Als der Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl um die Mitte des 19.Jahrhunderts ein Buch über "die Familie" schrieb [1], stellte er grundsätzliche Überlegungen über die Differenz der Geschlechter an den Anfang. Die Ungleichheit "zwischen Weib und Mann" erklärte er zu einem "Naturgesetz", aus dem die "ungleichartige Gliederung der bürgerlichen und politischen Gesellschaft" "naturnotwendig" hervorgehe. Jenes Gesetz politisch zu würdigen, seine "politischen Folgen" abzuschätzen schien dem Autor so wichtig, daß er seine kulturgeschichtlichen Betrachtungen über Familie und "ganzes Haus" damit einleitete. Für den konservativen Publizisten zeichneten sich diese Folgen vor allem auf zwei Ebenen ab: zunächst und unmittelbar dort, wo es um politische Teilhabe, um das Verhältnis zum Staat ging. Riehl ließ keinen Zweifel daran und wiederholte mehrmals, daß der Staat "männlichen Geschlechts" sei, "ein rein männliches Wesen", das es ausschließlich mit Männern zu tun habe. Frauen hingegen werde im "öffentlichen Leben" eine bloß indirekte, in der Familie vermittelte" Geltung zuteil. Sie bedürften keiner eigenen Repräsentation im Staat, denn sie seien bereits "in dem Organismus der Familie" vertreten, als deren "natürlicher Repräsentant" der Mann anzusehen sei.
Daß sich in der politischen Arena nur Männer tummelten, bildete die eine politische Konsequenz der scheinbar naturgegebenen Geschlechterdifferenz. Nicht minder bedeutsam und folgenreich war Riehls andere These, wonach der "Gegensatz von Mann und Frau" weitere Formen sozialer Ungleichheit und Abhängigkeit bedinge. "Gäbe es nicht Mann und Weib", schrieb er im ersten Satz des ersten Kapitels, "könnte man träumen, daß die Völker der Erde zu Freiheit und Gleichheit berufen seien." Der "Geschlechtsgegensatz" geriet ihm zum "Eckstein des ganzen Systems der Naturunterschiede der Gesellschaft und damit auch des Staates"; in ihm kündigten sich "gar manche Grundzüge der natürlichen Gliederung der Gesellschaft" an. So finde der "Gegensatz von Mann und Weib" seine Entsprechung im Gegensatz von Bürgertum und Aristokratie, im Widerspiel der Mächte der "sozialen Bewegung" und der "sozialen Beharrung". Auch die soziale Ungleichheit von Besitzenden und Besitzlosen, die Abhängigkeit mancher GeseUschaftsklassen von anderen reproduziere lediglich die Ungleichheit und Abhängigkeit zwischen Frauen und Männern. Hieran etwas ändern zu wollen verstoße gegen unwandelbare Naturgesetze, sei daher widersinnig und unvernünftig. An Riehls politischer Botschaft gab es nichts zu deuteln:
"Wer Mann und Weib nicht wieder zur Geschlechtseinheit zurückführen kann, der vermesse sich auch nicht, das Menschengeschlecht zur sozialen und politischen Einheit und Gleichheit zu führen."
Soziale Einheit und politische Gleichheit konnte es folglich weder im Geschlechter- noch im Klassenverhältnis geben; anderslautende Auffassungen verwies Riehl ins Reich der Poesie und der sozialistischen Träume. Offenbar nahm er sie jedoch ernst genug, sich an exponierter Stelle mit ihnen auseinanderzusetzen und sie nach Kräften zu widerlegen. Zwar beteuerte er immerfort, daß die Lehre von der Frauenemanzipation, von der "Ausgleichung des Geschlechtsgegensatzes" in Deutschland noch nicht Fuß gefaßt habe. Zugleich aber beobachtete er mit Sorge, wie eine "vielfach von weiblichen Federn geschriebene Tageslitteratur über die gesellschaftliche und politische Unterdrückung der Frauen" an Verbreitung zunehme und "ihr Teil ergriffen (habe) an den großen Fragen des öffentlichen Lebens". Unterstützung erhalte sie "von unserem politischen Liberalismus", dessen "radikale", vom Individuum ausgehende Gesellschaftslehre selbst vor dem Heiligturne des Hauses" nicht haltmache. [2] Blieb jene Attacke gegen "Haus" und Hausregiment" noch weitgehend theoretisch, war die Lehre von der "Ausgleichung" der Klassen bereits zur materiellen Gewalt geworden. Die "Philosophie des Kommunismus" hatte sich, wie Riehl 1851 notierte, in der "Partei der Sozialdemokraten" verschanzt, die den "vierten Stand" der Depossedierten und Oppositionellen organisierte und sein "korporatives Bewußtsein" formierte. [3] Das Schreckgespenst des Kommunismus, das Karl Marx 1848 an die Wand gemalt hatte, war demnach auch dem scharfen Beobachter Riehl erschienen. Zu bannen suchte er es, indem er auf das allgemeine Naturgesetz sozialer Ungleichheit verwies und letztere durch die unveränderliche Differenz der Geschlechter nicht nur begründet, sondern auch gerechtfertigt sah.
Es wird klar: Riehl verfolgte politische Absichten. Er bewegte sich in einem politischen und gesellschaftlichen Feld, das durch tiefe Umbrüche und Verwerfungen gekennzeichnet war. Die revolutionären Ereignisse von 1848/49 hatten gezeigt, wie stark die "Mächte der Bewegung" nach oben drängten. Sie hatten nicht nur die Frage bürgerlicher Repräsentation im Staat, sondern auch die Interessen der unterbürgerlichen Schichten politikfähig gemacht. Und sie hatten - ganz am Rande zwar, aber für aufgeschreckte und deshalb besonders aufmerksame Zeitgenossen nicht zu übersehen - Unruhe im Verhältnis der Geschlechter signalisiert. Auch hier gab es Bewegung, traten Frauen heraus aus den Konventionen des Gewohnten. Riehls Ziel war es, diese Bewegung abzubremsen und zu delegitimleren. Der Staat war männlich - und sollte es tunlichst bleiben. Er war monarchisch, allenfalls bürgerlichkonstitutionell - keinesfalls durfte er sich demokratischen Kräften öffnen. Indem der Kulturhistoriker die Macht des Herkommens, die anthropologische Notwendigkeit von Ungleichheit und Hierarchie beschwor, suchte er politischen Partizipationsforderungen Unbefugter das Recht und die Berechtigung abzusprechen. Damit befand er sich in bester Gesellschaft. Nicht nur Konservative, auch und vor allem Liberale deuteten den Aufbruch des "zweiten Geschlechts" und des "vierten Standes" als Gefahr für die gedeihliche Fortentwicklung des Gemeinwesens. Selten aber wurde die Verschränkung von Klassen- und Geschlechterverhältnis so klar herausgearbeitet wie in Riehls Darlegungen. Deshalb stehen sie auch am Anfang dieses Textes, der sich mit den öffentlichen Debatten um die politische Partizipatlon und Repräsentation gesellschaftlicher Klassen und Geschlechter im 19. und frühen 20. Jahrhundert beschäftigt. In jenen Debatten ging es um Konstitutionsfragen der bürgerlichen Gesellschaft, um grundsätzliche Probleme politischer Gestaltung und Macht. Spätestens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts standen solche Fragen auf der Tagesordnung; der Kampf um Verfassungen, Repräsentationsforderungen, Wahlrechte durchzog das ganze 19.Jahrhundert. Erst 1918/19 fand er einen (vorläufigen) Abschluß. Es war ein Kampf, an dem alle gesellschaftlichen Gruppen teilnahmen, der die Gesellschaft spaltete, zum Teil aber auch integrierte. Er wurde dementsprechend heftig geführt in erregten Parlamentsdebatten, engagierten Streitschriften und politischen Zeitungsfehden. Im Zentrum stand das Wahlrecht. Es stellte, wie ein Paulskirchen-Abgeordneter 1849 formulierte, "die eigentliche Machtfrage" der bürgerlichen Gesellschaft dar, nämlich "die Frage, Wer soll herrschen [4] Auf diese Frage gab es höchst unterschiedliche Antworten, die die auseinanderstrebenden Interessen geseuschaftlicher Klassen und Geschlechter widerspiegelten. Bislang richtete sich die Aufmerksamkeit von Historikern vornehmlich auf die klassenpolitischen Hintergründe und Konsequenzen jener Auseinandersetzungen. [5] Die Tatsache, daß es dabei implizit und explizit immer auch um Geschlechterpolitik ging, fand dagegen kaum Beachtung. Zwar betont die Historische Frauenforschung seit mehreren Jahren, daß das Wahlrecht des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ein reines Männerwahlrecht war und keinesfalls jene allgemeine Vertretung der Bevölkerung erreichte, von der männliche Historiker mit Blick auf das Reichstagswahlrecht zu sprechen pflegten. Darüber hinaus begann man, den Kampf der Frauenbewegung um politische Teilhabe zu dokumentieren und aufzuarbeiten. [6] Das Faktum, daß Frauen von politischen Partizipationsrechten ausgeschlossen waren, sowie ihre Bemühungen um Einschluß sind damit hinreichend publik.
Was jedoch fehlt, ist eine Analyse der Motive und Interessen, der Argumente und Verfahren, mit denen jener Ausschluß gerechtfertigt und exekutiert wurde. Wie konnte die angeblich naturgegebene Ungleichheit der Geschlechter, von der nicht nur Riehl überzeugt war, in eine politische überführt werden? Was bedeutete dies für die politische Theorie und Praxis einer bürgerlichen Gesellschaft? Welchen Stellenwert besaß die Geschlechterdifferenz überhaupt bei der Neukonzeption staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten seit dem 18.Jahrhundert? War sie konstitutiv - wie manche Historikerinnen meinen - oder eher marginal? Wie nahm sie sich etwa neben der Klassendifferenz aus, die in den Wahlrechtsdebatten des 19. Jahrhunderts bekanntermaßen eine große Rolle spielte? Gewann sie hier einen eigenen Raum, eine eigene Bedeutung? Und: Brachte sie neue Argumente, ein neues Denken hervor, oder wurde sie in vorwiegend traditionellen, vormodernen Begriffen und Konzepten verhandelt?
Mit Hilfe dieser Leitfragen soll die politische Topographie der Geschlechter analysiert werden, die sich im staatlichen und gesellschaftlichen Modernisierungsprozeß des 19. und frühen 20. Jahrhunderts herausbildete. Ziel der Untersuchung ist es, aufzuzeigen, wie der jeweilige Ort von Frauen und Männern in der Arena des Politischen konstruiert wurde, mit welchen Verweisen, Aus- und Eingrenzungen dabei gearbeitet wurde, auf welchen historischen Erfahrungen man aufbaute und welche Folgen die neuen Konstruktionen für das Machtgefälle zwischen den Geschlechtern, aber auch für Definition und Stellenwert des Politischen insgesamt zeitigten. In den Auseinandersetzungen um das (kommunale und staatliche) Wahlrecht kam diese Thematik so deutlich wie nirgendwo sonst zur Sprache. Die seit Beginn des 19. Jahrhunderts geführten Wahlrechtsdebatten stehen denn auch im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen. Dabei geht es zunächst (I) darum, die neuen bürgerlich-konstitutionellen Partizipationsmodelle auf ihren Traditionsgehalt zu überprüfen. Wie verhielt sich das Nachdenken über staatsbürgerliche Qualifikationen und Rechte zur politischen Praxis des 18. Jahrhunderts? Nach welchen Kriterien funktionierten politische Partizipation und Repräsentation im Ancien Régime? Wer besaß damals politische Rechte, und was waren sie wert?
Erst der Blick in die Vormoderne erlaubt es, die Veränderungen des 19. Jahrhunderts zu erkennen und danach zu fragen, inwiefern die bürgerliche Gesellschaft den politischen Ort der Geschlechter neu oder anders bestimmte und ausgestaltete. Dieser Frage wird anschließend sowohl auf kommunaler (II) als auch auf nationaler Ebene (III) nachgegangen, wobei der letzteren größere, prinzipiellere Bedeutung zukommt. Deshalb stehen jene Debatten im Vordergrund, die seit dem Vormärz über die gesamtstaatliche Repräsentation der (männlichen) Bevölkerung geführt wurden. Hier wiederum interessiert vor allem, zu welchem Zeitpunkt und in welchem Zusammenhang die Tatsache, daß die Bevölkerung aus zwei Geschlechtern bestand, wahrgenommen, problematisiert und bearbeitet wurde. Wann und aus welchen Motiven tauchten Forderungen auf, Frauen in den politischen Prozeß einzubeziehen (IV)? Von wem werden sie erhoben, von wem aus welchen Gründen verworfen (V)? Welche gesellschaftlichen und ordnungspolitischen Interessen verbargen sich hinter den Argumenten, mit denen man bis 1918 erfolgreich an exklusiv männlichen Partizipationsrechten festhielt? Und was schließlich besagte es für das historisch variable Machtverhältnis der Geschlechter, wenn der zu Beginn des 19. Jahrhunderts neu geschaffene und an Bedeutung stetig zunehmende öffentlich-politische Raum viele Jahrzehnte lang ausschließlich von Männern bevölkert wurde, wenn Staat und Obrigkeit als "rein männliche Wesen" erschienen (VI)?
1. Partizipationskonzepte und -politik im 18. Jahrhundert
Zur bürgerlichen Gesellschaft gehört die politische Figur des Bürgers. Er ist derjenige, der mit seinesgleichen eine Staatsgewalt errichtet, an der er, etwa in Form der Gesetzgebung, aktiv teilhat, die er kontrolliert, deren Regeln und Verfahren er sich zugleich aber auch kraft Einsicht und freien Willens unterwirft. Der Bürger ist damit sowohl Subjekt als auch Objekt staatlicher Politik, er ist Staats-Bürger. Wer aber ist Staats-Bürger? Wem kommen der Bürgerstatus und damit die aktive Partizipation an staatlicher Gewalt zu? Diese Frage beschäftigte schon die frühen Theoretiker bürgerlicher Gesellschaft, und sie blieb bis heute kontrovers. Der Hallenser Aufklärungsphilosoph Christian Wolff fühlte sich 1736 noch dem Modell der Hausväter-Gesellschaft verpflichtet. Sein politisches Programm eines aufgeklärten Absolutismus bezog sich auf ein soziales System, dessen zentrale Einheit das "Haus" bildete. Das "gemeine Wesen", durch die Polarität von Untertanen und Obrigkeit gekennzeichnet, konstituierte sich auf der Grundlage von Haus-Gesellschaften, die von Haus-Vätern präsidiert wurden. Die Gemeinschaft jener Haus-Väter, denen die Herrschaft über ihre Hausgenossen (Frauen, Kinder, Gesinde) zukam, stellte die Gesellschaft der "Häuser", das "gemeine Wesen" in Form eines Untertanenverbandes dar. Letzterer war der Obrigkeit so lange gehorsamspflichtig, wie sie sich an ihre vertraglich vereinbarte Aufgabe der "Beförderung der gemeinen Wohlfahrt und Sicherheit" hielt. [7] Mitglieder des "gemeinen Wesens" waren nach Wolff also keineswegs einzelne Personen oder Individuen, sondern Häuser. Da diese im Innern herrschaftlich strukturiert waren, galt es als selbstverständlich, daß diejenigen, die hier die Oberherrschaft ausübten - die Haus-Väter - das Haus auch nach außen, in der Gesellschaft aller Häuser, repräsentierten. In der öffentlichen Arena vertraten sie - das ist wichtig und häufig mißverstanden worden [8] - die Interessen ihrer Häuser, nicht etwa sich selber. Das politische Selbstvertretungs- und Selbstbestimmungsrecht des Individuums, wie es spätere Generationen von Staatsrechtlern und Gesellschaftstheoretikern propagierten, war Wolff noch fremd; er dachte, getreu den soziopolitischen Gegebenheiten seiner Zeit, in komplexeren, korporativen Kategorien denen des "ganzen Hauses". Darüber hinaus neigte er dazu, die Bedeutung jenes Hauses als Voraussetzung und Teil des "gemeinen Wesens" - sehr hoch zu veranschlagen, womit der Stellenwert der Gesellschaft zwangsläufig begrenzt und relativiert wurde. Wenn das Haus sowohl die primäre Wirtschaftseinheit bildete als auch den Ort, an dem Menschen ihre geselligen und kommunikativen Interessen befriedigten, wenn es zudem ein Herrschaftsraum war, in dem soziale Ordnungen festgelegt und praktiziert wurden, blieben die Funktionen der Gesellschaft gewissermaßen sekundär und subsidiär. Wolff siedelte sie vornehmlich im Bereich des öffentlichen Unterrichts, der Strafgerichtsbarkeit, Verwaltung und Landesverteidigung an. All diese öffentlichen Aufgaben, darüber bestand für ihn kein Zweifel, sollten in männlichen Händen liegen, ebenso wie auch der Untertan - in seiner Eigenschaft als Haus-Vater selbstverständlich als Mann gedacht war. Zugleich mühte sich Wolff aber nach Kräften, die zentrale Position der Frau als Haus-Mutter nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Zwar spielte sie im "gemeinen Wesen" insofern keine aktive Rolle, als sie von ihrem Mann vertreten wurde. In der "häuslichen Gesellschaft" hingegen, die der "Gesellschaft der Häuser" förmlich und sachlich vorausgesetzt war, übte sie wichtige Funktionen aus - Funktionen, die für die sozioökonomische Existenz des Hauses lebensnotwendig waren und die selbständige Befugnis zur Herrschaft gegenüber Kindern und Gesinde einschlossen. [9]
Indem er das Haus und damit die Position beider Geschlechter umfassend würdigte und hervorhob, setzte Wolff andere politische Akzente als seine Nachfolger, die mehr oder weniger umstands- und voraussetzungslos die Gesellschaft in den Mittelpunkt ihres Raisonnements stellten. Diese Tendenz deutete sich bereits bei Immanuel Kant an. Für den Königsberger Philosophen war die bürgerliche Gesellschaft 1793 kein Zusammenschluß von Häusern, sondern ein Zweckverband von Individuen. Zwischen Individuum und Gesellschaft gab es theoretisch kein Mittleres mehr, nichts Kollektives, das repräsentiert zu werden verdiente. Jeder Mensch trat gleichsam in ein direktes Verhältnis zum "gemeinen Wesen" allerdings in durchaus verschiedener Rechtsgestalt. "Glied der Societät" - als Untertan oder Schutzgenosse - war jeder Mensch, der "Eigner seiner selbst" war, d. h. bürgerliche Freiheit genoß. Um aber "Bürger" oder "Mitgesetzgeber" zu werden, bedurfte es mehr.
Der politische Status des aktiven Bürgers war für Kant weder naturrechtlich verbürgt noch unterschiedslos verfügbar, sondern an bestimmte Qualifikationen gebunden. Dazu gehörte zunächst die ökonomische und soziale Selbständigkeit, d. h. die Fähigkeit, "seine Existenz und Erhaltung nicht der Willkür eines Anderen im Volke, sondern seinen eigenen Rechten und Kräften" zu verdanken. Damit schieden Gesellen, Dienstboten und Hauslehrer ebenso aus wie Kinder. Übrig blieben, wie schon bei Wolff, faktisch die Hausväter, jene Männer, die in bäuerlicher, bürgerlicher oder adliger Selbständigkeit ein Haus führten. Anders als Wolffs Hausvater aber vertrat Kants Selbständiger nur sich selber; seine Selbständigkeit qualifizierte ihn zum politischen Amt. Sie machte ihn unabhängig von fremdem Willen und damit tauglich, "niemanden als dem gemeinen Wesen im eigentlichen Sinne des Wortes (zu) dienen". Die Selbständigkeit garantierte seine persönliche Freiheit und Ungebundenheit, sie verbürgte seine individuelle Entscheidungsfähigkeit als Staatsbürger. Als solcher handelte er im eigenen Namen, nicht, wie nach Wolffs Modell, als Repräsentant eines größeren Ganzen. Jenes Konzept individuellen Staatsbürgertums stand genaugenommen beiden Geschlechtern zur Verfügung. Hatten Wolffs Untertanen in ihrer Eigenschaft als Hausväter notwendig Männer sein müssen, konnten Kants Staatsbürger theoretisch auch Frauen sein, sofern sie das Kriterium sozioökonomischer Selbständigkeit erfüllten. Diesen logischen Schluß jedoch verbat sich der Philosoph dadurch, daß er - gleichsam zwischen den Zeilen eine zweite Bedingung des aktiven Bürgerstatus einführte: die "natürliche" Qualität, "daß es ... kein Weib sei". Der Bürger war immer und prinzipiell männlich, selbst wenn nicht alle Männer tatsächlich Bürger sein durften. Doch auch sie konnten Bürger werden: jeder Tagelöhner, Geselle oder Hausdiener mochte sich in Kants Modell mehr oder weniger mühelos aus seinem unselbständigen Zustand befreien und zum selbständigen Staatsbürger heranwachsen. "Alles Frauenzimmer" hingegen war und blieb abhängig, unmündig und damit ohne politische Rechte und Pflichten. Gleichgültig, ob es sich um verwitwete, ledige oder verheiratete Frauen handelte, um junge oder alte, arme oder reiche - ihre Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht grenzte sie grundsätzlich von der aktiven Teilnahme an der bürgerlichen Gesellschaft aus. [10]
Schon Zeitgenossen Kants fiel diese Doppelbödigkeit seiner politischen Theorie auf. Nicht immer erntete sie Zustimmung. So merkte etwa Johann Adam Bergk 1797 kritisch an:
"Ich weiß daher auch nicht, wie man rechtlicher Weise den Frauenzimmern das Staatsbürgerrecht verweigert, so lange man sie noch auf Treu und Glauben für Menschen hält ... Was geht denn dem Staate die Naturbestimmung jedes Geschlechts an, da er beide Geschlechter als gleich, frei und selbständig behandeln soll." [11]
Auch nach Meinung Johann Gottlieb Fichtes waren ledige Frauen und Witwen durchaus "frei und von sich selbst abhängig", durften folglich über Eigentum verfügen, erwerbstätig sein, politische Rechte besitzen und ausüben. Anders stand es um verheiratete Frauen. Sie waren, so Fichte 1796, "für den Staat ganz vernichtet", da sie in der Ehe aufgehört hätten, "das Leben eines Individuums zu führen". Ebenso wie sie zugunsten ihrer Ehemänner auf ihr Vermögen verzichteten, gäben sie auch ihre bürgerlichen Rechte preis. [12] Die Position Fichtes, die von anderen Autoren der Zeit geteilt wurde, war argumentativ weitaus konsequenter und überzeugender als Kants Plädoyer für einen allgemeinen Ausschluß aller Frauen aus Politik und öffentlichem Leben. Doch letztlich verfing sich auch Fichte in Widersprüchen. Obwohl er unverheirateten Frauen politische Rechte zuerkannte, enthielt er ihnen staatliche Ämter vor. Beamte, deduzierte er, müßten auf ewig "ganz frei" sein, nur von ihrem "eignen Entschlusse abhängig". Keine Frau aber könne garantieren, jene Freiheit, die es für sie nur außerhalb der Ehe gebe, dauerhaft zu besitzen. "Denn sie ist bestimmt zu lieben, und die Liebe kommt ihr von selbst, und hängt nicht von ihrem freien Willen ab." Ihr angeborener Liebestrieb also machte sie zu einer unsicheren Kandidatin für öffentliche Staatsämter, die deshalb nur von Männern bekleidet werden sollten. 1[13] Trotz dieser Einschränkung zeichnete sich Fichtes geschlechterpolitisches Denken insgesamt durch eine höhere Flexibilität und Differenziertheit aus als das seiner Kollegen und Vorgänger.
Ob es damit zugleich innovativer, moderner, zukunftsträchtiger war, läßt sich allerdings nicht ohne Rekurs auf die praktische Organisation politischer Partizipationsrechte entscheiden, wie sie den >Meisterdenkern< in ihrem bürgerlichen Alltag vor Augen stand. Das politische System des Ancien Régime kannte grundsätzlich nur abgestufte, ständisch gegliederte Teilhaberechte an politischer Herrschaft. Die meisten deutschen Staaten besaßen landständische Verfassungen, die zumindest einem Teil der Bevölkerung eine wie auch immer definierte und begrenzte Beteiligung an der Staatsgewalt sicherten. In der Regel oblagen den Landständen, die sich aus Vertretern der Geistlichkeit, des Adels und der Städte bzw. der Bauern zusammensetzten, das Recht der Steuerbewilligung sowie die Verwaltung der Steuereinnahmen. [14] Eine Repräsentation der Untertanen fand im 18. Jahrhundert aber nicht nur in zentral- oder provinzialstaatlichen Institutionen (Landtagen) statt. Auch auf lokaler Ebene war dafür gesorgt, daß die Einwohner sich an der Verwaltung und Regierung des Gemeinwesens beteiligen konnten bzw. mußten. In den bäuerlichen Gemeinden, die seit dem 16. Jahrhundert zunehmend in die landesherrliche Administration einbezogen wurden, übten die Bauern in der Versammlung der Gemeindemitglieder politische Selbstverwaltungsrechte aus: Sie wählten die gemeindlichen Amtsträger und ernannten die Gemeindeangestellten. Die Gemeindemitgliedschaft war an Landbesitz geknüpft; der Bauer trat in der Gemeindeversammlung gleichsam als Repräsentant dieses Besitzes und der daran gekoppelten Rechte auf. Er vertrat nicht sich selber, sondern seinen Hof und den damit verbundenen Haushalt, zu dem in der Regel seine Frau, seine Kinder und das Gesinde zählten. Letztere hatten in der Gemeindeversammlung ebensowenig Sitz und Stimme wie die landlosen Dorfbewohner. Je mehr nun allerdings die Gemeindeversammlungen im Prozeß innerer Staatsbildung an autonomer politischer Gestaltungsmacht verloren und zu bloßen Vermittlungsinstanzen staatlicher Politik herabsanken, desto offener wurden sie für alle Gruppen der ländlichen Bevölkerung. So geht etwa aus einem bayrischen Gemeindebuch von 1711 hervor, daß nicht nur die besitzenden Bauern, sondern auch ihr "Hausgenoß, er sey Mann oder Weib", auf den Gemeindeversammlungen zu erscheinen hatten, um dort über obrigkeitliche Erlasse informiert zu werden. An den noch verbliebenen Selbstverwaltungsrechten der bäuerlichen Gemeinden aber nahmen sie nach wie vor nicht aktiv teil. [15] Strukturell ähnlich war die politische Repräsentation der städtischen Bevölkerung geregelt. Auch hier durfte im 18. Jahrhundert beileibe nicht jeder Einwohner und nicht jede Einwohnerin das städtische Bürgerrecht erwerben und ausüben. Vielmehr gingen die Städte in der Auswahl derjenigen, die sie zur Vertretung und Mitwirkung an den kommunalen Angelegenheiten heranzogen, äußerst restriktiv vor. Gemeinhin war die Gewährung des Bürgerrechts an den Nachweis eines ehrbaren Gewerbes gebunden; Bürger- und Zunftrechte bildeten eine Einheit. Zuwanderer hatten darüber hinaus ein Aufnahmegeld zu zahlen, das in manchen Städten an die Höhe des Vermögens geknüpft war. Außerdem war es nach Geschlecht gestaffelt; Männer mußten in der Regel zwei- bis dreimal soviel zahlen wie Frauen. Unkomplizierter war das Verfahren bei den Kindern einheimischer Bürger: Sie erwarben mit ihrer Geburt eine Anwartschaft auf das Bürgerrecht, das ihnen im Alter von 25 Jahren mehr oder weniger automatisch zufiel. Das galt im übrigen nicht nur für Söhne, sondern auch für Töchter. Allerdings wurde nur der väterliche Besitz des Bürgerrechts als zureichender Rechtstitel für die Verbürgerung der Kinder anerkannt. War die Mutter Bürgerin, der Vater aber nicht, galten die Kinder als nicht anspruchsberechtigt. [16] Frauen scheint damit im 18. Jahrhundert eine Art minderer Bürgerstatus eigen gewesen zu sein; sie konnten zwar durchaus städtische Bürgerinnen sein, besaßen aber nur eingeschränkte Rechte. Bei Ehefrauen waren jene Rechte über ihre Männer vermittelt; selbst wenn beide Ehepartner in das städtische Bürger- und Meisterrecht eingeschrieben wurden, bedeutete das nicht, daß sie es gleichermaßen praktizieren durften. Solange der Mann lebte, übte er die mit seinem Bürger- und Meisterstatus verbundenen Rechte und Pflichten aus; nach seinem Tod gingen letztere an seine Witwe über. Sie konnte den handwerklichen Betrieb fortführen und, wie es im Generalprivilegium des Tischler-Gewerks in der Mark Brandenburg von 1734 hieß, "auch derer den übrigen Amts-Meistern zukommenden Rechte und Gerechtigkeiten zu genießen haben". [17] Zudem zahlte sie Steuern, leistete Beiträge zu den kommunalen Einrichtungen und stellte, nicht anders als die meisten männlichen Bürger auch, Vertreter für den städtischen Feuerschutz sowie den Wach- und Waffendienst.
Diese bürgerlichen Pflichten wurden jedoch nicht mit politischen Rechten vergolten. Weibliche Amtsträger, weibliche Ratsmitglieder oder weibliche Wähler sind aus dem 18. Jahrhundert nicht überliefert. Die Fähigkeit, über die inneren Geschicke des Gemeinwesens mitzubestimmen, wurde nur männlichen Bürgern zugebilligt. Frauen durften zwar den Schutz der Kommune beanspruchen und an ihren sozialen Leistungen teilhaben; sie mußten auch, sofern sie Haushaltsvorstände waren oder Eigentümerinnen von Grundstücken, Steuern entrichten. Die aktive Mitwirkung an Entscheidungen, die in den politischen Gremien der Stadt gefällt wurden, blieb ihnen jedoch verwehrt. [18] Folgerichtig fanden sie auch in der landständischen Repräsentation keine Berücksichtigung.
Allerdings besaßen auch die meisten männlichen Bürger im 18.Jahrhundert keine Teilhaberechte an der städtischen Politik, die in der Regel von einer kleinen, sozial exklusiven Gruppe ratsfähiger Familien bestimmt wurde. Immerhin aber erwarben sie als Inhaber des Bürgerrechts, als selbständige Mitglieder von Zünften und Kirchspielen eine gewisse politische Vertretung. Auch wenn ihre Stimme nicht viel galt, konnten sie sie abgeben - ein Privileg, das Frauen unter keinen Umständen aus eigenem Recht zustand.
An diesen Usancen mochten weder Wolff noch Kant rütteln. Zwar löste sich Kant konzeptionell von dem noch bei Wolff vorhandenen und vor allem in bäuerlichen Gemeinden praktizierten Grundsatz, wonach nicht Individuen, sondern "Häuser" politisch zu repräsentieren waren. Faktisch blieb er ihm - über das Qualifikationsmerkmal bürgerlicher Selbständigkeit - jedoch verhaftet, ebenso wie er an der Männlichkeit der Repräsentanten festhielt. Fichte, der den Weg der Individualisierung zielstrebiger beschritt, zeigte sich ebenfalls traditionsbewußt, wenn er auf dem Ausschluß aller Frauen von politischen Ämtern beharrte. Nur dort, wo er alleinstehenden Frauen das politische Wahlrecht konzedierte, ging er über bestehende städtische Gewohnheiten hinaus. Was passierte nun aber im 19. Jahrhundert, als die Frage der "bürgerlichen Verfassung" (Kant) nicht mehr nur philosophische Vordenker beschäftigte, sondern auf die politische Tagesordnung gesetzt wurde? Wie gestalteten sich jetzt die Partizipationsrechte der Bürger, und zwar nicht nur im gewohnten lokalen Rahmen, sondern auch auf gesamtstaatlicher Ebene? Wie sortierten sich Selbständige und Unselbständige, Arme und Reiche, und welche Bedeutung kam der Geschlechterdifferenz bei der Zuweisung politischer Kompetenzen zu?
2. Stadt- und Gemeindebürger im 19. Jahrhundert
Beginnen wir auf der untersten Stufe politischer Repräsentation, der Kommune. Als der preußische Staat nach der militärischen Kapitulation vor dem napoleonischen Frankreich um seine politische Reorganisation bemüht war, setzte er hier an. Die Steinsche Städteordnung von 1808 bezog sich ausdrücklich auf das "dringend sich äußernde Bedürfniß einer wirksamern Theilnahme der Bürgerschaft an der Verwaltung des Gemeinwesens". Um eine solche Teilnahme zu gewährleisten und auf diese Weise "Gemeinsinn zu erregen und zu erhalten", stärkte sie die korporativen Selbstverwaltungsrechte der städtischen Kommunen und etablierte in Gestalt der Stadtverordnetenversammlungen eine stabile legislative Gewalt auf der Basis des Repräsentativsystenis. Repräsentiert wurde aber nach wie vor nur die Bürgerschaft, jene durch das Bürgerrecht privilegierte Gruppe städtischer Einwohner, und nicht die Einwohnerschaft insgesamt. Allerdings löste sich die Repräsentation von den bisher maßgeblichen "Ordnungen, Zünften und Korporationen" ab, so daß der einzelne Bürger "lediglich als Mitglied der Stadtgemeine ohne alle Beziehung auf Zünfte, Stand, Korporation und Sekte" zu vertreten war.
Indem der städtische Bürger so in ein unmittelbares, auf seine Person bezogenes Verhältnis zum Gemeinwesen trat, formte sich auch sein Bürgerrecht vollends zu einem individuellen Recht. Es erlaubte ihm, städtische Gewerbe zu treiben und städtische Grundstücke zu besitzen. Darüber hinaus gewährte es ihm das Recht,
"an der Wahl der Stadtverordneten Theil zu nehmen, zu öffentlichen Stadtämtern wahlfähig zu seyn, und in deren Besitze die damit verbundene Theilnahme an der öffentlichen Verwaltung, nebst Ehrenrechten zu genießen".
Nicht alle Bürger aber besaßen jenes aktive und passive Wahlrecht. Ausgeschlossen waren diejenigen, die ein strafwürdiges Verbrechen begangen hatten, in Konkurs gegangen oder unter Kuratel gesetzt waren. Auch Bürger, deren jährliches Einkommen sehr niedrig lag, galten nicht als stimmfähig, ebenso wie Mitglieder des Magistrats. Ausschlußkriterien waren folglich Unmündigkeit und Bescholtenheit, Teilhabe an der Stadtverwaltung und ein gewisser Zensus.
Darüber hinaus jedoch gab es noch einen weiteren Grund, Bürgern das Stimmrecht zu entziehen: ihre Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht. "Bürgern weiblichen Geschlechts", bestimmte der § 74 der Städteordnung lapidar, stand das Stimmrecht bei der Wahl der Stadtverordneten nicht zu. Da nur stimmfähige Bürger wählbar waren, blieben Bürgerinnen zugleich auch vom passiven Wahlrecht ausgeschlossen. Diese Regelung gibt Rätsel auf. Zunächst fällt auf, daß das Bürgerrecht relativ großzügig, ohne gravierende soziale Einschränkungen gewährt wurde. Jeder Hausbesitzer und jeder selbständige Gewerbetreibende war städtischer Bürger, unabhängig von seiner tatsächlichen ökonomischen Potenz. Die Fähigkeit, Bürger zu werden, durfte weder durch "Stand, Geburt, Religion" noch überhaupt durch "persönliche Verhältnisse" (§ 19) begrenzt werden. Selbst das Geschlecht machte da zunächst keinen Unterschied. § 18 der Städteordnung wies ausdrücklich darauf hin, daß "auch unverheirathete Personen weiblichen Geschlechts" unter denselben Bedingungen wie Männer zum Bürgerrecht gelangen konnten. Jede Ledige oder Witwe, die sich in einer Stadt "häuslich niedergelassen" hatte (d. h. einen eigenen Hausstand gründete) und "von unbescholtenem Wandel" war, durfte Anspruch darauf erheben, in die Bürgerrolle des Magistrats eingeschrieben zu werden. Besaß bzw. erbte sie ein städtisches Grundstück oder wollte sie einem selbständigen Gewerbe nachgehen, war sie sogar verpflichtet, das Bürgerrecht zu erwerben. [19] Von Ehefrauen und ihrer Bürgerrechtsfähigkeit war in der Städteordnung nicht die Rede. Spiegelte sich hier die von Fichte vertretene Auffassung, wonach Ehefrauen kein öffentliches Leben zu führen hatten? Oder galt es in der Tradition des "ganzen Hauses" schlichtweg als selbstverständlich, daß die Ehefrau an den Rechten des Ehemannes teilhatte? War eine Frau, die einen Bürger heiratete, damit automatisch Bürgerin? Oder bedurfte es dazu eines besonderen Rechtsaktes? Die Städteordnung selber gab auf solche Fragen keine Antwort. Sie ließ im System eine Lücke, die dadurch besonders hervortrat, daß die Bürgerrechtsfähigkeit unverheirateter Frauen explizit erwähnt wurde. Schon Zeitgenossen fiel diese Leerstelle unangenehm auf. Immer wieder standen städtische Gemeinden im Vormärz vor dem Problem, wie sie es mit dem Bürgerrecht von Ehefrauen halten sollten. Zweifel tauchten vor allem dann auf, wenn es um den Erwerb von Grundstücken oder Häusern ging. Die Städteordnung hatte dies, wie erwähnt, an den Besitz des Bürgerrechts geknüpft. Mehrfach mußten sich Gerichte und Behörden in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts mit der Frage beschäftigen, ob jene Vorschrift auch für Ehefrauen von Bürgern gelte. Die Rechtsmeinung war alles andere als eindeutig. Ein königliches Mandat hatte 1810 hervorgehoben, daß nicht nur grundbesitzende Staatsbeamte, sondern auch deren "Ehefrauen und Wittwen ..., als Eigenthümerinnen von Grundstücken, ... das Bürgerrecht zu gewinnen verbunden sind". [20] Vier Jahre später traf das preußische Innenministerium eine gegenteilige Entscheidung. Daraufhin instruierte das Justizministerium die Oberlandesgerichte, von der Ehefrau eines Bürgers, die ein Grundstück erwerben wollte, nur den "Nachweis zu fordern, daß ihr Ehemann das Bürgerrecht wirklich erlangt habe". [21]
Diese Positionen spiegeln die tiefe Unsicherheit darüber, in welche Rechtsbegriffe das Verhältnis zwischen den Geschlechtern fortan zu fassen sei. Traditionelle und moderne Konzepte verbanden sich zu widersprüchlichen Aussagen. So hingen Inneuundjustizministerium einerseits offenkundig dem frühneuzeitlichen Hausväter-Modell an, in dem Ehefrauen durch das männliche Familienoberhaupt repräsentiert wurden und, wie es 1794 noch im Allgemeinen Landrecht hieß, "an den Rechten seines Standes" partizipierten. [22] Andererseits hatte die politische Praxis eine solche Identität von Ehemann und Ehefrau nicht ohne weiteres akzeptiert. Daß Stadtbürger, die eine ortsfremde Frau heirateten, für sie "Einzugsgeld" zahlen und damit in die Bürgerschaft einkaufen mußten [23], daß ferner ein Mann, der das lokale Bürgerrecht erwerben wollte, auch für seine Frau eine (wenngleich geringere) Summe zu entrichten hatte, läßt darauf schließen, daß Frauen und Männer nicht als zu einer Einheit verschmolzen gedacht wurden. Die Person der Ehefrau ging nicht umstandslos in der ihres Mannes auf. Indem sie diese Identität nunmehr als gegeben betrachtete, verkörperte die Position, wie sie 1814 preußische Ministerialbeamte vertraten, also durchaus ein >innovatives< Element. Demgegenüber hielt der König an der pragmatischen Differenz von Ehemann und Ehefrau fest, als er 1810 die Notwendigkeit eines separaten Bürgerrechtserwerbs für Ehefrauen betonte. Sein Mandat ließ sich jedoch auch >moderner< interpretieren: als Anerkennung des bürgerlichen, auch in der Städteordnung verankerten Prinzips, wonach soziale und politische Rechte an Individuen vergeben wurden, die sich damit von korporativen Bindungen weitgehend emanzipieren konnten. Wie sehr aber die Meinungen über die Bürgerqualität von Bürgergattinnen auch auseinandergehen mochten, wie schwer die Pro- und Kontra-Argumente auch historisch zu situieren waren - eines blieb unstrittig: Vertretungsrechte, die mit dem Bürgerstatus verbunden waren, kamen Bürgerinnen keinesfalls zu. Gleichgültig, ob verheiratet, verwitwet oder ledig, gleichgültig auch, wie hoch ihr Vermögen war, wie viele Grundstücke sie ihr eigen nannten, wie viele Steuern sie entrichteten: An der Wahl der Gemeindevertreter durften sie aufgrund ihres Geschlechts nicht teilnehmen. Es war das Verdienst der Steirischen Städteordnung, diesen ebenso traditionsverhafteten wie zukunftsweisenden Grundsatz klar und nachlesbar formuliert zu haben. Eine Begründung oder Rechtfertigung aber fand sich dort nicht. Möglicherweise mußte auch gar nichts begründet werden, weil das Prinzip allen Zeitgenossen selbstverständlich war. Schließlich setzte es nur die gewohnte Ordnung fort, wonach Frauen zwar Bürgerinnen im sozialen, nicht aber im politischen Sinn waren. Ausnahmen von dieser Regel, wie sie in der korporativ-zünftisch organisierten Stadtgemeinde des 18. Jahrhunderts etwa bei Meisterwitwen vorkommen konnten, durfte es in der neuen, dem Modell direkter und individueller, also nicht-ständischer Repräsentation verbundenen Kommunalverfassung allerdings nicht mehr geben. [24] Der Ausschluß aller Frauen von politischer Partizipation wurde zudem in dem Maße perfektioniert, wie das kommunale Bürgerrecht immer enger als politisches konzipiert wurde. Bereits in den 1820er Jahren waren hier die Weichen anders gestellt worden. Hatte die Städteordnung von 1808 mit dem Bürgerrecht die Befugnis verbunden, städtische Grundstücke zu erwerben und ein Gewerbe zu betreiben, war es darüber immer wieder zu Klagen und Protesten jener Bürger gekommen, denen das Bürgerrecht entzogen worden war und die infolgedessen ihren Grundbesitz und Gewerbebetrieb veräußern mußten. Zwei Kabinettsordres schufen 1822/23 Abhilfe. Fortan zog der Verlust des Bürgerrechts nur noch den Verlust komrnunaler Ehrenrechte nach sich, nicht aber den Verlust der sozialen und ökonomischen Existenz. Jetzt schon", faßte das preußische Staatsministerium 1828 zusammen, bestehe "das Bürgerrecht lediglich in den städtischen Ehrenrechten" - eine Neuerung, die in die zu revidierende Städteordnung eingehen müsse. Der dem König vorgelegte Entwurf reduzierte das Bürgerrecht denn auch auf seinen politischen Gehalt: So werde
"künftig das Wort Bürger einen Mann bezeichnen, welcher bei einer selbständigen bürgerlichen Existenz und vollkommener Unbescholtenheit an den städtischen Ehrenrechten Theil nimmt, und somit ein wirklicher Ehrenname seyn".
Diese Politisierung des Bürgerrechts ging einher mit seiner Vermännlichung.
"Daß das weibliche Geschlecht hiernach zum Bürgerrechte nicht zugelassen werden könne",
fügte das Staatsministerium seinen Ausführungen hinzu,
"ergiebt sich von selbst."
Was hier als logische Schlußfolgerung ausgegeben wurde, stieß jedoch auf mancherlei praktische Einwände und Unverständnis. Die Stände, denen der Revisionsentwurf des Staatsministeriums zugeleitet wurde, urteilten alles andere als zustimmend. So plädierten etwa die brandenburgischen Stände dafür, es bei den Regelungen von 1808 zu belassen; die preußischen Stände stimmten gegen den Vorschlag, "weil die Kämmereien darnach an Bürgerrechts-Geldern verlieren würden". Die schlesischen Stände wiederum wollten nicht nur, wie bisher, unverheirateten Frauen das Bürgerrecht zugestehen, sondern explizit "allen Personen des weiblichen Geschlechts", also auch Ehefrauen. Demgegenüber votierten die rheinischen Stände dafür, unverheiratete Frauen fortan vom Bürgerrecht auszuschließen, Bürgerwitwen hingegen "die Behaltung des Bürgerrechts (zu) gestatten".
All diesen Voten war gemeinsam, daß sie die Innovation des Entwurfs, das Bürgerrecht als politisches Recht zu fassen und deshalb Frauen prinzipiell und ohne Ausnahme davon auszuschließen, offenbar nicht oder nicht hinreichend begriffen. Daß Frauen nicht mehr bürgerrechtsfähig sein sollten, rief bei den ständischen Vertretungen Unbehagen hervor ein Unbehagen, das sowohl finanziell als auch sozial motiviert war. Nicht nur mußten die städtischen Kommunen auf die Bürgerrechtsgelder weiblicher Petenten verzichten; auch der soziale Ort von Frauen blieb undefiniert. Auf diese Mißverständnisse und Sorgen ging das Innenministerium ein, als es die ständischen Gutachten kommentierte:
"Wenn das Bürgerrecht in der Befugniß besteht, nach Maaßgabe der Städteordnung an der öffentlichen Verwaltung Theil zu nehmen, so versteht es sich von selbst, daß Frauen das Bürgerrecht nicht erlangen können ... Was die Rheinischen Stände wegen der Wittwen vorgeschlagen, ist unpraktisch, wie theoretisch unrichtig, da Wittwen so wenig, als andere Frauenzimmer an der öffentlichen Verwaltung Theil nehmen können. Der Titel einer Bürgerin wird der Wittwe eines Bürgers so wenig bestritten werden, als der Titel einer Präsidentin der Wittwe eines Präsidenten." [25]
Hier war die Rechts- und Sprachregelung, wie sie die nächsten Jahrzehnte überdauern sollte, verbindlich formuliert: Ohne eigenen, selbständigen Bürgerstatus partizipierten Frauen an dem ihrer Männer; sie besaßen keine Rechte, sondern borgten sich nur Titel. Diese Ent-Bürgerung folgte aus der neuen Definition des Bürgerrechts als politischem Recht, das als solches nur Männern zustand. Warum Frauen allerdings "den darin bestimmten Obliegenheiten", namentlich "Stimm-Berechtigung, Wahlfähigkeit und Antheil an der Verwaltung", "nicht genügen können", wurde nicht gesagt. Es war offensichtlich allen Beteiligten so selbstverständlich, daß sich Erklärungen und Begründungen erübrigten. Die revidierte, 1831 erlassene Städteordnung verzichtete sogar darauf, den neuen Grundsatz explizit kenntlich zu machen. Hatte der Staatsrat im Jahr zuvor empfohlen,
"kurz zu sagen: Das weibliche Geschlecht wird zum Bürgerrecht nicht zugelassen",
bevorzugte die Städteordnung eine noch knappere Version:
"Nur solche Personen männlichen Geschlechts", hieß es in § 14, "welche weder unter väterlicher Gewalt, noch unter Vormundschaft oder Kuratel stehen, im Stadtbezirk ihren Wohnsitz nehmen, und unbescholten sind, können das Bürgerrecht erwerben." [26]
Das, was zunächst ausdrücklich benannt werden sollte, war hier gleichsam in Klammern vermerkt, untergebracht in einer Redewendung, die das Faktum verbarg und jeder kritischen Diskussion entzog. An dieser Entwicklung läßt sich folgendes beobachten: je eindeutiger es um die Regelung politischer Repräsentation und Partizipation, um die direkte oder indirekte Mitwirkung an politischen Entscheidungen und damit um die Teilhabe an politischer Herrschaft ging, desto rigoroser achtete man darauf, sie Männern vorzubehalten. Kants kategorische Forderung, "alles Frauenzimmer" sei in einem bürgerlichen Gemeinwesen von der Rolle des Mitgesetzgebers" auszuschließen, fand hier volles Gehör. Fichtes differenziertere Argumentation, die unverheirateten Frauen politische Rechte zugestand, kam hingegen immer weniger zum Tragen. War sie in der preußischen Städteordnung von 1808 zumindest noch angeklungen, hatte die 1831 erlassene Nachfolgerin jede Erinnerung daran bereits getilgt. Auch die Ordnung von 1853, die das Bürgerrecht ebenfalls mit dem Wahlrecht identifizierte, schloß die Repräsentation weiblicher Stadtbewohner grundsätzlich und ausnahmslos aus. Anders als ihre Vorgängerin hielt sie es jedoch nicht mehr für notig, dieses Prinzip kenntlich zu machen: Die Nennung der Geschlechtszugehörigkeit im Gesetzestext entfiel. Nunmehr war nur noch von "jedem selbständigen Preußen" die Rede, der unter bestimmten, sehr weit gefaßten Umständen das Bürgerrecht erwarb. Als selbständig wurde "ein jeder betrachtet, der einen eigenen Hausstand hat". Ehefrauen und unmündige Töchter schieden damit automatisch aus der Gruppe der potentiellen Bürgerrechtsinhaber aus. Aber auch jene Frauen, die weder unter väterlicher Gewalt standen noch verheiratet waren, sondern als Ledige oder Witwen einen selbständigen Haushalt führten, kamen als Bürgerinnen nicht in Betracht. Sie tauchten in der Städteordnung weder positiv noch negativ auf; sie existierten einfach nicht. Anders erging es Ehefrauen und minderjährigen Töchtern. Ihre "Steuerzahlungen, Einkommen, Haus- und Grundbesitz" wurden, so bestimmte es der Gesetzgeber, den jeweiligen Ehemännern bzw. Vätern angerechnet und damit politisch mitrepräsentlert. [27] Diese Bestimmung erinnerte partiell an den vormodern-ständischen Grundsatz, Repräsentation an Kollektivinteressen und -bedürfnisse zu binden. Nach jenem Muster verfuhr man traditionell in ländlichen Gemeinden, in denen Vertretungsrechte nicht dem Individuum zukamen, sondern dem Grundbesitz. Zahlreiche im 19.Jahrhundert erlassene Landgemeindeordnungen hielten daran fest und räumten somit auch Frauen, sofern sie über Besitz verfügten, direkt oder indirekt ein politisches Stimmrecht ein. Die Hannoversche Ordnung von 1859 ging dabei ebenso wie die sächsische von 1873 am weitesten, indem sie grundbesitzende Frauen ermächtigte, ihr Stimmrecht persönlich auszuüben. In anderen Staaten bzw. Provinzen verfuhr man restriktiver: Hier mußten Frauen einen männlichen Stellvertreter benennen, der in ihrem Namen handelte." Selber wählbar waren Frauen nirgendwo im (späteren) Deutschen Reich.
Insgesamt fällt auf, daß die Städteordnungen des 19.Jahrhunderts Frauen sehr viel stiefmütterlicher behandelten als die Landgemeindeordnungen. Weitaus deutlicher als die Landgemeinde konstituierte sich die städtische Kommune als politische Körperschaft, dem Prinzip individueller Repräsentation verpflichtet. Von diesem Prinzip aber waren Individuen weiblichen Geschlechts samt und sonders ausgeschlossen. In dem Maße, wie das zuvor primär sozial und wirtschaftlich bestimmte Bürgerrecht vornehmlich als politisches Recht begriffen wurde, stand es Frauen, unabhängig von ihrem Familienstand und ihrer sozioökonomischen Situation, nicht mehr zu. Anders als im 18. Jahrhundert durften Frauen im 19. Jahrhundert keine städtischen Bürgerinnen mehr sein. Merkwürdig ist aber darüber hinaus, daß dieser Rechtsverlust zu einer Zeit stattfand, in der das städtische Bürgerrecht immer großzügiger gewährt wurde. Blieben im 18. Jahrhundert große Gruppen der Bevölkerung davon ausgesperrt, entwickelte sich die städtische Kommune im 19. Jahrhundert von der Bürger- zur Einwohnergemeinde, die jeden volljährigen Mann, sofern er Steuern zahlte und keine Armenunterstützung empfing, als Stimmbürger und potentiellen Amtsträger willkommen hieß. Diese soziale Öffnung wurde jedoch von einer systematischen geschlechterpolitischen Abschließung begleitet: Selbst wenn sie alle Bedingungen, die an den Erwerb des Bürgerrechts geknüpft waren, erfüllten, gingen Frauen leer aus, weil sie Frauen waren. In anderen Worten: Während die soziale Klassen- oder Schichtzugehörigkeit als Ausschlußkriterium für politische Repräsentation im 19. Jahrhundert zurückgenommen wurde, rückte die Geschlechterzugehörigkeit in den Vordergrund.
Diese Entwicklung verlief nun keineswegs kommentarlos. Sowohl die soziale Ausdehnung politischer Partizipation als auch ihre Monopolisierung durch Männer bildeten öffentliche Streitpunkte, die die Zeitgenossen mehrere Jahrzehnte lang beschäftigten und ihre Meinungen spalteten. Allerdings wurden diese Kontroversen weniger auf der Ebene kommunaler Politik als im staatspolitischen Raum ausgetragen. Nicht die Kommunalverfassung war es schließlich, die im 19. Jahrhundert die politischen Gemüter bewegte, sondern die Verfassung des Staates insgesamt. Die heftigsten Kämpfe wurden nicht um Stadtbürgerrechte, sondern um Staatsbürgerrechte ausgefochten; hier lag der politische Zündstoff, der in der Revolution von 1848/49 explodierte, hier schwelte der Konflikt in der zweiten Jahrhunderthälfte weiter.
3. Staatsbürgerrechte im 19. Jahrhundert
Wer war Staatsbürger bzw. durfte es werden? In welchem Rahmen sollte jene Repräsentation des Volkes stattfinden, die der preußische König seinen Untertanen zu Beginn des 19. Jahrhunderts mehrfach versprochen und in Aussicht gestellt hatte? Darauf gaben verschiedene Männer verschiedene Antworten; es entspann sich ein Meinungsstreit, der bis weit ins 20. Jahrhundert hinein andauerte. Da ein Staatsbürger eben kein befehlsempfangender Untertan mehr war, sondern, wie schon Kant definiert hatte, aktiv und selbstverantwortlich am politischen Prozeß teilnehmen sollte, erhob sich unausweichlich die Frage, ob eine solche "Mitgesetzgeberschaft" ausnahmslos allen Einwohnern eines Staatsgebietes eingeräumt werden könne. Kant hatte sie seinerzeit an bestimmte Bedingungen geknüpft - Männlichkeit und Selbständigkeit -, und die meisten politischen Publizisten des frühen 19. Jahrhunderts folgten ihm darin. Nur wenige Autoren stellten sich auf den Standpunkt, wonach das Recht politischer Partizipation allen Staatsangehörigen gleichsam natürlich zukomme, Einschränkungen folglich unstatthaft seien. Als der Kaufmann David Hansemann, eine zentrale Figur des rheinischen Bürgertums, den preußischen König 1830 auf die "Mißverhältnisse der Repräsentation" in den 1823/24 eingerichteten Provinzialständen aufmerksam machte, schwebte ihm als Ideal mitnichten eine Majorität der Kopfzahl" vor. Vielmehr müsse die "wahre Majorität", die "eigentliche Kraft der Nation" vertreten sein, die sich durch größere Bildung und Vermögen auszeichne. Eine "wahre Nationalrepräsentation", ohne die keine dauerhafte Regierung möglich sei, beruhe daher im wesentlichen auf dem "Mittelstand", jener Gruppe angesehener "Kaufleute und Fabrikanten", die die "neuen Lebensprinzipien" der bürgerlichen Gesellschaft verkörperten und durch ihre "Beschäftigungen" den größten Einfluß ausübten. Letzterer müsse sich auch in ihrer politischen Vertretung widerspiegeln, was nur vermittels eines Zensus-Wahlrechts erreichbar sei. An die Stelle des ständischen Wahlsystems, wie es der preußische Staat für die Provinzialvertretungen eingeführt hatte, müsse eine nach der Steuerleistung bemessene Repräsentation treten. Für Hansemann waren politische Staatsbürgerrechte folglich nicht allgemein verfügbar, sondern stellten "notwendige Privilegien eines Teiles der Nation" dar. Nur diejenigen Staatsbürger, die "durch die meisten oder ausgedehnteren Beschäftigungen einen gewissen Grad von Einfluß bekunden", sollten politisch handlungsfähig sein und Abgeordnete zu den neu zu schaffenden Reichsständen entsenden können. Das Wahlrecht als Inkarnation aller politischen Rechte stehe demnach lediglich demjenigen zu, "der einen gewissen Steuersatz bezahlt, im vollen Genusse staatsbürgerlicher Rechte sich befindet und wenigstens 25 Jahre alt ist". Großen Wert legte der rheinische Bürger allerdings darauf, daß das Wahl-Vorrecht kein ständisch-abgeschlossenes sei, sondern "von jedem Staatsbürger erlangt werden kann, sobald er irgend eine Beschäftigung bis zu einem gewissen Umfange besitzt". Nur diese prinzipielle Zugänglichkeit des Privilegs garantiere seine "Gerechtigkeit". Hansemann bekannte sich damit ausdrücklich zu einer "Aristokratie" des Vermögens und Ansehens, die gleichwohl nicht erblich-geburtsständisch definiert sein sollte, sondern dem bürgerlichen Leistungsethos entsprechend soziale Mobilität erlaubte. Jeder Tagelöhner, der sich durch seine "Beschäftigungen" Vermögen und Ansehen erwarb, konnte in ihre Ränge aufsteigen; jeder Kaufmann, der bankrott ging, mußte sie wieder verlassen. Ein so strukturiertes System politischer Repräsentation, argumentierte der Autor der Denkschrift, sei sehr viel effektiver und zukunftsträchtiger als das bislang vorherrschende, das im wesentlichen auf Geburtsrechten und Grundbesitz basierte . [30] So viele Worte Hansemann über die "wahre" Nationalrepräsentation verlor, so wenige Gedanken machte er sich darüber, daß auch in seinem Modell die Nation ausschließlich männlich war. Politische Staatsbürgerrechte, das war klar, besaßen nur Männer. Frauen tauchten nirgendwo auf, obwohl nicht wenige aufgrund ihrer "Beschäftigungen" Steuern zahlten und damit eigentlich in den Kreis der politisch Privilegierten hätten aufgenommen werden müssen. Zwar war in der Denkschrift auch von Männern nur selten explizit die Rede, doch bestand kein Zweifel, daß Begriffe wie Volk, Nation oder Staatsbürger ausschließlich männlich konnotiert waren. Eine Begründung oder Erläuterung dieser Einschränkung gab Hansemann nicht - entweder war sie ihm gar nicht bewußt, oder aber er hielt sie für nicht fragwürdig. Zehn Jahre später, als Hansemann erneut eine Denkschrift an den preußischen König ausarbeitete, hatte sich das geändert. Jetzt sprach der Autor ausdrücklich von männltcben Staatsangehörigen, denen eine abgestufte Freiheit und Teilnahme an der Gesetzgebung gewährt werden sollte. Mehrfach erwähnte er, daß die bürgerlichen Gesetze "Ungleichheiten nach Geschlecht" anerkannten. Weit davon entfernt, diesen Umstand zu rechtfertigen, nahm er ihn als gegeben, vernünftig und sinnvoll zur Kenntnis; seine Berechtigung stand für ihn außer Frage. Er gehörte zu einer allgemeinen Ordnung, die, ganz in Hansemanns Sinn, Gleichheit und Freiheit "graduierte". In diesem Zusammenhang wandte sich der Autor scharf gegen jene "Wortredner der gleichmäßigen Freiheit", die sich auf "philanthropische Ideen" und allgemeine Menschenrechte beriefen. Wer mit solchen Formeln "allen männlichen volljährigen Staatsangehörigen die Freiheit gewähren will", handele nicht nur nach der Erfahrung, sondern auch nach der Vernunft verwerflich". Schließlich gelte es, im Interesse der Veredelung des Volkes die "Herrschaft des Verstandes durch das Organ der Fähigsten des Landes" sicherzustellen. Daher müsse der "politische Einfluß der höhern und wohlhabenden Volksklassen stärker sein, als der von den übrigen Volksklassen auszuübende". Gleichheit der Rechte könne im politischen Raum nur Unheil bringen, da sie die dauerhafte "Erhaltung wahrer Freiheit" erschwere, wenn nicht gar verhindere. Allen Männern ohne Rücksicht auf Bildung, Talent und Solidität das Wahlrecht zuzuerkennen komme daher den Aufgaben einer konstitutionellen Regierung nicht entgegen, sondern widerspreche ihnen geradezu.
Die Beredsamkeit, mit der Hansemann 1840 für Wahlrechtsbeschränkungen eintrat, deutet darauf hin, daß er sich von Positionen meinte absetzen zu müssen, die "jedem Interesse eine Vertretung geben" wollten und für eine allgemeine, gleiche Repräsentation aller (männlichen) Staatsbürger Partei ergriffen. Zehn Jahre zuvor war dies noch nicht nötig gewesen; damals argumentierte Hansemann nicht gegen die "Lobredner" staatsbürgerlicher Gleichheit, sondern gegen konservative Kräfte, die den bürgerlichen "Mittelstand" politisch klein halten wollten. Inzwischen hatte sich der Wind gedreht: Offenbar hatten die Verfechter gleicher Rechte an politischem Rückhalt gewonnen, so daß es ratsam schien, ihnen Paroli zu bieten. Das tat Hansemann nicht zuletzt dadurch, daß er sie auf immanente Widersprüche ihrer Argumentation hinwies. Schließlich sei es ihnen selber unmöglich, "ihren Grundsatz der gleichmäßigen Freiheit ganz folgerecht ins Leben einzuführen". Auch "die eifrigsten Verteidiger der Gleichheit der Rechte", notierte Hansemann schadenfroh, akzeptierten "Ungleichheiten", setzten "Grenzen" - nämlich die des "Geschlechts".
"Welcher Verstoß gegen die Menschenrechte, wenn die verständigste und willenfesteste Frau oder Jungfrau von Rechten ausgeschlossen wird, die ein dummer, willenloser Mann ausübt!"
Dieser Ausschluß wurde von Hansemann nicht etwa bedauert oder in Zweifel gezogen; vielmehr diente er ihm dazu, gegnerische Positionen unglaubwürdig erscheinen zu lassen und politisch zu delegitimieren. Wenn diejenigen, die unter Berufung auf allgemeine Menschenrechte politische Gleichheit forderten, Frauen davon ausnahmen, durchlöcherten sie ihr eigenes Prinzip und öffneten weiteren, von Hansemann gewünschten und mit Gemeinwohlinteressen begründeten Ausnahmen bzw. "Graduationen" Tür und Tor. [31]
Hier tauchte eine Denkfigur auf, die von späteren Autoren immer wieder aufgenommen und variiert wurde: Die soziale Differenzierung staatsbürgerlicher Rechte fand ihre Parallele, ihre Vorläuferin, möglicherweise sogar ihre Triebfeder und Rechtfertigung in der politisch folgenreichen Ungleichheit der Geschlechter. Solange letztere bestehen blieb, büßte auch die klassenmäßige Abstufung politischer Rechte ihre Daseinsberechtigung nicht ein. Sie galt dann eben nur als eine weitere Bestätigung des einmal akzeptierten Prinzips, daß politische Rechte keine Naturrechte waren, sondern, wie sich Hansemann ausdrückte, von der Vernunft gebotene "Privilegien".
Als der rheinische Kaufmann und Politiker 1840 auf den Zusammenhang zwischen Geschlechter- und Klassendifferenz verwies, zweifelte er wohl nicht daran, daß die politische Privilegienlosigkeit des weiblichen Geschlechts von Dauer sein würde. Allein die Wahrnehmung, daß sie kaum jemals bestritten oder angefeindet wurde, bestärkte ihn in dieser Auffassung. In der Tat war der Gedanke, Frauen aktive und passive Wahlrechte zu gewähren und sie damit als Teil des Volkssouveräns zu akzeptieren, den Zeitgenossen weitgehend fremd. Selbst jene, die im Vormärz für eine allgemeine Repräsentation des Volkes eintraten und weniger soziale Beschränkungen gelten lassen wollten als Hansemann, hatten lediglich männliche Wähler im Sinn. So optierten etwa die Autoren des Staats-Lexikons, eines Hauptorgans des südwestdeutschen Liberalismus, 1838 eindeutig gegen eine
- "gleiche unmittelbare Theilnahme" der Frauen "an unseren öffentlichen Wahl- und Parlamentsversammlungen und an den Staatsämtern".
Zwar hatten sie nichts dagegen einzuwenden, daß Frauen sich für "öffentliche Angelegenheiten" interessierten. Als Zuhörerinnen "in landständischen Versammlungen, öffentlichen Gerichten und Vorlesungen", als Journalistinne und sogar als Gründerinnen von Frauenvereinen für "erlaubte wohlthätige öffentliche Zwecke" waren sie durchaus willkommen. Unverheiratete und verwitwete selbständige Frauen, die durch ihr Vermögen bzw. ihren Grundbesitz stimmberechtigt waren, durften dieses Stimmrecht ebenfalls ausüben - allerdings nur, wie es die meisten Gemeindeordnungen ohnehin vorsahen, durch Bevollmächtigte. Ein "unmittelbares Mitstimmen und Mitdiscutiren in öffentlichen Männerversammlungen" blieb unvorstellbar, und auch für die "Ausübung öffentlicher Ämter" kamen Frauen unter keinen Umständen in Betracht.
Professor Carl Welcker, Verfasser des einschlägigen Artikels, begründete solche Restriktionen mit der
"Erhaltung ehelicher und Familienverhältnisse und der wahren Weiblichkeit und weiblichen Lebensbestimmung".
Welcker war einer der wenigen politischen Autoren, die sich im Vormärz der Mühe unterzogen, den Ausschluß von Frauen aus der Politik nicht nur zu benennen - schon das war alles andere als selbstverständlich - sondern auch zu rechtfertigen. Er tat es vor allem mit Blick auf jene "geistreichen Männer" und "revolutionären Frauen", die die Rechtsgleichheit der Geschlechter forderten. Explizit erwähnte er den Engländer Jeremy Bentham, die Franzosen Saint-Simon und Charles Fourier sowie die Amerikanerin Harriet Martineau. Letztere repräsentierte die "männlichen, die gelehrten Weiber" und "Amazoninnen", die gemeinsam mit den "ultrademokratischen Anhängern der politischen Gleichheit" für "die volle Gleichheit aller Rechte in der Familie und dem Staate" votierten und damit nach Welckers Ansicht den "Umsturz unserer bisherigen Gesellschaftsordnung" bezweckten. [32]
Nicht zufällig nannte Welcker nur ausländische Namen. Im deutschen Sprachraum waren solche "Blaustrümpfe" und ihre männlichen Fürsprecher noch weitgehend unbekannt. Zwar hatte der Königsberger Bürgermeister Theodor von Hippel 1792 ein breit rezipiertes Plädoyer für die "bürgerliche Verbesserung der Weiber" veröffentlicht. Darin berief er sich auf den naturrechtlich begründeten Anspruch aller Menschen, politische Rechte auszuüben. Auch und gerade Frauen sollten deshalb "Aktivvotantinnen" werden, Staatsämter einnehmen und ihresgleichen bei der Gesetzgebung und Gesetzausübung repräsentieren. [33] Diese radikalen Forderungen verursachten seinerzeit nicht geringes Aufsehen, ohne jedoch Nachahmung und Zustimmung zu finden. Selbst jene Frauen, die zu Beginn des 19.Jahrhunderts über ihre (staats-)bürgerliche Stellung öffentlich nachdachten, gingen nicht so weit, sich für die politische Gleichberechtigung der Geschlechter einzusetzen. Amalia Holst etwa, die die *"Bestimmung des Weibes zur höhern Geistesbildung" 1802 nachdrücklich verteidigte, hielt Hippels politische Folgerungen für überzogen. [34] Distanz wahrte auch Karoline von Woltmann, die sich 1826 "über Natur, Bestimmung, Tugend und Bildung der Frauen" verbreitete. In krassem Gegensatz zu Hippel sprach sie sich dafür aus, "Frauen von dem unbedingten, unmittelbaren Antheil an den Staatsgeschäften auszuschließen". "Alles Bürgerliche bleibe dem Mann befohlen", dem die Natur "Staat und Welt" zum" unmittelbaren Wirkungskreise der Thätigkeit" anweise. [35]
Diese und andere Autorinnen waren durchaus nicht einverstanden mit den Geschlechterverhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft. Sie kritisierten den Ausschluß der Frauen von höherer Bildung, die abhängige Stellung der Ehefrauen, die überall greifbare Vorstellung, wonach das weibliche Dasein dem männlichen untergeordnet sei. Sie beklagten die "Ungerechtigkeit der bürgerlichen Einrichtungen" und forderten Reformen im Familienrecht, im Bildungswesen und auf dem Arbeitsmarkt. [36] Auf das politische Feld jedoch wagten sie sich nicht, sondern überließen es fraglos den dazu "bestimmten" Männern.
Ihre im internationalen Vergleich auffällige Scheu und Zurückhaltung hatte möglicherweise etwas mit der extrem hohen Wertschätzung der politisch-staatlichen Sphäre in Deutschland zu tun. Je größere Bedeutung man dem Staat zumaß, desto höher wurden die Barrieren, die den Zugang zu dieser Sphäre an bestimmte Voraussetzungen und Qualifikationen knüpften. Hatte sich Hippel 1792 noch nach Kräften bemüht, die "Mysterien" des Staatsdienstes zu entweihen [37], führten die Erfahrungen der Napoleonischen Kriege und der in ihrem Gefolge einsetzenden staatlichen Reformtätigkeit dazu, den Staat bzw. die politische Sphäre erneut zu glorifizieren und mit der Aura des Außergewöhnlichen zu umgeben. Das spiegelte sich nicht zuletzt in der Staatsauffassung des frühen Liberalismus. Für ihn war der Staat nicht einfach die Summe seiner Bürger, sondern etwas Eigenes, Emporgehobenes. Daraus ergaben sich folgerichtig das Recht und die darauf gründende regulative Aufgabe des Staates, nur jene Bürger zur politischen Mitwirkung zuzulassen, die er für befähigt hielt. Der Staat in der von Liberalen gewünschten Gestalt der konstitutionellen Monarchie vergab politische Rechte, wie sich Hansemann 1830 ausdrückte, als Privilegien, und jeder, der ein solches Privileg erhalten hatte, konnte sich dadurch geehrt und ausgezeichnet fühlen. Angesichts dieser verbreiteten Staatsapotheose wird die Neigung auch selbstbewußter Frauen begreiflicher, sich selber von jenen Privilegien auszuschließen, sich fernzuhalten von der abgehobenen Sphäre des Politischen. Nur sehr, sehr langsam änderte sich das. Als 1843 die damals 24jährige Louise Otto in den Sächsischen Vaterlandsblättern dafür plädierte, "das weibliche Geschlecht zu größerem Interesse am Staatsleben anzuregen", tat sie es "bescheiden" und naiv-unter-würfig. Obwohl sie lediglich einen lebendigeren Geschichtsunterricht für Mädchen forderte, meinte sie sich bereits gegen den "Argwohn" verwahren zu müssen, "als wünsche ich unser bestes Theil: die Weiblichkeit unterdrückt durch Einimpfung fremder, männlicher Bestrebungen. [38]
Vier Jahre später trat sie schon etwas kecker auf, ermuntert und ermutigt durch die "Tatsache, daß die deutschen Frauen jetzt mehr Teilnahme an öffentlichen, nationalen und politischen Dingen bekunden". Zum Beweis führte sie an:
- "das zahlreiche Erscheinen der Frauen bei den Kammerverhandlungen in Sachsen, die zahlreichen Frauenvereine zur Unterstützung der Deutschkatholiken ..., die Gegenwart der Frauen bei politischen Festmahlen" sowie "das Hereinziehen mindestens der religiösen und gesellschaftlichen Fragen in den Kreis ihrer Erzeugnisse seitens der Schriftstellerinnen". [39]
Einen weiteren, sehr viel radikaleren Politisierungsschub brachten die revolutionären Ereignisse der Jahre 1848 und 1849. In vielen Städten entstanden Frauenvereine, deren Mitglieder sich nicht mehr nur karitativ-fürsorgerisch betätigten, sondern soziale und politische Themen aufgriffen. Um diesen Vereinen einen gemeinsamen Orientierungspunkt zu vermitteln, um ihre Interessen zu bündeln und ihnen Gehör zu verschaffen, gründete Louise Otto, mittlerweile als Publizistin keine Unbekannte mehr, 1849 eine eigene Frauenzeitung. Sie stand unter dem politisch anspruchsvollen Motto: "Dem Reich der Freiheit werb' ich Bürgerinnen."
- Gleich in der ersten Nummer fand sich die Forderung nach dem "Recht der Mündigkeit und Selbständigkeit im Staat". [40] Was war darunter zu verstehen? Keinesfalls, hatte Louise Otto 1848 bekannt, falle es ihr ein, "für die Frauen das ganz Gleiche zu fordern wie für die Männer". So eigneten sich Frauen beispielsweise nicht "zur Besetzung eines Staatsamts". [41] Das aktive Stimmrecht aber stehe ihnen unzweifelhaft zu: "Ich fordere diese Stimme für sie auch da, wo es gilt, Vertreter des ganzen Volkes zu wählen - denn wir Frauen sind ein Teil dieses Volkes. Wenn jetzt aber z. B. ein Wahlgesetz lautet: Alle mündigen Staatsangehörigen sind Wähler - die Frauen aber gleichsam durch eine schweigende Übereinkunft von diesem Recht ausgeschlossen sind, so heißt dies einfach, die Frauen für unmündig erklären. Ein Recht, das jetzt den Unwissendsten im Volke zusteht, muß auch für das Weib da sein." [42]
Gleichwohl sah die Frauen-Zeitung ihre Hauptaufgabe nicht darin, für politische Frauenrechte zu agitieren. Im Vordergrund standen vielmehr sozialpolitische und Bildungsziele, nicht die aktive Teilnahme am politisch-parlamentarischen Tagesgeschehen. Zwar beklagte man sich über die Borniertheit männlicher "Freiheitskämpfer", bei ihren "Bestrebungen nur an eine Hälfte des Menschengeschlechts" zu denken, "nur an die Männer". [43] Flammende Proteste gegen das Wahlgesetz, das die Frankfurter Nationalversammlung 1849 verabschiedete und das ausschließlich Männern politische Stimmrechte einräumte, blieben jedoch aus. Offensichtlich hielten Louise Otto und ihre Mitstreiterinnen die Zeit noch nicht für reif, Frauen in den politischen Olymp aufzunehmen. "Der größte Teil des weiblichen Geschlechts", hieß es 1850 lapidar, sei "leider noch von dem Irrtum befangen, nur Pflichten gegen die Familie" zu haben. Hier müsse man sich das geforderte "Recht der Mündigkeit und Selbständigkeit im Staat" erst "verdienen"; man müsse beweisen, daß man seiner würdig sei durch aktives Eintreten für "Freiheit und Humanität", durch kollektives Handeln, durch tätige Solidarität mit denen, die "in Armut, Elend und Unwissenheit vergessen und vernachlässigt schmachten". [44]
Hier klang bereits das Motiv an, das die spätere Frauenbewegung leiten und prägen sollte: der Gedanke, sich politische Rechte verdienen zu müssen. Man besaß sie nicht von Natur aus, sondern bekam sie verliehen, sobald man die Fähigkeit, vernünftig mit ihnen umzugehen, unter Beweis gestellt hatte. An diesem Punkt zeigte sich die nahe Verwandtschaft von Frauenbewegung und Liberalismus: Beide dachten nicht vom Individuum her, sondern vom Staat; beiden galt das politische Stimmrecht als Inkarnation des Staatsbürgertums nicht als individuelles, natürliches Recht, sondern als Privileg - als ein Privileg allerdings, das potentiell allen Bürgern zugänglich sein sollte, sofern sie die daran geknüpften Bedingungen erfüllten. Nicht der Staat hatte eine Bringschuld gegenüber den Untertanen, sie als Staatsbürger anzuerkennen und mit entsprechenden Rechten auszustatten, sondern die Menschen hatten eine Holschuld, sich dem Staat gegenüber solcher Rechte als würdig zu erweisen.
So sahen es selbst die linken Liberalen im Umkreis Robert Blums, dem Louise Otto politisch eng verbunden war. Auch Blum optierte 1848 nicht für die unbegrenzte Teilnahme aller "am Staat", sondern für eine durch Bildung und Vermögen qualifizierte Auslese, die gleichwohl die "Mehrzahl aller selbständigen Bürger" einschließen sollte. Er bestand zugleich darauf, daß der Staat alles tun müsse, um die "jetzt unberechtigten Classen der Gesellschaft" so schnell wie möglich durch die "ungehemmteste Ausbreitung politischer Bildung" zu gleichberechtigten Mitbürgern zu emanzipieren. [45] Ob er darunter auch Frauen verstand, ließ er allerdings offen. Zwar votierte er energisch für die soziale und ökonomische Gleichberechtigung der Geschlechter, für eine verbesserte Bildung der Frauen und ihre Integration in den außerhäuslichen Arbeitsmarkt. Inwieweit er die Gleichberechtigung auch auf den politischstaatlichen Bereich ausdehnen wollte, blieb jedoch unklar. Einerseits beharrte er darauf, daß der große "natürliche Unterschied der Geschlechter ... eine andere Stellung des Mannes als der Frau" zur Folge haben müsse. Andererseits wollte er sich nicht dazu verstehen, diese andere Stellung zu präzisieren oder gar festzuschreiben. "Was die Frau kann, das wissen wir nicht, denn sie ist, seit wir die Geschichte kennen, das durch unsere Schuld unterdrückte und verkrüppelte Geschöpf; das aber wissen wir, daß es unsere Pflicht ist, die Ungleichheit aufzuheben." Unter diesen Umständen war es vielleicht sogar denkbar, daß Frauen "Minister, Abgeordnete, oder gar Soldaten werden können". [46] Undenkbar war dies für jene Männer, die 1849 in der Frankfurter Paulskirche über ein neues Wahlgesetz als "Seele der Verfassung" und politische Existenzfrage berieten. [47] Heftig und ausdauernd wurde hier über Sinn und Notwendigkeit sozialer Wahlrechtsbeschränkungen gestritten; daß Frauen an der Repräsentation des Volkes - "was ist denn Volk? Eben alle, und alle müssen daher repräsentiert werden [48] - weder aktiv noch passiv teilhaben durften, stand nicht zur Debatte. Als der Liberale Georg Waitz den Bericht des Verfassungsausschusses erstattete, erwähnte er nur en Passant, daß "Geschlecht und Alter auch heut zu Tage noch allgemein für nothwendige Gründe der Unterscheidung (politischer Rechte) gelten". Über die Frage, ob "Stand und Beruf, Besitz und Vermögen eben sowohl begründete Verschiedenheiten bedingten", gebe es jedoch keine Einigkeit mehr. [49] Sie dominierte denn auch die Verhandlungen der Nationalversammlung, während das, was unbestritten war, nur selten zur Sprache kam. Selbst der Text des Wahlgesetzes verzichtete darauf, die geschlechterbezogene "Unterscheidung" namhaft zu machen. Er sprach durchgängig nur von "dem Deutschen" und von Personen", nicht aber von Männern oder Frauen.
Lediglich ein konservativer Abgeordneter fand es notwendig, auf den Ausschluß der Frauen ausdrücklich hinzuweisen. Da "die bestehenden Gesetze, welche nach ihrem Wortlaute nur das männliche Geschlecht betreffen, ... nach einer allgemein anerkannten Auslegungsregel, so weit das weibliche Geschlecht nicht durch das Wesen der Sache oder gesetzliche Bestimmung ausgeschlossen wird, auch für dieses" gälten, erheische es "die Consequenz, daß das Wahlgesetz, soferne es das Wahlrecht dem weiblichen Geschlecht nicht zuerkennt, dieses ausdrücklich bemerke". Eindringlich wehrte er sich gegen den Vorwurf, er betreibe "haarspaltende Pedanterie", da sich der Ausschluß der Frauen "von selbst versteht". Dagegen führte er "die Bestrebungen der neuern Zeit nach politischer Emancipation der Frauen" ins Feld, von denen er sich nachhaltig distanzierte:
- "Wehe Uns, wenn die Tummelplätze politischer Fehden in das Gebiet des innern Familienlebens eingedrungen sind! Die Ruhe des Gemüthes ist dann in seinem letzten Asyle, im innersten Heiligthum des Gemüthslebens gefährdet, vielleicht vernichtet."
Niemand widersprach ihm. Seine Anregung, den - unbestrittenen - Ausschluß aller Frauen explizit im Wahlgesetz zu verankern, fand gleichwohl kein Gehör. Zu selbstverständlich war jener Ausschluß, als daß er eines sprachlichen Ausdrucks bedurft hätte.
- "Ein Gesetz, wenn es von politischen Rechten redet", könne schlichtweg "nur das männliche Geschlecht meinen", so daß man es "nicht nöthig hat, das weibliche Geschlecht auszuschließen". [50]
Wenn in den tagelangen Debatten überhaupt einmal vom Frauenstimmrecht die Rede war, geschah das nur in erheiternder Absicht. [51] Allen Abgeordneten war klar, daß Frauen in der Politik nichts zu suchen hatten, daß sie als Geschlecht davon ferngehalten werden mußten. Bei ihnen mußte man sich nicht der Mühe der Differenzierung unterziehen, die beim männlichen Wahlvolk angebracht schien. Egal ob selbständig oder unselbständig, ob bescholten oder unbescholten, ob Fabrikarbeiterin oder Dienstbotin - "alles Frauenzimmer" wurde ausgegrenzt, und daran sollte sich nach Möglichkeit auch in Zukunft, ungeachtet jener irritierenden "Bestrebungen politischer Emancipation", nichts ändern. Unverändert blieb in den nächsten Jahrzehnten zumindest die Einstellung der Politiker und Parlamentarier, die über solche Grenzen zu befinden hatten. Als 1867 erneut öffentlich über Wahlrechtsbeschränkungen diskutiert wurde, zeichnete sich zwar in den sozialen Grenzziehungen ein deutlicher Kurswechsel ab; die Frage, ob Frauen nunmehr ebenfalls zum Kreis der Berechtigten gehören sollten, wurde hingegen nicht einmal gestellt. [52] Während vor allem die Konservativen aus wahltaktischem Kalkül für das Stimmrecht aller Männer eintraten, dachte niemand daran, dieses Prinzip so zu erweitern, daß es auch Frauen umfaßte. Das allgemeine und gleiche Wahlrecht des Norddeutschen Bundes und des Reichstags blieb bis 1918 ein Wahlrecht der Männer - trotz zunehmender inner- und außerparlamentarischer Kritik, die im folgenden auf ihre Motive und Träger untersucht wird.