4. Das Männerwahlrecht in der Kritik
Das Deutsche Staats-Wörterbuch vermerkte 1865 unter dem Stichwort "Staatsangehörige Staatsbürger" kurz und knapp, daß "in den sämtlichen neueren Staaten" Frauen vom Staatsbürgerrecht ausgeschlossen seien. Fünf Jahre später äußerte sich Herausgeber Johann Caspar Bluntschli sehr viel ausführlicher zu diesem Ausschluß, nannte Gründe und Gegengründe. *Zwar seien die "Ausschließung des weiblichen Geschlechts und die Beschränkung des Stimmrechts auf die handlungsfählgen Männer" nach wie vor allgemein verbreitet. Ob sie sich jedoch "auf die Dauer" würden halten lassen, sei "zweifelhaft": "Es ist, bei der starken Tendenz der neueren Zeit, das Stimmrecht möglichst weit auszudehnen, nicht unwahrscheinlich, daß wenigstens in einzelnen Staaten, wie das bereits in einzelnen amerikanischen versucht wird, auch den Frauen ein Stimmrecht eröffnet werde." Auch in Europa finde das Frauenstimmrecht mittlerweile beredte und potente Fürsprecher, allen voran den um die Wissenschaft hochverdienten" John Stuart Mill.[53]
Mill, Lebensgefährte der 1858 verstorbenen englischen Feministin Harriet Taylor, hatte 1867 im britischen Unterhaus vergeblich versucht, im Zuge von Wahlrechtserweiterungen auch Frauen das politische Stimmrecht zu geben. Zwei Jahre später veröffentlichte er einen Grundsatztext, in dem er die rechtlich verbürgte Unterwerfung des weiblichen unter das männliche Geschlecht geißelte und dem Prinzip vollkommener Gleichheit das Wort redete. Dieses radikale, an die Adresse seiner Geschlechtsgenossen gerichtete Votum rief auch auf dem Kontinent lebhafte Reaktionen hervor. Jenny Hirsch, Mitbegründerin des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins 1865 und seit 1866 Vorstandsmitglied des konkurrierenden Lette-Vereins, übersetzte es ins Deutsche. [54] Nur wenige Zeitgenossen konnten sich mit Mills Forderungen anfreunden. Heinrich von Treitschke, einflußreicher Geschichtsprofessor, warnte in seinen Berliner Vorlesungen vor Mills "bekanntem Trugschluß":
"Er hatte einen entsetzlichen Blaustrumpf zur Frau, mit der ich nicht acht Tage hätte zusammenleben können. Das imponierte aber dem gutmütigen Mann, und er kam nun zu der verflixten Idee, daß die Frau gleichberechtigt sei dem Manne. [55]
Ungeteilte Zustimmung fand Mill hingegen bei der Berliner Publizistin Hedwig Dohm. Mutter von vier wohlgeratenen Töchtern und Ehefrau des liberalen Schriftstellers Ernst Dohm, veröffentlichte sie in den 1870er Jahren auf eigene Faust eine Reihe von Streitschriften, in denen sie engagiert für die wissenschaftliche, ökonomische und politische Emanzipation der Frauen eintrat. Bereits 1873 focht sie für das weibliche Stimmrecht und erntete dafür bei männlichen Rezensenten nur Hohn und Spott. Realistisch stellte sie daraufhin fest:
"In Deutschland für die politischen Rechte der Frauen zu kämpfen, mag vorläufig eine Thorheit, eine radikale Anticipation der Zukunft sein. Neue Gedankensaaten, in einen Boden gestreut, der nicht vorbereitet ist, sie zu empfangen, tragen keine Frucht, und wer die Früchte seines Strebens und Kämpfens erndten will, der befolge den Grundsatz praktischer Leute- nur das Erreichbare zu wünschen." [56]
Diesem Motto folgten jene Frauen, die sich in den 1860er Jahren zu Frauen(bildungs)vereinen zusammengeschlossen hatten, um für Verbesserungen in der familiären, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stellung ihres Geschlechts zu streiten. Im Vordergrund standen hier, wie schon um die jahrhundertmitte, Bildungs- und Erwerbsinteressen; die "Frauenfrage", die seit der Gründung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins (ADF) 1865 rasch zum Modethema avancierte, wurde im wesentlichen als sozloökonomisches Problem definiert und wahrgenommen. Die Forderung nach politischen Rechten tauchte kaum auf - eine Zurückhaltung, die sich teils aus den von Dohm angesprochenen pragmatischen Rücksichten erklären läßt, teils aber auch aus dem Motiv organisatorischer Selbsterhaltung. Schließlich war Frauen seit 1850 eine politische Betätigung vereinsrechtlich untersagt; hätten sich ihre Vereine als politische Bewegung konstituiert oder politische Absichten durchscheinen lassen, wäre ihnen die polizeiliche Auflösung sicher gewesen. Darüber hinaus jedoch wirkte die schon in den Revolutionsjahren beobachtbare ehrfürchtige Scheu vor der staatlich-politischen Sphäre spürbar nach und hinderte die Aktivistinnen daran, politische Rechte einzuklagen. Eine solche Ehrfurcht war der unorthodoxen Einzelkämpferin Hedwig Dohm weitgehend fremd. Sie berief sich 1876, in ihrem temperamentvollen Plädoyer für das "Stimmrecht der Frauen", auf das "ihnen natürlich zukommende Recht", über sich selber zu bestimmen und sich selber zu repräsentieren. Das von Männern monopolisierte Wahlrecht erschien ihr als Ausfluß von Despotismus, als Folge und Mittel der Unterdrückung des weiblichen Geschlechts durch das männliche. Sachliche Gründe dafür vermochte sie nicht zu erkennen, geschweige denn zu billigen. Allerdings konzedierte auch sie dem Staat ein prinzipielles Abwehrrecht:
"Die Gesellschaft hat keine Befugniß, mich meines natürlichen politischen Rechts zu berauben, es sei denn, daß dieses Recht sich als unvereinbar erwiese mit der Wohlfahrt des Staatslebens."
Sollte ein solcher "Antagonismus zwischen Staatsleben und Frauenrechten" bestehen - was sie bestritt - forderte sie Beweise. Solange keine vorlagen, hielt sie die Berechtigung und Notwendigkeit eines allgemeinen Frauenstimmrechts für gegeben. [57] Für Hedwig Dohm war das Stimmrecht kein Ziel an sich, kein abstraktes Anliegen, sondern Mittel zum Zweck.
"Die Gewährung des Stimmrechts", schrieb sie 1876, "ist der Schritt über den Rubikon. Erst mit dem Stimmrecht der Frauen beginnt die Agitation für jene großartigen Reformen, die das Ziel unserer Bestrebungen sind."
Ohne Stimmrecht, sprich ohne politische Macht, könnten Frauen ihre Interessen nicht angemessen vertreten:
"Die Klassen, die das Stimmrecht nicht üben dürfen, sind in der Gewalt der andern Klassen, die es üben." Frauen blieben demnach so lange in der Gewalt von Männern, bis das weibliche Geschlecht Theil hat an der Abfassung der Gesetze, von denen es regirt wird".
An die Adresse der bestehenden Frauenvereine gerichtet, mahnte sie: "Anspruch ohne Macht bedeutet wenig." Um Macht und Einfluß zu erringen, empfahl sie die
"Concentrirung aller weiblichen Kräfte" in Stimmrechtsvereinen nach dem Vorbild Englands und der Vereinigten Staaten. [58]
In Deutschland hatte sie damit keinen Erfolg. Zwar regte ihre Streitschrift manche Leserinnen durchaus zum Nach- und Neudenken an. So gestand eine dem ADF nahestehende Rezensentin,
"daß es Hedwig Dohm gelungen ist, unsere eigenen Ansichten über diesen Punkt ganz bedeutend zu erschüttern ... Wie viele andere hielten auch wir die Erlangung dieses Rechts vorderhand für ein überflüssiges, um das es sich kaum lohne, sich zu bemühen, solange noch so viele näher liegende und dringendere Bedürfnisse der Frauen unerledigt seien. [59]
Die meisten Frauen jedoch reagierten zurückhaltend. Jenny Hirsch etwa erklärte für den Verband Deutscher Frauenbildungs- und Erwerbsvereine, daß "wir durchaus nicht zu den prinzipiellen Gegnern des Frauenstimmrechts gehören, sondern die Forderung desselben für berechtigt, die Gründe, welche die Verfasserin (Hedwig Dohm) dafür anführt, für stichhaltig halten. Anders stellen wir uns aber zu der Frage, ob es an der Zeit sei, diese Forderung zu erheben ... Wir hingegen gehen von dem Grundsatz aus, durch eine bessere, gründlichere Erziehung des weiblichen Geschlechts, durch eine Ausbreitung der weiblichen Berufstätigkeit und eine Vertiefung der weiblichen Bildung schrittweise den Boden zu bereiten und das Gebäude aufzuführen, für das alsdann das Frauenstimmrecht gleichsam die Krönung bilden würde. [60]
Im Allgemeinen Deutschen Frauenverein dachte man darüber ähnlich. Louise Otto hatte sich zwar 1869 persönlich zum allgemeinen Stimmrecht auch für Frauen bekannt, versah dies allerdings mit der Einschränkung:
"Aber ich spreche dies nur im Prinzip aus, dafür wirken zu wollen, wäre noch zu früh."
Ebenso argumentierte 1876 Charlotte Pape:
"Politische Rechte sind noch so neu, so wenig geschätzt und von so beschränktem praktischen Werte in der neueren Geschichte Deutschlands, daß sie schon jetzt für die Frauen zu fordern, wahrscheinlich nur dem Erfolge anderer Bestrebungen für die bessere Stellung derselben schaden würden."
Auf der Generalversammlung des ADF 1877 sprach sich die Referentin Marie Calm entschieden gegen das Frauenstimmrecht aus: Anders als in England und Amerika fühl ten sich die deutschen Frauen "im großen und ganzen noch gar nicht als Staatsbürgerinnen, als Töchter unseres Volkes". [61]
Zu früh, zu unbedeutend - so lauteten die Einwände, die von der Frauenbewegung der 1870er Jahre gegen Hedwig Dohms Forderung nach dem politischen Wahlrecht vorgebracht wurden. In die publizistischen und parlamentarischen Auseinandersetzungen um das allgemeine Männer-wahlrecht mischte man sich deshalb auch nicht ein. Während Männer erbittert für ihre politischen Rechte kämpften, schätzten die meisten Frauen, sogar die organisierten, diese Rechte offenbar so wenig, daß sie kein öffentliches Wort darüber verloren. Zwar bedauerten sie immer wieder, daß das Frauenstimmrecht in den politischen Parteien überwiegend Gegner fand und daß es, wie Louise Otto 1875 mit Blick auf den Gothaer Parteitag der Sozialdemokratie schrieb, "unter jeder Partei immer nur einzelne Männer gibt, welche die Rechte, die sie für sich selbst fordern, auch den Frauen wollen zuteil werden lassen". Daraus leitete sie dann die Notwendigkeit ab,
"daß die Frauen überall selbst eintreten, wo es sich um ihre eigenen Angelegenheiten handelt". [62]
Das Wahlrecht jedoch gehörte augenscheinlich nicht zu jenen "Angelegenheiten", für die sich ein aktives Engagement lohnte. Das änderte sich erst seit den 1890er Jahren. 1894 hielt Lily von Gizycki, die spätere Lily Braun, in einer vom Berliner Verein Frauenwohl organisierten öffentlichen Versammlung eine scharfzüngige Rede für die "Bürgerpflicht der Frau" [63], die bei den gemäßigten Vertreterinnen der Frauenbewegung auf Ablehnung stieß. Ein radikaler Flügel aber machte sich Gizyckis Forderungen zu eigen. Die Frauenfrage, schrieb die junge Anita Augspurg 1895 in der ersten Nummer der Frauenbewegung, sei
"in allererster Linie Rechtsfrage, weil nur von der Grundlage verbürgter Rechte... an ihre Lösung überhaupt gedacht werden kann". [64]
Nachdem der 1894 gegründete Bund Deutscher Frauenvereine (BDF) als Dachorganisation kein klares Wort zu jener Rechtsfrage" sprach, schlossen sich die stärker frauenpolitisch engagierten Vereine fünf Jahre später zusätzlich zum Verband fortschrittlicher Frauenvereine zusammen, dessen Ziel es laut Gründungsprogramm unter anderem war, "die Frauen zur Wertschätzung politischer Rechte, insbesondere des Frauenstimmrechts zu führen". 1902 schließlich konstituierte sich der Verein für Frauenstimmrecht, der den Kampf um das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht für beide Geschlechter als seine raison d'être betrachtete. [65] Auch die Mitglieder dieses kleinen, aber rührigen Vereins bemühten wie Hedwig Dohm und Lily von Gizycki für ihren Standpunkt das Naturrecht: Zu den allgemeinen Menschenrechten gehöre auch das Recht politischer Partizipation, das weder klassen- noch geschlechtermäßig aufgespalten werden dürfe. Dazu gesellte sich ein weiterer Begründungsstrang, der bei Dohm erst angeklungen und bei Gizycki bereits voll entwickelt gewesen war- der Hinweis auf den Gewinn, den die Gesellschaft bzw. der Staat von der politischen Mitwirkung des weiblichen Geschlechts zu gewärtigen habe. Frauen ihre Bürgerrechte vorzuenthalten komme einer gewaltigen Leistungsvergeudung gleich und entziehe der Gesellschaft entscheidende Kapazitäten zu ihrer eigenen Vervollkommnung und Befriedung. Vor allem im sozialen Bereich könnten Frauen großen Nutzen stiften. Dazu reiche aber karitative, ehrenamtliche Tätigkeit nicht aus; es bedürfe vielmehr eines politischen Mandats, das den gleichberechtigten Zugang von Frauen zu öffentlichen Ämtern- beispielsweise zu konimunalen Armenkommissionen - voraussetze. Dieser Argumentation konnten auch jene Frauen zustimmen, die die egalitären Menschenrechtspositionen der Radikalen ebensowenig teilten wie ihre demokratischen Wahlrechtsforderungen. Die zahlreichen Provinz- und Lokalverbände für Frauenstimmrecht, die seit 1909 in Preußen entstanden, stellten nicht die Agitation für ein allgemeines, gleiches Frauenwahlrecht in den Vordergrund, sondern konzentrierten sich überwiegend auf kleine, maßvolle Schritte im kommunalen Bereich. 1910 etwa petitionierten der Schlesische Frauenverband sowie der Verein für Frauenstimmrecht in Breslau beim Preußischen Abgeordnetenhaus für das Gemeindewahlrecht der Frauen. [66] 1912 lagen dem Parlament bereits vierzig Petitionen diverser Frauenverbände vor, die sich allesamt um Fragen des kommunalen Frauenstimmrechts drehten.
Die meisten Anträge ersuchten darum, die Städte- und Landgemeindeordnungen so zu ändern, daß Frauen das kommunale Wahlrecht unter den gleichen Bedingungen wie Männern verliehen werde. Sie wiesen darauf hin, daß die Gewährung des aktiven Wahlrechts in der Regel von Grundbesitz und Steuerhöhe abhängig gemacht werde, und interpretierten dieses "Zugeständnis" als "prinzipielle Anerkennung des Anspruchs auf ein Wahlrecht im beantragten Sinne". Die Einbeziehung der Frauen als Grundbesitzerinnen bzw. Steuerzahlerinnen bedeute daher keine Neuerung, sondern erweitere lediglich ein schon bestehendes Recht. Im übrigen bat man darum, Frauen, die das aktive Wahlrecht, wie in vielen Landgemeinden üblich, bereits besäßen, zur persönlichen Stimmabgabe zu ermächtigen. Der Usus, einen männlichen Vertreter bestimmen zu müssen, werde als "starke Zurücksetzung" empfunden, führe oftmals zu einer Verfälschung der Wahlen und degradiere das "von alters her" überkommene Wahlrecht zu einem ..Scheinrecht". [67] Solche Forderungen bewegten sich auf vertrautem Terrain. Sie knüpften an bestehende Regelungen an, deren sachliche Substanz - die Bindung des Wahlrechts an ökonomische Voraussetzungen - unangetastet blieb. Diese vorsichtige Gangart sollte die Initiative politisch akzeptabel machen, sie vom Verdacht des Umstürzlerischen befreien. Zugleich entsprach jenes Vorgehen aber auch der subjektiven Überzeugung vieler Frauen, die mit demokratischen Wahlrechtsforderungen nichts im Sinn hatten. Ihr Einfluß innerhalb der organisierten Frauenbewegung war so groß, daß der BDF als konsensbeflissener Dachverband in der Wahlrechtsfrage nicht eindeutig Position bezog. Zwar trat er seit 1907 auf Druck der Frauenstimmrechtsvereine für das aktive und passive Wahlrecht auf kommunaler und staatlicher Ebene ein. Ob dieses Wahlrecht allerdings, nach dem Muster der Reichstagswahlen, allgemein und gleich oder, wie in Preußen, nach Steuerleistung/Vermögen gestuft sein sollte, ließ der BDF im unklaren. In die zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder aufflainmende Debatte um eine Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts mischte er sich denn auch nicht ein. Erst 1917, nachdem die von Sozialdemokraten und Linksliberalen geforderte Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts in Preußen sogar die Zustimmung des Kaisers gefunden hatte, stellte sich auch der BDF auf den Boden der Reform und forderte nunmehr für Frauen das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht.[68]
Die bürgerliche Frauenbewegung war folglich weder zu Beginn noch am Ende der Wahlrechtsauseinandersetzungen eine politische Kraft, die entschieden und lautstark für allgemeine staatsbürgerliche Rechte des weiblichen Geschlechts Partei ergriff. Zwar gab es in ihren Reihen immer auch Aktivistinnen, die solche Bürgerrechte ohne jedes Wenn und Aber und unter Rückgriff auf naturrechtliche Konzepte einforderten, doch blieben sie eine kleine radikale Minderheit. Für die Mehrheit sprachen sowohl grundsätzliche als auch politisch-pragmatische Erwägungen gegen einen offensiven Partizipationßkurs. Darüber hinaus vertraten ohnehin nur wenige Frauen die Auffassung, daß das Wahlrecht prinzipiell jedem Staatsangehörigen bedingungslos zustehe. Konservative Parteigängerinnen lehnten eine solche Demokratisierung entschieden ab. Aber auch die Gruppe liberaler Frauen, die das öffentliche Profil der Frauenbewegung vornehmlich prägte, begegnete der Forderung nach allgemeinen und gleichen Wahlrechten mit großen Vorbehalten. Die Klassenlinie war für sie nur schwer überwindbar - mit dem Ergebnis, daß sie sich der vor allem von Sozialdemokraten initiierten und geführten Kampagne für Wahlrechtsreformen verschloß und ihrem wichtigsten und lange Zeit konkurrenzlosen Bündnispartner eine Abfuhr erteilte. Bis 1910 blieb die Sozialdemokratie die einzige politische Partei, die sich öffentlich für die gleichberechtigte politische Partizipation von Frauen einsetzte. Erst dann nahm die 1908 gegründete kleine Demokratische Vereinigung als erste bürgerliche Partei die Forderung nach der vollen staatsbürgerlichen Gleichberechtigung der Frauen in ihr Programm auf. Die großen bürgerlichen Parteien, Konservative und Nationalliberale, hielten dagegen bis 1918 am männlichen Politikmonopol fest.
Auch die Arbeiterbewegung war nicht von Anbeginn an für das Frauenwahlrecht eingetreten. Ferdinand Lassalle, der sich Anfang der 1860er Jahre für das allgemeine und direkte Wahlrecht in allen deutschen Ländern stark machte, hatte noch ein männliches Wahlvolk vor Augen. Ebenso selbstverständlich, wenn auch unausgesprochen, war diese Einschränkung für seinen 1863 gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, dessen zentrale Mission es sein sollte,
"für die Herstellung des allgemeinen gleichen und direkten Wahlrechts zu wirken".
Auch die aus den liberalen Arbeiterbildungsvereinen hervorgegangene Sozialdemokratische Arbeiterpartei stellte 1869 als erste ihrer
"nächsten Forderungen" die "Erteilung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts an alle Männer vom 20. Lebensjahre an" auf. [69]
Als sich beide Organisationen 1875 zur SPD zusammenschlossen, entspann sich eine hitzige Auseinandersetzung über die Frage, ob es bei jenem Männer-Passus im Parteiprogramm bleiben sollte oder nicht. Wilhelm Liebknecht und August Bebel sprachen sich eindeutig für eine Erweiterung der Wahlrechtsforderung auf "Staatsangehörige beiderlei Geschlechts" aus:
"Eine Partei, welche die Gleichheit auf ihr Banner schreibt, schlägt sich selbst ins Gesicht, wenn sie der Hälfte des Menschengeschlechts die politischen Rechte versagt."
Den Einwand, daß Frauen keine politische Bildung besäßen und eher für konservative Parteien stimmen würden, wischte Liebknecht mit dem Argument beiseite, dies gelte genauso für Männer, "und dann dürften wir auch diese nicht wählen lassen". Bebel fügte hinzu, es gelte, Frauen politische Bildung zu verschaffen,
"und dies geschieht eben dadurch, daß wir ihnen das Wahlrecht geben, damit sie sich in Benutzung desselben üben". [70]
Die Befürworter des Frauenstimmrechts konnten sich allerdings nicht durchsetzen. Der Vereinigungsparteitag votierte mit 62 gegen 55 Stimmen gegen ihren Antrag und entschied sich für einen Programmsatz, der das Wahlrecht geschlechterneutral für "alle Staatsangehörigen" forderte. Gegenüber der ursprünglichen Vorlage, die explizit nur das Männerwahlrecht erwähnt hatte, bedeutete dies zwar einen Kompromiß, der jedoch nach außen hin nicht in Erscheinung trat. Geschlechterneutrale Formulierungen bezogen sich im Sprachgebrauch der Zeit üblicherweise auf Männer, und vor allem dann, wenn es um Politik ging, bestand kein Zweifel, daß hier agierende Personen, Staatsangehörige, Bürger, Volk etc. ausschließlich männlichen Geschlechts waren. Ungeachtet der knappen Abstimmungsniederlage fuhr Bebel fort, für die Idee des Frauenstimmrechts zu werben. In seinem erstmals 1879 erschienenen Buch Die Frau und der Sozialismus, das rasch nacheinander zahlreiche Auflagen erlebte, unterstützte er ausdrücklich "vorgeschrittenere" Frauen wie Hedwig Dohm, die politische Rechte verlangten, "um durch die Gesetzgebung für ihre Gleichberechtigung zu wirken". Hier erkannte Bebel deutliche Parallelen zur Arbeiterbewegung:
"Was für die Arbeiterklasse recht ist, kann für die Frauen nicht unrecht sein."
Legitim sei die Forderung nach dem Frauenstimmrecht aus mehreren Gründen. Zum einen seien politische Rechte Menschen- und keine Männerrechte; darüber hinaus habe sich in den letzten Jahrzehnten die sozioökonomische Stellung der Frauen jener der Männer derart angeglichen, daß ihre politische Gleich berechtigung nur gerechtfertigt sei. Die zunehmende Erwerbsbeteiligung von Frauen sowie die wachsende Zahl jener, "die auf die eigene Kraft und die eigenen Fähigkeiten angewiesen, den Kampf um die Existenz zu führen" hätten, ließen ihre aktive Teilnahme an der Gesetzgebung zur dringenden Notwendigkeit werden. Von dieser Partizipation werde nicht zuletzt auch die Gesellschaft profitieren: Das "öffentliche Leben" erfahre einen "bedeutenden Aufschwung" und werde um eine "Menge neuer Gesichtspunkte" bereichert. Nützliche Folgen, und hier scheint Bebel aus leidvollen Erfahrungen sozialdemokratischer Aktivisten geschöpft zu haben, seien aber auch im privaten Leben zu erwarten. Durch die aktive politische Partizipation der Frauen und das hierdurch geweckte Interesse werde sich das Verhältnis zwischen den Geschlechtern "wesentlich verbessern":
"Statt eines Hemmschuhs wird der Mann in der gleichgesinnten Frau eine Unterstützerin erhalten." Gegenargumente ließ Bebel nicht gelten:
"Sind unsere Frauen unfähiger als die weit tieferstehenden Neger (sic), denen man in Nordamerika die politische Gleichberechtigung zuerkannte? Oder soll eine geistig hochstehende Frau weniger Recht haben als der roheste, ungebildetste Mann; z. B. als ein unwissender, hinterpommerscher Tagelöhner oder ein ultramontaner polnischer Landarbeiter, und nur deshalb, weil der Zufall diese als Männer zur Welt kommen ließ?"
Selbst den Einwand seiner Parteigenossen, die SPD würde durch das Frauenstimmrecht an Wahlmacht verlieren, hielt Bebel für unberechtigt. Zwar ging auch er davon aus, daß Frauen angesichts ihrer "politischen Unwissenheit" und klerikaler Einflüsse eher für konservative und kirchliche Parteien stimmen würden. Das sei jedoch kein Grund, ihnen das Stimmrecht zu verweigern, denn mit gleichem Recht müßte man dann auch die Millionen Arbeiter, die nicht die SPD wählten, für politisch unmündig erklären. [71]
1879 war Bebels Buch erschienen; ein Jahr zuvor war das sogenannte Sozialistengesetz erlassen worden, das die Partei für die folgenden zwölf Jahre in ihrer politischen Tätigkeit extrem einschränkte und in die Illegalität zwang. Trotzdem erzielte sie bei den Reichstagswahlen 1890 die meisten Wählerstimmen und behauptete sich fortan auch parlamentarisch als lautstarke und unbequeme politische Kraft. In ihrem 1891 verabschiedeten neuen Programm fand sich erstmals die Formulierung, das Wahlrecht sei für alle Reichsangehörigen "ohne Unterschied des Geschlechts" zu fordern. Ein eigener Passus verlangte zudem die
"Abschaffung aller Gesetze, welche die Frau in öffentlich privatrechtlicher Beziehung gegenüber dem Manne benachteiligen".
Mit diesem Parteiauftrag im Rücken stellte die sozialdemokratische Reichstagsfraktion 1895 erstmals den Antrag, Frauen
"im Namen der Rechtsgleichheit der Geschlechter" sowie aus "Fortschrittsgründen" das allgemeine, gleiche und direkte Stimmrecht zu verleihen. [72] Er blieb, wie zu erwarten gewesen war, ohne parlamentarische Resonanz. Fortan verzichtete die SPD darauf, sich in der Frage des Frauenstimmrechts zu exponieren. Ihr kam es in erster Linie darauf an, das Reichstagswahlrecht auch auf Länderebene, vor allem in Preußen, einzuführen. Daß es zugleich auf Frauen ausgedehnt werden sollte, war demgegenüber nachrangig. [73]
Diese Prioritätensetzung zeigte sich sehr deutlich, als die SPD 1906 im Reichstag einen Gesetzentwurf einbrachte, der Parlamente auf der Grundlage des allgemeinen gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts aller Erwachsenen "ohne Unterschied des Geschlechts" in allen Bundesstaaten des Deutschen Reiches zu installieren trachtete. Eduard Bernstein, der den Gesetzentwurf begründete, ging mit keinem Wort auf das geforderte Frauenwahlrecht ein, sondern sprach ausschließlich zum männlichen Stimmrecht. Gegen Ende seiner Rede faßte er das Anliegen der SPD so zusammen:
"Um was handelt es sich vielmehr heute bei unserem Antrag, bei der Wahlrechtsfrage? ... Um die Gleichsetzung der Landtagswahlsysteme mit dem Reichstagswahlrecht."
Mit dieser Formulierung hatte er sich, ohne daß es jemandem auffiel, in Widerspruch zum eingebrachten Gesetzentwurf gesetzt, denn eine Übertragung des geltenden Reichstagswahlrechts auf die Landtage hätte den "Unterschied des Geschlechts" beibehalten. Sein Parteigenosse Joseph Herzfeld argumentierte ähnlich: Auch er appellierte an die anderen Parteien, "nicht Millionen von Männern von der Gesetzgebung ihres Vaterlandes" auszuschließen. Selbst August Bebel ging in der dreitägigen Debatte nur beiläufig auf das Frauenstimmrecht ein und vermied es, den darin enthaltenen Konfliktstoff zu aktivieren. [74] Diese Haltung läßt darauf schließen, daß es der SPD primär um die Abschaffung des preußischen Dreiklassenwahlrechts ging, welches Männern eine nach ihren Steuerleistungen abgestufte politische Beteiligung zugestand. Der Ausdehnung des allgemeinen und gleichen Stimmrechts auf Frauen maß man demgegenüber eine untergeordnete Bedeutung zu; sie stellte eine programmatische Forderung dar, die im konkreten politischen Tagesgeschäft hinter andere, wichtigere zurücktrat. Der linksliberale Reichstagsabgeordnete Hellmut von Gerlach mag so manchem Sozialdemokraten aus der Seele gesprochen haben, als er sich 1906 zwar als "offen ausgesprochener Freund des Frauenstimmrechts" bekannte, es aber für taktisch unklug erklärte, "den Antrag auf Ausdehnung des Reichstagswahlrechts auf die Einzellandtage mit dem Gepäck des Stimmrechtes für die Frauen" zu belasten. Schließlich handele es sich jetzt darum, die Bewegung für "die wichtigste politische Aufgabe unserer Zeit ... möglichst stark anschwellen zu lassen". Da das Frauenstimmrecht noch mehr Gegner habe als das allgemeine Männerwahlrecht, müsse man es vorerst hintanstellen, um "den einen großen Gedanken" verwirklichen zu können. [75] Mit der Einschätzung, daß das Frauenstimmrecht parlamentarisch nicht mehrheitsfähig sei, hatte von Gerlach zweifellos recht. Das wußte auch die SPD, die sich deshalb nur halbherzig dafür stark machte. Anders als die österreichischen Sozialdemokraten, die mit Zustimmung der weiblichen Parteimitglieder auf die Forderung des Frauenwahlrechts verzichteten, um die angestrebte Wahlreform nicht zu erschweren, er-wiesen sich die deutschen Genossen jedoch als prinzipientreu. In der politischen Tagespraxis überließen sie die Agitation für das Frauenwahlrecht allerdings lieber den Parteigenossinnen, die dafür das Forum von Volksversammlungen und massenwirksam inszenierten Frauentagen nutzten. [76]
Hier war es vor allem Clara Zetkin, die die Partei kompromißlos auf eine "prinzipielle Auffassung" zu verpflichten suchte und "Zweckmäßigkeitsrücksichten" entschieden ablehnte. Doch äußerte auch sie Verständnis für eine parlamentarische Taktik, die es unter Umständen als geboten erscheinen ließ, den Antrag auf Einführung des Frauenstimmrechts zurückzuziehen. In der Agitation aber müßten andere Erwägungen im Vordergrund stehen: "Meiner Ansicht nach soll die Sozialdemokratie in den proletarischen Wahlrechtskämpfen das Frauenstimmrecht fordern, gerade weil es zum Zwecke der Revolutionierung der Köpfe notwendig ist, daß von ihm gesprochen wird. [77] Zetkin, die zentrale Figur der sozialdemokratischen Frauenbewegung, leitete die Forderung nach dem Frauenwahlrecht nicht, wie August Bebel und der radikale Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung, "aus alten naturrechtlichen Gründen" "sentimentaler Art" her, sondern aus den sozialen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte, vor allem aus der zunehmenden Frauenerwerbsarbeit.
Damit erwerbstätige Frauen ihre ökonomischen Interessen verteidigen und wahren konnten, bedurften sie des Wahlrechts als einer "sozialen Lebensnotwendigkeit". Darüber hinaus benötigten Frauen auch als "Hausmütter" politische Rechte, um "ihrer hochbedeutsamen sozialen Tätigkeit" gesellschaftliche Anerkennung sichern zu können. Bezeichnenderweise stellte sich aber auch Zetkin, die sich, wo und wann immer sie konnte, von der bürgerlichen Frauenbewegung distanzierte, nicht allein auf den Standpunkt "gleiche Pflichten, gleiche Rechte", sondern winkte mit Gemeinwohl-Nutzen. Sie prophezeite der Gesellschaft eine "Bereicherung", wenn sie Frauen erlaube, "alle geistigen und sittlichen Kräfte unserer Eigenart entsprechend in dem Dienst der Allgemeinheit zu betätigen". Die psychische Differenz der Geschlechter garantierte gewissermaßen eine andere, weibliche Politik - ein Gedanke, den Zetkin nicht weiter ausführte und der sie in eine (hier wohl unbeabsichtigte) Nähe zu den Vertreterinnen der gemäßigten Frauenbewegung und ihrem Konzept der geistigen bzw. politischen Mütterlichkeit rückte. [78]
In jedem Fall verpflichtete Zetkin und mit ihr die sozialdemokratische Frauenbewegung die Partei dazu, "mit allem Nachdruck" für das Frauenwahlrecht einzutreten. [79] Allerdings sollte es nicht separat, sondern im Kontext der allgemeinen Wahlrechtsreform behandelt werden. Ob man bei diesem Paketverfahren bereit war, die Forderung des Frauenstimmrechts im Parlament zu opfern, um die Durchsetzung des gleichen Männerwahlrechts nicht zu gefährden, blieb offen. Der Testf all stellte sich nicht ein; zu massiv waren die Vorbehalte der Konservativen und Nationalliberalen gegen das allgemeine Wahlrecht vor allem in Preußen, als daß es vor 1917/18 zu einer Einigung mit der Sozialdemokratie hätte kommen können. Ein taktisches >Damenopfer< stand folglich nicht zur Debatte. Die Sozialdemokraten konnten an ihrer programmatischen Forderung festhalten, ohne sich hierfür besonders echauffieren zu müssen. Ihre Gründe machten auf die Gegner des Frauenwahlrechts keinen Eindruck; erst als die Partei nicht mehr argumentieren mußte, sondern mit der Revolution im Rücken handeln konnte, wurde das männliche Politikmonopol mit dem Schlußsatz eines sozialistischen Regierungsprogramms am 12.11. 1918 zu Grabe getragen. [80]
5. Verteidiger des Männerwahlrechts
Wer waren nun aber die erklärten Gegner des Frauenwahlrechts und Verteidiger des männlichen Politikmonopols? Wie rechtfertigten sie ihre Position, welche Macht setzten sie dafür ein? Auf welche Resonanz hofften sie, welche bekamen sie? Wie ernst nahmen sie die politischen Partizipationsforderungen von und für Frauen? Welche Bedeutung maßen sie ihnen bei? Zunächst fällt auf, daß sich eine eigentliche Argumentation für die Begrenzung des Wahlrechts auf Männer erst dann entwickelte, als eben diese Begrenzung zunächst vereinzelt, seit der Jahrhundertmitte immer vernehmlicher in Frage gestellt wurde. Die erste ausführliche Rechtfertigung des männlichen Politikmonopols stammt aus dem Jahre 1838 und findet sich in dem bereits erwähnten Artikel Carl Welckers über die "Geschlechtsverhältnisse". Aus einer doppelten Defensive heraus türmte Welcker hier ein Thesengebäude auf, das bei der Fortpflanzung begann und auf den Galerien der Landtage endete. Einerseits stritt er damit gegen die Verfechter einer männlich-weiblichen Gleichberechtigung; zum anderen aber setzte er sich gegen konservative Kritiker zur Wehr, die das liberale Gesellschaftsmodell schadenfroh auf seine Blindstelle - nämlich Frauen - aufmerksam machten.
Bei der sorgfältigen Suche nach den "richtigen Gründen" für den Ausschluß von Frauen aus dem politischen Gemeinwesen ging Welcker davon aus, daß es zum einen
"für uns Männer nicht ziemlich", ja sogar "vielfach nachtheilig" sei, "auch nur den Schein übrig zu lassen, als beständen die bisherigen Verhältnisse nur durch den Despotismus und die Eigensucht der Männer fort". Außerdem aber helfe eine solche Begründung, "die rechte Art und das rechte Maß der Beschränkung" zu bestimmen und "unnöthige, also ungerechte Ungleichheit" zu vermeiden.
Nötig und gerecht war die Ungleichheit politischer Rechte für Welcker vor allem deshalb, weil sie die Ehe und das Famillenleben schützte. Die Natur und durch sie der vernünftige göttliche Wille" habe Männer und Frauen, wie bereits aus dem Akt der Fortpflanzung ersichtlich, verschiedene Aufgaben zugewiesen. Unter Rückgriff auf die Geschlechteranthropologie des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts skizzierte Welcker ein Bild dieser aus der jeweiligen "physischen Natur" abzuleitenden Differenz, das die Vorstellungen und Überzeugungen seiner Zeitgenossen wiedergab: der Mann als ein Wesen, dem die
"freiere, ausgedehntere Wirksamkeit in der Außenwelt" obliege, die Frau als eines, das sich "auf die Fortpflanzung, die Familie, das Haus" beschränke. Beide zusammen bildeten ein sich wechselseitig ergänzendes Paar, das sich in einem "Liebesbund", der "christlichen und deutschen Ehe", zu einer "untrennbaren Gesamtpersönlichkeit" verbinde. [81]
Aufgabe der Frauen in der Ehe sei es - und hier zitierte Welcker den einflußreichen Patrioten Friedrich Ludwig Jahn: dem Mann" einen stillen Lebenskreis" zu schaffen, "wohin keine Sorge, keine Arbeitsbeschwerde, kein Geschäftsdrang, keine Zerstreuung hineindringt". In dieser Atmosphäre könne der Mann Kraft schöpfen "fürs Allwohl", so daß er "nur freudiger hinaus ins Lebensgewühl stürze, wie zum Siegesfest nach vollbrachter Arbeit rückkehre zu häuslichen Freuden". [82] Ein solches Ehe- und Familienleben, in dem die gemeinsamen Kinder zu sittlichen Bürgern erzogen würden, sei, so Welcker, "das edelste Gut für die Männer und den Staat". Es zu gefährden heiße, die "heiligste, festeste Grundlage menschlicher und bürgerlicher Tugend und Glückseligkeit" zu zerstören. Das aber liege weder im Interesse der Männer noch in dem des Staates, geschweige denn sei damit den Frauen selber gedient. Wollten sich Frauen, "ihrer ganzen natürlichen körperlichen und geistigen Bestimmung zuwider, dem rauhen Männerleben und unweiblichem Kampfe mit Männern" widmen, könnten sie nur verlieren. Forderten sie die völlige Gleichstellung in öffentlichen Rechten und Pflichten, vor allem aber deren "unmittelbare Ausübung", entsagten sie "der wahren Weiblichkeit und ihrem schönsten Glücke". Es seien daher nur
"unweibliche Mannweiber", "welche den Mann als das Haupt der Familie nicht anerkennen und neben ihm und gegen ihn unmittelbare Stimm- und Entscheidungsrechte über die gemeinschaftlichen gesellschaftlichen Angelegenheiten geltend machen".
Im Mittelpunkt von Welckers Argumentation stand demnach nicht der Staat, sondern die Familie und die hier repräsentierte Geschlechterdifferenz. Um jene Differenz aufrechtzuerhalten und die darauf aufbauende Familie mitsamt ihren Wohltaten für Männer und bürgerliche Gesellschaft nicht zu vernichten, müsse Frauen die Wahrnehmung politischer Rechte verweigert werden. Dadurch entstehe zwar eine formale Ungleichheit, die gleichwohl gerecht sei, da sie den Anlagen und Bedürfnissen der Geschlechter ebenso entgegenkomme wie der Stabilität und Funktionstüchtigkeit des Gemeinwesens. Im übrigen entspreche sie den manifesten Interessen der Frauen, die in ihrer großen Mehrheit an ihrer "natürlichen Bestimmung" festhielten und Grenzüberschreitungen gar nicht wünschten. [83] Dieser Hinweis auf die selbstgewählte politische Abstinenz der Frauen fehlte auch später nie, wenn es darum ging, ihre Forderungen nach staatsbürgerlichen Rechten abzulehnen. Beinahe schadenfroh machte man die wenigen Frauen, die sich aktiv für das Frauenstimmrecht engagierten, darauf aufmerksam, daß die meisten ihrer Geschlechtsgenossinnen solche politischen Ambitionen nicht teilten. Die überlieferte Geschlechterordnung schien folglich noch nicht ernsthaft gefährdet zu sein. Trotzdem versäumte es kaum ein männlicher Publizist und Politiker, die umstürzlerischen Konsequenzen politischer Gleichberechtigung ins öffentliche Bewußtsein zu rücken. Offenbar provozierte jene Forderung, auch wenn sie nur von einer Minderheit vorgebracht wurde, immense Irritationen. Selbst Zeitgenossen, die den ökonomischen Aspekten der sogenannten Frauenfrage durchaus verständnisvoll gegenüberstanden und sich beispielsweise für bessere Bildungs- und Erwerbsmöglichkeiten von Frauen einsetzten, distanzierten sich brüsk von staatsbürgerlichen Gleichstellungswünschen. Politik, darin war man sich einig, sollte ein männliches Geschäft bleiben, oder, wie es Meyers Konversations-Lexikon 1894 einprägsam formulierte:
"Dem Manne der Staat, der Frau die Familie!" [84]
Dieser Slogan, der die männlichen Rechtfertigungsstrategien des gesamten 19. und frühen 20. Jahrhunderts beherrschte, brachte sehr deutlich zum Ausdruck, daß es bei der Abwehr weiblichen Partizipationsbegehrens um zwei Dinge gleichzeitig ging: einerseits um die Bewahrung des männlichen Politikmonopols, zum anderen um die Erhaltung des Familienraums, wie er sich seit dem späten 18.Jahrhundert, zunächst als bürgerliches Ideal, zunehmend aber auch als Realität, herausgebildet hatte. Beides, männliche Politik und weibliche Familie, schien aufs engste miteinander verbunden und das eine nicht ohne das andere zu haben. Die Familie, hieß es immer wieder, sei "die Grundlage und Pflanzschule ... der staatsgesellschaftlichen Verbindung"; hier würden "Pflichterfüllung, Achtung gegen natürliches Gesetz und Selbstbeherrschung" gelernt, Tugenden mit "bedeutender staatlicher Wirkung". [85]
"Der in der Familie genährte Geist der Autorität und Pietät", schrieb Wilhelm Heinrich Riehl 1855, "soll auch heute noch Staatsregiment und Staatsbürgertum durchdringen, weihen und verklären". In der Familie, sekundierte Heinrich von Treitschke 1858, sei "das dem Staate unentbehrliche Moment der Herrschaft" bereits vorhanden; hier lerne der Mann, so Friedrich Paulsen 1894, "die ersten Elemente des Regierens". [86] Die Familie konstituierte und verbürgte demnach die erste Bastion männlicher Macht. In der "Herrschaft" über Frau und Kinder erwarb der Mann Fähigkeiten und Berechtigungen, die ihn für die Teilhabe an politisch-staatlicher Macht qualifizierten. "Nur wer seinem Hause tüchtig vorsteht, wird ein trefflicher Bürger seyn", gab der berühmte Jurist und Rechtspolitiker Friedrich von Savigny 1840 die herrschende Meinung wieder. [87] Traf die hausväterliche Herrschaft auf Widerstand, mußte sich das zwangsläufig destabilisierend auf das Staatsregiment auswirken. Söhne, die dem leiblichen Vater nicht mehr gehorchten, konnten sich auch dem Landesvater widersetzen. Frauen, die dem "Haupt der Familie" die häusliche Herrschaft streitig machten und die "thätige Theilnahme am öffentlichen Leben" anstrebten, schwächten damit das äußere Ansehen und die politische Geltungsmacht ihrer Ehemänner, deren familiale "Regierungsgewalt" so sichtbar ins Wanken geraten war. Aus dieser Perspektive mußten alle Versuche von Frauen, politische Rechte zu gewinnen, als Angriffe auf die Familienautorität der Männer erscheinen. Indem Frauen unweiblich handelten, raubten sie Männern die Männlichkeit. Wenn sie den Familienraum verließen, um über öffentliche Angelegenheiten mitzuentscheiden, entwerteten sie die männliche Herrschaftsposition, die auf der fraglosen Unterordnung der Ehefrauen beruhte. Sie in der Familie zu halten, ihnen hier einen erstrebenswerten und ausfüllenden Lebenszweck zu bieten galt deshalb als wichtige Bedingung, das männliche Machtmonopol in Familie und Staat zu sichern. Um diese austarierte Gesellschaftsarchitektur nicht zu gefährden, plädierte denn auch Riehl dafür, die Familie für Frauen attraktiver zu gestalten und ihr einen größeren politischen Stellenwert einzuräumen. Nur so könne die "politische Emanzipation" des weiblichen Geschlechts vereitelt werden. Nicht anders als für seine Zeitgenossen war der Staat auch für Riehl "ein rein männliches Wesen". Als gestaltende, ausgreifende Potenz, die sich an verbindlichen Rechtsnormen und Gesetzen orientiere, sei er Männerwerk; nur der Mann als "Macht der sozialen Bewegung" sei fähig zur "politischen That". Frauen dagegen bildeten "nur eine ruhende Macht im Staate". Ihr zentraler und politisch höchst bedeutungsvoller Wirkungsbereich sei die Familie. Durch sie träten sie zwar auch in Beziehung zum Staat, aber eben nur vermittelt, niemals direkt und individuell. Der große und folgenreiche Fehler der Gegenwart sei es gewesen, dieses Verhältnis zu vergessen und sich einseitig auf die "unmittelbare Beziehung des Mannes zum Staate" zu konzentrieren. Ein Staat, der nur männliche Individuen kenne, lege aber von sich aus "den Frauen die Frage in den Mund, ob sie denn eine vollkommene Null im öffentlichen Leben" seien. Diese Frage könne nur im Rahmen einer organischen Staats- und Gesellschaftstheorie richtig beantwortet werden, nicht jedoch mit der modischen Zensustheorie. Diese produziere unlösbare Widersprüche, wenn sie einerseits allen "steuerzahlenden Individuen" politische Partizipationsrechte zugestehe, andererseits alle Frauen davon ausnehme. Warum, fragte Riehl ketzerisch, lasse man Frauen, die als Steuerzahlerinnen und Erwerbstätige ebenso wie Männer einen aktiven, meßbaren Beitrag zum Nationalvermögen leisteten, nicht mitwählen? "Auf die Frage muß die Censustheorie schlechterdings die Antwort schuldig bleiben. Nur aus Instinkt, der Überlieferung folgend, handelt man gescheiter als man in der That ist, und schließt die Frau ohne Grund von der Wahl aus." Könnte man sich statt dessen dazu durchringen, das Parlament als Vertretung nicht von Individuen, sondern von Familien zu begreifen, wären damit auch Frauen politisch existent - eben "mitvertreten" durch ihre Ehemänner oder Väter, die nicht mehr nur sich selber, sondern ihr "Haus", ihre Familie repräsentierten. "Die Emanzipation der Frauen", faßte Riehl seinen Gedankengang zusammen, "ist kurzweg zu verdeutschen in der staatlichen Anerkennung der Familie." [88]
Riehls Plädoyer für ein ständisch-familiales Wahlsystem fand außerhalb konservativer Kreise wenig Anklang. Seine Kritik an der inneren Widersprüchlichkeit des "modernen Konstitutionalismus" lief ebenfalls ins Leere. Zwar wurde jene Widersprüchlichkeit auch von Liberalen nicht bestritten. "Unläugbar", faßte Johann Caspar Bluntschli 1870 die "zur Zeit noch herrschende Ansicht" zusammen, bestehe "ein Gegensatz zwischen der privatrechtlichen und der politischen Handlungsfähigkeit" von Frauen. Dennoch halte man "fürs erste" an ihrem Ausschluß aus der Politik fest.
"Hauptgründe ... sind die herkömmliche Sitte aller Völker, welche den Staat, der unzweifelhaft ein männliches Wesen ist, auch als die Aufgabe und Sorge der Männer betrachtet, und die Bestimmung der Frauen vorzugsweise in der Familie sticht. Man fürchtet, daß durch die Betheiligung der Frauen an dem politischen Leben diese ihrem natürlichen Wirkungskreise zum allgemeinen Schaden entfremdet und eher Reizbarkeit und Leidenschaft als Einsicht und Thatkraft dem Staate zubringen würden. Niemand nimmt an dem mittelbaren Einfluß der Frauen auf das politische Leben Anstoß und die patriotische Aufopferungsfähigkeit der Frauen wird hochgepriesen, aber man ist überzeugt, daß die unmittelbare Theilnahme an den Staatsgeschäften unweiblich, für den Staat gefährlich und für die Frauen verderblich wäre. [89]
Differenzierter und komplexer argumentierte in den 1860er und 1870er Jahren der einflußreiche liberale Staatsrechtsprofessor Robert Mohl. Als erbitterter, aber erfolgloser Gegner des allgemeinen und gleichen Männerwahlrechts warnte er eindringlich davor,
"nun bis zum Äußersten (zu) gehen und alle Dämme nieder(zu)reißen ..., welche Erfahrung und Vernunft bisher noch aufrecht erhalten haben". Statt dessen ergebe sich "die Pflicht, das wenigstens noch zu retten, was zu retten ist". Wenn das allgemeine und gleiche Männerwahlrecht schon nicht zu verhindern gewesen sei, müsse man weiteren Schaden in Form des Frauenstimmrechts vom Staat abwenden. Keinesfalls dürfe die bedenkliche Abkehr von liberalen Prinzipien, wonach politische Rechte an Befähigungen, an ein ökonomisches und kulturelles Kapital geknüpft gehörten, nun auch noch dazu führen, das letzte Sicherheitsventil zu öffnen und die Geschlechterschranken einzureißen. Nach Fabrikarbeitern, Handwerksgesellen und Tagelöhnern fortan auch Frauen staatsbürgerliche Rechte zu gewähren zerstöre die Grundlagen eines Staatswesens, das auf Pflichten und Kompetenzen seiner Angehörigen dringlichst angewiesen sei. [90]
Mohl zog hier gewissermaßen die politische Notbremse, um die vom allgemeinen und gleichen Männerwahlrecht ausgehende Sogwirkung zu neutralisieren. Auch für seinen christlich-konservativen Kollegen aus dem theologischen Fach, Philipp von Nathusius, öffnete das allgemeine Stimmrecht, jene "hirnlose Neuzeits-Mißgeburt", der Forderung nach dem Frauenstimmrecht Tür und Tor. Anders als Mohl ging er jedoch davon aus, daß dem gerade eingeführten Reichstagswahlrecht keine lange Dauer beschieden sei, weshalb er sich mit seiner "Ausdehnung auf die Frauen" nicht näher beschäftigte. [91]
Der gleichen Meinung scheint der Bonner Geschichtsprofessor Heinrich von Sybel gewesen zu sein, der als nationalliberaler Reichstagsabgeordneter unmittelbar mit Wahlrechtsfragen befaßt war. Bereits 1867 hatte er im Parlament des Norddeutschen Bundes gegen die gesetzliche Verankerung des allgemeinen, gleichen, direkten Männerwahlrechts votiert. Drei Jahre später bezeichnete er in einem öffentlichen Vortrag über "die Emancipation der Frauen" das Frauenstimmrecht als die "notwendige Folgerung" jenes Rechts. Verzichte man darauf, das Wahlrecht an "politische Befähigung und Leistung" zu knüpfen, könne man die Forderung nach dem Frauenstimmrecht nicht mehr ablehnen. Unreifen und unkultivierten Männern politische Rechte zuzugestehen, die man gebildeten Damen vorenthalte, sei nicht zu rechtfertigen. Allerdings bleibe dabei die Frage offen, "ob der Staat besser thue, den züchtigen Jungfrauen das Wahlrecht zu geben, oder es den dummen und rohen Männern so weit wie möglich zu beschränken". Sybel fiel es nicht schwer, diese Frage zu beantworten. Das Frauenstimmrecht war ihm "weder ein Gewinn für den Staat noch für die Frauen". Um so dringlicher müsse es sein, die Einführung des allgemeinen und gleichen Männerwahlrechts rückgängig zu machen, da nur dann seine logisch konsequente Erweiterung auf Frauen verhindert werden könne.
Warum aber sollten Frauen nach Ansicht des Professors keine politischen Rechte ausüben und öffentliche Ämter bekleiden? Welche sachlichen Gründe führte er an, um ihre Ausschließung zu rechtfertigen? Sybels Argumentation läßt sich in einem Satz zusammenfassen:
Die "normale Konstitution" der Frauen stehe ihrer Eignung als aktive oder passive Politikerinnen entgegen. Von Natur aus unfähig zu "logischem Raisonnement- und "methodischer Dialektik", würden Frauen in der politischen Arena den "charakteristischen Reiz der Weiblichkeit" einbüßen, ohne doch "mit der Arbeit des Mannes wettelfern (zu) können". Eine politische Frau, lautete Sybels Fazit, "wird kein ganzer Mann und ist keine rechte Frau mehr; die Männin ist der Welt genau so viel werth wie ein weibischer Mann". [92]
Auf die "unveränderlichen natürlichen geistigen Anlagen des Weibes" berief sich auch Robert Mohl, als er 1869 begründete, warum Frauen nicht am politischen Geschäft teilnehmen dürften. Frauen seien zu emotional, zu weich und könnten nicht logisch denken. Außerdem fehle es ihnen, die auf ewig an ihre "Aufgaben als Gattin, Mutter und Hausfrau gewiesen bleiben", an "genügender Kenntnis der Welt und der Geschäfte". Zwar seien auch viele Männer kenntnisarm, doch dürfe man auf einen Tort nicht einen zweiten setzen und das Obel dadurch heillos verschlimmern. Anders als Sybel beließ es Mohl nicht bei diesem NaturArgument, sondern führte weitere Gründe für den Ausschluß der Frauen aus der aktiven Staatsbürgerschaft an. So könne nur derjenige staatsbürgerliche Rechte in Anspruch nehmen, der die staatsbürgerlichen Pflichten erfülle. Dies aber sei der Frau "der Natur der Sache nach" zum großen Teil nicht möglich. "Sie kann nicht ihre besten Jahre im Heeresdienst zubringen, nicht Leben und Gesundheit zur Vertheidigung des Vaterlandes auf das Spiel setzen. Nicht sie ist es, welche die Mittel zur Steuerzahlung herbeischafft; dies geschieht durch die Arbeit des Mannes, sie verwaltet und verwendet nur das von ihm Erworbene. Die Frau ist körperlich nicht im Stande, diejenigen Leistungen, welche zur Abwendung außerordentlicher Gefahren oder zur Erreichung von allgemeinem Nutzen nothwendig sind, zu vollbringen. Nur der Mann kann bei Feuers- und Wassersnoth, bei Bekämpfung wilder Thiere und Menschen, bei der Herstellung von Straßen, bei sonstigen Schanzarbeiten, Kriegführung u. dgl. Dienste leisten." Deshalb stehe nur dem Mann das Recht zu, bei öffentlichen Angelegenheiten mitzuentscheiden. Darüber hinaus wirke sich das Frauenstimmrecht nachteilig auf die "häuslichen Verhältnisse" aus, stürze sie in "Verwirrung«' und zerstöre ihre Harmonie. Ehemann und Ehefrau, Vater und Tochter, Bruder und Schwester würden miteinander in Streit geraten, die männliche Autorität zerfiele. Negative Folgen seien zudem auch für die politische Kultur insgesamt zu erwarten. "Ernstlich" davon zu sprechen, hielt Mohl kaum für möglich; vielmehr beließ er es bei dem Ausruf: "Allein man denke sich ein gemischtes Parlament, oder Budget- und Gesetzgebungsausschüsse, gemischt aus Herren und Damen!" "Ordnung und Stille" würden nimmermehr einkehren, und die "sittliche Verwilderung der Geschlechter" sei vorprogrammiert.[93]
So unsystematisch und angreifbar diese Argumentationskette auch war, so sicher konnte sich Mohl der Zustimmung seiner liberalen Zeitgenossen sein. Überall sang man das gleiche Lied: Frauen seien politisch ungebildet und desinteressiert, außerdem zu weich für das harte politische Geschäft. Sie könnten bestimmten bürgerlichen Pflichten nicht nachkommen wilde Tiere fangen und Chausseen anlegen zum Beispiel. Darüber hinaus litten die Familie und die Autorität der Hausväter. Eine Politisierung der Frauen führe zwangsläufig zu ihrer Entweiblichung und Vermännlichung. Dies wiederum habe Auswirkungen auf Männer und deren Geschlechtscharakter, der sich nur in der Differenz zum weiblichen voll entfalten könne. Eine Gesellschaft gleichberechtigter männlicher und weiblicher Staatsbürger ähnele daher einer Gesellschaft unterscheidungsloser Zwitterwesen - eine Horrorvision im jungen deutschen Nationalstaat, der sein militärisch besiegeltes, männlich-mannhaftes Profil eifrig-eitel pflegte. [94]
Es ist auffällig, daß die Debatte um das Frauenstimmrecht auf der Seite seiner Gegner nach Gründung des Deutschen Reiches zunächst abflaute. Augenscheinlich war der Eindruck der auf männlichem "Blut und Eisen" beruhenden Reichseinigung zu überwältigend, als daß es weiterer Argumente bedurft hätte. So sahen denn auch die bürgerlichen Parteien des Kaiserreichs lange Zeit keine Notwendigkeit, sich ernsthaft mit weiblichem Partizipationsbegehren auseinanderzusetzen. Ihre Programme schwiegen sich darüber aus, und weder auf Parteitagen noch in der öffentlichen Selbstdarstellung spielte die politische Gleichberechtigung der Geschlechter eine Rolle. "Obrigkeit ist männlich", faßte Heinrich von Treitschke die herrschende Meinung in seinen Berliner Vorlesungen zusammen und fügte hinzu: "Das ist ein Satz, der sich eigentlich von selbst versteht." Um dennoch auftretende Verständnisschwierigkeiten auszuräumen, verwies er auf
"das rein physische Moment, daß Regieren bedeutet: bewaffneten Männern gebieten, und daß bewaffnete Männer sich den Befehl eines Weibes nicht gefallen lassen". [95]
Zweifellos kam dieses Argument in einer Gesellschaft, die dem Militär hohe Achtung zollte, gut an. Erfunden wurde es allerdings lange vor den Einigungskriegen der 1860er und frühen 1870er Jahre. Bereits Carl Welcker hatte damit 1838 den Ausschluß der Frauen aus der Politik sachlich begründet. Alle freien Völker, schrieb er, verknüpften von altersher "die unmittelbaren politischen Stimm- und Entscheidungsrechte im bürgerlichen Gemeinwesen mit den Pflichten, dasselbe auf Leben und Tod zu vertheidigen":
"Wer den Krieg zu beschließen das Recht haben will, der muß ihn auch zu führen im Stande sein. [96]
Hier tauchte erstmals, wenn auch nicht an zentraler Stelle, ein Motiv des männlichen Politikmonopols auf, das in der fortlaufenden Debatte um Frauenrechte eine wichtige Rolle spielen sollte. Mindestens ebenso bedeutsam war es in der Auseinandersetzung um das allgemeine und gleiche Männerwahlrecht. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts bürgerte sich in Deutschland das Argument ein, Wahlrecht und Wehrpflicht seien zwei Seiten derselben staatsbürgerlichen Medaille. Wer die Pflicht habe, für das Vaterland mit Leib und Leben einzustehen, müsse auch das Recht haben, an politischen Entscheidungen mitzuwirken. Die in Preußen bereits 1814 eingeführte allgemeine Wehrpflicht mußte diesem Gedankengang zufolge zwangsläufig allgemeine staatsbürgerliche Rechte nach sich ziehen. Für die Fürsprecher eines unbeschränkten Männerwahlrechts war dies ein gewichtiges Argument. Immer wieder kamen sie in den Wahlrechtsdebatten des 19.Jahrhunderts darauf zurück. Konservative wie Hermann Wagener, der zusammen mit Otto von Bismarck als politischer Ziehvater des Reichstagswahlrechts [97] gilt, benutzten es 1867 ebenso wie Liberale. 1906 würdigte der christlich-soziale Abgeordnete Adolf Stoecker das Reichstagswahlrecht als eines, in dem im Gegensatz zum plutokratischen preußischen Dreiklassenwahlrecht der "Gesichtspunkt der Persönlichkeit" herrsche. Eben jener aber besitze "im Lande der allgemeinen Dienstpflicht eine große Bedeutung". [98] Selbst die Sozialdemokratie bezog sich positiv auf die allgemeine Wehrpflicht als Grundlage des allgemeinen Männerwahlrechts: "Mit vollendetem 20. Lebensjahr", schrieb Bebel 1895, "muß der Mann seine Kräfte dem Dienst für des Landes Freiheit und Unabhängigkeit zur Verfügung stellen, er muß Soldat werden." Nach dem Grundsatz, "wer Pflichten hat, soll auch Rechte naben", komme das Wahlrecht Männern daher als "ein selbstverständliches Recht" zu. [99]
Taugte die allgemeine Wehrpflicht somit dazu, die Forderung nach dem allgemeinen und gleichen Männerwahlrecht zu legitimieren, bot sie sich umgekehrt dafür an, die Forderung nach dem Frauenstimmrecht zu delegitimieren. Frauen leisteten schließlich keinen Kriegsdienst und erfüllten demnach nicht, wie Hermann Wagener es ausdrückte, "die Krone aller Pflichten gegen den Staat". Vor allem nach 1867/71 trat das Wehrpflicht-Argument immer deutlicher an die Stelle der zuvor bemühten Ausschließungsgründe. Wenn seit Einführung des Reichstagswahlrechts die Gewährung und Ausübung politischer Rechte nicht länger an bestimmte Qualifikationen als Nachweis einer vernünftigen staatsbürgerlichen Urteilsfähigkeit geknüpft werden konnten, versprach wenigstens die Wehrpflicht einen Schutz vor leichtfertigem politischen Handeln. Das Wahlrecht war, so verstanden, das immaterielle Entgelt für den von jedem Bürger zu leistenden Wehrdienst, dieser wiederum der Ausweis bzw. die Wiege staatsbürgerlicher Gesinnung und Loyalität. Da Frauen jenen Preis den Wehrdienst - nicht entrichten durften, wäre ihnen das Wahlrecht ohne Gegenleistungen zugefallen. Das aber verbot sich in der politischen Kultur des Kaiserreichs gleichsam von selber.
Je mehr Preußen-Deutschland an militärischem Profil gewann und je mehr öffentliche Glorie das Militär als Schöpfer der Reichseinigung einheimste, desto größeres Gewicht erhielten solche Verweiszusammenhänge und Semantiken. Die Verknüpfung von Wehrpflicht und Wahlrecht avancierte zur politischen Standardformel. Damit geriet jene Partei in Begründungsschwierigkeiten, die sowohl für das allgemeine Männerstimmrecht als auch für das Wahlrecht der Frauen eintrat. August Bebel half sich mit dem Hinweis darauf, daß es immerhin Frauen seien, die die künftigen Soldaten gebaren. Damit brächten sie dem Staat gewissermaßen ein doppeltes Opfer, das Leben ihrer Söhne und ihr eigenes:
"Die Zahl der Frauen, die infolge von Geburten sterben oder siechen, ist weit größer als die Zahl der Männer, die auf dem Schlachtfeld fallen oder verwundet werden." [100]
Wann immer der sozialdemokratische Parteiführer diese Vergleiche im Reichstag zog, vermerkte das Protokoll "Unruhe" unter den Parlamentariern. Offenbar verletzten Bebels Analogieschlüsse das Zartgefühl seiner Zuhörer, das es verbot, Mutterschaft und Heldentod gleichzusetzen. Auf weit größere Zustimmung traf dagegen die Position des christlich-sozialen Abgeordneten Adolf Stoecker, der wiederholt betonte, wie eng Militärdienst und politische Partizipation zusammenhingen. Da Frauen ihr Blut nicht für das Vaterland, sondern sozusagen privat vergössen, könnten sie
"auch nicht die großen Entscheidungen des Staatslebens fällen und im Parlament mitraten, wo sie getroffen werden". [101]
Dieses Argument erfreute sich bei konservativen und liberalen Zeitgenossen gleichermaßen großer Beliebtheit. Friedrich Paulsen, Professor an der Berliner Universität mit liberalen Neigungen, äußerte sich 1894 ähnlich wie sein konservativer Kollege Treitschke:
"Alle obrigkeitliche Gewalt beruht zuletzt immer darauf, daß sie bewaffneten Männern gebietet."
Frauen könnten deshalb weder Minister noch Volksvertreter werden. Kann man sie aber nicht zu Parlamentsgliedern machen, so kann man sie auch nicht zu Wählern machen." [102]
Paulsens logischen Schluß ergänzte der konservative Publizist Max Lorenz 1906 durch den Hinweis auf den substantiellen Gehalt staatlicher Politik, der die Partizipation von Frauen zwingend verbiete.
"Wohl aber ist die Politik darum auf alle Fälle Männersache, weil das Wesen des Staates und seine eigentliche und innerste Aufgabe nicht etwa das möglichst große Glück der möglichst Vielen ist, sondern die Entfaltung der Macht nach außen hin und das Bestehen des Kampfes ums Dasein im Ringen der Nationen untereinander. Politische Fragen sind in Wahrheit und letzten Endes Machtfragen und es sind die Kriege, in denen das Dasein der Staaten und das Leben der Völker kulminiert. Darum muß die Gesetzgebung eines Staates auch schon in Friedenszeiten von männlichem Geiste getragen sein, und ebenso wenzig, wie Weiber Waffen zu tragen vermögen, entspricht es ihrer Natur, Politik zu machen und Gesetze zu geben, die sich im tiefsten Grunde immer auf die Gestaltung des Staatsganzen und die Entfaltung der Staatsmacht beziehen." [103]
Je mehr sich ein solcher politischer Darwinismus in der wilhelminischen Gesellschaft verbreitete, je näher der Gedanke an Krieg als Lösung nationaler und internationaler Konflikte seit Beginn des 20. Jahrhunderts rückte, desto schärfer wurde vor allem in konservativen Kreisen die Aversion gegen politische Teilhaberechte von Frauen. Sehr viel heftiger und grundsätzlicher als die anderen bürgerlichen Parteien setzten sich die Konservativen mit den Partizipationsforderungen, wie sie von SPD und Teilen der Frauenbewegung vertreten wurden, auseinander." [104] Aktive Mitstreiter fand man höchstens noch bei den Nationalliberalen, die sich unter Hinweis auf den "von der Natur gewollten Unterschied der Geschlechter" ähnlich dezidiert gegen "diesen Teil der emanzipatorischen Bestrebungen" aussprachen." [105] Fortschrittsliberale hingegen waren weniger prinzipienfest; sie hielten jene Bestrebungen lediglich für verfrüht." [106] Ebenso argumentierten die Anhänger des 1896 gegründeten Nationalsozialen Vereins. Zwar akzeptierten sie die politischen "Subjektsrechte" von Frauen, wollten sie aber noch nicht institutionalisieren, da, wie Friedrich Naumann 1903 formulierte, "sie heute wohl sich umsetzen in ein Recht der Priester". [107] Vom Frauenwahlrecht hätte vor allem die katholische Zentrums-Partei profitiert - aber auch die zögerte, diesen Vorteil im Parteienwettstreit für sich zu nutzen. Noch 1912 wandte sie sich gegen die Einführung des kommunalen Frauenwahlrechts, da "die Situation ... dafür heute noch nicht reif ist". Vom Frauenstimmrecht in Länderparlamenten oder gar im Reichstag wollte man erst recht nichts wissen. [108] Diese dilatorische, jedenfalls nicht prinzipiell und für immer ablehnende Haltung des liberalen und katholischen Milieus rief in konservativen Kreisen scharfe Kritik hervor. Am radikalsten gebärdete sich der 1912 gegründete Deutsche Bund gegen die Frauenemanzipation, in dem sich vor allem Professoren, Offiziere und Publizisten, viele davon Mitglieder des Alldeutschen Verbandes, engagierten. Sein Präsident Friedrich Sigismund veröffentlichte noch im gleichen Jahr eine aggressive Streitschrift gegen das Frauenstimmrecht, in der er "die deutschen Männer" dazu aufrief,
"in einer schweren Zeit ... an der Erweckung altgermanischen Männergeistes mit(zu)wirken, der allein uns wieder aus den Niederungen der Verzagtheit auf den Gipfel der Tat hinaufführen kann". Dies gelinge aber nur, wenn man Frauen "vom Walhall der Politik" fernhalte. [109]
Sigismunds Mitstreiter Werner Heinemann, Funktionär des Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes, wurde 1913 noch deutlicher. An die bürgerlichen Parteien appellierte er, den Forderungen nach dem Frauenstimmrecht nicht nachzugeben:
"Das Vordringen des Frauenstimmrechts ist ein Wertmaß für die Kraft, die den einzelnen Völkern innewohnt; es ist kein Zeichen von Mut, daß die Männer das Szepter aus der Hand gaben, sondern der beste Beweis für die Verweiberung der Männerwelt." Darüber hinaus komme die Einführung des Frauenstimmrechts dem "nationalen Selbstmord" gleich, da angesichts der bekannten antimilitaristischen Haltung des Feminismus "eine Großmachts- und Weltmachtspolitik den schwersten Kämpfen entgegenginge oder ganz unmöglich würde".[110]
Ein solches männlich-kriegerisches Streben nach einem Platz an der Sonne im Kreis der Großmächte aber war das einigende Band, das höchste Staatsglück breitester Kreise der wilhelminischen Männergesellschaft. Als der Krieg 1914 wirklich ausbrach, erschien er den Befürwortern eines männlichen Staates als Exerzierfeld wahrer männlicher Werte:
"Es ist die fein durchgebildete Technik und Wissenschaft der Männer, das männliche Pflichtgefühl, die musterhafte Manneszucht, das hochgespannte männliche Ehrgefühl, die uns in Not und Tod, in Blut und Tränen heute die Rettung unseres Volkes sichern." In dieser Situation werde es offenbar, "daß der Staat in erster Linie die Zusammenfassung der in seinen wehrfähigen Männern verkörperten Kraft" sei. Jetzt bestehe "kein Zweifel mehr, daß nur der sich selbst behauptende Mann ... die höchste Erscheinungsform einer völlig freien und unabhängigen Persönlichkeit" darstelle. Deshalb könne es "auch nur männliche vollberechtigte und verpflichtete Staatsbürger geben".
Frauen bleibe der "höchste Stolz..., einem Helden anzugehören oder einen Helden geboren zu haben". Keinesfalls aber gebühre ihnen das politische Stimmrecht, das die "allmähliche Verweiberung" des Staates einleiten und seinen "Niedergang" bewirken würde." [111]
Diese ebenso schlichte wie pathetische Denkfigur aus dem Jahre 1916 spiegelte sowohl die tief sitzende Angst vor der "Verweiberung" der Männer und des Staates als auch den Triumph darüber, daß die bedenkliche Entwicklung im Krieg zum Stillstand gekommen sei. Ein Sieg des deutschen "Männerstaates" würde, davon ging man aus, feministischen Forderungen langfristig den Wind aus den Segeln nehmen und Politik wieder uneingeschränkt als nationale Selbstbehauptung und damit als Männersache erscheinen lassen. Statt mit einem Sieg aber endete der Krieg für Deutschland mit der militärischen Kapitulation und einer politischen Revolution, die Frauen ohne Umschweife politische Staatsbürgerrechte verlieh. In dieser Konstellation blieben die traditionellen Stimmrechtsgegner, allen voran die Konservativen, stumm. Ihre auf der männlichen Wehrfähigkeit und Wehrbereitschaft aufbauende Beweisführung hatte sichtbar Schiffbruch erlitten; politische Macht, ihre Positionen trotzdem durchzusetzen, besaßen sie 1918/19 nicht mehr. Der Zusammenbruch des "Männerstaates" und die Abwertung des Militärs eröffneten Frauen nun erstmals die Möglichkeit, als gleichberechtigte Staatsbürgerinnen auftreten und handeln zu können. Das männliche Politikmonopol, über ein Jahrhundert lang energisch verteidigt, war damit formell beseitigt, der Staat nicht mehr allein männlichen Geschlechts.
6. Das Geschlecht der Politik - die Politik der Geschlechter
Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert einer breitflächigen und tiefgreifenden Politisierung. Der Untertan des Ancien Régime, von politischen Machtquellen ausgeschlossen und der Obrigkeit mehr oder weniger stumm und leidenschaftslos ergeben, emanzipierte sich zum Staatsbürger. Als solchem stand ihm die aktive Teilhabe an den öffentlichen Angelegenheiten, an der politischen Organisation des Gemeinwesens zu. Vorerst nur auf kommunaler Ebene, mehr und mehr aber auch im nationalen, gesamtstaatlichen Rahmen erwarb der Staatsbürger politische Handlungsfähigkeit. Damit wuchs zugleich auch sein Interesse an Politik und ihren Gegenständen. Solange letztere im exklusivminoritären Zirkel traditioneller Macht- und Amtseliten verhandelt worden waren, blieb das Gros der Bevölkerung zwangsläufig unbeteiligt, uninformiert und desinteressiert. Politik war etwas, das den einzelnen nichts anging, das in den Kompetenzbereich kommunaler und landesherrlicher Obrigkeiten fiel. Die politischen Reformen und staatlichen Reorganisationsbemühungen des frühen 19. Jahrhunderts sprengten diesen hermetischen Politikbegriff auf. Von nun an war jeder Bürger aufgerufen, Gemeinsinn zu zeigen und zu praktizieren, politische Verantwortung zu übernehmen. Belohnt wurde er dafür, indem er - wie vermittelt auch immer - an politischer Macht partizipieren durfte: als Wähler, als Abgeordneter, als Amtsträger.
Politik wurde somit zum Massenereignis, greifbar vor allem in den turnusmäßig stattfindenden Wahlen zu den neu geschaffenen parlamentarischen Körperschaften. Rund um diese Wahlen entfaltete sich eine rege politische Agitation; aber auch zwischen den Wahlterminen konnte sich Politik im öffentlichen Leben behaupten. Zeitungen trugen das, was in Stadtverordnetenversammlungen und Magistraten, in Länderkammern und im Reichstag debattiert wurde, in jeden Haushalt, in jeden Winkel des Staatsgebietes. Die Entwicklung von politischen Massenorganisationen - Parteien und Verbänden - und die Erosion des traditionellen Honoratiorenregiments trugen ebenfalls dazu bei, Politik zu popularisieren, im Alltagsleben zu verankern und an den Mann zu bringen. Diese Öffnung des politischen Raums ging einher mit seiner allgemeinen Bedeutungssteigerung. Politik nahm nicht nur in der Tagespresse, sondern auch im persönlichen Erfahrungsbereich der Menschen einen immer größeren Stellenwert ein. Hamburger Arbeiter etwa unterhielten sich in ihren Kneipen gegen Ende des 19. Jahrhunderts keineswegs nur über Schiffskatastrophen und Familienkonflikte. Innen- und außenpolitische Themen spielten vielmehr eine wichtige Rolle." [112] Im politischen Geschäft Bescheid zu wissen und Position zu beziehen gehörte zum Alltag dazu. Für immer mehr Männer wurde es zudem selbstverständlich, einer Partei oder einem Verein beizutreten und sich damit aktiv ins politische Geschehen einzumischen. Kneipen, Zeitungen, Vereine, Parteien, Wahlversammlungen, Parlamente - die Orte, an denen sich politisches Interesse artikulierte und politische Partizipation offenbarte, waren öffentlich. Sie zeichneten sich durch ihre grundsätzliche Zugänglichkeit aus; jeder hatte Zutritt, konnte sich am Austausch von Meinungen und Argumenten beteiligen. Der öffentliche Raum der Politik war prinzipiell unbegrenzt, kannte weder soziale noch religiöse Restriktionen. Nicht zuletzt die allseitige Offenheit und Anschlußfähigkeit politischer Kommunikation trugen zu ihrer wachsenden Beliebtheit und Ubiquität bei. Diese hohe Akzeptanz spiegelt sich vor allem im politischen Wahlakt selber. Hier erfuhren Staatsbürger ihre eigentliche politische Macht, hier erlebten sie sich als politische Wesen. Die hohe Beteiligung an den Reichstagswahlen nach 1871 beweist, wie wichtig ihnen diese Erfahrung war. Albert Schäffle, Tübinger Universitätsprofessor und württembergischer Landtagsabgeordneter, berichtete aus seiner Beobachtung der süddeutschen Stimmrechtsdebatten 1868,
"daß die Massen sämtlicher erwachsener Männer, der Häupter und Vertreter der familiären, der geselligen und wirtschaftlichen Elementargruppen des Gesellschaftsorganismus für die Ausübung des Wahlrechtes das lebhafteste Interesse hatten". [113]
Dieses Interesse machte immer weniger an sozialen Herkunftsgrenzen halt. Das frühliberale Credo, das die Gewährung politisch-staatsbürgerlicher Rechte an bestimmte Voraussetzungen, an das Vorhandensein eines gewissen kulturellen und ökonomischen Kapitals band, war in der zweiten Jahrhunderthälfte kaum noch mehrheitsfähig. Der politische Partizipationswille hatte alle sozialen Klassen erfaßt und ließ sich nicht mehr auf den bürgerlichen "Mittelstand" eingrenzen. Die staatliche Gesetzgebung trug diesen Bestrebungen Rechnung, indem sie die nationale Repräsentation der Bevölkerung auf allgemeiner und gleicher Basis zuließ. Damit hatte eine Entwicklung ihren Höhepunkt erreicht, die den Umbau des spätabsolutistischen Regimes zu einer konstitutionell eingebundenen, parlamentarisch kontrollierten Monarchie begleitete. In ihrem Verlauf hatten immer größere Gruppen der Bevölkerung politische Rechte erhalten und ausüben können. Zugleich war der Begriff des Politischen einem massiven Bedeutungswandel ausgesetzt: Nicht nur wuchs das, was politisch entschieden werden mußte, zusehends in die Breite, umfaßte zunehmend mehr Sachbereiche und Themen. Auch das allgemeine Interesse für politische Fragen, der Eindruck persönlicher Zuständigkeit und Verantwortung nahmen merklich zu.
Wie schrieb sich diese das 19. Jahrhundert durchziehende und prägende Bedeutungssteigerung des Politischen nun aber in das Verhältnis der Geschlechter ein? Daß sie nicht geschlechterneutral verlief, hat die Analyse der Wahlrechtsdebatten überdeutlich vor Augen geführt. Politik, darin stimmten die meisten Männer überein, war ein durch und durch männliches Geschäft. Frauen hatten hier traditionsgemäß nichts zu suchen. Weder gewährte man ihnen (als Wählerinnen) politische Mitwirkungsrechte, noch durften sie politische Repräsentationsrechte (als Abgeordnete) wahrnehmen. Seit der Mitte des 19.Jahrhunderts war es ihnen zudem verboten, politischen Parteien oder Vereinen beizutreten und anzugehören. Erst nach 1908, als dieses Verbot aufgehoben wurde, konnten sie sich politisch organisieren. Doch selbst dann dauerte es noch weitere zehn Jahre, bis sie in den Kreis der aktiven, wahlberechtigten Staatsbürger aufgenommen wurden. Ohne die Revolution, die das, was noch kurz zuvor als undurchführbar gegolten hatte, mit einem Federstrich dekretierte, hätte das Frauenstimmrecht wohl noch weit länger auf sich warten lassen. Die Argumente, mit denen das männliche Politikmonopol im 19.Jahrhundert begründet und gerechtfertigt wurde, blieben sich merkwürdig gleich, änderten lediglich ihr relatives Gewicht. Lange Zeit wurde überhaupt nicht argumentiert. Weder in den provinzialständischen Vertretungen, die sich im Vormärz intensiv und ausdauernd mit der Demokratisierung des politischen Wahlrechts befaßten, noch in den ausführlichen Wahlrechtsdebatten des Frankfurter Paulskirchenparlaments 1848/49 tauchte ein geschlechterpolitischer Begründungsbedarf auf. Alle Beteiligten empfanden es als selbstverständlich, daß "die Nation", "das Volk", "die Deutschen", die es zu repräsentieren galt, männlich waren.
Dieses Selbstverständnis fand seinen Rückhalt nur bedingt in traditionellen Einstellungen und Erfahrungen. Zwar hatten Frauen auch im Ancien Régime formal keine politisch aktive Rolle spielen können. Das Bürgerrecht, das sie etwa in den Städten erwerben durften bzw. mußten, qualifizierte sie nicht automatisch zur politischen Mitwirkung. Dennoch läßt sich der Ausschluß der Frauen von politischen Rechten, wie er im 19.Jahrhundert durchgesetzt wurde, nicht als simple Fortführung einer bereits etablierten Praxis deuten. Dagegen spricht vor allem die gänzliche Umstellung des Repräsentationssystems: Ging es im ständischen 18.Jahrhundert vorrangig um die Vertretung von ererbten oder erworbenen Besitztiteln, entwickelten sich politische Rechte im 19. Jahrhundert zu Individualrechten. Haftete das Stimmrecht zuvor - mit Nachklängen in den Gemeindeverfassungen des 19.Jahrhunderts - an in der Regel immobilem Kapital (Grund- bzw. Hausbesitz) oder war "erbgesessenen" Familien vorbehalten, verband es sich im nachständischbürgerlichen Jahrhundert mit der einzelnen Person, die im Wahlakt weder ihren Besitz noch ihren Haushalt, sondern nur sich selber repräsentierte. Daß diese Person immer und ausschließlich männlichen Geschlechts zu sein hatte, war, anders als im 18.Jahrhundert, sachlich nicht zu rechtfertigen. Solange "Häuser", Familien oder Besitz zu vertreten waren, oblag dies zweifelsfrei dem jeweiligen Oberhaupt, das (fast) immer ein Mann war. Wenn sich Staatsbürgerrechte jedoch auf das Individuum bezogen, konnte dessen Männlichkeit nicht mehr fraglos gegeben sein. Der Hinweis auf Tradition und Überlieferung war demnach kein überzeugendes Argument. Er war es um so weniger, als das 19. Jahrhundert mit seinen politischen Reformen und Reorganisationsbestrebungen gerade nicht an Traditionen festhalten, sondern etwas Neues schaffen wollte. Die enorme Ausweitung und Bedeutungssteigerung der politischen Sphäre im Zuge fortgesetzter Parlamentarisierung gehörten ebenso zu diesen Innovationen wie die Demokratisierung politischer Partizipation, der Abbau sozialer Zugangsbeschränkungen. Damit aber gewannen der konsequente und systematische Ausschluß aller Frauen und die Monopolisierung des Politischen durch Männer ein neues, nie dagewesenes Gewicht, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Zum einen markierte der Anspruch, Politik sei männlich, eine neue Qualität gesellschaftlicher Selbstbeschreibung. Aus dem 18. Jahrhundert ist ein solcher Satz nicht überliefert; damals ging es vor allem um die ständische, sozial und rechtlich definierte Zuschreibung politischer Kompetenzen und Rechte. Daß Politik, hohe ganz besonders, von beiden Geschlechtern betrieben wurde, war den Zeitgenossen unmittelbar einsichtig. Die eminent politische Funktion adliger Frauen - als Salonièren, Ehefrauen oder Mätressen stand außer Frage. Gerade ein absolutistisches Herrschaftssystem, das der Figur des Fürsten zentrale Bedeutung zumaß, war weiblichen Einflüssen in nicht geringem Maße ausgesetzt. Auf diesen allseits bekannten und zunehmend kritisch kommentierten Sachverhalt spielte etwa Otto von Bismarck an, als er 1885 in der an sich wünschenswerten Herrschaft eines einzelnen spezifische Gefahren und Risiken erblickte: *"In solchem Falle können Weiber ... Unheil anrichten." Deshalb, fuhr er fort, sei eine kontrollierende Instanz in Form des Parlaments notwendig - eines Parlaments, wäre hinzuzufügen, in dem ausschließlich Männer Sitz und Stimme besaßen.[114]
Wenn man im 19. Jahrhundert die politische Rede ebenso wie politisches Handeln als genuin männliche Sphären deklarierte, bekundete man damit eine Orientierung an Geschlechterkategorien, wie sie bis dahin unbekannt gewesen war. Die Unterscheidung zwischen Männern und Frauen ließ andere mögliche Unterscheidungen verblassen. Über den Zugang zur Politik entschieden nicht mehr Qualifikation, Kompetenz, Herkunft, Vermögen, Religion oder Ansehen, sondern nur noch das Geschlecht. Die Geschlechterdifferenz usurpierte als Ordnungsund Vergemeinschaftungsinstrument eine geradezu übermächtige Bedeutung - eine Bedeutung, die sie in dieser Form nie zuvor besessen hatte.
Damit war - zweitens - eine neuartige Positionierung der Geschlechter in Staat und Gesellschaft verbunden. Den Bereich des Politischen für Männer zu reklamieren und Frauen davon auszuschließen hieß zugleich, das Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern extrem ungleichgewichtig zu strukturieren. Lassen sich die Beziehungen zwischen Männern und Frauen im Ancien R~gime, das den öffentlichen Raum - die "Gesellschaft der Häuser" (Christian Wolff) - klein hielt und der "häuslichen Gesellschaft" Priorität verlieh, als relativ ausbalanciert, wenn auch gewiß nicht symmetrisch beschreiben, kam es in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts zu einem gravierenden Machtgefälle. Je mehr die öffentliche, Männern vorbehaltene Sphäre an Bedeutung zunahm, desto mehr gerieten Frauen, von Staat und Politik künstlich ferngehalten und auf den privaten Familienbereich verwiesen, ins Abseits. Hatte die Position der Hausmutter ihrer Inhaberin in der vormodernen Gesellschaft noch Ehre und Autorität verschafft, gingen die Hausfrauen des 19.Jahrhunderts in dieser Beziehung weitgehend leer aus. Ansehen und Macht verknüpften sich jetzt mehr als je zuvor mit im öffentlich-politischen Raum besetzten Funktionen, die Frauen unter keinen Umständen zur Verfügung standen. Männer hingegen fanden hier ein neues, enorm prestigeträchtiges Aktionsfeld, das ihre Stellung im Geschlechterverhältnis deutlich aufwertete. Treitschkes Satz, Politik und Obrigkeit seien männlich, behielt auch in der Umkehrung seinen Sinn: Männer waren Obrigkeit.
"Der Staat ist ein männliches Wesen" - diese immer wiederkehrende Aussage verweist aber noch auf einen anderen Bedeutungszusammenhang. Staatliche Macht beruhte, auch und gerade im 19.Jahrhundert, auf einem militärischen Fundament. Nach innen polizeilich organisiert, nach außen mit einer zahlenmäßig rasch wachsenden Armee auftretend, beanspruchte der Staat nicht nur das Monopol physischer Gewalt, sondern beilutzte es auch zur Durchsetzung seiner politischen Ziele. Sowohl gegen den inneren Feind, vor allem die zur Massenbewegung werdenden Arbeiterorganisationen, als auch gegen den äußeren Feind, der im Verlauf des 19. Jahrhunderts wechselnde Namen trug, machte der preußisch-deutsche Machtstaat militärisch mobil. Von den antinapoleonischen Befreiungskriegen über den Deutsch-Dänischen Krieg, die innerdeutschen Einigungskriege, den Deutsch-Französischen Krieg, den Einsatz von Kolonialtruppen bis zur aufgeheizt-kriegslüsternen Atmosphäre im Vorfeld des Ersten Weltkrieges zog sich die Spur des Militärs, das auch in Friedenszeiten durch Rüstungsoffensiven und fortlaufende Heeresvermehrungen von sich reden machte. Als >Staat im Staate< ließ es die existentielle Bindung nationaler Macht an physische Stärke und militärische Überlegenheit schneidend scharf hervortreten. Militärische Macht aber war per definitionem männlich, sowohl personell als auch im metaphorischen Sinn. Das neue System allgemeiner Wehrpflicht ließ potentiell alle Männer daran partizipieren. Als Staatsbürger in Uniform begründeten und sicherten sie jene Macht, die sie dank ihrer politischen (Wahl-) Rechte mitkonstituierten und kontrollierten. Diese Identifikation von Politik und militärischer Gewalt schwang in der Definition des Staates als eines männlichen Wesens immer mit. Sie spiegelte sich darüber hinaus in der Semantik des Politischen selber: im Bellizismus der politischen Rede, aber auch und vor allem in jener denkwürdigen Definition des Politischen, die Carl Schmitt 1932 prägte:
"Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind."
Voraussetzung jeder Politik sei daher die "reale Möglichkeit" des Krieges, die "Eventualität eines Kampfes", der die physische Tötung des Feindes bezwecke. Hatte der preußische General und Militärtheoretiker Carl von Clausewitz den Krieg Anfang des 19. Jahrhunderts noch als "bloßes Instrument der Politik" bezeichnet, ging der Jurist und Weltkriegsfreiwillige Carl Schmitt weit über diese Begriffsbestimmung hinaus. [115] Damit verfestigte er zugleich den genuin männlichen Bezugs-und Bedeutungsrahmen von Politik und verhalf dem Staat wieder zu jenem maskulin-virilen Charakter, der - so sahen es zumindest Schmitt und viele seiner Zeitgenossen - unter dem Druck liberaler, demokratischer und frauenbewegter Einflüsse zunehmend verlorenzugehen drohte. Es lag in der Konsequenz solcher Revisionen, wenn Nationalsozialisten, die ihren männlichen Staat auf ein starkes militärisches Fundament gründen wollten, ernsthaft darüber nachdachten, Frauen die gerade erst erworbenen staatsbürgerlichen Rechte wieder abzuerkennen. [116]