Kreta, das Damenreich, Lesbos, »Die Zwei«

Die große Insel hat etwas von der Selbständigkeit eines Kontinents. Ankommenden Schiffen scheint sie vor der Einfahrt nach Kandia entgegenzuschweben, von hier aus gesehen merkwürdig flach, wie ein Präsentierbrett des Außerordentlichen. Dieses Außerordentliche spürt jeder bei der Ankunft sofort, trotz Staub, verlaustem Federvieh, Provinzlern, »Beserlpark« und Sonntagsmusik, spürt es an der Fertiggelebtheit der ganzen Landschaft. Hier ist alt edles Menschenreich wo immer der spät eingenistete, artfremde, schäbige Alltag abgekratzt wird, zeigt sich schon wenige Fuß unter ihm der Boden durchdrungen von »towering grace«: ragender Anmut. Quaderngefügte Paläste, Pergolen, Gymnasien, Wasserwerke, Bibliotheken, Arenen, Theater kommen zutage; Hülsen eines einst über drei Kontinente hinstrahlenden Lebens. Noch ein Jahrtausend nach dem gewaltsamen Ende steht sein farbiger Abglanz an jüngerer Völker Horizont.
Kreta ist stets ein Sagenbrennpunkt beinahe ohnegleichen gewesen, und Sir Arthur Evans gräbt dort Märchen über Märchen aus. Zu Anfang, vor dreißig Jahren, galt das, trotz Schliemanns zünftiger Fachmeinung noch immer für ein Unternehmen, auf nichts gegründet als Phantasiegespinst, aufgeblasen von romantischen Fabulierern.Sir Arthur aber war ein zäher Laie und las so praktisch begeistert, wie Schliemann seinen Homer, von Jugend an im Kingsleys Fairy tales von der Geburt des Zeus in der diktäischen Grotte. Wie er als Stier Europa dort befruchtet, die Minos, einen Herrn der Welt, gebiert, vom Labyrinth und seinem Architekten Dädalus, dem ersten Vogelmenschen, vom Minotaur, von Theseus und Ariadne mit dem roten Faden - wohl auch vom Tod des Zeus. Der verblüffende Ausspruch der Kreter, auf dem Monte Jukta das Grab des obersten Griechengottes zu besitzen, schuf ihnen zuerst den Ruf der Unwahrhaftigkeit: »Alle Kretenser sind Lügner.« Obwohl in der diktäischen Grotte uraltes Kultgerät, seltsame Linearschrift und Weihgeschenke sich fanden, stieß Evans mit gutem Instinkt lieber gleich in den Kern der Legende hinein, dort, wo er unter wehenden Kornfeldern das »weitbewohnte« Knossos, die minoische Hauptstadt, vermutete und das Labyrinth.
Bald kamen Paläste frei, die weiten Flügel über Land geworfen; Innenhöfe von der Größe des Markusplatzes, glatt poliert wie Tanzsäle, mit Marmorsitzen und Brunnen, werden enterdet.
In Bronzeangeln schwingen die mächtigen Tore, mit Metallschlössern und Schlüsseln versperrbar, oder Schiebetüren verbinden Badezimmer mit Boudoirs; Schlafräume sind durchwegs der Morgensonne zu gelegen. Die innere Haupttreppe des Ostflügels mit ihren Säulen und Balustraden führt durch fünf Stockwerke nach oben in den Zentralhof, nach unten mündet sie in Säulenkolonnaden und Wandelgänge, auf dass sich die Menschen hier im Freien und doch geschützt ergehen könnten. Achtzig Fuß lange Säulenhallen wechseln mit raffiniert intimer Raumkunst; ein oblonges Gemach teilen Säulen aus edlem Material, um ihre Basen laufen Alabasterbänke, wohl einst von Kissen bedeckt, bilden gemütliche Ecken mit rosigen Stehlampen und »Kopenhagener« Porzellan. Blaues und grünes Email, Gold und Bergkristall verkleiden die Wände des Thronsaals. Fast unübersehbar sind die Anlagen für Speicher, Vorräte, Banken, Safes, Sekretariate.
Starkes Gefälle im Terrain gab den großen, unbekannten Architekten Gelegenheit, hydraulische Künste in verzweigten Wasserleitungs= und Kanalisationsanlagen zu üben; die Terrakottaröhren, mit feinem Zement ausgekleidet, funktionieren heute noch ohne Fehl. Alle Einrichtungen, -vom Waschkasten abwärts, wirken mustergültig »englisch«. Dies aber gehört bereits dem rein Zivilisatorischen an, auch jene weiten zementierten Terrassen, von denen vielleicht wirklich die ersten Flieger starteten, denn bisher haben alle Funde derart lächerlich genau mit der Tradition gestimmt, dass niemand besonders erstaunt wäre, enthielten die bisher leider unentzifferten Bibliotheken auch darüber bestätigenden Bericht. Doch all das bleibt lediglich als Kuriosum zu werten, ist internationale Zivilisation, die aber können wir momentan besser als irgend jemand sonst.
Wer hingegen »chinesisch«, »persisch«, »mexikanisch«, »ägyptisch« sagt, meint ein ganz bestimmtes Formengut, unverwechselbar und unvergesslich, wenn erst einmal erfasst. So sagte man »minoisch« auf den ersten Blick und durfte es beglückenderweise sagen, denn arm an wahrhaft echten Formen ist die Welt.
Auch zu Phästos, im Süden der Insel, also abliegend von Knossos, ergrub die italienische Mission einen ganz ähnlichen Palast, den Evansschen Entdeckungen ebenbürtig, ihnen in einem überlegen: der Riesentreppe. Aus Sandstein, dreizehneinhalb Meter breit, steigt sie in edler Flucht zu den Propyläen hinauf. Leider erwies sich Phästos als völlig ausgeraubt. Um so feinere Funde ergab die Königsvilla zu Hagia Triada und der sogenannte »kleine Palast«, denn es gehörte zum Lebensstil um 2000 v. Chr., sich außerhalb der Metropolen für das Weekend auf dem Lande reizvoll intim anzubauen.  Das also waren die Herrensitze. In Gournia entdeckte dagegen eine Amerikanerin, Miss Boyd, auch eine ganze kleinbürgerliche Villenstadt. Die Häuser, meist zwei- bis dreistöckig mit zwölf bis achtzehn Wohnräumen, gleichen englischen Cottages, die Einrichtung war der königlichen im Stil verwandt, wenn auch bescheidener.
Menschliche Siedlungen gehen auf der Insel bis ins XII. Jahrtausend v. Chr. zurück, wie sich aus den sechsundzwanzig Fuß hohen Scherbenresten ergibt. Schon im V. Jahrtausend exportierte man fleißig eine handpolierte schwarze Tonware nach Ägypten, die sich in Gräbern der ersten Pyramidenzeit findet. Zum England der Ägäis wurde Kreta in der Mitte des dritten Jahrtausends, seine Gipfelblüte liegt um 1600, das Ende zwischen 1450 und 1400 v. Chr. Das Reich zerstört, die Paläste in Flammen, so geht die minoische Welt in ihrer Glorie jäh und gewaltsam zugrunde, denn alle Macht lag in der Kriegsflotte, bestimmt, Handel und Häfen zu schützen. Ihr Versagen brachte Tod.
Wie ein spätes Echo der Katastrophe, von der die brandgeschwelten Palastwände zu Knossos und Phästos berichten, sind die Worte Ramses III., in Fels gegraben zu Medinet Habu: »Die Inseln aber waren ruhelos, verstört untereinander.«
Wer diese erobernden Seevölker waren, ob artfremd oder von ähnlicher Mittelmeerrasse, abgetrieben vom Festland und selber fliehend vor einer Welle nordischer Wanderung, ist unbekannt. Wie aber jene fernen, geheimnisvollen Zauberwesen: die Minoer, selber waren, das wissen wir, bis an die Spitzen ihrer Nägel und Locken hin, genau. An den Wänden der Paläste wandeln sie als lebensgroße Gestalten, schwingen im Reigen durch den »Korridor der Prozession«, auf Miniaturfresken lachen und plaudern sie in Gruppen, sehen vom Altan den Sportfesten zu, stehen als Fayencefigürchen im heiligen Schrein. Damen, Damen, nichts als Damen, wie an der Riviera, überbekleidet, onduliert, in Stöckelschuhen, dazwischen ab und zu ein fast nackter Jüngling, Typus Leichtgewichtsathlet oder Eintänzer, glatt rasiert, mit dem Torso einer roten Raubameise. Weit und breit kein »ehrwürdiger Greis«. Die Sorte ist in Frauenreichen nicht geschätzt.
Männer erscheinen durchweg subaltern beschäftigt, als Pagen, Mundschenken, Flötenbläser, Feldarbeiter, Matrosen. Kein einziger König, Priester, Heros; was man anfangs, fast automatisch, auf halb abgeblätterter Freske für einen Herrscher hielt entpuppte sich schließlich als weiblich. Immer sind die Frauen Königinnen, Priesterinnen, Göttinnen, Herrinnen - nie Dienerinnen. Es war ein ungemein gepflegter, graziöser Frauentyp von selbstsicherer Unabhängigkeit der Haltung, in feinster Harmonie mit seiner Umwelt. Gazellengliedrig, diademgelockt, mit groß aufgeblühten, wimpernbeschwingten Augen, Näschen wie von Igeln, beweglich fein und ganz leicht aufgebogen. Ihre Appartements sind luxuriös eingerichtet, mit Badezimmern und allem modernen Komfort versehen. Beim Nationalsport, der heute noch die iberische Halbinsel, damals das ganze Mittelmeergebiet erfüllte: dem Stierkampf, trugen sie absatzlose Schnürstiefel und ganz kurze Sportröcke, bei Gartenfesten dagegen Schühchen mit Louis XV.-Absätzen, Panniers, lange Mieder, weite Hüte und gepuffte Ärmel. Daß aber sogar die »große Göttin« von Kreta ebenso onduliert auf Modeschau angezogen ist in ihren Heiligtümern, wirkt reichlich toll. Noch toller allerdings die große Mutter in Sporthosen, der neueste Fund, soeben publiziert und von Evans beschrieben, während diese Seiten in Druck gehen. Die Göttin war Patronesse aller nationalen Sportfeste, hatte als solche in der Arena ihren Schrein, wie eine »Fürstenloge«. In diesem stand während des sportlichen Kampfes ihre Gold-Elfenbein-Figurine mit nackten Armen und Beinen, der Sporthose eines Trainingsanzugs und einer Art goldenem Lumberjackett. Dies der »großen Mutter« neuester Aspekt.
Sie war die alleinige Gottgestalt, verehrt neben den Symbolen von Kreuz, Doppelaxt, Baum. Auf Kreta findet sich kein einziges männliches Idol, übrigens bis zur Bronzezeit auch in der ganzen Ägäis nicht. Nur auf manchen frühen Gemmen erscheint neben der weiblichen Gottheit zuweilen ein zwergisches Wesen, daktylenhaft, halb Spinnenmädchen, halb Sohn. Wie es in der minoischen Welt ausschließlich eine weibliche Gottheit gibt, so auch nur Priesterinnen in ihrem Dienst. Auf dem berühmten Sarkophag von Hagia Triada werden die Opfer und Kulthandlungen von Frauen ausgeführt, Männer sind bloß Musiker und Ministranten. In Kreta spielten die Frauen offenbar eine ebenso wichtige Rolle wie in Ägypten, und es mag gelegentlich zutage kommen, ist erst einmal die Schrift lesbar geworden, dass sie nicht nur in der Religion herrschten, dass vielmehr die Führung des Staates gleichfalls zum großen Teil in ihren Händen lag. Von der »Prozession der Königin« ist leider nur ein Teil erhalten. Er zeigt die Zahlung eines Tributes, die Abordnung wird von zwei Frauen in reichen Gewändern empfangen.
Klidemus überlieferte auch, dass die Krone auf Ariadne überging, die später nach der Versöhnung mit Theseus einen Friedensvertrag zwischen Kreta und Athen schloss. Die ersten lesbaren Gesetze an der Wand von Gortyna sind erst aus später griechischer Zeit (VII. Jahrhundert), also bereits patriarchal, doch mit starken Resten älterer, mutterrechtlicher Bräuche, wie dem matrilokaler Ehe.
Lykien als alte Kolonie hat seine Frauenschaft sicher von dem »lieben Mutterland«, wie Kreta hieß, mitgebracht, denn Minoer, Lykier, Karer, Lydier, auch alles, was die Griechen Pelasger und wir Mittelmeerrasse nennen, scheint eines Stammes zu sein, dessen Urheimat jetzt im nördlichen Afrika gesucht wird, eine Menschenart, den weißen Berbern und hellen Mauren ähnlich.
»Im Aufgang dieser ägäischen Zivilisation sendet die Frau durch die Religion hin ein so strahlendes Licht, dass männliche Gestalten ganz ignoriert und Schatten bleiben«, sagt Professor Mosso. Nach ihm hat der kretische Kult zweifellos bis zum Ende seinen gynaikokratischen Charakter bewahrt. Lange nach dem Sturz der minoischen Macht fanden die von Norden her eindringenden griechischen Stämme noch immer eine einzige große Göttin, fremdartig, feierlich gepflegt, in ihren kleinen Schreinen vor und liegen von ihr, die sie Rhea nannten, das Zeuskind gebären und in Kreta erziehen, ließen den gealterten Zeus aber - nun kommt das Sonderbare - dort auch sterben. Die Insel trägt das Grab des höchsten griechischen Gottes, der nur als vergänglicher Sohn der ewigen Mutter gilt. So stark ist die Bodenseele geblieben.

LESBOS

Der Mythos spült einen abgerissenen Kopf ans Land. Auf einer Leier treibt er übers Meer daher, metallische Locken haften spiralig zurückgeworfen in den Saiten, gallertige Augäpfel starren schon das Nichts an, die Lippen aber spaltet ein wundervoller Gesang, so demütigend vollkommen, so erbitternd überirdisch, dass die Mänaden oben in Thrakien, durch seine schiere Harmonie in ihrem orgiastischen Unmaß gestört, den Sänger Orpheus in Stücke zerrissen hatten. Die Lesbier auf ihrer Insel aber sind götternah, aus prä-äolischem Blut, weiser noch als die Arkadier, älter noch als der Mond. Ehrerbietig empfangen sie das erstorbene singende Haupt und legen es zu Grab.
Der Kopf im Boden trägt Frucht. Sehr langsam. Längst ist rundum taghelle Geschichte mit Defizit und tätigem Geschrei, da steigt aus dieser Erde ein sinnlich-übersinnlicher Dämon ins Dasein. Sein Name wird auf der Welt zu einem Klangsymbol, das in brennendere Räume der Seele zieht, in tiefere Lebens- und Todesspannung hinein: Sappho, oder äolisch weicher: Psappha. War es ein Pseudonym? Sappho bedeutet Lapislazuli.
Zweieinhalb Jahrtausende sind an diesem Namen vorübergeglitten, er steht hoch oben, wie mit Flügeln gegen die Zeit gestemmt, sehr groß und ziemlich leer, langsam blässer auch. Denn das, wofür er steht, hat sich wie ein Edelgas verströmt; alle höheren Organismen wandeln in ihm, ohne es zu wissen, von ganz woanders her, im Rückstrom über Um- und Abwege hat es sie oft und oft unerkannt durchdrungen als längerer Atem, beschwingterer Rhythmus, Weite und Wandlung. Bei Solon fängt das an. Sein Nefffe singt nach Tisch zum Wein ein Gedicht; etwas ganz Neues, eben kommt es in Mode unter einer Elite junger Athener. Der achtzigjährige Solon beginnt zu zittern, bittet den Neffen, ihn, der nahe dem Tod, doch das Gedicht noch zu lehren, mit seinem Klang im Ohr möchte er sterben. Pindar kommt unter Sapphos Einfluss, er imitiert sie nicht  nur, übernimmt von ihr die »Goldlust«, jenes Umspielen des Wortes Gold in Klang und Sinn, schreibt auch wörtlich eines ihrer vielen hundert Epigramme ab. Der zweite Dichter ist eben schon der erste Plagiator. von ihr hat die griechische Tragödie, haben Sophokles und Euripides die mixolydische Tonart entlehnt als besonders sinnlich und erregend. das Wort vom »bittersüßen« Eros haben Plato und die gesamte Weltliteratur übernommen. In unzähligen Paraphrasen geht durch die Lyrik und Epik   ganz Europas, was sie in Liebeshymnen sagt: »Eros, Löser der Glieder, die bittersüße Qual, das Ungetüm, die wilde Bestie, der keiner widerstehen kann, verfolgte nie ein wehrloseres Opfer...« Denn Eros erschüttert ihr alle Sinne »wie der Sturm, der sich im Gebirge auf die Eiche stürzt«.Sie ist es, die Sokrates im Gastmahl durch den Mund der Mantineerin Diotima über die Mysterien der Liebe belehrt. Sapphisch ist die Klangfarbe der platonischen Eros-Philosophie: »jeder bleibt im Schatten und ohne Ruhm, den der Gott nicht berührt hat«. Im Phädrus nennt Sokrates »Sappho die Schöne« an der Spitze derer, die sein volles Herz wie Ströme ein Gefäß erfüllt und ihm den Stoff zu seiner begeisterten Lobrede auf Eros geliefert hätten. Die Adonisgesänge durch die Vöker und Zeiten hin gehen auf sie zurück den Stil ihrer Oden hat Euripides unter den Dramatikern, Isokrates unter den Rhetoren zuerst kopiert. Theokrit, Catull, Vergil, Horaz sind ihreImitatoren, in England, um nur die wichtigsten zu nennen: Swinburne, Byron, Tennyson, Keats, William Morris, Robert Burnes, Shelly. Swinburne ist »ganz in Sappho »Ich halte mit der gesamten griechischen Tradition dafür, Sappho ist über alle Frage und Vergleich der größte Dichter, der je gelebt hat. Äschylus war der größte Dichter und Prophet zugleich, Shakespeare der größte Dramatiker unter den Dichtern, aber Sappho ist einfach nichts anderes, nicht mehr und nicht weniger als der überhaupt größte Dichter, den es je gegeben hat. Das wenigstens ist das aufrichtige und schlichte Bekenntnis meiner lebenslangen Überzeugung« Plato  nennt sie »wunderbar«, Lukian den »bezaubernden Ruhm der Lesbier«, Strabo sagt von den übrigen Genies des genialen sechsten Jahrhunderts. »Sappho schlägt sie alle.«
Und dann stürzen sich Grammatiker Lexikographen, Rhetoren, Kommentatoren, Metriker auf das, was »die kleine, ins Unendliche hinausgespannte Gestalt« von innen brennend mühelos aus sich herauswirft; erkaltet und zerhackt bauen sie es in die Sprache ein. Plutarch erzählt, dass Erasistratos, ein damaliger Psychoanalytiker, die Diagnose seiner Patienten nach den Erossymptomen bei Sappho stellte. Eines ihrer Lieder ist die Vorform von »Gretchen am Spinnrad«, italienische französische, spanische wie moderne amerikanische Lyrik sind von ihr beeinflußt. Sie aber von niemanden, Sie lehnt sich an keinen an, entlehnt von keinem. Hat alles aus sich selbst. »Jedes Gedicht ist eine unmittelbare Inspiration, jeder Vers ein Liebesbrief, jeder Brief ein lebendes Geschöpf mit heißem Atem.« - »Die Charis ihres Wesens, daß alles so einfach, so durchsichtig, so unstilisiert ist und doch so schön, das ist das Wunderbare und das Sapphische.« (Wilamowitz)
Der Name wächst und wächst. »Es war der Ruhm, der mit der Zeit sich um ihn legte wie ein Feierkleid.« Doch wo ist das Oeuvre zu ihm? Buchstäblich in Scherben und Fetzen, auf Vasensplitter gekritzelt, auf Papyri verwischt, nur »stürmische Fragmente«, um solches Leben auszumessen, denn der Vorsehung hat es in ihren unerforschlichen Kram gepasst, uns das öde Gewäsch der Grammatiker, Lexikographen, Rhetoren iiber sie zu erhalten, statt sie selbst. So ein Typ schmiert dann in Alexandrien 4000 Bücher über Bücher, erhält den Spitznamen Chalkenteros: ein Mann von eisernen Eingeweiden. Und wenn das Gezücht wenigstens noch reichlich Originalzitate gebracht hätte, aber nein, alles nur »Kommentare«. Dabei gab es doch so viel: noch zu römischer Zeit zwei Luxusausgaben, eine dem Inhalt, die andere den Metren nach geordnet; kultische Hymnen, Oden, heroische Mythengesänge, die Hochzeits-, Trink-, Liebes-, Totenlieder. Neun Bände Lyrik und Elegien, ungezählte Epigramme, von denen jetzt Ungewissheit besteht, welche von ihr, welche ihr nur zugeschrieben sind; auch eines über sie:»Weich sind Sapphos Küsse, weich die Umarmungen ihrer leichten Glieder, alles ist Weiche an ihr, doch ihre Seele unnachgiebiger Diamant. Denn ihre Liebe endet an ihren Lippen. Der Rest gehört ihrer Jungfräulichkeit an. Wer ist's, der das ertrüge? Doch wer es ertrug, ertrüge dann leicht das tantalische Dürsten.« (Zitiert nach Robinson)
Den gesündesten Instinkt bewies auch hier, wie immer, Ägypten. Mit seinem unerschütterlichen Sinn für Echtheit legte es auf den Import von Grammatikern, Rhetoren, Kommentatoren oder sonst Leuten mit eisernem Sitzfleisch aus Hellas wenig Wert, sammelte dafür die Originale äolischer Dichtung mit ihrem Ausbruch von Temperament und Tiefe, der verglichen Ionisches, selbst Dorisches schal erscheint. Dank so gutem Geschmack und trockenem Klima haben sich dort relativ viele sapphische Fragmente erhalten. Mit diesen neuen Funden aus dem letzten Jahrzehnt sind sie jetzt im ganzen auf 191 gestiegen. Von Attika konnte dagegen nicht viel erwartet werden. Kaum zweihundert Jahre, nachdem Sappho dem Solonkreis als holdes Wunder erschienen war, stand sie nur noch als komische Figur »pasquillartig« verzerrt auf der Bühne der Konjunkturschreiber. Der Theatermob von Schnodder-Athen war damals bereits viel zu ungebildet geworden, die schöne äolische Mundart überhaupt zu verstehen, auch viel zu faul, sie verstehen zu wollen, überdies voll Todeshass gegen jede lebendige Tradition. »Wer aber auch Verse nicht mehr versteht, versteht immer noch den Skandal.« In sechs Komödien, »Sappho« betitelt, wird sie verhöhnt, weil sie noch immer keine Männer, in zweien, »Phaon« betitelt, weil sie angeblich immer noch Männer liebt.
Weniger verlottert, dafür philiströser, an platter Ahnungslosigkeit, aber der athenischen Komödie verwandt, wirkt Ovid, wenn er Sappho in Sachen Phaon, bei dieser, übrigens frei erfundenen, Herzenswendung dem Männlichen zu, solche Unmöglichkeiten sagen läßt, wie:

»Pyrrhas Töchter ergötzen mich nicht, noch zieht das übrige
Heer lesbischer Mädchen mich an,
Anaktoria gilt mir nichts, nichts Kydno die weiße,
Meinen Augen gefällt Attis wie früher nicht mehr,
Noch die Hunderte sonst, die ich liebte - nicht ohne Verbrechen.
Was sich so vielen ergab, hast du, o Frevler, allein.«

»Quas non sine crimine amavi«, verbrecherisch wird doch Sappho selbst ihres Lebens Tat, Ruhm, Sinn: den Thiasos, die heiligen Mädchenmysterien, nicht nennen, welchen Ritus - Bräuche sind ja Taten des Blutes - sie ihnen auch gegeben haben mag. Ein Geschöpf mit ihrer Ehrfurcht vor jeder Flammenform! Fehler am Ort war noch selten ein »cant«. Er liegt schon halben Wegs zu der famosen deutschen »Sappho für Jungens«; da wird durch Umwandlung der begehrten Liebling in in einen Liebling der Aphrodite-Ode erst gymnasialfähig gemacht. Sogar die recht tüchtige Geibelsche Übersetzung trägt diese puritanische Korrektur, um so schwerer erträglich bei einem Aufrausch derart einfach, sinnlich und völlig frei. Kein einziges Werbe- oder Liebeslied lässt sich im Original auf einen Mann deuten, bis auf jenes von Tucker übersetzte Fragment, auch das eigentlich nur Fragment eines Korbes:

»As friends we'll part
Winn thee a younger bride,
Too old I lack the heart
To hold thee at my side.«

Deutsch klingt es zu behäbig. Hier liegt ja das Grundübel. Übersetzungen schwellen auf durch Hinzufügen oder verarmen durch Ändern. Fast unmöglich, etwas an Wohllaut so rhythmisch und sublim Geordnetes wie ein sapphisches Gedicht in andere Sprachen hinüberzuschmeicheln. Bleibt das Wort genau, so ohne Musik, ist jedes Wort klanglich in Harmonie mit andern Worten, so überdehnt sich der Rhythmus, sind Rhythmus, Harmonie und Klang beisammen, verliert sich der Sinn. Sappho selbst dachte ja nie daran, sich hinzusetzen, um zu »dichten«, übermächtige Gefühle lösen sich von ihr, die wechselnde Erregung ihres Atems wird zum Versmaß, jede Strophe Erfindung der Natur.
Sonderbarerweise gelingen Übertragungen noch am ehesten ins Englische, das ja in zwei beinahe getrennte Sprachen zerfällt, eine fürs Geschäft, eine fürs Gefühl. Wer die flotteste Offerte vom Fleck weg diktiert, versteht noch lange keine einzige Zeile von Longfellow oder Burns. Bei solch reinlicher Scheidung kann sich nichts, kahl abgezweckt auf business, mit der über und über schwebend verzweigten Empfindung mischen. Ein Vorteil für beide Teile. Doch auch in einer Sprache besonders nuancierter Lyrismen braucht die Übersetzung 34, 42, bestenfalls 26 bis 24 Worte für die erste Strophe der ersten sapphischen Ode, wo das Original mit 16 auskommt.
Höchstens Fragmente tropfen manchmal Wort für Wort herüber, so heißt es von der großen Zikade:

»And clear song from beneath her wings doth raise,
When she shouts down the perpendicular blaze
Of the outespread sunshine of moon.«
(Edmonds)

Nun ein Bruchstück deutsch und englisch, die leere Umarmung einer durchwarteten Nacht:

»Der Mond ist untergegangen
Und die Plejaden.
Schon ist Mitternacht
Die Stunde verging,
Und ich liege allein..«
(W. Walther)

»Sunk is the moon,
The Pleiades are set
Tis midnight; soon
The hour is past and yet,
I lie alone - -«
(Tucker)

Der Oxyrhynchuspapyrus, die Entdeckung von 1922, enthält auch ein Stück der lange gesuchten Biographie, bestätigt frühe Vermutung, stützt Angaben aus zweiter Hand, denn immer drängt es, zu wissen. Wer steht in diesem unermesslichen Namen? Was ist sein konkretisierter Kern? Und doch, hat es wirklich so viel Sinn, den Leuten, wenn auch mit Recht, diese große Beleberin der Herzen als Präsidentin des Ersten Internationalen Frauenklubs vorzustellen, worauf jetzt andere Präsidentinnen internationaler Frauenklubs sich entweder ärgern werden, bei gleicher Stellung weniger berühmt zu sein, oder sich freuen, weil Sappho auch nichts anderes war.
Auf Lesbos zwischen 650 und 630 geboren, Tochter eines Patriziers und reichen Weinhändlers, lebte sie trotz Reisen und einer Verbannung den längsten Lebensteil dort in der Hauptstadt Mytilene. Die Insel trägt erst uralt eingewurzelte, als zweite Schicht mit den Äolern eingewanderte Gynaikokratie, und am Aufgang der Geschichte wirft das Schicksal auch noch als dritte Schicht einen silbrigen Schwarm Amazonen über Lesbos hin. Nicht feindlich. Fast am Ende ihrer weiten Fahrt, sind sie schon völlig reif und süß geworden vor lauter Siegen, zerstören nicht, da ihnen niemand widersteht, gründen vielmehr die Hauptstadt, geben ihr den Namen der Königin-Schwester: Mytilene. Ziehen heim. Nichts hält lokale Ortstradition so wert, wie als Amazonengründung zu gelten.
Ganz jung scheint Sappho verheiratet gewesen zu sein. Ob sie sich wie die Frauen im benachbarten Lydien, wieder scheiden ließ oder, wahrscheinlicher, früh Witwe wurde, ist unbekannt. Jedenfalls gab es eine Tochter Kleis. Vom Mann ist nie die Rede, wichtiger waren drei Brüder, wie stets bei dieser Sinnenrichtung. Es soll ja auch Inzestlieder gegeben haben. Zornige Sorge macht vor allem Charaxus, der älteste. Er übersiedelt als Importeur nach Naukratis, einer Hafenstadt im Nildelta, gibt dort zu viel Geld aus für jene weltberühmte thrakische femme entretenue, Doricha, die sich »im durchsichtigen Hemd an ihn drückt mit ihrem (falschen?) Toupet«. Sapphos Willkommenbrief bei seiner Rückkehr ist die neu entdeckte sogenannte Nereidenode, von einer welligen Zornes- und Meeresstimmung, wie sie leider keine heutige Sprache wiedergeben kann. Die Wirkung auf den Bruder scheint Null gewesen zu sein, denn ein anderes zerrissenes Lied endet: »Und sie prahlten mit der Botschaft, dass Doricha zum zweitenmal in das ersehnte Liebesverhältnis getreten sei.« Das Fragment: »Denen wir das Liebste getan, die verletzen uns am tiefsten«, kann als reglementmäßige Lebenserfahrung nicht mit Sicherheit gerade auf Charaxus gedeutet werden.
Da griechische Männchen-Eitelkeit sich aus dem erotischen Schicksal der berühmtesten Frau einfach nicht wegzudenken vermochte, so gab man ihr alle bewährten Dichter weit und breit zu Liebhabern, auch Anakreon, obwohl er gut ein halbes Jahrhundert später lebte. Einer der »sieben Weisen« hat allerdings Macht über sie gehabt, doch nicht als Mann, Pittakus, Tyrann von Lesbos, verbannte Sappho nach Sizilien, ob aus politischen Gründen oder als Tribade, ist unbekannt.
Das war dann allerdings etwas anderes als gelegentliche Abstecher nach Sardes hinüber, dem damaligen Paris, um neue lydische »Créations« zu probieren, Parfüms und Schuhe einzukaufen. Unter der Amnestie 581 durfte sie wohl zurück, denn ihr Grab auf Lesbos wird oft erwähnt. Es gibt eine Tradition, durch einen englischen Reisenden bewahrt, dass ihre Aschenurne sogar noch in der türkischen, dem Schloss Mytilene eingebauten Moschee stand.
Aus der Verbannung stammt eine der neu gefundenen Hymnen; ein einziger Sehnsuchtsschrei nach Lesbos, Insel der Leidenschaft mit prachtvoller Rasse und Schönheitskonkurrenzen seit Homer, wo »der Traum des Lebens am schönsten geträumt wurde«.
Heute noch sitzen die Fremden begeistert im Café, trinken den berühmten spottbilligen Wein und bestaunen die Frauen. Schon Herodot entzückt das Klima, kurze, bissige Winter, lange Frühlinge voll Veilchen, da Kinder in Rosenknospen beißen wie im Blumenparadies Grasse an der Riviera. Aus den drei Ecken der triangelförmigen Insel steigen porzellanweiße Klippen ein paar tausend Fuss in die Höhe, von zwei Fjorden durchschnitten. Oben streicht das ganze Jahr champagnerfrische Luft über die Felsen voll Thymian, Anemonen und Rosmarin, mit Tempeln, Pergolen, Villen bebaut. Unten in den warmen Tälern stehen wilde Granatäpfel auf Zyklamenwiesen. Nach dem Schwimmen im warmen, fast flutlosen Meer, dem Baden in kühlen Quellen, Nacktkultur in den Turnhallen werfen sich die müden Mädchen, aus aller Herren Ländern Sappho anvertraut, auf blumige Felder voll Tau.

»Um die Wasser des Teiches
Rauscht es kühl durch Quittenzweige,
Von den raschelnden Blättern rieselt
Traum zu Boden.«
(Fragment)

»Wenn du ermattest, bette ich auf weiche Lager deine Glieder«  »Schwarzer Schlaf ist auf die Augen ausgegossen« »Euch schönen Mädchen ist mein Sinn unwandelbar« - »Wohlgestalteter ist Mnasidika als die zarte Cyrinno«  »Arignota gleicht dem rosenfingrigen Mond« - »komm zurück, meine rosenknospige Gongyla in deinem milchweißen Cape« - »Wohl lehrte ich Hero, die Schnellfüßige« »Übermütiger als dich, Geliebte, habe ich nirgends eine gefunden«. »Nacht aber ist ein Ding mit tausend Ohren.« Eines nah an Anaktoria drüben in Lydien, und dann heißt es in memoriam Anaktoria:

»Erinnerung an sie, deren scheuer Schritt in der Ferne noch holder klingt,
Deren Antlitz unsichtbar strahlender glänzt als Blitz und Streitwagen,
Als die dröhnende Spur des glitzernden Fußvolkes, Wie Lydiens Macht sie entfaltet.«

Von Sapphos Erscheinung selber bestätigt das neue Biographiefragment nur alte und andere Tradition, nämlich dass sie körperlich armselig dran gewesen sei, in zu kurze Glieder eingeschlossen, »wie die winzige Nachtigall in missgestaltete Flügel« - »Verächtlich und hässlich, weil klein und brünett von Haut«, was damals wirklich ein Unglück war, denn hoch, schlank, licht bleibt der einzig anerkannte Typus jenes »devinely tall, devinely fair«, nicht nur in Griechenland, dem Insel=reich und den Kolonien, auch in ganz Kleinasien, sogar in Ägypten. Xanthos = blond steht im Altertum schlichthin für schön; Achill, Helena gelten dafür, in Griechenland, Lydien, auch im Kreis der Sappho ist daher sehr viel von Holzasche und Pflanzenfasern als »Blondin=Mittel« zum Haarfärben die Rede. Liebe aber ist ein Mysterium und eine lebendige Kraft. Obwohl klein und brünett, was damals ein Stigma war, gilt Sappho ihren Mädchen als »arbitra elegantiarum« und Wesensbildnerin in allem: »Ich liebe feines Wesen, und mir hat Eros der Sonne Glanz und Herrlichkeit geschenkt.« Sie haßt Weihelose und Unbekränzte, bejaht als große Dame Eleganz, die Ausgewogenheit der letzten Anmut, duldet nur Bestes in edelstem Material um sich, benützt Gold- und Elfenbeingefäße für Parfüms und »königliche Salbe«, trägt wollüstig feine Pumps, Taschentücher aus Phönikien; berauscht von den lydischen »Creations«, erfindet sie selber neue Kleidungsstücke: eine kurze durchsichtige Casaque, »Beudos« genannt. Es gibt da eine Menge Fachausdrücke. Schade, dass Jean Patou oder Madeleine Vinnet nicht äolisch-griechisch können, um zu helfen, denn in der preußischen Akademie der Wissenschaften scheint man zuweilen etwas ratlos. Sie trägt nicht nur wundervolle Kleider wundervoll, sie lehrt auch ihre Mädchen, sie wundervoll zu tragen. Schleppen sind die neue Vogue. Andromeda, ein Intellektualtrampel, dabei Führerin einer gegnerischen Schule, rafft ungraziös den Rock um die Knöchel und wird deshalb von Sappho ironisiert. Trotzdem geht Attis, ein besonderer Liebling, zur Rivalin über. Sappho sucht die Abtrünnige zurückzugewinnen durch Erinnerung an zärtlich gute Zeit: »Sappho, ich schwöre, kommst du nicht jetzt, so will ich dich nicht mehr lieben. Steh auf, leuchte uns, löse deine geliebte Kraft vom Bett und wie eine Lilie neben der Quelle bade dich, hebe das feine Gewand aus Chios - und Kleis soll von der Plätte Safrangewänder bringen, lass einen Mantel dir überwerfen und dich mit Blumen kränzen. Und dann komm, süß von all der Schönheit, mit der du mich tollgemacht!
Und du, Praxinoa, röste uns Nüsse, damit ich den Mädchen ein süßeres Frühstück- geben kann, denn ein Gott, Kind, hat uns eine Gnade gegeben. An diesem selben Tag noch hat Sappho, die holdeste der Frauen, geschworen, dass sie ganz gewiss nach Mytilene zurückkehren wird, der liebsten Stadt, zu uns zurückkehren, die Mutter zu ihren Kindern. Liebste Attis, kannst du all das vergessen, was in den alten Tagen war?« Attis aber hat es bei Andromeda offenbar vergessen.

»Frischer Tau ist ausgegossen, üppig  prangen
Rosen und weiche
Gräser und blühender Honigklee.
Vielfach wandelnd in Erinnerung ein die sanfte
Attis, legt sich schwere Sehnsucht
Auf die feine Seele, auf das Herz das Leid.«
(Nach W. Walther)

Von Plutarch bis Bachofen und Wilamowitz ist es üblich, auf die Parallele zwischen Sokrates und Sappho zu verweisen. Was die umworbenen Epheben Alkibiades, Charmides, Phädrus zwei Jahrhunderte später für ihn, waren Gyrinno, Anaktoria, Attis für sie, und ihren Rivalinnen Andromeda und Gorgo entsprechen in den Dialogen Protagoras, Prodikos, Gorgias, mit denen Plato seinen Helden, um die Seele der Jünglinge ringen läßt, völlig hingegeben, besinnungslos vor Dämonie, weil Liebe, wenn mit einem wenigen schon an »Besonnenheit verdünnt, nur Sterbliches sparsam auszuteilen vermag«. Wie Sappho, weiß später auch Sokrates um die höhere Göttlichkeit des Liebhabers als des Geliebten, »weil in jenem der Gott ist, nicht aber in diesem«. Wie sie treibt es ihn, in körperlich Schönem Schönes auch aus anderm Reich zu zeugen. Hier nun schlägt jäh die Ähnlichkeit um: Sappho zeugt in der Seele, Sokrates aber im Geist, und zwar dialektisch, selber nicht immer frei von den Methoden der so heftig verpönten Sophisten. Sie aber formt und erhöht nicht aus dem Verstand, vielmehr aus der Essenz des Mysteriums selber heraus den Mädchenkindern ihr Dasein. Nicht das Geistige ist das erste, sondern das Seelische, dann das Geistige.
Erinna, Gyrinno, Dikta, Attis, Euneika, Analztoria, Thelesippa, Megara, Arignota, Hero, Kydro, Agallis, die ganze wundervolle Meute, hetzt sie mit dem »Wahnsinn des Herzens« auf die Fährte der Vollendung. Nichts an den schönen, noch tierhaften Geschöpfen darf zurückbleiben. Und da auf diesem Weg der Selbstvollendung auch der Mann steht, trieb sie die Geliebtesten von sich weg zu ihm, richtete ihnen die Aussteuer, schwelgte mit ihnen in den feinen Schleierstoffen, wählte mit ihnen Schuhe, Stickereien, Elfenbeinnecessaires, Goldschmuck, das holde Drum und Dran. Dann hoch »über dem Schicksal sang sie den fernen Lieblingen ihr Brautlied, erhöhte ihnen die Hochzeit, übertrieb ihnen den nahen Gemahl, damit sie sich zusammennähmen für ihn wie für einen Gott und auch noch seine Herrlichkeit überstünden«. (Rilke) Manchmal freilich, für Augenblicke, wirft es sie hin, die tapfere Hymne zerklirrt. »Der Mann macht mir den Eindruck Götterkraft zu haben, der dir gegenübersitzt und in deiner Nähe auf deine süße Stimme und dein reizendes Lächeln hört... die Zunge ist mir zerbrochen, feines Feuer überläuft die Haut, die Augen sind versunken, mit Macht dröhnen die Ohren. Und herunter strömt mir der Schweiß, und Zittern fasst mich ganz, blaßgrüner noch als Gras bin ich, und nur wenig fehlt, dass ich sterbe, Agallis. Aber alles muss ertragen werden...«
Es ist die Tragik im Wesen der gleichgeschlechtlichen Liebe selbst. Wie dem echten Männerhelden die Jünglinge abwandern zur Frau, so wechseln der echten Frauenheldin die Mädchen hinüber in die Umarmung des Mannes. Die mit Haltung worauf es eben ankommt - und willig zu tragende Tragik. Hier steigt aus dem Frauenreich, der lesbischen Dreiecksinsel, ein Wirbel bis zur Verstirnung hinauf, sein Sinnbild ist Phaon, der »Glänzende«, ein Sterndämon, wie Wilamowitz meint, der nach Westen in schöne Untergänge zieht, ein adonisartiges Geschöpf, Begleiter der Aphrodite. Adonis aber wird von der Göttin, um ihn für sich zu bewahren, unter Lattich verborgen; die Wirkung des Lattichs ist gegen aphroditische Potenz gerichtet, »so welkt er ihr selber ab«. (Wilamowitz) Lesbische Liebe »ist Liebe zu Phaon, dem schönen, dem ewig kalten«, das Herrlichste bleibt unfruchtbar im vulgären Sinn, wird »Eros der Ferne«. Wie das Satyrspiel stets die Tragödie begleitet, so gibt spätere Legende dem Fährmann Phaon als Geschenk der Aphrodite in einem Alabastertiegel, das Mittel ewiger Schönheit. Alle Weiber werden toll nach ihm. Er rettet sich vor dem Ansturm hinter Türen, immer neue Türen, jede von einem sehr potenten Dämon bewacht, an dem die Frauen erst vorüber müssen. Sappho, ebenfalls liebestoll, rettet sich aber, der Sage nach, durch den Sprung vom Leukadischen Felsen in das Meer des Vergessens. Wieder zu andern Zeiten wurde dann dieser Leukadische Felsen ein Stück Sächsische Schweiz des Gefühls. Es gehörte zur Mode, sich als Heilmittel gegen unglückliche Liebe von ihm zu stürzen. Allerdings mit Schwimmgürtel und viel angeklebten Federn auf den Armen, um Sturz und Anprall zu dämpfen. Unten wartete immer schon eine Flottille von Kähnen auf die Lebensmüden; die Selbstmörderrettungsindustrie blieb lange Zeit ein blühendes lesbisches Geschäft.
Ein einziger Dichter reicht annähernd an Sappho heran - Anakreon, »der Krieger, Trinker, Erotiker«. »Knabenlieder zur Leier singend, stolperte er umher«, denn bei Wasser ist noch niemandem etwas eingefallen, und preist Dionysos: »Herr, den Eros, der Jungstier, und die blauäugigen Waldmädchen und die purpurne Aphrodite umtanzen, auf den Gipfeln des Gebirges, da du weilst!«  »Nun wirft mich Goldhaar Eros mit seinem Purpurball und fordert mich auf, mit der Dirne im bunten Schuh zu tanzen.« Gut, als Erfahrener, auf der Höhe des Lebens, weiß er die Jugend zu kirren. »Thrakisches Füllen, was fliehst du mich ohne Mitleid mit scheuem Seitenblick, du scheinst mir noch nichts Ordentliches zu verstehen. Glaub mir, ich könnte dir den Zaum richtig anlegen, mit festem Zügel dich an das Ziel der Bahn zu lenken!« Alternd aber fürchtet sich das müde, große Herz: »Da treibt mich wieder Eros mit allen Lockmitteln ins Netz, dem man sich nicht entwindet; und sein Blick unter den langen Wimpern ist so schmelzend, ja, ich zittre vor seinem Kommen wie das sieggekrönte Rennpferd, wenn es altert, ungern mit dem schnellen Wagen auf die Rennbahn geht.«
Sie, die große Liebende, aber wird nie schwach, fürchtet die ewigen Abschiede nicht, flüchtet nie in die Feigheit ausgeflachter Gefühlslagen.

»Wir wissen es wohl, Sterblichen ist nicht vergönnt
Ihres Daseins Wonne zu halten, doch süßer noch scheint
Leidvolle Sehnsucht nach verlorener Liebe
Als blasses Vergessen einstigen Glücks.«

Nie bricht sie der Flamme die Treue, mag sie ihr auch Haus und Habe verbrennen. Doch das Feuer selber wandert weiter unbeständig hier, goldrot über Pindar, der als Greis in den Armen eines schönen Lieblings stirbt.
Unter den neuen Fragmenten ist ein Dialog mit Gongyla, »dem Knöchelchen«, über den Tod. Sappho hat geträumt, Hermes als Todesbote sei gekommen, sie auf die elysische Seite des Mondes zu führen, wo sich die Seelen auflösen wie die Körper in der Erde. Ihr ist es recht:

»Nicht mehr lohnt mir das Leben,
Seit Liebe mich zu verlassen beginnt,
Bereit bin ich zum Tod
Trotz anderm Gewinn an Reichtum und Ruhm,
Nur bitte ich zu meiner Stunde, dass du (Hermes) mich
Pflanzest in das tauige Tal, um wieder aufzublühn vielleicht
In Schönheit und Duft, der Liebe herbeizieht,
Doch mit freundlichem Geschick
Nicht unedle, sondern große Seelen allein.«

DIE ZWEI

Goethe sagte einmal, die Sophokleische Antigone sei für ihn dadurch verdorben, dass alles nur für den Bruder geschieht, statt für einen Gatten oder Geliebten. Notwendigkeit, also Tragik, fehlte daher für seinen Geschmack. Das Majoritätsurteil eines männerrechtlichen Jahrhunderts, sonst nichts! Sehr lehrreich in seiner zeitlichen Enge, gerade bei einem sonst so kordial umfassenden Geist. Geist kann eben beliebig erweitert werden, weil er nichts mit Temperament zu tun hat, nicht aber Axiome des Gefühls, und um diese geht es hier.
Darius, doch auch kein krummer Hund, empfindet gerade umgekehrt. Diese Gegenüberstellung stammt von Briffault, die folgende Erzählung von Herodot: Die Frau des Ithaphernes stand schluchzend vor dem Herrscher nachdem ihr Gatte und die ganze Sippe des Hochverrats überwiesen worden waren. Darius ließ ihr sagen, er schenke ihr das Leben einer ihrer Angehörigen, damit sie nicht ganz vereinsamt bleibe, sie möge, wen sie wolle, von den Gefangenen wählen. »Wenn mir der König nur das Leben eines einzigen gewährt, so wähle ich meinen Bruder«, erwiderte sie ohne Zögern. Darius war über diese Antwort so entzückt, dass er ihr auch noch das Leben ihres ältesten Sohnes schenkte. Der Perserkönig stand eben dem Mutterrecht sehr nah; diesem gilt ein Bruder als der einzige Mann, der gefühlsmäßig zählt, und auch nur um seiner uterinen Ebenbürtigkeit willen. Dem persisch-iranischen Blut des Darius waren die Gesetze der heiligen Geschwisterehe vertraut, Zend Avesta und Ahura Mazda empfehlen sie als besonders lobenswert, und sein eigener Harem enthielt daher Schwestern. Sie gilt als tiefste aller möglichen Beziehungen zwischen Personen verschiedenen Geschlechts, darum ging im amerikanischen Nordamerika die Schwester dem heimkehrenden Krieger entgegen, nicht die Frau, und ihr schenkte er das Liebste aus der Beute. Sie ist nicht »tabu«, sondern einfach heilig und vertritt überall in primitiven Gesellschaften an Autorität die Stammutter.
In Samoa heißt tamasa=heiliges Kind. In Polynesien, auch wo keine weibliche Erblinie besteht, gilt der Schwester des Häuptlings die höchste zeremonielle Verehrung. Wenn ein Hottentotte einen Sklaven peitscht, braucht dieser nur den Namen von seines Herrn Schwester zu rufen, so kann er nicht mehr geschlagen werden.
Die Frau ihrerseits gestattet bei Gynaikokratie männliche Einmischung nur in Gestalt eines Bruders, weil er der Ehre gleichen Mutterschoßes teilhaftig ist, daher die Vorzugsstellung des Mutterbruders als Übergangsstufe von Mutter- zu Vaterrecht und die Gradation der Onkel; nur der uterine kann Vormund der Neffen und Nichten werden; wo die Schwester ihn nicht selbst heiratet, gelten er oder sein Sohn als ideale Gatten für ihre Tochter, Ursache der so weit verbreiteten Verbindung von Onkel und Nichte, Cousin und Cousine, wie bei Westhamiten, Beduinen, Tuaregs, überhaupt in ganz Arabien, wo früher Bruder-Schwester-Ehe die Regel war, und durchaus nicht aus ökonomischen Gründen, vielmehr oft gegen den materiellen Vorteil.
Unaufhörlicher Inzest durch Verbindung mit Vettern ersten Grades gilt als Ideal auch in großen Teilen des prä-arischen wie arischen Indiens, bis in die höchsten Kasten hinauf. Kanyaka-Purana, das heilige Buch der Komatis in Südindien, zieht ihn jeder anderen Verbindung vor, selbst »wenn die jungen Leute schwarz von Haut sein sollten, hässlich, auf einem Auge blind, ohne Verstand, von lasterhaften Sitten, und obwohl weder die Horoskope zusammen stimmen, noch die Omen günstig sind«. Ferner ist Cousin-Cousinen-Heirat die Regel auf Ceylon bei den Singhalesen, in Assam, Nordbirma, vielen Teilen Chinas, Australiens, bei einer Reihe mongolischer Stämme, in Afrika bei den Hereros, Aschantis und vielen anderen. Unter den Dayaken auf Borneo schließen regelmäßig Vollgeschwister die Ehe, ebenso bei vielen Beduinenstämmen, auch den Bergbewohnern in Java, und zwar dort seit unvordenklichen Zeiten. Überall sind diese reinsten Inzestrassen zugleich die schönsten, ebenmäßigsten und gesündesten. Auch von einem Nachlassen der Fruchtbarkeit kann nicht die Rede sein. Dabei ist zu unterscheiden: Geschwisterehen können bevorzugt werden, weil sie für Inzest, oder weil sie nicht für Inzest gelten. Wo Blut- und Rassegefühl hoch stehen, bleibt die Ehe von Vollgeschwistern erlaubt, bei allen Mutterrechtsvölkern ohne Unterschied dagegen die Ehe von Halbgeschwistern des gleichen Vaters, denn sie gelten als keineswegs verwandt. Auch im platonischen »Staat« mit seinem Naturrecht ist Geschwisterehe gestattet.
Selbst unter ärgster Gynaikokratie, jener der Beni Amer etwa, wo der Mann völlig unterjocht, misshandelt, verhöhnt wird, für alles Strafe zahlen muss, wo die Frau sich schämen würde, ihm bei Krankheit zu helfen, bei seinem Tod zu trauern, »Ist die Liebe der Schwester zum Bruder sehr groß«. (Munzinger) Auf Madagaskar werden die Gatten sehr schlecht behandelt, Zärtlichkeit oder Rücksicht existieren nicht, doch bindet tiefste Liebe die Schwester an den Bruder. Auch unter den mutterrechtlichen Hamiten Nordafrikas hörte Frobenius viele Klagen der Männer, sie gälten ihren Frauen so wenig, die Brüder alles, genau wie bei den Tuaregs der Sahara. Die arabischen Damen der Hochkultur betonten immer wieder, sie hielten einen Bruder für etwas weitaus Nobleres und Besseres als den Geliebten; ihnen wie älteren Schwestern begegnen zu dürfen galt somit als Auszeichnung besonderer Art. Die früharabische Kultur ein Matriarchat zu nennen trifft daher etwas neben den Kern. Wiewohl sie matriarchalische Rechtsformen hatte, waren ihre Lebensformen die von »Töchtern«, nicht von »Müttern«; die Dominanz der Frauen war sich gleich geblieben, doch die dominierenden Frauen hatten gewechselt. Welcher Unterschied gegen Assam, Sumatra, den alten Urweibclans oder afrikanischen Reichen, wo eine Königinmutter, wie der Weisel des Bienenstaates, Mittelpunkt und Bindung der sozialen Vereinigung ist.
Arabien gehört bereits den Zwitter- und Geschwisterreichen mit Vormachtstellung geliebter Schwestern an.
Hier liegt auch der seelische Weg zum dynastischen Inzest Perus, Phönikiens, Persiens, Kariens, Hawais, Mexikos, besonders aber Ägyptens, wo er erwiesenermaßen fünftausend Jahre lang bestand. Frazer nimmt in all diesen Reichen mit Mutterrecht an, ehrgeizige Söhne hätten ihre Schwestern geheiratet, um durch diese allein erbberechtigten Frauen hindurch ihre eigenen Nachkommen thronfähig zu machen und später diese priesterlichen Prinzessinnen des dynastischen Clans als ihre Vestalinnen eingesperrt, schließlich ganz beiseite gedrängt. Wie aber wäre ihnen das anfänglich möglich gewesen, bei priesterlicher Herrschaft der Frauensippe und ihrer magischen Macht im Volk jenes höchste Recht der Gynaikokratie.- die freie Verfügung über sich selbst, zu brechen, ein Recht, dessen Verletzung, wie die Sage der Ägyptussöhne lehrt, sofort mit dem Tode bestraft wird. Dynastischer Inzest, führte er auch später zu gewaltsamem Umsturz und Vaterrecht, ursprünglich war er nur möglich, weil gefühlsmäßig von weiblicher Seite gefördert. Die brüderliche Werbung wurde eben jeder anderen vorgezogen. Artemisia von Karie.n hätte bei erzwungener Ehe die Witwenschaft nicht tief genug treffen können, um sie zum Thron- und Weltverzicht zu bringen. Bei Matriarchat ist eben der Bruder jener einzige Mann, der zählt, ihm fehlen Liebe und Zärtlichkeit nie, auch dort, wo der nur sexuell benützte blutfremde Gatte nichts oder nur wenig gilt. Und wie alt-iranische Religion die Schwesternehe empfiehlt, wie Indianer, Samoaner, Hottentotten stets Schwestern als heilig geliebteste Frauen nennen, so wandelt sich bei dynastischem Inzest erstmalig das Mutterrecht zum Schwesternrecht. Die uterine Bindung hat sich für den Mann um eine Generation nach vorwärts verschoben.