränen zum Frühstück.
Cheryl
Daß man Söhne nicht verwöhnen soll, schon in ihrem eigenen Interesse nicht, weil es sie lebensuntüchtig macht und unrealistisch in ihren Erwartungen einer späteren Partnerin gegenüber, darin sind wir uns fast alle einig und vertreten es mit Nachdruck. Sie sollen mitarbeiten lernen! Sie sollen Verantwortung übernehmen! Sie sollen partnerschaftlich sein! Es ist nicht nur die Opferbereitschaft, die liebende Selbstaufgabe der Frauen, die uns an der Umsetzung dieses guten Vorsatzes hindert. Es gibt auch zwei tückische Fallstricke, die ihren Teil dazutun. Der erste ist die Verknüpfung zwischen Emotion und Versorgung. Persönliche Dienstleistungen haben in der ElternKind-Beziehung sehr viel mit Liebe und Vertrauen zu tun. Das äußert sich schon darin, daß kleine Kinder für persönliche Versorgungsleistungen oft die eine oder andere Person bevorzugen - das Recht, an ihrem kleinen Körper irgendwelche Dienste zu versehen, wird von ihnen als Privileg betrachtet. Sobald die Mutter anwesend ist, darf die Tagesmutter ihnen nicht mehr die Windeln wechseln. Der zweite Fallstrick liegt in der tradierten Rollenverteilung, daß nämlich die meisten Versorgungsleistungen eben nicht von den Eltern, sondern von der Mutter erbracht werden. Damit wird die intime, die persönliche Versorgung nicht mit »Liebe der Eltern« gleichgesetzt, sondern mit »Liebe der Mutter«, Liebe einer Frau. Diese Affektkomponente, diese Symbolbedeutung mütterlicher Fürsorge läßt fast alle Frauen in diese Falle gehen. Hausfrauen verwöhnen ihre Söhne, weil sie schließlich und endlich ja ganz bewußt »zu Hause geblieben« sind, um der Familie Wärme und Komfort zu bieten. Berufstätige Frauen verwöhnen ihre Söhne, um ihre Abwesenheit zu kompensieren, um in der zur Verfügung stehenden Zeit mit Liebesdiensten Liebe zu zeigen.
Doris ist eine belesene Frau mit einem starken feministischen Engagement. In ihrer Ehe hat sie nicht alle, aber viele ihrer Wertvorstellungen verwirklichen können. Ihre Berufstätigkeit war von Anfang an selbstverständlich, und im Haushalt übernimmt ihr Mann »so in etwa« seinen Anteil. Aber der lljährige Sohn ist überproportional ihre Verantwortung geblieben. Sie war es, die seine Existenz irgendwie mit ihrem Tagesablauf vereinbaren mußte, die den Erziehungsurlaub nahm, die sich später um den Kindergartenplatz kümmerte. Dem Sohn gegenüber versucht sie, den Geschlechterstereotypen entgegenzuwirken. Aber aufschlußreich ist eine Passage, in der es um Gefühle geht: »Der Juri hat seinen Vater in einem Aufsatz beschrieben, äußerlich, wie er ausschaut, und dann hat er noch geschrieben, mein Vater ist immer fröhlich und gut gelaunt. Offensichtlich erlebt er ihn so. Und wenn er mich vielleicht beschreiben sollte, also einer der Sätze wäre, >ich krieg sie immer rum.< Weil letzten Endes, wenn es wirklich darauf ankommt, bin ich ihm völlig ausgeliefert. Wenn ich merke, daß ihm etwas ganz wichtig ist, wenn er etwas wirklich will und es für ihn schwierig wäre, ohne das zurechtzukommen, dann finde ich immer ganz wichtige und verständliche Gründe, warum das jetzt so sein muß, wie er es will.«
Wenn beide Elternteile das in gleichem Maße täten und/oder wenn Mütter ihren Töchtern gegenüber das gleiche Verhalten zeigten wie den Söhnen, hätte das alles nicht diese symbolische Bedeutung, wären die Folgen weniger ausgeprägt. Aber so ist es eben nicht, Liebesdienste werden von Müttern erbracht, und Söhne sind die überproportionalen Nutznießer. Die Liebe zu Töchtern bedingt für die Mütter viel eher, daß sie ihnen auch etwas beibringen wollen, daß sie sie eiriführen in die Fertigkeiten der Haushaltsversorgung. Feministische Mütter sehen in ihnen eine Partnerin. Traditionelle Mütter sehen in ihnen eine Hilfe, eine zukünftige Frau und Mutter. Es ist interessant, wie wenig bewußt den Frauen in dieser Hinsicht ihr eigenes Verhalten ist. Oder nein, sagen wir lieber: wie stark der Impuls ist, es zu leugnen und verdrängen, auch sich selbst gegenüber. Frauen schienen nicht sehen zu wollen, wie einseitig die Arbeit zu Hause verteilt war, wie sehr sie ihre Söhne verhätschelten. Andere sahen es sehr wohl, es war ihnen sehr peinlich, und sie wollten es zunächst vor uns geheimhalten, um dann halb lachend, halb verlegen ihre »Geständnisse« abzulegen. Selten mußten wir so bohrend nachfragen wie bei diesem Thema; selten wurde uns so ausweichend, so beschönigend geantwortet. Die Söhne wurden behütet und in Schutz genommen vor unserer möglichen Kritik. Was genau machte also nun dieser 16- oder 17jährige Sohn, den sie allein erzogen hatten, den sie in der vorangegangenen Interviewstunde als so partnerschaftlich und emanzipiert und modern beschrieben hatten, im gemeinsamen Haushalt? Pause. Ausführliches Herumgerede. Viele Erklärungen und Begründungen. Und schließlich die Erkenntnis: Er macht nichts. Und wenn er nun eine Tochter wäre, würden sie dann auch noch um 17 Uhr nach Hause laufen, um ganz schnell einzukaufen und das Abendessen zu kochen, weil die sich »im Sport so verausgabt hat und am Abend schon so hungrig ist«?
Nehmen wir zum Beispiel Sonja. Peppig, gescheit, durchsetzungsfähig sitzt sie uns gegenüber und erzählt von ihrem Leben als alleinerziehende Mutter zweier Söhne. Die waren vier und sechs Jahre alt, als die Ehe wegen der Untreue des Ehemannes in die Brüche ging; jetzt sind sie 17 und 19, und Sonja hat die dazwischenliegenden Jahre gut gemeistert. In ihrem Job als Buchhalterin ist sie trotz der Vielfachbelastung stetig aufgestiegen, und daneben hat sie Sprachkurse besucht, Reisen gemacht und einen großen Freundeskreis gepflegt. Wenn jemand selbständig und selbstsicher wirkt, dann Sonja. Wenn jemand weiß, wo es langgeht, dann Sonja. Wenn jemand sich im Leben nichts mehr gefallen lassen will, dann Sonja. Und doch gibt es zwei Punkte in ihrer Biografie, die ganz und gar nicht in dieses Bild passen. Erstens hat sich Sonja bei und nach ihrer Scheidung finanziell regelrecht übervorteilen lassen. Noch vor zwei Jahren, als jedes Bindungsgefühl an den Ex-Ehemann restlos erkaltet war und sie sich auch keine Illusionen über seine väterlichen Qualitäten mehr machen konnte, willigte sie in Abmachungen ein, die eklatant zu ihrem und der Kinder Nachteil waren. Der zweite Widerspruch betrifft die Söhne. Ihnen gegenüber ist Sonja nicht bloß der Hauptpfeiler der Familie, nicht nur verantwortlich für den Unterhalt und für die seelische und schulische Entwicklung der Kinder, sondern sie macht auch sonst rundum alles. Über alles, sogar über kränkende Ereignisse wie das Liebesverhältnis ihres Mannes mit ihrer besten Freundin, spricht sie ganz offen; doch bei diesem Thema muß man die Fakten aus ihr mühsam herauspressen. Ihre Söhne hätten überhaupt keine Macho-Allüren, hat sie uns erklärt. Man lebe entspannt und gleichberechtigt zusammen und habe viel Verständnis füreinander. Die Söhne würden auch ihre Freiräume respektieren und sie darin ermutigen, eigenen Interessen nachzugehen. Das alles zweifeln wir auch gar nicht an. Doch wie sieht die praktische Verteilung der Alltagslasten aus? Welche Pflichten, fragen wir, haben die Söhne zu Hause? Nun, sie sind für ihre eigenen Zimmer verantwortlich. Wenn sie wollen, daß diese Zimmer aufgeräumt sind, dann müssen sie das auch selber machen. Ja, und vor einem Jahr hat Sonja auch noch durchgesetzt, daß sie ihre schmutzige Wäsche in den Wäschekorb werfen. Da war sie ganz rigoros, da blieb sie hart; sie war nicht mehr bereit, wie früher, in den Zimmern ihrer Söhne die aufgehäuften Kleiderberge zu durchwühlen, um die schmutzigen Socken und Unterhosen dort einzusammeln. Großer Erziehungstriumph: Was nicht im Wäschekorb liegt, wird nicht mehr gewaschen. Ja. Und wer wäscht dann diese Wäsche? Sonja. Wer bügelt sie? Sonja. Unsere Antwortgeberin, die trotz unserer bemüht professionell-neutralen Tonlage den Sinn und die Tendenz unserer Nachfragen bemerkt, wird unruhig und rechtfertigt sich. Diese Arbeiten mache sie nämlich am Abend, meint sie, oft ziemlich spät am Abend. Und da seien die Söhne ja schon längst in ihren Zimmern und mit anderen Dingen befaßt oder schon im Bett. Ja. Und... wer kocht? Sonja. Wer kauft ein? Sonja. Wer wäscht das Geschirr? »Niemand«, antwortet Sonja, nun schon leicht gestreßt. Dafür gäbe es einen Geschirrspüler. Doch so leicht lassen wir uns nicht abfertigen: Wer bitte räumt diesen Geschirrspüler ein und aus? Also: sie, Sonja. Weil sie das nämlich auch noch am Abend macht, nachdem die Söhne, wie gesagt, ja schon in ihren Zimmern sind. »Eigentlich sind sie sehr bequem«, reflektiert Sonja nun. »Ich glaub, ich hab da Fehler gemacht. Aber das hat auch Gründe«, fügt sie schnell hinzu. Teilweise liegt es ja bloß an ihrer eigenen schlechten Organisation. So überlegt sie etwa meist erst beim Einkaufen, was sie an diesem Abend kochen wird. Wäre sie besser organisiert, dann hätte sie eine Einkaufsliste und könnte einen der Söhne in den Supermarkt schicken. Und außerdem ist sie zu anspruchsvoll. Wahrscheinlich würden sie nicht das genau Richtige bringen, nicht den schönen Salat, sondern einen verwelkten, nicht das Mischbrot, sondern das dunkle. »Oft« fragt sich Sonja, ob das alles genauso laufen würde, wenn sie Töchter hätte. Sie fragt sich das schon deshalb, weil ein guter Bekannter alleinerziehender Vater ist. Der hat zwei Töchter, genau im Alter ihrer Söhne, und diese Töchter helfen überall mit. Sie kochen, sie waschen. Weil er als Vater, als Mann, es sich anders und besser eingeteilt hat? Sonja muß nur kurz nachdenken, um ihren eigenen Anteil an der Situation zu erkennen. So erinnert sie sich daran, daß die Söhne ihr mehrmals Hilfe und Mithilfe anboten, sie das aber zu verhindern wußte: »Der zweite Sohn hat früher, wenn ich am Bügelbrett stand, angeboten zu bügeln. Aber das war mir zu umständlich. Ich hätte ihm das alles beibringen müssen... Gut, in der Firma muß man das auch machen, da arbeitet man neue Mitarbeiter auch ein... Sicher, als Frau schaufelt man sich das eigene Grab dadurch, daß man alles selber macht, alles schnell machen will.« Fast gezielt sucht Sonja Lösungen, die ihre Söhne von jeglicher Selbstversorgung entlasten. Als sie vor zwei Jahren von ihrer Halbtagsanstellung wieder auf einen vollen Arbeitsplatz wechselte, stellte es sich als Problem heraus, daß die Söhne »UM halb fünf halt schon hungrig wurden«. Sonja fielen dazu zwei Lösungen ein: Sie bot den Söhnen an, bis auf weiteres wieder auf halbtags zu reduzieren. Das lehnten die ab mit dem Hinweis, daß dies doch für ihre berufliche Fortentwicklung sehr ungünstig wäre und sie ihr das nicht antun wollten. Sonjas zweite Idee: Im Umkreis »gibt es genügend Fast-food-Läden, und sie waren zum Glück schon alt genug, um hinauszugehen und sich was zu kaufen«. Die dritte Lösung, daß die beiden sich vielleicht selber eine Kleinigkeit zubereiten konnten, kam niemals zur Diskussion. In manchen Interviewpassagen kommen wir dann auch auf die darunterliegende - und wirklich verhängnisvolle - Begründung dieser weiblichen Dienstfertigkeit. Auf die emotionale Komponente nämlich. Manchmal, erzählt Sonja, rätsele sie schon darüber, wieso ihre Söhne in der Schule so kompetent und so selbständig, zu Hause aber so schlampig und so nachlässig seien. Doch dann denkt sie sich, »das ist ja eigentlich ein Vertrauensbeweis. Sie machen das, weil sie wissen, daß sie von mir trotzdem akzeptiert werden«. Sonjas Opferfreude drückt sich auch räumlich aus. Beiläufig erfahren wir, daß sie vor ein paar Jahren ihr Schlafzimmer an den zweiten Sohn abgetreten hat und seither im Wohnzimmer auf dem Sofa schläft. »Es stört mich nicht so sehr«, kommentiert sie dieses Arrangement. »Auf der Couch schlaf ich schon okay. Das Problem dabei ist eher, daß man halt nicht wirklich einen Bereich für sich selber hat. Man kann zum Beispiel nie etwas herumstehen lassen, weil das Wohnzimmer ja ein öffentlicher Raum ist. Es erdrückt mich schon manchmal, dieses Immer-da-sein für die. Aber es ist ja nicht für ewig.« Sonja ist eine erwachsene Frau. Sie arbeitet hart. Und dennoch gesteht sie sich nicht einmal ein eigenes Zimmer, ein richtiges Bett, ein bißchen Privatsphäre zu. Als Tugend der Weiblichkeit setzt sie in den Augen ihrer Söhne die Genügsamkeit fest. Für eine liebende Frau ist es genug, daß etwas sie »nicht so sehr« stört, daß sie »Okay« schläft, wenn dafür bloß die Söhne glücklich sind.
Weibliche Liebe, allumfassend
Weibliche Liebe, das kann gleichgesetzt werden mit Opferbereitschaft, Nachsicht, Duldsamkeit, grenzenlosem Verständnis. Weibliche Liebe verzeiht. Weibliche Liebe freut sich über Zeichen des Mangels, der Bedürftigkeit, der Schwäche, weil sie dort einhaken, sich dort nützlich machen kann. Das ist die Lektion, die Söhne ein ganzes Kinder- und Jugendlichenleben lang eingehämmert bekommen, ein schlechter Liebesdienst an der nächsten Generation. Und die Söhne können ganz authentisch nichts dafür. Aus Erzählungen über das Verhalten kleiner Jungen wissen wir ganz genau, wie sehr sie sich um Wechselseitigkeit bemühen. Der Mutter, die ihnen die Schuhe angezogen hat, wollen sie im Austausch auch brennend gerne die Schuhe anziehen. Begeistert erledigen sie Botendienste oder suchen einen benötigten Gegenstand. Wenn sie als 3- und 4jährige nicht Aufwaschen dürfen, kann es mitunter Tränen geben. In der Pflege des eigenen Körpers streben sie nach Selbständigkeit. Geräte wie der Staubsauger oder die Waschmaschine begeistern sie. Sie müssen schon sehr systematisch entmutigt und ausgeschlossen und bedient werden, ehe diese Impulse in ihnen absterben. Und was treibt uns dazu, ihnen so allversorgend gegenüberzutreten?
Ein zwanghafter Impuls zur Mütterlichkeit offensichtlich. Wirklich aufhorchen ließen uns bei Sonja daher auch die Passagen, in denen es gar nicht um ihre Söhne, sondern um ihre Beziehung zu ihrem Mann geht. Sonja und ihr Mann kauften im fünften Jahr ihrer Ehe ein Haus. Es handelte sich um ein altes Bauernhaus in der Kleinstadt, wo Sonjas Eltern zu Hause sind. Ursprünglich nur als Wochenendhaus gedacht, mauserte sich dieses Haus mit der Zeit und durch Investitionen, die weitgehend von Sonjas EItern kamen, zu einem richtig schönen Wohnobjekt. Heute wird dieses Haus von Sonjas Ex-Ehemann, dessen neuer Frau und deren beiden Söhnen aus erster Ehe bewohnt. Der Verlauf dieses Eigentumtransfers ist hochinteressant, wir lassen ihn uns am besten von Sonja direkt erzählen. »Das kam so, wir haben kurz nach der Scheidung ausgemacht, daß er damals weniger Unterhalt für die Kinder bezahlen mußte, und dafür hielt er das Haus alleine instand. Und ich versprach dafür, das Haus auch nicht zu benützen, also am Wochenende nicht mehr hinzufahren.« Sonja erzählt das mit großer Selbstverständlichkeit und will schon weiterreden, über ein anderes Thema, doch Moment mal... Sonja hat »freiwillig« einer Reduzierung des Unterhalts für die Kinder zugestimmt was sie eigentlich gar nicht »darf«, da dieses Geld gar nicht wirklich ihr, sondern den Kindern zusteht, gesetzlich festgelegt wird und vom Gericht beschlossen wurde. Außerdem hat sie noch versprochen, das Haus nicht mehr zu benützen. Es ist, zumindest auf den ersten Blick, nicht einsichtig, was sie dazu bewogen hat und was ihre Überlegung dabei war. Sonja hat viele Erklärungen; nach einem anfänglichen Redefluß hält sie inne und zieht ein interessantes Resümee. »Das Haus hatte einen schlechten Beigeschmack, weil ich erfahren habe, daß er sich dort öfter mit seiner Freundin traf. Ja, und... ich dachte ja, daß das Haus eines Tages den Kindern gehören wird. Außerdem - also, meine Eltern hatten zwar das Haus mitbezahlt, und es war in meinem Heimatort, aber es war damals, als wir es kauften, ein absichtlicher Plan von mir, um ihn erwachsener zu machen. Er sollte etwas haben, an dem er arbeiten konnte. Obwohl... ich hing dann schon auch sehr an dem Haus.«
Betreten faßt Sonja zusammen: »Irgendwie ist das ja auch ein blöder Idealismus. Man denkt sich, wir waren schließlich 15 Jahre zusammen, und es waren ja auch schöne Zeiten, und da sollte man jetzt doch nicht so miteinander umgehen. Ich bin, glaub ich, keine dumme Person, aber in dieser Sache war ich sehr blöd. Ich gab ihm meine Haushälfte einfach so, und er war nicht einmal bereit zu unterschreiben, daß sie eines Tages den Kindern gehören würde. Ich ging zwar davon aus, aber er wußte es damals schon besser; nur drei Monate später zog er mit seiner Neuen und deren beiden Kindern dort ein. Jetzt kann ich sehen, daß er mich manipuliert hat. Männer machen das, sie sprechen gar nicht die Frau an, sondern sie sprechen in niedriger Weise die Mutterinstinkte an. Sie sitzen da, es geht ihnen schlecht, und man tröstet sie dann, und am Schluß ist es auch noch mit Geld verbunden.« Erstaunlich fand es Sonja ebenfalls, daß ihr Mann diese Mitleids-, Schuld- und Muttergefühle auch in jener Situation noch hatte anzapfen können, Jahre nach der Trennung, Jahre nach der Scheidung. Das ist paradox, aber genau betrachtet hat ja auch die Mutterschaft etwas Paradoxes. Da gibt es eine große, starke, in jeder Hinsicht weitaus überlegene Person, und dann gibt es eine winzige, hilflose, abhängige Person. In den meisten inenschlichen Interaktionen hat, unter solchen Vorzeichen, der Schwache nichts zu melden. Nur in der Mutter-Kind-Beziehung ist das anders. Dort ist Schwäche mit Vorrechten, mit Begünstigungen, mit Privilegien verbunden, und die Stärkere nimmt sich andauernd freiwillig zurück, gibt und läßt und sieht Fehler nach. Realpolitisch gesehen leben Mütter nach verkehrten Vorzeichen, also genau gegen die Regeln, die sonst im gesellschaftlichen Verkehr gelten. Sie erlauben ständig Grenzverletzungen, schlechtes Benehmen und Selbstsucht, weil sie wissen, daß ihr Gegenüber unreif ist und noch nicht am normalen Standard gemessen werden kann. Wo es erwachsenen Männern gelingt und diese sich nicht entblöden, das in andere Lebenssituationen zu transponieren, können sie auch noch unter den widersinnigsten Umständen als die Gewinner daraus hervorgehen. Für die Söhne ganz unmittelbar ergibt sich ein problematisches Frauenbild. Die Frau wird als Person erlebt, mit der man alles machen kann, weil sie alles versteht und alles verzeiht. In dieser Hinsicht ist Sonja durchaus typisch.
Das mütterliche Verständnis gegenüber den Unebenheiten des Reifeprozesses erzeugt nicht nur Toleranz, sondern manchmal auch ein grundsätzliches Mißverständnis. Hören wir zum Beispiel die Gedanken von Thea, einer berufstätigen Mutter, zu den pubertätsbedingten Verbalexzessen ihres Sohnes: »Ich weiß, er liebt mich, ich bin seine Mutter, und er steht irrsinnig auf mich. Da hab ich keine Probleme oder Zweifel. Aber wenn ich manchmal etwas in seinen Augen Gemeines oder Ungerechtes gesagt habe, wenn ich ihm etwas verbiete oder so, dann sagt er, >Ich hasse dich, du gehörst umgebracht!~, Dann sag ich, aha, so so. Und ich merke in der Situation, das verletzt mich überhaupt nicht. Er verletzt mich überhaupt nicht, denn für mich ist das eher ein Zeichen, daß dieses Kind ein großes Vertrauen hat in mich. Ich hätte das zu meinen EItern niemals sagen können, aber mein Sohn weiß, er kann mir so eine abgrundtiefe Gemeinheit sagen, und ich werd ihn trotzdem lieben. Also das ist für mich wirklich, so pervers es vielleicht klingt, irgendwie ein toller Beweis für seine Zuneigung und sein Vertrauen. Denn zu wem ist man am allergemeinsten? Zu dem, dem man am meisten vertraut, zu dem man den intensivsten emotionalen Kontakt hat.« Was Thea da sagt, ist nicht ganz falsch. Die Entgleisungen unseres Kindes verletzen uns nicht, weil es erstens ein Kind und damit noch kein gänzlich mündiger, selbstverantwortlicher Sozialpartner ist und weil wir zweitens seinen Zorn und seine Unreife verstehen und manches relativieren können. Das Kleinkind, das in einem Wutanfall die Selbstkontrolle verliert und auf uns losschlägt, mag Kratzspuren hinterlassen, aber es »verletzt« uns nicht, weil wir wissen, daß Affektkontrolle erst gelernt werden muß und Wutanfälle in bestimmten Entwicklungsstadien normal sind. Mütter, als die Klügeren, geben nach. Doch das stimmt nur im Rahmen eines Lernprozesses. Unsere Aufgabe ist es, das Kind in seiner Entwicklung zu begleiten, ihm die Regeln beizubringen - mit viel Geduld, mit viel Verständnis für Fehler und Entgleisungen, das ja, aber letztendlich ist es schon unsere Zielvorstellung, daß das Kind die Regeln irgendwann gelernt haben soll. Reziprozität ist bei diesem Lernen ein wichtiges Hilfsmittel. Schlag mich nicht, ich schlage dich ja auch nicht. Schlagen tut weh. Unsere Duldsamkeit muß groß sein, denn wir sind das Exerzierfeld, auf dem die Kinder in Sicherheit lernen, aber sie darf nicht grenzenlos sein. Thea ist nicht »verletzt«, obwohl ihr Sohn sich sehr verletzend, sehr grob ausdrückt. Sie weiß, daß die Pubertät sehr schwierig ist, daß er unter sehr heftigen Gefühlsaufwallungen leidet. Oft bricht er unvermittelt in Tränen aus. Er hat sich nicht unter Kontrolle; deshalb sieht sie ihm auch seine brutale Wortwahl nach. Doch Thea geht noch einen Schritt weiter.
Darin, daß er sich vor ihr so gehenläßt, sieht sie einen Vertrauensbeweis - und damit nähert sie sich schon gefährlich einer Logik, die im Zusammenleben von Frauen und Männern insgesamt verhängnisvoll ist. Zu Hause kann sich der Mann gehen lassen; bis zur körperlichen Gewalt reichen die Konsequenzen, wenn Männer gelernt haben, daß ein Gefühlsüberschwang alles entschuldigt und eine liebende Frau alles versteht. Aufgabe der Mutter ist es in solchen Situationen nicht nur, den subjektiven Kontext zu sehen und die Ausschreitungen ihres Sohnes nicht persönlich zu nehmen. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, wie beim unbeherrschten 2jährigen, den Sohn zu einer besseren emotionalen Selbsthontrolle und einem besseren Verständnis für Reziprozität hinzuführen. Die Botschaft daß er sie »gar nicht verletzen kann«, ist eigentlich falsch. Lieber sollte sie ihm klarmachen, daß seine Worte sie verletzen; daß sie sich zwar vorstellen kann wie aufgewühlt und belastet er im Moment ist, daß er aber gleichzeitig in solchen Situationen sein Gegenüber nicht vergessen darf. Daß er sich abreagieren kann, aber nicht an ihr; daß er seine Gefühle ventilieren kann, aber nicht in Form von Beleidigungen. Auch in dieser Situation muß ihr Kind Regeln und Grenzen lernen, schon im eigenen Interesse und in Hinblick auf seine späteren mitmenschlichen Qualitäten ganz bestimmt. Emotion zeigen mag gut, mag insbesondere für Söhne etwas Positives sein - aber auch die Art und Weise, wie man Emotionen zeigt, ist wichtig und muß gelernt werden. Doch die Botschaft der Mutter ist eine andere: Ich liebe dich trotz allem. Mit mir kannst du alles machen.
Diese Art von Botschaft enthält viele neurotische Momente. So ist evident, daß eine solche Haltung in einem jugendlichen auch Aggressionen wecken kann, denn als latente Botschaft ist ja auch enthalten: Du kannst mir gar nichts tun. Nichts, was du tust, hat einen Effekt, weil ich einfach alles ertrage.
Es besteht hier auch ein Zusammenhang zur traditionellen ungesunden Verstrickung von Mutter und Sohn in die Rollen der Leidenden und des Reuigen. Die Mutter erträgt alle Ungerechtigkeiten, die ihr zugefügt werden, der Sohn ist schuldig, schuldig, und hin und wieder auch ein bißchen reuig... auch ein Muster, das sich nahtlos in ein frustrierendes Ehedrama übertragen läßt. Besser bedient sind alle Beteiligten die Mutter, der Sohn, und dessen zukünftige Partnerinnen, wenn der junge Mann Frauen nicht als seelische Fußabstreifer zu sehen lernt, sondern sich beherrschen, an die Gefühle anderer denken und die Konsequenzen seiner Übertritte erkennen kann. Was ist hier zu tun? Ideal wäre eine anteilige gemeinsame Erziehung durch zwei Elternteile, einer davon männlich - denn dann würde diese großzügige, geduldige Art von Liebe nicht als Frauenliebe, sondern als Elternliebe erkennbar sein.
Für Frauen, die mit oder ohne Mann allein erziehen ergibt sich die Schlußfolgerung, mehr Wert auf Gegenseitigkeit zu legen. Absichtlich und über Jahre gewöhnen wir es unseren Söhnen ab, uns als Menschen ernst zu nehmen, uns etwas geben oder zurückgeben zu wollen, unseren Platz anzuerkennen. Das heißt nicht, daß wir jetzt plötzlich unsere Liebes- und Fürsorgedienste verweigern sollen, im Gegenteil: Es heißt, daß wir sie auch nehmen und annehmen sollen. Erwarten wir von unseren Söhnen mehr als ein charmantes Lächeln und einen entwaffnenden Schmäh.
Wie den Sohn so den Mann
»Wenn ich an all das Unrecht denke, das Männer Frauen antun, dann schäme ich mich fast, daß ich nicht in einem Zustand des ständigen Zorns herumlaufe... Und wie bereue ich dann die kleinen männlichen Gesichter, die ich gewaschen, die Fäustlinge, die ich gestrickt, die Hosen, die ich geflickt, und die Kratzer auf kleinen männlichen Fingern und Zehen, die ich liebevoll verarztet habe.«
Elizabeth Cady Stanton
»Den kann nur eine Mutter lieben«, mit diesem vernichtenden Kommentar versieht der englische Sprachgebrauch Menschen, die aus irgendeinem Grund bei ihren Mitmenschen auf wenig Begeisterung stoßen. Doch ein bißchen weitergedacht, ist dieser Gedanke beunruhigend. Die Tyrannen, die Despoten, die Vergewaltiger - sie alle haben Mütter. Und viele von ihnen wurden von diesen Müttern geliebt. Sie alle waren einmal klein, vielleicht sogar süß. Sie aßen Brei. Sie machten erste, tapsige Schritte. Sie entzückten mit ihrem ersten, zahnlosen Lächeln. Der oben zitierte Satz der Feministin Elizabeth Cady Stanton war von dieser scherzhaft gemeint, aber es ist etwas daran. Zuerst sind sie noch rührend, mit kleinen kalten Fingern und herzerweichender Bedürftigkeit, dann plötzlich sind sie groß, laut, eingebildet und gefährlich und blicken auf alles herunter, was weiblich ist. Es ist interessant, über die Verknüpfung von Weiblichkeit und Mütterlichkeit nachzudenken. Die weibliche Liebe hat eine starke mütterliche Komponente; Männer erwarten in der Liebe einer Frau einen starken Anteil an Mütterlichkeit. Die Frau verliebt sich nicht selten in den jungen, den sie im erwachsenen Mann zu erkennen glaubt. Und in die Chance, ihn zu bemuttern, zu erziehen, zu verbessern. Biografisch ist das sehr verständlich. Die Liebe wird von fast allen Kindern zuerst in ihrer mütterlichen Variarite erlebt. Für ein abgerundeteres Bild fehlen den meisten Kindern zwei Versatzstücke: Sie erleben die Vaterliebe nur sehr spärlich und nehmen wenig von der Liebe Erwachsener zueinander wahr.
In diesem Punkt sensibilisiert, entdecken wir in der romantischen Literatur unzählige Beispiele dafür, daß weibliche Liebe eine Infantilisierung des männlichen Gegenübers voraussetzt. Achten Sie mal bei Ihrem nächsten Liebesroman darauf. Sie werden garantiert auf vergleichbare Passagen stoßen. Einige Beispiele aus aktuellen Roman-Bestsellern:
»Simon kam ins Zimmer, seine Haare noch naß von der Dusche. Seine gepunktete Krawatte hatte er schief gebunden. Er küßte sie, und es fiel ihm ein, daß er sich hätte rasieren sollen (...) Nicole überkam der Drang, ihm die Krawatte zu richten.« (Später unterhält sich Nicole mit ihrer Freundin über das Rendezvous.)
Freundin: Na, ist er der Richtige?
Nicole: Ich weiß nicht. Er ist süß. Er ist so schlampig, ich möchte ihn so gern zurechtzupfen.« (Peter Mayle, Hotel Pastis, London 1993)
»Als Jake bei der Tür hereinkam, wußte Emily, daß sie einen Fehler gemacht hatte. Er war genau die Sorte Mann, auf die sie immer hereinfiel. Nie konnte sie einem Mann widerstehen, der so aussah, als bräuchte er dringend einen Haarschnitt und eine selbstgekochte Mahlzeit.« (Elizabeth Villars, Conjugal Rites, N. Y. 1993)
Was in diesen Passagen beschrieben wird, sind keine erotischen, sondern mütterliche Gefühle. Normalerweise sollte ein ungepflegtes Äußeres, eine sichtlich demonstrierte Unfähigkeit zur Selbstversorgung, eine Unbeholfenheit in Grundfertigkeiten wie Sichkleiden, Sichwaschen und Sichfüttern, keine Liebesgefühle auslösen. Einem Kind, einem Sohn gegenüber hat man den Impuls, ihm schnell noch die Jacke zuzuknöpfen oder ihm durch die ungekämmten Haare zu fahren. Diese Impulse übertragen sich in unserer Kultur, bedingt durch die Umstände unserer geschlechtsspezifischen Aufgabenteilung, dann offenbar auf erwachsene Männer. Zum Ausgehritual in vielen Ehen gehört es ganz selbstverständlich, daß die Frau ihrem Mann die Krawatte zurechtrückt und noch einen kritischen Blick auf sein Gesamtaussehen wirft. Als Teenager wehren sie sich gegen eine solche Entmündigung, aber viele erwachsene Männer unterziehen sich ganz selbstverständlich dieser Prüfung. Es gibt unzählige Geschäftsleute, die sich nie selber einen Koffer packen, sondern einfach anziehen, was Mutti für sie zurechtgelegt hat. Dieses Pflegeverhalten findet in der umgekehrten Richtung nicht statt. Kein Mann zupft seiner Frau vor dem Ausgehen stets den Blusenkragen zurecht oder frisiert sie noch schnell. Es wäre für eine Frau unvorstellbar, nicht zu wissen, mit welchen Kleidern sie für fünf Tage nach London fliegt. Keineswegs nur im Roman, sondern auch im »wirklichen Leben« ist die Frau häufig die Mutter ihres Mannes. Scheinbar fällt den Betroffenen nicht auf, daß daran irgend etwas unpassend sein könnte. Prominente, dynamische, erfolgreiche Männer machen kein Geheimnis daraus, daß sie den Ablauf ihres Privatlebens am liebsten am Leben von Säuglingen orientieren. Die »Sunday Times« porträtiert einen international bekannten französischen Chirurgen. Dieser soll einen typischen Tagesablauf schildern: »Ich stehe um halb sieben auf. Meine Frau steht eine Viertelstunde vor mir auf und bringt mir meinen Kaffee, denn ich bin kein Schnellstarter. Ich nehme meine Vitamin- und meine Ginsengtabletten und sehe fern, während meine Frau mein Bad einläßt... Mittags fahre ich heim. Mein Mittagessen esse ich am liebsten im Bett... Abends um sieben ziehe ich meinen Pyjama an, dann bringt mir meine Frau das Essen ins Bett. Manchmal essen wir gemeinsam bei Tisch, als Familie, weil ich das wichtig finde, aber ich brauche meine Ruhe.... Ich reise viel. Meine Frau versorgt das Haus und sieht zu, daß mein Leben glatt verläuft.«
Bei dieser Passage mußten wir sofort an die Kindergartenkinder denken, die bei ihrem Rollenspiel mit der Vaterrolle nichts anzufangen wissen. Wie erleben die Kinder der oben zitierten Arztfamilie ihre Eltern? Die Mutter versorgt alle, auch den erwachsenen Mann. Der Vater liegt hauptsächlich im Bett. Zu Hause ist er ein Baby, mit vielen babyhaften Attributen. Wenn sie alt genug sind, können seine Kinder begreifen, daß er tagsüber »arbeiten« geht und Geld heimbringt, von dem sie alle leben. Doch wie ein liebendes männliches Verhalten im Detail aussieht, wissen sie auch dann nicht. Eine fürsorgliche elterliche Komponente hat in einer Partnerschaft durchaus einen legitimen Platz; bedenklich wird es erst durch die Einseitigkeit. Und es ist durchaus bezeichnend, daß Pflegeverhalten auch »bemuttern« heißt. Den Ausdruck »bevatern« gibt es nicht.