Ödipus als Vampir

Patriarchat als Herrschaft der Väter trifft nicht den Kern der Sache.
Denn eigentlich herrschen die Söhne, wenn auch ergraut.
Wer fast 20 Jahre die aufopfernde Mutterliebe genoß,
mag von ihr nicht mehr lassen, beherrscht die Familie (und die Welt),
wie er als Sohn die Mutter beherrschte.
Wer will es ihm verdenken?

Die französische Analytikerin Antoinette Fouqué ist der Meinung, daß die Bezeichnung »Patriarchat« eigentlich falsch, eigentlich irreführend ist. Denn »Patriarchat« bedeutet »Herrschaft der Väter«; korrekter aber wäre es, von einer »Herrschaft der Söhne« zu sprechen. Es gäbe eigentlich gar keine erwachsenen, reifen, die Welt überlegt beherrschenden Männer. Statt dessen eine Tyrannei der unüberlegten, willkürlichen, egoistischen, verantwortungslosen und restlos unerwachsenen männlichen Wesen in erwachsenen, oft sogar alten Körpern mit adoleszenten Psychen. »Die Sache der Frauen ist sehr mit der Frage des Sohnes verknüpft«, überlegte sie. »Der Mann ist, selbst wenn er Vater ist, eigentlich nicht Vater, sondern er bleibt Sohn. Diese Art von Mann produziert immer Mütter. Und er selbst ist sein Leben lang ein tyrannischer Sohn, ein Vampir. Frauen müssen fordern: Sei ein Mann, trage Verantwortung, lasse dich nicht in Abhängigkeit hineingleiten.«
An diese Sätze mußten wir wieder denken, als wir uns in dieses Projekt vertieften. An den Beziehungen vor allem zwischen alleinerziehenden Müttern und ihren Söhnen gab es viele auffallend positive Dinge zu bemerken. Oft konnten solche Beziehungen partnerschaftlich und emanzipatorisch sein. Angesichts der heftigen Kontroversen zu dieser Frage suchten wir sorgfältig nach besonders neurotischen oder - diesen Vorwurf konnte man in den letzten Jahren oft hören - emotional inzestuösen Aspekten, fanden aber selten entsprechende Hinweise. Was wir dagegen manchmal erkannten, war eine andere Gefahr, die Gefahr nämlich, daß das heranwachsende männliche Ego in Ermangelung jeglicher Begrenzung durch ein zweites und noch größeres männliches Ego sich unkontrolliert ausbreiten kann. Wo ein Vater oder ein anderer Mann anwesend ist, bestehen andere, oft gravierende Gefahren für die gesunde Entwicklung des Sohnes, aber wenigstens gibt es diese Eingrenzung: Ein zweites und noch größeres männliches Ego setzt dem jüngeren gewisse Schranken.
Die im Kapitel »La Mamma« zitierte Sonja verwendete diesbezüglich eine Formulierung, die uns aufschlußreich erschien. Nicht nur ihr Leben, erzählte sie, sondern auch ihre Wohnung habe sich nach der Scheidung total verändert. Heller wäre sie jetzt, weiß ausgemalt und ohne die dunklen Tapeten, die ihr Mann bevorzugte; moderne, leichte Möbel gäbe es jetzt anstelle der wuchtigen Antiquitäten. »Er würde«, faßte sie lachend zusammen, »gar nicht mehr in die Wohnung passen.« Sie meinte das zunächst vom Wohnungsstil her, aber dann stellte sich heraus, daß diese Beobachtung auch ganz wortwörtlich stimmt. Er würde tatsächlich nicht mehr in die Wohnung »passen«, weil sein Platz von einem anderen, von seinem ältesten Sohn, okkupiert ist. Sein Zimmer, das eheliche Schlafzimmer, ist abgeschafft bzw. umverteilt worden. Ein quasi-ödipaler Sieg: Im Schlafzimmer des Vaters residiert jetzt der Herr Sohn.
Die Mutter gehört jetzt ganz den Söhnen, und nicht nur das, sie ist sozusagen auch entsexualisiert worden. Kein anderer Mann, kein anderer Rivale kann hier Einzug halten, weil die Mutter nicht einmal ein eigenes Bett hat. Wir wollen nicht überinterpretieren. Die Motivation aller Betroffenen war bestimmt ganz geradlinig und genauso, wie sie sich nach außen präsentiert: Die Brüder gingen sich auf die Nerven, jeder wollte seinen eigenen Raum, die Mutter gab aus Großzügigkeit nach. Doch ist es gut für Heranwachsende, die Mutter als die bedürfnislos Nachgiebige zu erleben, sich selber aber als die einzigen, deren Wünsche stets als wichtiger eingestuft werden? Achtzehn, neunzehn Jahre unter diesen Voraussetzungen - können sie dann plötzlich umdenken und die Bedürfnisse und Rechte einer anderen Frau, ihrer Partnerin, plötzlich als genauso berechtigt anerkennen? Können sie Kompromisse schließen, warten, geben? Können sie ganz plötzlich den Satz vergessen, den sie ein Leben lang jeden Tag gehört oder erlebt, den sie schließlich ganz notgedrungen mit weiblicher Liebe gleichgesetzt haben: Du bist wichtig. Dir soll es gut gehen. Weil ich dich liebe, verzichte ich gern auf Komfort, trete ich dir gern alles ab, tue ich gern alles für dich.

Freuds Irrtum

Für Freud war die Konkurrenz zwischen Vater und Sohn unausweichlich, ein Urgeschehnis, verwurzelt in den psychosexuellen Grundstrukturen der menschlichen Entwicklung. Seit er diesen »Ödipuskomplex« konstatiert und beschrieben hat, tobt die Kontroverse. Die in unseren Augen beste und überzeugendste Position zu dieser Frage hat der Analytiker Erich Fromm verfaßt, und wir wollen ihn hier deshalb ausführlich zitieren. Fromm glaubt, daß Freud einer sehr elementaren und sehr wichtigen Sache auf der Spur war, nämlich der tiefen Bindung des Sohnes an die Mutter, daß er dann aber zwei an sich getrennte Dinge vermischte. Da ist einerseits die Liebe zur Mutter, die für Fromm aber aus der Situation der vollkommenen Abhängigkeit des Kindes von der Fürsorge und Liebe der Mutter entsteht, und zweitens die Machtposition des Mannes in einer patriarchalen Gesellschaft, die sich in einer Dominanz des Vaters über den Sohn ausdrückt und zu Rebellionsbestrebungen beim Sohn führt. Person X wird geliebt, weil sie vom emotional und körperlich hilflosen Kind als allmächtige, rettende, liebende Instanz wahrgenommen wird. Person Y wird gehaßt, weil sie in der Familie als Despot auftritt. Und im Patriarchat ist die Rolle X mit der Frau und Mutter, die Rolle Y mit dem Mann und Vater besetzt: womit Ödipus fast nichts mehr mit Sex und fast alles mit Politik zu tun hat.
»Freud«, schreibt Fromm, »hat ein ganz besonders wichtiges Phänomen aufgedeckt, nämlich die Bindung des Mannes an seine Mutter und seine Angst davor, sie zu verlieren. Diese Erkenntnis verzerrte er dann, indem er das als sexuelles Phänomen interpretierte. Damit wurde seine eigentliche Entdeckung verdunkelt, nämlich daß die Sehnsucht nach der Mutter zu den tiefsten Emotionen gehört. Weiters gehört hier noch der andere Teil des Ödipuskomplexes dazu, nämlich die feindselige Rivalität des Sohnes mit dem Vater, die ihren Höhepunkt erreicht in dem Wunsch, den Vater zu töten. Auch das ist eine gültige Beobachtung, die jedoch nicht unbedingt in Zusammenhang steht mit der Bindung an die Mutter. Freud schreibt einem Phänomen allgemeine Gültigkeit zu, das jedoch ausschließlich auf die patriarchalische Gesellschaft zutrifft. Im Patriarchat ist der Sohn dem Willen des Vaters untergeordnet... Um der Nachfolger des Vaters werden zu können - oder, anders gesagt, um in der Welt Erfolg zu haben - muß er seinem Vater nicht nur gefallen, sondern er muß sich ihm auch unterwerfen, ihm gehorchen und den Willen des Vaters anstelle des eigenen Willens setzen. Wie immer, so ruft Unterdrückung auch in diesem Fall unweigerlich Haß hervor, ruft den Wunsch hervor, sich zu befreien, und letztendlich auch, den Unterdrücker zu eliminieren... Freud erkannte diesen Konflikt zwar, konnte ihn aber nicht richtig einordnen, nämlich als Merkmal patriarchalischer Gesellschaft. Statt dessen sah er darin eine sexuelle Rivalität zwischen Vater und Sohn.« [1] In der Theorie des Ödipuskomplexes wird dem Kind außerdem in verzerrender Weise der aktive Part zugeschrieben. Der Sohn erlebt den Vater als Konkurrenten um die Gunst der Mutter. Der Sohn hegt den mehr oder weniger heimlichen Wunsch, seinen Vater zu töten, um die Mutter ganz für sich allein zu haben. In der Regel ist es jedoch so, daß die Rivalität zwischen Vater und Sohn ein Teil der Familiendynamik ist. Der Sohn wird in eine Beziehung hineingeboren, die oft schon in verhängnisvoller Weise nicht mehr stimmt. Nicht selten kann man den Eliminierungsv"-unsch eher bei dem Vater oder bei der väterlichen Erwachsenenfigur orten als bei dem Kind.
In der Kriminalstatistik kommt es leider nicht so selten vor, daß ein Kind - auffallend oft ein männliches Kind - von dem neuen Freund der Mutter im Affekt schwer mißhandelt oder sogar getötet wird. Ebenso verhält es sich mit dem Phänomen der Eifersucht. Familientherapeuten wissen, daß Väter das neue Baby oft als Konkurrenten um die Zeit und Fürsorge der Frau sehen. Der Ödipuskomplex setzt voraus, daß Vater und Sohn sich als Rivalen, als Konkurrenten verstehen. Das wiederum ist nur möglich, wenn sie sich beide auf dieselbe Stufe stellen. Freud erkannte dieses Phänomen, sah es aber verkehrt herum. Die Konkurrenz entsteht eben nicht deshalb, weil das Kind sich als erwachsenen Mann, als Werbenden um die Liebe der Frau sieht, sondern weil der Erwachsene, sein Vater, sich als Sohn fühlt, als Konkurrent um die Liebe der Mutter. Dieses - tatsächlich neurotische - Muster ist so sehr in unserer Kultur verankert, daß auch die Frauen sich daran gewöhnt haben, entsprechend zu denken. Es ist sehr auffallend, wie oft Frauen ihre Liebe zu einem Sexualpartner in mütterliche Kategorien fassen und am erwachsenen Mann das lieben, was nach mütterlicher Zuwendung ruft. Der 17jährige junge Mann, den wir in einer norddeutschen Teestube treffen, ist kein wirklich typischer junger Mann, sondern stellt einen Extremfall dar. Das bemerken wir nicht im Interview, das wird uns erst später klar, als das Transkript vor uns liegt und wir es bearbeiten. In einem Interview spielen die Optik und die persönliche Ausstrahlung immer eine sehr große Rolle, und von dieser Warte aus gesehen, wirkt der junge Mann - nennen wir ihn David - nicht auffällig, sondern absolut normal. Er ist groß, freundlich, anfangs vielleicht ein wenig verlegen. Er trägt ein Michael-Jordan-Sweatshirt und Markentennisschuhe. Er antwortet offen und weicht nie aus. Erst später, beim Lesen, fällt uns der überdurchschnittliche Emotionsgehalt seiner Aussagen auf. In dieser Familie ist Goliath - der als Tyrann erlebte Vater - besiegt worden, doch man befürchtet, daß der Preis für David hoch sein wird. Bevor wir überlegen, was an diesem Fall das Spezifische ist, wollen wir David zu Wort kommen lassen:

  • »Meine Erinnerung an die Zeit, als mein Vater noch da war? Es war schrecklich. Zwischen mir und ihm war es einfach furchtbar. Ich habe ihn sehr erdrückend erlebt, ich habe immer das Gefühl gehabt, daß er mich nicht leiden kann. Im Moment, so spontan, fällt mir jetzt kein Beispiel ein. Er hat mir einfach das Gefühl gegeben, daß ich in seinen Augen ein Nichts bin, um es sanft auszudrücken. Doch, jetzt fällt mir auch eine Episode dazu ein. In der Wohnung hatten wir Teppiche, so Perserteppiche, und die haben Fransen. Ich bin drübergangen, ganz normal, aber er hat gesagt, ich bin geschlendert. Er rief sofort: Steig nicht auf die Fransen! Irgendwie... es hat alles ihm gehört, und alles mußte perfekt sein. In seinen Augen konnte ich nicht einmal richtig gehen. Die Scheidung war für mich nicht schlimm, überhaupt nicht. Ich wollte die Scheidung. Ich sagte, >Anja, es ist Zeit, daß wir weggehen<. Wissen Sie, meine Mutter ist irgendwie sehr naiv. Ich habe das Gefühl, daß sie den Thomas nicht so gut einschätzen kann wie ich. Sie hat sogar heute noch die Illusion, daß er sich ändern kann. Wann ich den Thomas zuletzt sah? Naja, das war bei der Gerichtsverhandlung. Es ging um meine Unterhaltszahlungen für die letzten fünf Jahre. Damals vor sechs Jahren haben meine Eltern sich getrennt, und mein Vater hat nie etwas bezahlt. Irgendwie war das schon hart, da verklage ich den eigenen Vater... Anja wollte das auch nicht machen, sie war da sehr zögernd, aber letztendlich hört sie ja doch immer auf mich. Sonst habe ich den Thomas seit der Scheidung, also ein Jahr lang, nicht gesehen. Er hat mich zweimal zum Essen eingeladen, aber ich habe das abgelehnt. Er drohte auch mal telefonisch, daß er sich umbringen würde, aber ich konnte das nicht ernst nehmen. Ich als Mann mürde mich nicht so benehmen. Anja will, daß ich ihn manchmal sehe, aber ich tue es nicht. Als die Scheidung anstand, hat er noch mal so einen Versuch gemacht. Er kam zu uns, stand da und sagte, es könnte alles wieder in Ordnung kommen. Ich sollte - als Köder - eine eigene Wohnung bekommen, und er würde mit Anja zusammen wohnen. Ich sagte: >Geht es dir noch gut, du hast eine Geliebte und willst, daß die Anja zu dir zurückkommt?< Und er: >David, wie kannst du nur so hart zu mir sein.< Dann hat er sich bei mir entschuldigt für alles, und dabei hat er geweint. Er hat sich vollkommen gehenlassen, und das war vor seinem Sohn - als Vater - also das war richtig unangenehm. Ich würde mich nicht so gehenlassen. Früher, also so bis zehn oder zwölf, war das Verhältnis zwischen mir und Anja extrem eng. Ich habe meine Mutter sehr geliebt, wir haben viel geschmust, bis zu dem Alter halt, wo man mit solchen Sachen aufhört. Wir haben zusammengehalten gegen den Vater. Nach der Trennung ist es schlechter geworden, unser Verhältnis ist schlechter geworden; ich wollte dann viel allein sein. Jetzt möchte ich gerne weg. Manchmal wird es einfach zu eng, und wir sind nicht mehr immer derselben Meinung. Wir verstehen uns schon noch gut, und eigentlich sehen wir uns sowieso nicht so viel, aber trotzdem... Es geht ja sowieso nicht, ich kann mir noch lange keine eigene Wohnung leisten. Ich habe nicht das Gefühl, daß Anja mich gerne weggehen lassen würde. Sie glaubt, daß aus erzieherischen Gesichtspunkten noch einiges bei mir zu machen ist. Ich bin noch nicht der gemachte Mann in ihren Augen, der sich da draußen in der Welt behaupten kann, denkt sie jedenfalls. Anja? Nein, leider hat sie keinen Freund. Sie hatte einen ernsten, einen sehr ernsten Freund, das war eine sehr ernste Sache, er hieß sogar Ernst. Aber den konnte ich nicht ausstehen. Er konnte mir nicht näherkommen auf einer persönlichen Ebene. Ich konnte nicht verstehen, warum Anja mit ihm zusammen war. Aber ich glaube nicht, daß sie sich durch meine Meinung hat beeinträchtigen lassen. Ich sehe in Anja eine gute Freundin, mit der es auch manchmal Zank gibt. Sie sagt zu mir: >Du mußt dich ändern, sonst wirst du keine Frau finden.< Oft stört sie, daß vieles an mir von Thomas ist. Gerade wenn mich etwas an ihr ärgert, sage ich es unbewußt so, wie er es früher sagte. Die Gestik, die Mimik, alles ist angeblich sehr ähnlich, ist wie bei Thomas. So, wie der Thomas die Anja nervte, so nerve ich sie. Im Ton zum Beispiel. Sagt sie jedenfalls. Ich hatte einen totalen Leistungsabfall vor einem Jahr, bin auch in der Schule durchgefallen. Das war gerade zum Zeitpunkt der Scheidung. Thomas hat Anja damals gedroht, daß er alles tun würde, damit sie ihren Job verliert. Das hat uns beide sehr nervös gemacht, denn wir haben ja das Geld gebraucht. Das wäre für uns die Apokalypse gewesen. Komischerweise wurde sie dann tatsächlich gefeuert, aber Thomas hat ihr glaubwürdig versichert, daß er damit nichts zu tun hatte. Na, und sie hat dann schnell etwas anderes gefunden. Aber wir hatten sehr viel Existenzangst, und Thomas war daran schuld, weil er so viele Kredite aufgenommen hat und Anja nach der Scheidung nichts als Schulden blieben. Das war für mich der Grund, so tief zu sinken und gegen meinen Vater zu klagen.
    Ob ich auch viele Ähnlichkeiten zwischen mir und meinem Vater sehe? Ja schon, aber nur negative. Anja sagt, ich bin nicht selbstsicher genug, was ich auch vom Vater geerbt habe. Sie sagt, seitdem wir weg sind von ihm, hat sich das tausendmal gebessert. Sie sagt oft auch, daß ich ein Egoist bin, ein grenzenloser Egoist. Für mich ist das schon schlimm, doch. Ich möchte selbstsicher sein.«

David ist Grenzgänger zwischen Kindheit, Adoleszenz und ersten Ansprüchen auf Erwachsensein. Er ist auch Grenzgänger zwischen seinen Eltern: Seine Parteinahme für die Mutter wirkt zunächst sehr ausgeprägt, doch auf der anderen Seite fällt auf, daß der Vater in ihm stark nachwirkt. Hinter einer gelassenen, lässigen Fassade ist David ein höchst aufgewühlter junger Mann. Vom Vater fühlte er sich abgelehnt, für unzulänglich befunden. Heute lehnt er den Vater ab und findet ihn unzulänglich, wobei auffällt, daß er auf höchst stereotype Männlichkeitskriterien zurückgreift. David präsentiert sich in seinen Ausführungen als der »bessere Mann«; er würde nicht vor seinem Sohn weinen, er kann besser mit Frauen umgehen, auf ihn hört die Mutter. Aus Davids Darstellung geht hervor, daß er in zwei Kriege hineingezogen wurde. Zum einen geriet er in das Minenfeld der Auseinandersetzungen zwischen seinen Eltern und zweitens in eine übersteigerte Rivalität gegen seinen Vater. Wenn die Familie, wie viele Theoretiker behaupten, ein »System« ist, dann können wir am Beispiel von David erkennen, wie ein krankes System aussieht. Die drei Beteiligten bilden ein System des gegenseitigen Quälens. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang Davids Beobachtung, daß das »extrem enge« Verhältnis zwischen Mutter und Sohn sich nach der Scheidung verschlechtert, weil der gemeinsame Feind, der sie zusammengeschmiedet hat, nun fehlt. Und eigentlich ist David ein Fall von Mißbrauch - von beiden Eltern wird er mißbraucht, weil alle beide ihm gegenüber die Elternrolle verweigern.
Viele Kinder nennen ihre Eltern beim Vornamen, doch bei David hat diese Praxis einen ominösen Beiklang. David vermeidet die elterliche Ansprache nicht als Ausdruck seiner kameradschaftlichen Gefühle ihnen gegenüber. Für ihn sind seine Eltern nicht wirklich Eltern, sondern Personen, die ihn in eine destruktive Dreiecksgeschichte einbauten und ihn dadurch restlos überforderten. Um Davids Aussagen in Relation setzen zu können, sprachen wir auch mit seiner Mutter. Ihre Version war weitgehend mit seiner vergleichbar, doch gab es interessante Unterschiede. Anja erzählte uns, daß der Sohn die Scheidung unbedingt verhindern wollte, daß er in dieser Zeit sehr verzweifelt war und ständig Versöhnungsversuche unternahm. Er stellt es anders dar, beschreibt sich als die treibende Kraft hinter der Scheidung. Dagegen bestätigte Anja etwas, das wir für eine Fantasieerzählung gehalten hatten. Sie bestätigte, daß Thomas tatsächlich den damals 15jährigen (!) Sohn aus der Familie ausgliedern und in eine eigene, wenn auch neben der Elternwohnung liegende kleine Einzimmerwohnung aussiedeln wollte. Anja wußte auch Beispiele für die Rivalität zwischen Vater und Sohn. »David ging ab der zweiten Klasse schon allein in die Schule, er war immer schon sehr selbständig. Ich habe ihn in der Früh verabschiedet, das war fast wie ein kleines Zeremoniell. Ich ging mit ihm in die Vorhalle, gab ihm zwei Bussis, eins links, eins rechts, und sagte, >ich wünsch dir viel Glück für heute<. Einmal stand mein Mann im Vorzimmer mit starrem Blick, total aggressiv, und sagte, >wenn ich weggehe, wünscht mir niemand Glück<«. Daß in dieser Ehe viel schiefgelaufen war, dürfen wir vermuten; das ist die eine Sache. Eine ganz andere Sache ist es, wenn Erwachsene das Kind in ihr Drama hineinziehen. Thomas fühlte sich von Anja ungenugend geliebt und machte David als den Verursacher seiner emotionalen Defizite verantwortlich.
Und auch Anja spielte ein seltsames Spiel: »Thomas demütigte den Kleinen vorzugsweise vor versammelter Gesellschaft. Wenn wir Einladungen hatten, rief er den Kleinen zu sich und machte ihn zur Schnecke, so daß auch alle Gäste sich dabei unwohl fühlten. Ich dachte mir in solchen Situationen immer, ich misch' mich besser nicht ein. Die zwei sollen das unter sich ausmachen. Ich stellte mich nicht zwischen sie, beziehungsmäßig, denn das ist ganz schlecht. Ich wollte die Beziehung zwischen Vater und Sohn wachsen lassen. Ich spendete dem David immer Trost, natürlich. Aber ich wollte mich nicht offen gegen den Mann stellen. Ich versuchte dann, hinterher den Schaden irgendwie zu begrenzen und ein bißchen zu reparieren.« Und Anja erinnert sich an einen »Wendepunkt«, an ein ganz besonders dramatisches Erlebnis: »David war sechs und wir waren gemeinsam in Italien. David verlor seine Geldbörse, da waren vielleicht 100 Lire drin. Aber das war ihm schon mehrmals passiert, er verlor oft Sachen, und sein Vater hat eine richtige Staatsaffäre daraus gemacht. Er schrie David zusammen und gab ihm sogar Fußtritte. Ich war völlig paralysiert. Und plötzlich schrie mein Mann mich an: >Und du, du verteidigst nicht einmal deinen Sohn!< Ja, und von da an waren die Fronten geklärt. Von da an waren David und ich immer zusammen, wir waren eine Einheit. Und trotzdem wollte mein Sohn die Familie immer zusammen haben. Er war sehr darauf aus, daß wir uns nicht trennen.« Betrachten wir diesen Vorfall. Thomas reagiert übermäßig und gewalttätig in einer geringfügigen Angelegenheit; dann wendet er seinen Zorn gegen seine Frau, weil sie den Sohn nicht vor ihm beschützt. Wie ist das zu verstehen? Zwei Erklärungen bieten sich an. Vielleicht hat Thomas einfach die Selbstbeherrschung verloren. Er erwartete von Anja, daß sie als Mutter, und zwar nicht bloß als Davids Mutter, sondern sozusagen im übertragenen Sinn auch als seine eigene Mutter, als Gesamtmutter der Familie - ihn bremste, ein Gegengewicht bot. Die zweite Möglichkeit ist, daß Thomas damit gerade die Entwicklung provozieren wollte, die schließlich auch eintrat: Anja sollte sich zwischen ihm und seinem »Gegner« entscheiden, indem sie für den einen oder anderen Partei ergriff. Sie sollte nicht paralysiert danebenstehen, sondern wählen. Wenn das stimmt - und einiges spricht für diese Interpretation - dann dürfen wir uns auch noch fragen, warum Thomas eine dermaßen ungleich gegen ihn gewichtete Entscheidung provozierte.
Denn es wäre zu erwarten, daß eine Frau ihr zu Unrecht geschlagenes sechsjähriges Kind gegen einen außer Kontrolle geratenen erwachsenen Mann verteidigt, ebenso wie es zu erwarten war, daß sie einige Jahre später bei ihrem 15jährigen Sohn bleibt, statt ihn in eine eigene Wohnung zu entlassen und zum Mann zurückzugehen. Warum stellt Thomas sie vor Fntscheidungen, die eigentlich nur zu seinen Ungunsten ausfallen können? Vielleicht ist er einfach noch zu sehr im patriarchalen Denken verfangen, um die Situation richtig einschätzen und das Verhalten seiner Frau richtig vorhersagen zu können. Früher - und so lange ist es auch wieder nicht her - konnte der Vater durchaus auch widersinnige Dinge verlangen. Seine Macht in der Familie war so groß, die Abhängigkeit seiner Angehörigen war so vollkommen, daß er getrost auch unfair, brutal, unlogisch sein konnte. Diese vergangene Zeit klingt noch durch, wenn Anja ihre anfängliche Haltung beschreibt. Anfangs wollte sie sich nicht zwischen Vater und Sohn stellen. Sie ließ den Vater machen und tröstete anschließend den Sohn - das klassische Vorgehen in der patriarchalen Familie. Auch Anja spielt im Drama dieser Familie eine verhängnisvolle Rolle und trägt ihren Teil zu Davids Schwierigkeiten bei, aber das zentrale Drama ist das zwischen Vater und Sohn. Wenn wir es im Licht von Erich Fromms Ausführungen betrachten, bestätigt sich einiges an seiner Darstellung.
Im Konflikt zwischen David und Thomas geht es deutlich um die Frage der Macht, der Dominanz - und das liegt an Thomas. Er verteidigt seinen Besitz oder, primitiver gesagt, eigentlich sein Territorium gegen den jungen Rivalen. Bezeichnend ist das Beispiel mit den Teppichfransen, um die es ja vermutlich nicht wirklich gehen kann. Die Teppichfransen, die Thomas nicht durch lässiges Herumschlurfen in der Wohnung in Unordnung bringen soll, stehen für mehr - sie besagen, daß die Wohnung dem Vater gehört, daß er in dieser Wohnung die Regeln vorgibt und daß der Sohn sich hier nicht allzu wohl, nicht ganz und vollkommen zu Hause fühlen soll. Damit hat er den Sohn quasi »erhöht«, ihn wie einen erwachsenen Rivalen behandelt, der aus der Ehe entfernt werden muß, und zugleich den Ton bestimmt für die Art, in der sein Sohn heute über ihn spricht.
Auch David spricht so, als ob er dem Vater ebenbürtig, als ob er ein erwachsenes Gegenüber des Vaters wäre. »Ich sagte, Anja, es ist Zeit daß wir weggehen.« »Letztendlich hört (Anja) doch immer auf mich.« »Ich sagte, geht es dir noch gut, du hast eine Geliebte und willst, daß die Anja zu dir zurückkommt?« All diese Sätze klingen nicht nach einem Machtkampf zwischen einem Vater und einem Sohn, sondern nach einem Kampf zwischen zwei Männern. David stellt es so dar, als ob die Klage für den ausständigen Unterhalt seine Idee gewesen wäre und er diesen Gerichtsprozeß gegen den Willen der Mutter angestrebt hätte. Aber im Lauf des Interviews bedauert er zweimal ausdrücklich diese Situation, obwohl er sonst so unversöhnlich über seinen Vater spricht. Übrigens sind das die einzigen zwei Male im Gespräch, daß er Thomas als einen »Vater« tituliert. Es sei schon »hart« und ein komisches Gefühl, den eigenen Vater zu verklagen, meint David, und er sei damit »tief gesunken«. Diese Aussagen bringen seine Empfindung zum Ausdruck, daß es so nicht in Ordnung ist, wie es in seiner Familie läuft - und auch seine Erkenntnis, daß diese schreckliche Situation nicht von ihm ausgegangen ist, sondern von den anderen.

Der Kampf um das Territorium

Hinter manchen Familienkonflikten verbirgt sich - vielleicht entgegen dem, was wir in diesen letzten Jahren des 20. Jahrhunderts erwarten würden - das Streben der Väter, eine Machtposition einzunehmen. Daß der »Herausforderer«, der ihre Dominanz akzeptieren soll, mitunter noch in Windeln steckt, scheint sie nicht zu irritieren. Und sehr oft geht es dabei, wie bei Thomas und David, um Archaisches: um Territorium, um Rang.
Kathi ist Sekretärin, ihr Mann ist Lehrer; Sohn Markus ist gerade zweieinhalb Jahre alt geworden. Kathi betrachtet ihre Ehe als intakt, aber es gibt Konflikte: über die Arbeitsteilung und über die Erziehung. Das große Problem in dieser Familie ist laut Kathi das, was sie als die »ausgeprägte Ordnungsliebe« ihres Mannes bezeichnet. In dieser Sache gibt es ständig Streit, denn Hermann findet erstens, daß die Wohnung nicht sauber und ordentlich genug ist, und zweitens, daß es eigentlich Kathis angeborene Aufgabe wäre, den Haushalt zu erledigen. Zufällig haben wir vereinbart, Kathi in ihrer Wohnung zum Interview zu treffen; um so erstaunlicher sind ihre diesbezüglichen Ausführungen, denn die Wohnung wirkt fast schon ein bißchen steril, in jedem Fall aber überdurchschnittlich aufgeräumt und geputzt. Auch Markus ist in diesen Konflikt involviert, denn die angesprochenen »Konflikte über einen unterschiedlichen Erziehungsstil« stellen sich in weiterer Folge als ein Streit über die Unordentlichkeit des kleinen Markus heraus. Der Vater ist der Auffassung, daß der Sohn zur Ordnung erzogen werden muß. Er erwartet von Markus, daß dieser seine Spielsachen stets selbständig wegräumt und sein Zimmer, also seine Kleider und seine Spielsachen, in Ordnung hält. Darin sieht er eine grundsätzliche Erziehungsfrage, die sich bei genauerem Hinhören als Machtfrage herausstellt. Markus dürfe einem »nicht über den Kopf wachsen«, glaubt der Vater, gerade jetzt im »Trotzalter« müsse man die »Kämpfe mit ihm durchstehen«. Kathi dazu: »Das mit dem Aufräumen und der Ordentlichkeit ist meinem Mann wesentlich wichtiger als mir. Da ist er fast schon extrem, der sieht Dinge, die sehe ich nicht, und deswegen geraten wir immer wieder aneinander. Er erwartet von seinem Sohn das gleiche wie von mir, und er ist schon sehr streng diesbezüglich. Wenn da zum Beispiel vom Wohnzimmertisch ein Auto auf den Parkettboden hinunterfällt, dann ist eine Delle unten, und ich bin dann eher der Typ, der denkt, eine Delle mehr oder weniger macht nicht viel aus, aber mein Mann kreischt laut auf und fängt zum Schimpfen an. Es muß bei ihm schon sehr ordentlich sein, er will eine Wohnung haben, die unbewohnt ausschaut, und das geht eben mit Kindern nicht. Hoffentlich wird der Markus eines Tages nicht auch so wie er, die arme Frau!« Interessant, daß Kathi in ihrer Konfliktvermeidung auf die nächste Generation ausschweift sie bedauert nicht sich selber, die solch einen pedantischen Mann hat, sondern ihre künftige Schwiegertochter, die vielleicht auch einen solchen Mann kriegen könnte. Doch noch interessanter ist die Frage nach Hermanns Motiven. Einen Parkettboden vor Dellen bewahren zu wollen ist ein ziemlich irrationales Ziel und erinnert stark an Thomas und seine Teppichfransen. Gel-it es nicht auch hier um Eigentum und Macht? Der Eindruck verstärkt sich, wenn Kathi eine typische Familienszene beschreibt: »Ich habe gerade mit meiner Mutter telefoniert, wir wollten fortgehen, es war zehn Uhr vormittags, und ich war eigentlich schon fast fertig, und so nebenbei höre ich, wie mein Mann sagt, der Markus soll seine Spielsachen aus unserem Schlafzimmer herausräumen, weil er am Samstag immer gern dort spielt und uns das Bett mit Autos anhäuft. Der Markus fängt an zu weinen und zu schreien, weil es ihm zuwider ist, aufzuräumen. Er möchte das nicht, und er schreit. >Das soll die Mama machen!< Mein Mann sagt darauf, >Nein, das machst du!< Daraufhin läuft der Markus fort, mein Mann hinterher, schleift ihn ins Zimmer und erklärt ihm, daß er das jetzt sofort machen muß. Ich bin dagestanden und hab' nur gedacht, oh Gott, jetzt ist der Tag gelaufen. Es war zehn, und wir sind dann erst um halb zwölf gegangen. Aber das muß man dann durchstehen, weil man ja nicht sagen kann, okay, ich mach das schnell, und gehen wir doch lieber. Wie steht dann mein Mann da, der ihm das gesagt hat. Ich kann nicht hergehen und sagen, >Brauchst es eh nicht machen, Schatzi<.« Markus, wir wollen es in Erinnerung rufen, ist zweieinhalb. In diesem Alter kann man schon etwas Kooperation erwarten, aber in begrenztem Ausmaß. Von der Symbolik, daß hier wieder einmal ein elterliches Bett im Konflikt involviert ist, wollen wir absehen; unübersehbar ist aber, und Kathi erkennt es ganz folgerichtig in ihren abschließenden Sätzen, daß es hier nicht wirklich um Ordnung geht, sondern um Autorität und um Macht. Zwar erwartet Hermann, daß Kathi für ihn arbeitet, also seine Sachen wegräumt und seinen Anteil an der Hausarbeit macht, doch Markus soll nicht denselben Anspruch stellen; das klingt verdächtig nach einem väterlichen Justament-Besitzanspruch an der Ehefrau. Daß Kathi seine Autorität nicht unterwandern darf, sondern den trostlosen samstäglichen Machtkampf zwischen Vater und Markus eineinhalb verheulte Stunden lang »mit durchstehen« muß, verkleidet sich als didaktischer Leitsatz (konsequent sein!), ist aber in Wirklichkeit bloß ein patriarchalisches Grundgebot. Beklemmend wird dieses Interview dort, wo Kathi die Waffen ihres Mannes und die Reaktion des Sohnes beschreibt, und doppelt beklemmend, wenn wir bedenken, daß es sich um einen Lehrer und um eine junge Mittelschichtfamilie handelt: So langsam, erklärt Kathi, käme ihr Mann in einen Erziehungsnotstand, weil ihm die Mittel ausgingen. »Er kann dem Markus ja nicht pausenlos eine draufklatschen, weil es ihm manchmal sowieso schon egal ist. Früher war er beleidigt, jetzt hat das einfach seine Wirkung verloren. Er ist so weit, daß es nichts gibt, was man ihm antun kann, das ihn irgendwie stört. Das ist etwas, was wir gerade besprechen, was wir jetzt noch machen können. Markus geht wahnsinnig gern zum Spielplatz, vielleicht muß man dann sagen, wenn das oder jenes passiert, dann darfst du dort ganz einfach nicht hin.« Kathi stellt das als gemeinsames pädagogisches Gespräch dar. Gleichzeitig wird sichtbar, daß sie die Vorstellungen ihres Mannes hier genausowenig teilt wie bei der Ordnungsliebe:
»Ich bemühe mich, eher nach Hause zu kommen als mein Mann. Ich sag dann erst gar nicht, >Räum jetzt auf<, sondern ich sage, >Komm hilf mir< oder >Wir machen es gemeinsam<. Ich halte diese stundenlange Schreierei einfach nicht aus, daher gehe ich diesem Konflikt eher aus dem Weg.« Gegenüber Hermann, in seiner Eigenschaft als Lehrer, hat Kathi wenig Selbstvertrauen. Ihr eigenes Vorgehen sieht sie nicht als alternative Erziehungsmethode, sondern als Schwäche an sie geht dem Konflikt aus dem Weg - und stellt nicht die ketzerische Frage, warum man auch umgekehrt vorgehen und den Konflikt »suchen« soll, um ihn danach »durchzustehen«. Das Ziel, den Sohn zur Mithilfe im Haushalt zu erziehen, erreicht Kathi mit ihrer Methode viel eher; doch Hermann hat ein anderes Ziel, nämlich dem Sohn seinen Willen aufzuzwingen. In der Praxis kann das Elemente von emotionalem Inzest aufweisen. Bei Maike haben sich die Partnerschaft- und Elternschaftbeziehungen dadurch mittlerweile total verwirrt. Maike ist 35. Sie »stolpert« in unsere Untersuchung hinein in Form eines zufälligen Gesprächs auf einem Sportplatz. Sie hat ihre jugendliebe geheiratet, die gemeinsamen Kinder sind jetzt sieben und dreizehn, sie hat einen interessanten Halbtagsjob, ihr Mann hat eine gute Anstellung, eigentlich ist alles in Ordnung, aber ihre Familie ist, wie sie meint, »kaputt«, und sie weiß nicht, wie sie noch zu reparieren wäre.
»Helmut hat unter der Woche wenig Zeit, aber die Wochenenden verbringt er eisern mit der Familie, das ist seine Formulierung: >eisern<. Er will dann aber, daß drei Leute sich nach seinen Bedürfnissen richten. Er will vom Tennismatch zum Stadtspaziergang, dann zu seinen Freunden aus der Firma, die Kinder wollen nicht mit, müssen aber. Abends sollen sie um halb neun ins Bett weil er mit mir weggehen will. Aber das stört mich nicht; was mir Sorgen macht, ist sein Verhältnis zu den Kindern. Er verwöhnt die Leni, sie darf alles, sie kriegt alles, sie ist sein Täubchen. Er nennt sie >Papas einziger Schatz<, was ich also ehrlich gesagt nicht sehr taktvoll finde. Das finde ich unfair unserem Sohn gegenüber, schließlich ist er mit dreizehn auch noch ein Kind und liebebedürftig. Von mir selber sage ich mal nichts. Ich versuche das auszugleichen, und ich glaube, es gelingt mir. Ich habe mit meinem Sohn ein sehr gutes Verhältnis, sehr vertrauensvoll. Doch das macht die Gesamtlage nur noch schlimmer. Gestern zum Beispiel hatte ich einen Streit mit Helmut. Er hat Leni 150 Mark in die Hand gedrückt, weil sie neue Turnschuhe brauchte, mit der Anmerkung >behalt den Rest<. Bitte, das Kind ist sieben Jahre alt, hat keinen Begriff von Geld, verliert alles, und die Turnschuhe kosten 25 Mark! Auf meinen Protest hin erwiderte er, >wenn du deinen Liebling (er deutete auf Horst) kurzhalten willst, ist das deine Sache<. Ich war so böse, er bringt eine künstliche Trennung in die Familie. Er marschierte hinaus, ich saß auf der Terrasse und spürte, wie sich meine Nackenmuskeln verspannten. Horst setzte sich dazu, wir haben nicht gesprochen. Helmut hatte etwas vergessen und stand plötzlich mit den Worten >störe ich?< neben uns. Er bringt so einen anrüchigen Ton hinein, ich versteh das nicht, aber es ist mir so unangenehm. Er selbst läßt sich von Leni in der Badewanne den Rücken schrubben, mit lauten Aaaahs und Oooohs, ich sage nichts dazu, obwohl ich es irgendwie ein bißchen komisch finde. Leni ist im Moment ziemlich zurückhaltend, was ihren Körper angeht, sie badet nurmehr allein. Bis vor kurzem ließ sie sich überreden, Sonntag früh mit ihrem Vater in die Wanne zu steigen, aber jetzt, wenn er nach ihr ruft, geht sie nur hin und bürstet seinen Rücken, hat aber selber einen Bademantel an. Irgendwie kommt es mir schräg vor. Er aber versucht, mir den schwarzen Peter zuzuschieben, indem er immer so tut, als hätte ich ein abwegig enges Verhältnis mit unserem Sohn. Dazu kann ich nur sagen, ich habe sein Schamgefühl und sein Bedürfnis nach Privatleben immer respektiert. Vor einem Monat, es war ein schöner Frühlingstag, wollte ich mit Horst Eis essen gehen. Helmut kam gerade bei der Tür herein. Leni war nicht da, sie war bei einer Freundin. Seine Begrüßung: >Oh, Madam geht mit ihrem jungen Liebhaber aus. Wie praktisch, daß alle anderen fort sind.< Mir war das peinlich, für meinen Sohn, und ich glaube auch nicht, daß es ausschließlich humorvoll gemeint war. Ich versuche Horst zu erklären, daß sein Vater ein bißchen eifersüchtig ist, wahrscheinlich, weil er wochentags so wenig bei uns ist und sich dadurch wohl ausgeschlossen fühlt. Er will Leni an sich binden, um auch jemanden >ganz für sich< zu haben. Horst geht solchen Erklärungen aus dem Weg, es fällt mir auf, daß er über dieses Thema nicht sprechen will. Auch mit Leni habe ich ein gutes Verhältnis, aber irgendwann werden wohl Spannungen hineinkommen, wenn es so weitergeht. Allein diese Bemerkung vom letzten Sonntag im Hallenbad. Da sagt er doch glatt, >Leni, du kriegst einmal eine tolle Figur, das kann ich schon sehen du bist viel zarter gebaut als deine Mutter, deine Beine sind auch viel besser<. Was soll das? Schon jetzt ist es so, daß Leni mich nicht mehr fragt, wenn sie etwas haben will. Sie fragt nur ihren Vater, weil sie weiß, daß er ja sagt. So allmählich kommt ein Keil in unsere Familie, ich befürchte auch, daß Horst sich letztendlich von mir zurückziehen wird, um diesen ewigen dummen Anspielungen zu entgehen. Dann geht für Helmut die Rechnung auf, doch für wen soll es gut sein?« In diesen Beispielen - und in vielen anderen Fällen, in denen die Mütter sich von ihren Männern trennen und mit dem Sohn allein bleiben - scheint der ödipale Konflikt zugunsten des Sohnes ausgegangen zu sein. Auf den ersten Blick hat er gewonnen; die Mutter hat sich für ihn entschieden, der Vater ist eliminiert, entweder buchstäblich oder emotional. Doch das kann nicht die optimale Lösung für Ödipus sein, sondern nur eine Änderung der sozialen und politischen Umstände, die diesem Konflikt zugrunde liegen. Die wirkliche Lösung müßte so aussehen: Der Vater nimmt in der Familie die Stellung eines liebevollen und versorgenden Elternteils ein (wodurch die Mutter nicht mehr als übersteigertes und alleiniges Fixierobjekt kindlicher Erwartungen fungiert); der Vater tritt in der Familie nicht mehr als Herrscher auf (wodurch es sich erübrigt, ihn zu hassen, gegen ihn zu rebellieren und sich seine Eliminierung zu wünschen). Statt dessen bahnt sich eine andere Entwicklung an: Die Mutter hat sich aus der patriarchalen Abhängigkeit befreit oder, sagen wir lieber, teilbefreit. Somit steht sie nicht mehr »paralysiert« da angesichts der Übertretungen des Vaters und Ehemannes, sondern sie ergreift Partei für sich selbst und für die Kinder. Die militante Vaterbewegung hat es sich zum Ziel gemacht, das mütterliche Sorgerecht in Scheidungsfällen prinzipiell anzufechten. Besonders aufschlußreich ist ihre Forderung, daß in erster Linie die Söhne bei den Vätern bleiben sollen. Sie begründet das damit, daß vor allem Söhne eine männliche Bezugsperson brauchen, doch nach eingehender Beschäftigung mit dieser Männergruppe sind wir davon überzeugt, daß hier etwas ganz anderes abläuft. Aus dem Persönlichkeitsbild der typischen Mitglieder dieser Bewegung, aus ihren Beziehungsgeschichten und aus ihrer Argumentationsweise geht deutlich hervor, daß es nicht um die Söhne und deren Wohl geht, sondern um die Fortsetzung des Machtkampfes mit anderen Mitteln. Die ungehorsame, abtrünnige Frau soll bestraft werden, indem man ihr das Kind wegnimmt. Gleichzeitig soll der Sohn sich nicht so einfach aus der Machtsphäre des Vaters entfernen dürfen. Damit wollen wir nicht behaupten, daß viele Väter nach der Trennung nicht eine authentische Sehnsucht nach ihrem Kind haben. Aber eine prinzipielle Befürwortung des väterlichen Sorgerechts für Söhne ist eine Sache, die nichts mit väterlicher Liebe und alles mit Politik und Patriarchat zu tun hat. Sie ist der Versuch, den ödipalen Kampf zugunsten des Vaters zu entscheiden, den Sohn zu besitzen und zu vereinnahmen. Für patriarchalisch denkende Männer ist es besonders schwierig, den Sohn an die Mutter zu verlieren. Denn erstens hat er sich damit der väterlichen Kontrolle entzogen, und zweitens hat ihr »Rivale« dadurch den Kampf um die Frau gewonnen. Diese Kränkung klingt dort durch, wo geschiedenen Müttern emotionaler Inzest vorgeworfen wird. Sie würden ihre Söhne dem ehemaligen erwachsenen Mann und Partner vorziehen, würden ihn zu einem Ersatzpartner machen und ihn damit emotional überfordern. Der Vorwurf, daß alleinerziehende Mütter ihre Söhne dem ehemaligen Partner vorziehen, ist nicht von der Hand zu weisen. Das ist jedoch nicht neu, sondern in der klassischen, altmodischen Ehe schon fast die Norm. Vom Mann enttäuscht, vom Leben unterfordert, konzentrierte die traditionelle, brave Ehefrau und Mutter ihre ganze Liebesfähigkeit auf den Sohn. Wenigstens er sollte sie lieben, er sollte ihre Ambitionen erfüllen. Diese Ersatzliebe zwischen seinen beiden Untertanen weckte beim traditionellen Familienoberhaupt keine oder nur weitaus geringere Eifersuchtsgefühle, da seine Position nie in Zweifel stand. Die Frau hatte keine andere Wahl, als sich ihm unterzuordnen; der Sohn hatte keine andere Wahl, als eines Tages in seine Fußstapfen zu treten. Wenn die Frau inzwischen ihr Söhnchen hätschelte, tat das nichts zur Sache. Daß das auch heute in traditionellen Beziehungen noch so läuft, zeigt uns das Gespräch mit Irma, einer 51jährigen Floristin. Irma hat eine Tochter, die inzwischen verheiratet ist, und einen Sohn, der mit 25 noch zu Hause lebt. Im Interview sprach sie über die eigene Kindheit, über ihre beiden Kinder und über ihre Ehe. Lesen wir im folgenden die Sätze, die sich auf den Sohn und den Ehemann beziehen: »Um ehrlich zu sein, habe ich mehr Berührungspunkte mit dem Tobias, das ist mein Sohn, als mit meinem Mann, er ist mir viel ähnlicher. Der Tobias ist ein Lebenskünstler. Er hat eine Art, mich um den Finger zu wickeln, da kann ich ihm gar nicht lange böse sein. Der Tobias lebt noch immer bei mir. Eigentlich müßte ich ja >uns< sagen, er lebt bei uns, aber in Wirklichkeit haben mein Mann und er kaum Kontakt. Wenn sie mehr als zehn Worte miteinander wechseln, dann ist das viel. Sie haben einfach keine Basis miteinander. Ich frühstücke zweimal, einmal mit meinem Mann, einmal mit meinem Sohn. Das ist es, was ich an einem Tag am meisten schätze.
Der Tobias und ich sitzen einfach oft schweigend nebeneinander und hängen unseren Gedanken nach, oder wir erzählen uns, wie es am Vortag gelaufen ist. Mit meinem Mann rede ich oft nur über die Nachrichten, die im Radio so nebenher laufen, oder er sagt mir, was er an diesem Tag erledigen muß. Ich habe mich oft gefragt, ob mein Mann auf den Tobias eifersüchtig ist, ob er sich zurückgesetzt fühlt, weil sich unsere Beziehung durch die Geburt der Kinder so verändert hat. Man sagt ja immer, daß ein Kind zwei Menschen einander näher bringt, uns hat es eigentlich voneinander entfernt. Ein typischer Tagesablauf sieht nun so aus, daß ich um halb sieben aufstehe, als erstes die Kaffeemaschine anstelle und für meinen Mann das Frühstück mache. Ich ziehe mich da gar nicht erst an, weil ich mich ohnehin gleich, wenn er weggeht, wieder ins Bett lege. Ich esse auch nichts, weil es mir eigentlich dafür noch viel zu früh ist, aber ich sitze gern neben ihm und versuche mich auf das zu konzentrieren, was er gesagt hat, und innerlich irgendwie präsent zu sein. Ich war immer stolz auf meinen Sohn, ich habe ihn gerne überall herumgezeigt, ein bißchen schwingt da noch immer mit, daß Söhne wertvoller als Töchter sind. Irgendwie habe ich den Tobias immer als kleinen Mann betrachtet. Dagegen hat mein Mann die Tochter bevorzugt. Das würde er zwar nie zugeben, aber ich habe ja gesehen, wie er mit ihr umgegangen ist. Er war ganz in sie verliebt. Der Tobias hat den Vorteil, daß er mir fast alles sagen kann, ohne daß ich ihm böse bin. Er hat eine Art, der ich einfach nicht widerstehen kann. Momentan ist es so, daß ich für ihn koche und auch die Wäsche wasche, aber eigentlich weiß ich, daß ich ihn die Wäsche selber machen lassen müßte. Er hat wirklich kein einziges Mal in seinem Leben eine Waschmaschine benützt, vom Bügeleisen ganz zu schweigen. In diesem Punkt war ich einfach zu inkonsequent. Ich weiß gar nicht, woher das kommt, daß er sich so gerne bedienen läßt. Mein Mann wäscht sehr wohl auch ab, geht einkaufen, putzt die Schuhe... er ist keiner, der von der Arbeit nach Hause kommt und alles stehen und liegen läßt. Ich hab Angst vor dem Tag, an dem der Tobias auszieht. Ich denke, er weiß das auch, aber ich kann ihn nicht mit meinem eigenen Kram belasten. Ich denke, er nimmt einfach einen Raum ein, der dann leer steht, von dem ich auch nicht weiß, wie ich ihn füllen soll.« Was Irma hier sehr ehrlich beschreibt, ist ein äußerst klassisches Muster. Viele Familien ihrer Generation sehen ganz genauso aus. Vom Mann und von ihrer Ehe enttäuscht, trotzdem aber ausgestattet mit stereotypen Erwartungen an Männer, konzentrierten diese Frauen sich auf den Sohn und bauten zu ihm eine innige Beziehung auf - oft zum Leidwesen ihrer späteren Schwiegertöchter. Denn es ist ja vollkommen einsichtig, daß eine derart intensive, 20 Jahre oder länger andauernde Bindung nicht plötzlich aufzuheben ist. Irma lebt in einem Zustand, den wir fast als Bigamie beschreiben könnten.
Die zwei Frühstücke, bei denen sie jeden Tag versucht, den Anforderungen beider Männer gerecht zu werden, sind dafür ein ideales Beispiel. Und es ist auch klar, welchen Mann sie bevorzugt. Ihre Beziehung zum Sohn - das einträchtige gemeinsame Schweigen, die Harmonie, ihr Zustand anhaltender Verliebtheit und die damit einhergehende Anfälligkeit für seinen Charme - das alles klingt nach einer Ehe, nach einer guten, langjährigen Ehe. Ihre eigentliche Ehe hingegen ist offensichtlich schon sehr lange tot; die Leere, die das unweigerliche Weggehen ihres Sohnes hinterlassen wird, wird ihr Mann nicht füllen können. Doch auch bei Jungen, modernen Frauen ist dieses Muster durchaus noch festzustellen. Wenn die Beziehung zwischen den erwachsenen Partnern nicht funktioniert, verlagern mitunter beide ihre Gefühle auf andere Familienmitglieder. Und das gilt nicht nur für positive Gefühle wie Liebe und Zuneigung, sondern auch für Haß, Enttäuschung und Verachtung. Wenn Frauen es vorziehen, nach der Trennung mit dem Sohn zusammenzuleben, dann erzählen sie oft, um wieviel angenehmer ihr Leben seither geworden sei. Doch das hat andere Gründe. Der Hauptgrund: das Wegfallen der Macht. Erich Fromm hat zielsicher, aber noch nicht ausführlich genug, den zentralen Störfaktor des Zusammenlebens identifiziert, als er die aggressive Komponente des Ödipuskomplexes auf das Machtstreben der Väter zurückführte. Dieses Streben nach der Vormachtsrolle ist es, das heute so viele Ehen und so viele Vater-Kind-Beziehungen kaputtmacht. Und das »angenehme Klima«, die plötzliche Entspannung, die laut Aussage so vieler alleinerziehender Mütter trotz aller Probleme und Strapazen als positive Scheidungsfolge hervorgehoben werden, die gehen auf das Wegfallen des Machtstrebens zurück. Plötzlich ist keiner mehr da, der Angst in die Wohnung bringt. Plötzlich kann man lässig schlendern, ohne daß jemand auf die Teppichfransen schaut, plötzlich ist Spielen erlaubt, auch wenn es im Fußboden klitzekleine Dellen gibt. Der Sohn ist der nettere, der bessere männliche Mitbewohner, weil der Sohn keine Macht hat und keine Macht beansprucht. In ihrer Begeisterung darüber tun viele Frauen das Falsche: bedienen, kochen, putzen, lassen sich umfassend »um den Finger wickeln«, weil es eine so schöne Abwechslung ist, von einem männlichen Menschen mit Humor und Charme eingekocht zu werden statt mit Drohungen und Dominanz.