Platzverweis und Prügelstrafe

Frauen und Kinder - ihre Situation in der patriarchalen Welt hat viel gemeinsam.
Auf dunklen Straßen ist es gefährlich,
sie kommen selten zu Wort,
sie werden nicht ernstgenommen und
haben häufig unter Gewalt zu leiden.
Autorität und Gehorsam, sind das heute noch brauchbare Werte?

Die primäre Eigenschaft von nicht-erwachsenen Söhnen ist nicht, daß sie in Zukunft Männer sein werden, sondern daß sie gegenwärtig Kinder sind. Ihre gesellschaftliche Situation leitet sich von ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe der Kinder und Jugendlichen ab eine Gruppe, die politisch und kulturell gesehen erstens diskriminiert ist und zweitens eine Menge gemeinsam hat mit der ebenfalls diskriminierten Gruppe der Frauen.

Frauen, Kinder und die Beherrscher der Welt

Die Ähnlichkeiten gehen bis ins Detail der sprachlichen Zurücksetzung. Schon das kindliche Wesen ist eine Abfälligkeit wert: Wie ein Kind zu sein, »kindisch«, ist negativ, bedeutet unreif, ängstlich, lästig, trivial. Den Begriff »weibisch« benutzt man heute kaum mehr, aber noch in den 40er Jahren wurde er verwendet, und er hatte dieselbe Bedeutung. Sei nicht so kindisch. Sei doch nicht so ein Baby. Die Gemeinsamkeiten in der Situation von Frauen und Kindern sind enorm. Für beide ist die Welt wesentlich gefährlicher als für Männer: Auf dunkeln Straßen, in abendlichen Parkanlagen müssen beide sich vorsehen. Kinder und Frauen sind die bevorzugte Zielscheibe von männlicher Gewalt, auch die bevorzugten Opfer von Psychopathen. Gemeinsam bilden sie die große Mehrheit der Gesellschaft, aber Frauen sind in den politischen Institutionen nur spärlich vertreten, Kinder und Jugendliche gar nicht. Die patriarchale Welt nimmt beide nicht ernst. Sogar das, was sie als ihre positiven Eigenschaften gelten läßt, verdient Herablassung: Frauen und Kinder gelten als lieb, emotional, weich, gefühlvoll, naiv, impulsiv. Als nicht ganz ernst zu nehmen. Es setzt sich fort mit der Gestaltung der täglichen Umgebung. Die Städte sind weder für Frauen noch für Kinder gebaut. Vieles ist zu schmal, zu hoch, zu schwer. Wenn wir die Alten und die Behinderten noch dazuzählen, dann ist offenkundig, daß die Städte für die überwältigende Mehrheit ihrer Bewohner falsch dimensioniert sind. Der hypothetische Auftraggeber, der Stadtplaner, soviel ist offensichtlich, ist groß, jung, männlich und Autofahrer. Für ihn kann der Randstein ruhig hoch sein, der Park braucht keine Beleuchtung und die U-Bahn-Haltestelle keinen Aufzug. Als soziale Statuszuweisung ist Kindheit eine Situation der Unterordnung. Schon in kleinen, symbolischen Handlungen kommt das zum Ausdruck. Die Praxis zum Beispiel, daß Kinder zu Erwachsenen »Sie« sagen, von den Erwachsenen aber geduzt werden, ist genaugenommen recht archaisch. Sie bringt deutlich zum Ausdruck, daß es sich um die Beziehung zwischen Unter- und Übergeordneten handelt. In manchen Kulturen müssen noch heute Frauen ihre Männer siezen, während ihre Männer sie wie selbstverständlich duzen. Zwischen dem Status von Frauen und dem von Kindern gibt es viele Parallelen. Früher wurden Frauen in aller Direktheit als eine Art großgewachsenes Kind behandelt. Rechtlich hatten sie die Stellung von Kindern, die unzurechnungsfähig und unüberlegt sind und daher in ihrem eigenen Interesse einen Vormund brauchen. Früher durfte eine Ehefrau eigenständig kein Dokument unterzeichnen; sie galt als zu naiv, als Person, die viel zu leicht beeinflußt und betrogen werden konnte und die den Wert von Geld nicht kannte. Sie war ihrem Mann zugeordnet und sollte seinen Haushalt nicht ohne seine Einwilligung verlassen, weil sie zu unbeholfen war, um die Risiken ihres eigenen Handelns richtig einzuschätzen. Mitunter bedeutet das auch, daß sie für ein begangenes Verbrechen nicht oder viel milder bestraft wurde, weil ihre Eigenverantwortung nur beschränkt vorhanden war. In manchen Ländern treffen diese Umstände noch heute zu. In Saudiarabien zum Beispiel kann eine Frau, die ihrem Mann »wegläuft«, von der Polizei zurückgebracht werden wie ein davongelaufenes Kind. Das Verhalten von Frauen erschien unter den damaligen Verhältnissen tatsächlich »kindlich«, weil sie, wie Kinder heute noch, einen Weg suchen mußten, um sich in dieser Situation trotzdem durchzusetzen. Sie mußten den für sie zuständigen Mann beeinflussen, und das taten sie, indem sie schmeichelten, weinten, trotzten - Verhaltensweisen, die bis vor kurzem als weiblich und heute als kindlich gelten, die aber aus der Schwäche entstehen. Was die Frauenbewegung plakativ über den Zustand der Weiblichkeit gesagt hat, trifft weitgehend auch auf Kinder zu. Kinder sind abhängig. Sie haben wenig Souveränität über sich selbst, über ihre Zeit, ihren Körper, ihren Raum. Sie haben kein Privatleben. In ihrem Alltag unterstehen Kinder der Autorität von Personen, die nur eine einzige Eigenschaft brauchen, um schon Chef zu sein: Sie müssen bloß erwachsen sein. Es ist üblich, daß Kinder von wildfremden Erwachsenen zurechtgewiesen werden; das läuft unter der Überschrift »Pädagogik«, unterliegt aber der Willkür. Die Frauenbewegung verfolgt kein Anliegen, das nicht auch für Kinder relevant wäre, das nicht jedes Kind aus seiner persönlichen Lebenssituation heraus nachvollziehen könnte. In ihrer Eigenschaft als Kinder können Söhne jedes Thema der Frauenbewegung verstehen und jede ihrer Forderungen unterschreiben. Auch sie unterstehen der Verfügung von zufällig Größeren. Auch sie kommen nicht zu Wort und wenn, dann werden sie belächelt. Das Gefühl, nicht ernstgenommen zu werden, durch körperliche Übermacht zu etwas gezwungen zu werden, überstimmt zu werden, obwohl man objektiv recht hat, kennt jedes Kind, und es läge an uns, daraus eine prinzipielle Einsicht für später zu konservieren, statt uns in unserer Eigenschaft als Erwachsene an der Unterdrückung zu beteiligen. Die deprimierendste Analogie in der Situation von Frauen und Kindern aber ist die Gewalt. Im Alter von eins bis fünf sterben laut Statistik jedes Jahr mehr Kinder an den Folgen häuslicher Mißhandlung als an allen Krankheiten zusammen. [1] Erst seit dem 18. Jahrhundert gibt es überhaupt Gesetze, die dieser Gewalt Grenzen setzen, und der Schutz ist bis heute mangelhaft. In amerikanischen Schulen ist es mittlerweile üblich, Kinder über die Gefahren von Entführung und sexuellem Mißbrauch aufzuklären. Kindern wird erklärt, wie sie sich ,verhalten sollen, wenn sie zum Beispiel auf einem Parkplatz plötzlich geschnappt und in ein fremdes Auto gezerrt werden sollen. Es genügt in diesem Fall nicht, erklärt der freundliche Polizeibeamte, lautstark um Hilfe zu schreien und sich nach Kräften zu wehren. Gleichzeitig müssen die Kinder ganz laut und energisch rufen, »Dieser Mann/diese Frau-ist nicht mein Vater/meine Mutter!«. Denn sonst werden die Passanten und Umstehenden sich bestimmt nicht einmischen. Es ist gut, daß Kinder lernen, mit der möglichen Gewalt durch Fremde umzugehen. Doch die stillschweigende Botschaft ist bedrückend: daß es bei Gewalt, die von Eltern ausgeht, keine Hilfe gibt. In bezug auf Gewalt gegen Frauen und Kinder gibt es unterschiedliche Einstellungen. Bei der sexuellen Gewalt stoßen Kinder auf mehr, wenn auch nicht auf die volle Sympathie; bei erwachsenen Frauen erkennt die öffentliche Meinung ein Selbstverschulden oder eine Provokation. Bei Gewalt in der Familie ist es umgekehrt, da gesteht die öffentliche Meinung der Gewalt gegen Kinder, nicht aber der Gewalt gegen Frauen noch eine erzieherische Komponente zu. In allen Fällen aber ist die Ablehnung der Gewalt halbherzig, ist die Bereitschaft, der Frau oder dem Kind zu glauben, nur partiell gegeben. In 30 der 50 amerikanischen Bundesstaaten ist es unglaublicherweise gesetzlich ausdrücklich erlaubt, daß Schulkinder körperlich gezüchtigt werden. Und es handelt sich dabei nicht bloß um einen obskuren Paragraphen, den man einfach vergessen hat zu löschen. Laut einer Untersuchung der »Los Angeles Times« wird diese Form der Disziplinierung in den betreffenden Staaten jedes Jahr bei bis zu 17% aller Volksschüler tatsächlich angewandt. Interventionen und Bürgerrechtsgruppen haben das bislang nicht ändern können, weil die öffentliche Meinung weitgehend noch dahintersteht.

Dr. Dobson, Bill Cosby und andere Väter

Die öffentliche Meinung - es wäre grundfalsch, sich über sie zu viele Illusionen zu machen. Auch die Herrschaft der Erwachsenen über die Kinder ist Bestandteil des Patriarchats und noch fest im Denken verankert. Wie das genau aussieht, darüber geben einige amerikanische Bestseller Auskunft. Eine Million Exemplare hat Dr. James Dobson verkauft von seinem Buch »The Strong-Willed Child«. [2] Der Autor ist Professor für Kinderheilkunde an der Universität von Kalifornien; der Klappentext führt seine zahlreichen akademischen und psychologischen Zusatzqualifikationen an. Außerdem ist er Präsident einer großen konservativen Familienvereinigung. Bei EIternvereinen und Seminaren ist er ein begehrter Vortragender, und er hat sogar seine eigene Radiosendung. Das Buch über willensstarke Kinder erklomm schnell die Bestsellerlisten.
Es beginnt einleitend mit einer Anekdote über den Familienhund, einen ebenfalls »willensstarken« Dackel. Dieser ist, wie Dr. Dobson erklärt, zwar süß, aber unfolgsam. Alle Erziehungsmaßnahmen versagen, bis Herr Dr. Dobson ihn eines Abends einfach mit dem Ledergürtel prügelt; danach tut der Hund, was man möchte. »Jeder Hund«, philosophiert Dobson infolgedessen, »Wird hin und wieder die Autorität seines Besitzers in Frage stellen. Und ein kleines Kind tut dasselbe.« Der angesehene Kinderarzt spricht sich für das Schlagen von Kindern aus, er vergleicht Kinder mit Hunden, und eine Million Menschen kaufen sein Buch. Wir müssen annehmen, daß viele dieser Leser sein Weltbild teilen, ein Weltbild, das ganz schlicht und klassisch die Werte des Patriarchats vertritt. In dieser Sichtweise soll eine Familie ein Oberhaupt haben, nämlich den Mann, und sollen die Erwachsenen Autorität haben über die Kinder. Diese Autorität ist gut und richtig, daher muß man sie unbedingt durchsetzen, wenn nötig mit Gewalt. »Kinder wollen wissen, daß ihre Eltern stark sind«, schreibt Dobson. »Und sie stellen ihre Eltern daher auf die Probe. Wenn die Eltern diesem Kampf ausweichen, verliert das Kind seinen Respekt vor ihnen.« Besonders gefährlich sind Kinder, die außerdem noch durch ihre Persönlichkeitsstruktur dazu prädisponiert sind, »willensstark« zu sein. Wenn sie nicht schon sehr früh gefügig gemacht werden, wird es mit ihnen später nichts als Probleme geben. »Ein solches Kind wird später in der Schule seine Lehrer herausfordern und die Werte, die ihm beigebracht werden, hinterfragen.« Deswegen darf man keine falsche Zimperlichkeit an den Tag legen. Rebellion, auch wenn sie von einer sehr kleinen Person (oder einem Dackel) kommt, muß sofort und gnadenlos unterdrückt werden. Das ungehorsame Kind stellt die natürliche Ordnung in Frage und ist daher ein Feind: »Wie ein General berechnet ein solches Kind die Risiken und plant dann seinen Angriff. In solchen Konfrontationen zwischen den Generationen ist es essentiell, daß der Erwachsene deutlich siegt.«

Das Kind - ein General? Ungehorsam - ein sorgfältig vom Kind vorbereiteter Angriff auf die Stellung der Erwachsenen? Angesichts der realen Situation eines Kindes - klein, allein, abhängig von der Hilfe, der Zuneigung, sogar den Gedanken der Erwachsenen - scheint diese Sichtweise absurd. Und doch hat sie auch eine gewisse Logik. Aus anderer Perspektive könnte »Willensstärke« als positive Eigenschaft geschätzt werden, könnte sie sogar ein Erziehungsziel darstellen. Nicht so für den Verfechter der konservativen Ordnung, denn die steht und fällt mit der Tugend des blinden Gehorsams. Dobson hat nicht ganz unrecht, wenn er in kleinen Kindern potentielle Feinde seiner Welt sieht. »Warum?« fragt ein Kind. Und diese Frage kann eine autoritäre Ordnung nicht beantworten. Im Krieg gegen kleine Sozialrebellen kennt Dobson deshalb keine Gnade. »Das Kind«, schreibt er, »beginnt im Alter von 8 bis 14 Monaten, die Autorität der Eltern zu testen.« Körperliche Bestrafungen können daher »zwischen 8 und 14 Monaten« beginnen, natürlich dosiert entsprechend der Größe des Kindes, nicht extrem, aber doch »so, daß es wehtut, denn sonst hat es ja keinen Zweck«. Untersuchungen zeigen, daß Dobson leider kein einsamer Irrer ist. Hans Czermak, ebenfalls Kinderarzt, aber im Gegensatz zu Dobson ein engagierter Kämpfer gegen die Gewalt an Kindern, mußte immer wieder feststellen, daß die Mehrzahl der Kinder schon vor dem ersten Geburtstag körperliche Gewalt durch die Eltern erfahren hat.[3] Dobson wäre zufrieden. »Man muß früh damit beginnen, wenn die Anlässe noch klein sind, und immer mit kühlem Kopf und mit Bedacht.« Man soll das Kind nicht im Zorn schlagen, weil man die Selbstbeherrschung verloren hat, sondern später, in Ruhe, aus pädagogischer Absicht. Man soll, rät Dobson, das Kind mit einem Gegenstand schlagen, nicht mit der Hand, denn sonst zuckt es jedesmal zusammen, wenn der Vater nach ihm greift, und das könnte peinlich sein. Nach der Strafe muß man das Kind trösten und umarmen, fährt Dobson fort; Anleitung zur sadomasochistischen Persönlichkeitsstruktur. Und mit der Zeit, verspricht Dobson, ist Schlagen dann nicht mehr notwendig. Es genügt dann die Drohung. Geht das Kind zum Beispiel nicht augenblicklich ins Bett, wenn die Eltern es zum Schlafen schicken, müssen sie nur mehr leise sagen, »Geh jetzt, ich will dir nicht weh tun müssen«.
Bill Cosby schwamm auf der Welle der modernen Vaterschaft zum internationalen Erfolg: Als weiser, gutmütiger, kluger Familienvater ist er in Wohnzimmern weltweit ein gern gesehener Gast (Die Cosby Show) und wurde durch den Erfolg seiner TV-Serie einer der reichsten, erfolgreichsten Männer der USA. Auch im »wirklichen Leben« ist er Vater von fünf Kindern. In dieser Eigenschaft hat er einen Erfahrungsbericht und Erziehungsratgeber veröffentlicht; der Originaltitel ist schlicht »Fatherhood«. Das Buch stand monatelang an der Spitze der Bestsellerlisten und verkaufte sich in 2 Millionen Exemplaren.[4] Auf dem Klappentext heißt es: »Millionen Fernsehzuschauer kennen und lieben ihn - Bill Cosby, Vater von fünf Kindern und als Fernseh-Daddy Dr. Heathcliff Huxtable weltweit bekannt.« Das Buch preist sich als »unverzichtbarer Begleiter durch alle Höhen und Tiefen des Vaterseins, für alle Väter...«
In unserer Erregung über dieses Buch gestatte man uns hier das Wortspiel, Bill Cosbys Erläuterungen als schwarze Pädagogik zu bezeichnen. Denn nach einer Reihe von süßlichen Kapiteln über die vielen komischen Augenblicke im Leben mit Kindern wendet Cosby sich einem ernsteren Thema zu, der Frage der Erziehung und der Disziplin. Es ist interessant, daß ihm bei diesem Thema dasselbe Gleichnis einfällt wie Dobson. »In jedem Park«, schreibt er, »kann man Männer sehen, die auf einer Bank sitzen und mit einem Gesichtsausdruck ins Leere starren wie Generäle, die eine Schlacht verloren haben. Das sind die Väter, die vergeblich alle Möglichkeiten erschöpft haben, ihren Kindern den rechten Weg zu weisen.« In dieser »Schlacht« unterlag General Cosby nicht; er errang einen Sieg, dem er ein Kapitel seines Buches widmet. Sein Sohn war damals zwölf und hatte »ein neues Hobby entdeckt, das Lügen«. Ferner gab es Probleme in der Schule und mit dem Lernen. Cosby rief also diesen Sohn zu sich und sagte ihm: »Wir werden dich ab jetzt nicht mehr darum bitten, etwas zu tun, sondern dir sagen, was du zu tun hast, und du wirst dich danach richten. In unserem Haus gilt das Gesetz: Du tust, was dir gesagt wird. Thomas Jefferson wird mir verzeihen, aber du bist der einzige Amerikaner, der noch nicht reif ist für die Freiheit.« Danach begab sich Cosby auf eine Geschäftsreise. Doch telefonisch mußte er von seiner Frau erfahren, daß der Sohn sich erneut irgendeines nicht näher erläuterten Vergehens schuldig gemacht hatte. Was weiter geschah, wollen wir im Original zitieren:

  • »>Warum hast du nicht getan, was man dir gesagt hat?< fragte ich ihn am Telefon. >Muß ich dich noch einmal daran erinnern, daß du gefälligst zu gehorchen hast? Deine Mutter ist jedenfalls ganz schön sauer. Und aus der Schule hören wir zu allem Überdruß auch noch, daß du deine Hausaufgaben nicht rechtzeitig ablieferst.< >Ich habe einfach keine Lust<, erwiderte er. >Nun gut. Dann will ich dir einmal etwas sagen. Wenn ich am Donnerstag nach Hause komme, versohle ich dir den Hintern, darauf kannst du Gift nehmen.< Ich weiß zwar, daß viele angesehene Psychologen so etwas als Rückfall in die Steinzeit ansehen. Dafür haben damals die Kinder ihren Eltern wahrscheinlich besser gehorcht. Wenn ein Vater sagte: >Diese Woche werden keine Schrumpfköpfe hergestellt<, dann hat der Sohn vielleicht auf ihn gehört.
    Als ich am Donnerstag nach Hause kam, konnte ich den Jungen nicht finden. Er kam auch nicht zum Abendbrot, und als ich am nächsten Morgen aufwachte, war er immer noch nicht da. Ich versammelte also meine Familie um mich und fragte feierlich: >Meine Damen, wo ist mein Sohn?< >Er wird irgendwo hier in der Nähe sein<, antwortete eine meiner Töchter. Sie spielten offenbar französischen Untergrund und versteckten einen ihrer Helden vor den Nazis. Endlich, kurz vor dem Abendessen, tauchte er wieder auf. Sein Ausflug hatte ihn sichtlich mitgenommen. >Junger Mann<, begann ich, >ich habe dir gesagt, daß ich dir den Hintern versohlen werde, sobald ich nach Hause komme.< >Ja, Dad<, antwortete er. >Und du weißt auch, warum - oder etwa nicht?< >Ja, Dad.< >Dann laß uns in den Stall gehen.< In der Schule mochte er zwar etwas schwer von Begriff sein, aber jetzt war es ihm sofort klar, daß ich nicht vorhatte, ihm eine Lektion über Tierhaltung zu erteilen. Im Stall angekommen, sagte ich: >So mein Junge, jetzt werden wir uns einmal ein bißchen darüber unterhalten, was es heißt, gegen das Gesetz zu verstoßen und zu lügen.< Als er sah, wie ich die Ärmel aufrollte, verwandelte sich sein sonst üblicher Ausdruck kühler Gleichmut in Furcht. Ich fragte mich, ob ich jetzt im Begriff war, einen Fehler zu begehen. Wenn ja, dann war es der neuntausendsiebenhundertunddreiundsechzigste Fehler. >Dad, ich weiß, daß ich im Unrecht bin<, bettelte er, >und was ich getan habe, tut mir wirklich leid. Ich werde es nie wieder tun.< >Es freut mich, daß du das sagst<, erklärte ich... >aber ich habe dir am Telefon mein Wort gegeben, und du würdest die Achtung vor mir verlieren, wenn ich es nicht hielte.< >Oh Dad, ich achte dich - ich achte dich wie verrückt!<
    (...)
    Plötzlich erwies er sich als außerordentlich geschickter Anwalt, aber das half ihm nichts, denn ich hatte schon lange das Bedürfnis gehabt, endlich einmal einen Rechtsanwalt zu schlagen. >So, und jetzt dreh dich um<, befahl ich. >Zuvor will ich dir allerdings noch sagen, daß ich eigentlich nichts von dieser Art Strafe halte.< >Ich möchte nicht, daß du gegen deine Grundsätze verstößt, Dad.< >Hier kann ich eine Ausnahme machen. Und erwarte nicht, daß es mich mehr schmerzenwird als dich. Das wäre nur der Fall, wenn ich mich umdrehte und du mich schlagen würdest. Es ist eine barbarische Form der Bestrafung, aber es entspricht deinem barbarischen Verhalten.< Und dann schlug ich ihn. Er stellte sich auf die Fußspitzen, und die Tränen begannen zu fließen. >Hast du jetzt begriffen, daß du nie wieder lügen sollst?< fragte ich. >Oh ja, Dad!< antwortete er. >Ich habe noch nie etwas so gut verstanden.< >Fein. Dann kannst du jetzt gehen.< Er wandte sich zur Tür, und ich versetzte ihm noch einen Schlag. Als er sich umdrehte und mich mit einem vorwurfsvollen Blick ansah, meinte ich: >Es tut mir leid; ich habe dich gerade belogen. Willst du, daß ich dich jemals wieder belüge?< >Nein, Dad<, sagte er. Und bis zum heutigen Tag hat er mich oder meine Frau nicht mehr belogen.
    Nach einiger Zeit bekamen wir sogar einen Brief von der Schule, in dem uns bestätigt wurde, wie günstig unsere erzieherischen Maßnahmen auf unseren Sohn gewirkt hatten. Es freute mich, daß ich die Arbeit der Schule mit meinem Privatunterricht im Stall habe unterstützen können.«

Dieser Text ist abstoßend in jeder Hinsicht: der Inhalt, der zynische Ton, die Selbstgefälligkeit. Es stört uns daran so viel, daß wir gar nicht wissen, wo wir ansetzen sollen. Da ist zunächst die Gleichsetzung von >heiler Familie< mit der altmodischen, patriarchalen Familie. Papa ist das Familienoberhaupt, Mama ist die schadenfrohe Aufsichtsperson, die mit den Kindern allein nicht fertig wird, sondern sie beim abendlichen Telefonanruf verpetzt. Nicht nur das Schlagen, auch die Art, in der er den Vorfall und die Reaktionen seines zwölfjährigen Sohnes beschreibt, sind demütigend und gemein. Der Sohn wird lächerlich gemacht wegen seiner Angst, wegen seiner Versuche zu räsonnieren. Der ganze Vorfall hat Cosby sichtlich Freude bereitet; regelrecht sadistisch ist sein Auskosten der Angst des Sohnes in dem der Strafe vorausgehenden Wortwechsel und vor allem der unerwartete letzte Schlag, den er ihm beim Weggehen noch versetzt. Worum geht es in diesem Konflikt genau? Es ist interessant, daß sich zwei Anlässe vermischen. Cosby meint einleitend, es ginge um das Lügen, doch aus den weiteren Ausführungen ist ersichtlich, daß es in Wirklichkeit um den Gehorsam geht. Der Sohn hat nicht gelogen, sondern er hat nicht gehorcht. Die Wahrheit sagen ist eine moderne Tugend, Gehorchen eine altmodische, weshalb Cosby wahrscheinlich das Lügen in den Vordergrund rückt.
Der Sohn hat gelernt zu gehorchen - doch ist es das, was Erziehung bedeuten soll? Auch andere prominente Väter haben, wie wir aus den Biografien ihrer Kinder wissen, diese Kinder geschlagen. Die Jackson-Kinder zum Beispiel wurden von ihrem Vater geschlagen, weil sie gehorchen sollten. Gehorchen ist, außer man ist Sklave oder lebt in einer Diktatur, einfach kein Erziehungsziel, doch ist es das einzige, was Schläge »lehren« können. Man lernt nicht, was eigentlich richtig oder falsch ist, sondern man lernt, fraglos das zu tun, was der Stärkere verlangt. Dieser Logik zufolge kann der Schwächere niemals recht behalten. Dagegen haben Mütter und Eltern, die Gewalt in der Erziehung ablehnen, sehr gute Erfahrungen mit Sprechen und Erklären gemacht. Kinder akzeptieren Regeln, wenn sie ihnen einsichtig sind, wenn sie für alle gelten oder es für die Ausnahme einen guten Grund gibt; wenn sie das Gefühl haben, angehört und ernstgenommen zu werden. Es ist bezeichnend, daß Cosby sich auf die Argumente und Diskussionsversuche seines Sohnes gar nicht einläßt, sich darüber sogar lustig macht. Intelligenz nützt dem Sohn nichts; kein Argument ist stärker als die Gewalt. Der Stärkere kann auch willkürlich sein, siehe den letzten bösartigen Schlag. Erziehung heißt Werte verinnerlichen. Cosbys Sohn kann aus dieser Lektion nur verinnerlichen, daß der Stärkere immer recht hat. Der Stärkere darf Fehler machen - ruhig auch neuntausendsiebenhundertdreiundsechzig Fehler, ohne daß es für ihn Konsequenzen hat. Zu Recht verwendet Cosby den Ausdruck »barbarisch« für seine Strafe, nimmt sie im Stall vor und fühlt sich an die Steinzeit erinnert. Die barbarische Strafe entspreche dem barbarischen Verhalten des Sohnes, rechtfertigt er sich. Doch was hat der Sohn getan, das man als »barbarisch« bezeichnen könnte? Er hatte keine Lust auf die Hausaufgaben, er war nicht folgsam. Nur für den General in einer patriarchalischen Armee ist Ungehorsam ein Vergehen, das eine dermaßen drakonische Strafe verdient. Gehorsam und Autorität sind Werte des Patriarchats.
Gehorchen ohne nachzudenken, forderte der alttestamentarische Gott; Väter sollen ihm sogar ihre Söhne als Blutopfer schlachten, ohne zu zögern. Männerinstitutionen wie das Militär funktionieren auf der Grundlage von Befehl und Gehorsam, auf Leben und Tod. Doch im Rahmen der Familie haben auch Frauen die Möglichkeit, an dieser patriarchalen Macht teilzuhaben. Es ist auffallend, daß Cosby im zitierten Text immer als »wir« auftritt; er straft im Namen beider Eltern, im Namen der elterlichen Autorität. Er straft, weil seine Frau ihm einen Vorfall gemeldet hat. Nach der Strafe haben weder seine Frau noch er weitere Probleme mit dem Sohn.
Der Versuchung, an dieser Herrschaft über die Kinder teilzuhaben, als Mitregentin des Starken aufzutreten, können Frauen mitunter nicht widerstehen. Wir stehen im Supermarkt vor der Kasse. Die Kassiererin unterhält sich mit ihrer Kollegin, die ein Regal mit Nudelpackungen auffüllt. »Gestern«, so berichtet sie, hat »der Freddi wieder eine Szene geliefert«, aber dem hat sein Vater »schnell gezeigt, daß er das mit uns gar nicht erst versuchen muß«. Freddi ist, wie sich weiter herausstellt, ihr fünfjähriger Sohn. Zur Szene kam es, weil die Eltern abends weggehen wollten und er Angst hatte, allein in der Wohnung zu bleiben. Aber für die Mutter stellt sich die Situation anders dar. In ihren Augen hat Freddi einen Machtkampf versucht, weil er schlimm ist und Probleme machen will. Der Vater hat ihn, der heulte und schrie, in der Wohnung eingesperrt und den Hauptschalter ausgedreht, damit es in der Wohnung ganz dunkel war. Das nächste Mal, vermutet sie, wird er es sich »gut überlegen«, ehe er versucht, sie zu ärgern. Die Kollegin gibt ihr recht. So etwas darf man »Sich nicht anfangen«, das darf man »nicht einreißen lassen«. Das Versprechen der partiellen Teilhabe an der Macht spaltet Frauen und Kinder, obwohl sie eigentlich dazu prädestiniert wären, eine Interessengemeinschaft zu bilden. Wenn die Frauen zu den Kindern, die Söhne zu den Frauen hielten, wäre vieles möglich. Statt dessen lassen sich Söhne von der Männerwelt einkassieren, schrittweise. Sie verdrängen ihre Erinnerung an erlebtes Unrecht, ihre potentielle Sympathie mit den Opfern von exzessiver Autorität, von Unterdrückung und Gewalt und fügen sich ein in die Gruppe der Stärkeren. Und Frauen lassen das geschehen, befürworten es sogar noch und fordern lediglich eine oberflächliche Art von individualistischer Loyalität ein: Sei mir dankbar. Gedenke der Opfer, die ich für dich erbracht habe. Schenk mir Blumen zum Muttertag. Mach mit anderen Frauen, was du willst, aber vergiß deine alte Mutti nicht.