Geschlecht - männlich/weiblich

Zur Geschichte der Begriffe (1730-1990)

1. Geschlecht als Konstruktion

Das Geschlecht ist ins Gerede gekommen. Es wird konstruiert, dekonstruiert, rekonstruiert, je nach Lust und Laune des feministischen Diskurses. Die Meinungen gehen weit auseinander: Beharren die einen auf der Materialität der Kategorie, lösen andere sie in soziokulturellen Inszenierungen auf. Erkennen manche Teilnehmerinnen des aktuellen Diskurses eine vorsprachliche, nämlich leiblich-körperliche "Bezüglichkeit" des Geschlechts an [1], neigen ihre Kontrahentinnen dazu, eben diese Bezüglichkeit zu leugnen und das Geschlecht lediglich als Erzeugnis sprachlich verfaßter Diskurse zu begreifen, als ein ganz und gar künstliches Produkt, das je nach Macht und Bedürfnis immer wieder neu gestaltet werden könne. [2] Eine dritte Richtung nimmt jene Gestaltung selber unter die Lupe, indem sie sie, unter dem Stichwort "doing gender", ethnomethodologisch rekonstruiert. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf den (politisch unbequemen) Umstand, daß die Konstruktion des Geschlechts nicht in einer der individuellen Erfahrungswelt enthobenen Sphäre stattfindet, sondern in der alltäglichen Praxis, an der jedermann und jedefrau auf seine/ihre Weise aktiv teilnimmt. Die "Diskurse" übersetzen sich hier in konkretes Handeln, in performative Akte, die Geschlechterzugehörigkeit gleichermaßen konstituieren und auf Dauer festschreiben. [3]

Obwohl die Anhängerinnen der einzelnen Richtungen heftig und ausdauernd miteinander streiten, stimmen sie sämtlich darin überein, daß das Geschlecht keine natürlich ontologische Kategorie ist, sondern eine Konstruktion. Als konstruiert gelten dabei nicht nur die soziokulturellen, politischen und ökonomischen Attribute des Geschlechts (gender), sondern auch das, was bislang als biologisches Substrat, als Körpergeschlecht (sex) angesehen wurde. Neuere wissenschaftshistorische Untersuchungen haben nachzuzeichnen versucht, wie verschieden der "kleine Unterschied" in der Geschichte der Menschheit wahrgenommen und interpretiert worden ist. Auch Biologie, lautet ihre Schlußfolgerung, verweist demnach nicht auf ein absolutes Faktum, sondern ist selber kulturell präformiert oder eben "konstruiert". [4]

Mit dieser radikalen Historisierung der Geschlechterdifferenz hat die eingespielte Unterscheidung zwischen sex - als Körpergeschlecht - und gender - als sozialem Geschlecht, das auf dem Körpergeschlecht aufsitzt - ihre Unschuld verloren. Die körperliche Grundierung des Geschlechts ist frag-würdig geworden. Damit eröffnet sich der Geschlechtergeschichte ein neues, erweitertes Forschungsfeld - wie denn überhaupt der konstruktivistische Blick insgesamt eine historische Perspektive geradezu einfordert. Geht man davon aus, daß das Geschlecht und die Geschlechterdifferenz diskursiv erzeugt werden, daß sie nicht ein für allemal gegeben sind, sondern in verschiedenen Kontexten auf verschiedene Art mit verschiedenen Konsequenzen immer wieder neu her-vorgebracht werden, stellt sich der Geschichtswissenschaft die Aufgabe, diesen Produktionsprozeß räumlichzeitlich zu situieren, seine Triebkräfte zu benennen, seine Verfahrensweisen zu analysieren, seine Alternativen zu bedenken und seine Folgen zu ermitteln.

Aus dem philosophischen Streit um die "Ent-Substantialisierung" oder "Ent-Sexuierung" der Kategorie Geschlecht mitsamt seinen politischen Weiterungen kann sich die Geschlechtergeschichte dabei weitgehend heraushalten. Ihr geht es schließlich nicht um Zukunftsmusik, also um die Frage, ob sich jene Kategorie ganz auflösen wird, wenn ihr gleichsam spielerisch-parodistisch der Körper-Boden entzogen wird.

Statt dessen beschäftigt sie sich mit dem Problem, wie vergangene Gesellschaften und die in ihnen lebenden Frauen und Männer mit der Geschlechterdifferenz umgegangen sind, wie sie die Differenz beschrieben, welche Bedeutung sie ihr zugewiesen haben. Hielten sie das Geschlecht für eine fundamentale Unterscheidungskategorie, oder wiesen sie ihm einen eher marginalen, nachgeordneten Status zu? Wie legierte sich die Geschlechterdifferenz mit anderen Unterscheidungen, nach denen eine Gesellschaft ihre Mitglieder ordnete? Worauf fußte die Unterscheidung zwischen Frauen und Männern, woher bezog sie ihre Legitimation? Wann und in welchen Zusammenhängen veränderten sich die Vorstellungen, die man sich von den Geschlechtern machte? Gab es konkurrierende Konzepte, und welche Rolle spielten sie? [5]

Solche - und andere - Fragen zielen darauf ab, den Konstruktionscharakter des Geschlechts historisch transparent werden zu lassen, indem sie die sprachlich-begriffliche Dimension in den Vordergrund rücken. Diese forschungsstrategische Entscheidung markiert keine Reverenz an den neuesten "linguistic turn" der US-amerikanischen Geschichtswissenschaft und seine dekonstruktivistischen Ambitionen. Weit davon entfernt, Begriff und Wirklichkeit, Text und Welt mehr oder weniger umstandslos in eins zu setzen, halte ich mich an den bescheideneren, nichttotalisierenden Anspruch einer Begriffsgeschichte, wie sie in Deutschland vor allem mit den Arbeiten Reinhart Kosellecks verbunden ist.

Dieser Begriffsgeschichte geht es, Koselleck folgend, um die Analyse der "sprachlichen Artikulationen und Deutungssysteme" gesellschaftlicher Beziehungen. [6] Sie will politisch-soziale Argumentationshaushalte rekonstruieren, die von Begriffen und rund um Begriffe herum strukturiert werden. Politische Situationen und soziale Strukturen sollen in ihrer "sprachlichen Erfassung" untersucht werden, wobei der jeweilige Begriff nicht nur als "Indikator der von ihm erfaßten Zusammenhänge" gilt, sondern auch als "deren Faktor": Mit jedem Begriff werden bestimmte Horizonte, aber auch Grenzen möglicher Erfahrung und denkbarer Theorie gesetzt." [7]

Besonders interessiert sich die Begriffsgeschichte für die Analyse begrifflichen Wandels, für diachrone Entwicklungen in der politisch-sozialen Sprache. Auch wenn sich die Sprache selber nicht verändert, wenn die Worte weiterhin benutzt werden, kann sich ihre Bedeutung, ihr semantischer Gehalt verschieben. Ebenso mag sich die Sprachpragmatik erneuern, die Art und Weise etwa, in der ein Begriff verwendet wird, die Kontexte und Bezüge, in denen er auftaucht, die Funktion, die er für Sprecher und Hörer/Leser erfüllt.
Spannend wird es vor allem dann, wenn die begriffsgeschichtliche Analyse kombiniert wird mit anderen, beispielsweise sozialgeschichtlichen Fragestellungen und Methoden. Auf die Chancen und Risiken einer solchen Verbindung hat Koselleck mehrfach hingewiesen. So sehr man sich einerseits davor hüten soll, Sozial- und Begriffsgeschichte umstandslos kurzzuschheßen, von direkten Entsprechungen auszugehen, so anregend und hilfreich kann es andererseits sein, Befunde zu vergleichen und Bezüge, wie vermittelt auch immer, herzustellen. Daß dabei auch in unterschiedlichen Zeitrhythmen gedacht werden muß, daß Begriffe der "Wirklichkeit", der "tatsächlichen" Geschichte vorangingen oder hinterherhinkten, erhöht nicht nur den Schwierigkeitsgrad, sondern auch den intellektuellen Reiz des Unterfangens.

Wie sich das begriffsgeschichtliche Programm in die Forschungspraxis übersetzen läßt, ist dem jüngst vollendeten siebenbändigen Lexikon Geschichtliche Grundbegriffe zu entnehmen. Es führt 79 Stichwörter - vom Adel bis zur Zivilisation - auf, allesamt "Leitbegriffe der geschichtlichen Bewegung", "Schlüsselworte der politischen, der wirtschaftlichen und der gesellschaftlichen Organisation". [8] Das Stichwort Geschlecht allerdings sucht man vergebens es gehört nach Ansicht der Herausgeber offenbar nicht in diesen historischen Thesaurus, der zentrale Ordnungs- und Orientierungsbegriffe der Moderne prasentiert und ihre wechselnden Verwendungszusammenhänge aufzeigt.

Diese - nirgendwo explizit geäußerte, aber in der Unterlassung implizite - Ansicht fordert zum Widerspruch heraus. Auch das Geschlecht, so meine These, zählt zu jenen Ordnungsbegriffen, die zwar älter als die moderne Zeit sind, im 19. Jahrhundert aber eine veränderte, radikalere Qualität erwarben. Auch das Geschlecht ist ein Begriff (kein "bloßes Wort"), in dem sich "viele Bedeutungsgehalte" konzentrieren, der mit einem "konkreten Allgemeinheitsanspruch" einhergeht. Auch das Geschlecht ist Teil der "politisch sozialen Sprache", integrales Element jener "Gesamtheit gesellschaftlicher Beziehungen" inklusive ihrer "sprachhchen Artikulationen und Deutungssysteme", für die sich die Begriffsgeschichte zuständig erklärt. [9]

Die folgende Skizze versucht deshalb, Versäumtes in knapper Form nachzuholen. Ihr Ziel ist es, die begriffsgeschichtlichen Spuren aufzufinden, die die historische Beobachtung, Reflexion und Bearbeitung der Geschlechterdifferenz hinterlassen haben. Begriffe wie Geschlecht, Geschlechterverhältnis, Weiblichkeit und Männlichkeit sollen dabei mit den Erkenntnisinteressen und dem methodischen Instrumentarium einer historischen Semantik analysiert werden. Dabei wird vor allem danach zu fragen sein, mit welchen Bedeutungen diese Begriffe versehen wurden, ob (und wie) sich die Bedeutungen änderten und womit solche semantischen Verschiebungen zu erklären sind.

Als Quelle bieten sich die Konversationslexika der Neuzeit an, die jene Begriffe verzeichneten, definierten und kommentierten. [10] Da Konversationslexika, ihrer Bestimmung gemäß, das Wissen der Epoche sammelten und an ihre LeserInnen weitergaben, sind sie für die Geschichtswissenschaft auf zweifache Weise interessant: Zum einen erteilen sie Auskunft darüber, wie sich eine bestimmte Zeit über einen bestimmten Gegenstand verständigt hat; sie repräsentieren gleichsam das allgemeine Kenntnis- und Erfahrungsniveau einer Gesellschaft, den in ihren "gebildeten Kreisen" anzutreffenden Argumentationshaushalt. Andererseits vermitteln sie Einblicke, wie diese Argumentationen strukturiert waren, in welchem Mischungsverhältnis spezielle Wissensbestände (hier: der Anthropologie, Medizin, Volkskunde und Geschichte) in verbindliche Begriffsbestimmungen einflossen, wie ein bestimmtes Wissen (hier: von der Geschlechterdifferenz) legitimiert und verbreitet wurde.

Die Lexika laden daher geradewegs ein zu einer Ent-Deckungsreise in Sachen "Unterscheidungssemantik". Wie bei den neuerdings so beliebten Kreuzfahrten werden hier allerdings nur die markanten Punkte, die großen Häfen angesteuert, und so manches versteckte Juwel bleibt unentdeckt. Orientierungs- und Leitlinie ist die Frage, wie die Unterscheidung zwischen Frauen und Männern wann von wem mit welchen Interessen wahrgenommen und reflektiert wurde. War die Geschlechterdifferenz Teil der Selbstbeobachtung einer Gesellschaft? In welchen Kontexten trat sie überhaupt explizit ins Bewußtsein (der Sprache)? Welche Fluchtpunkte wurden gesetzt, welche Konnotationen bemüht? Was kam zur Sprache, wovon wurde geschwiegen? Was verrät das Schweigen, was besagt das Sprechen?

2. Geschlecht - Geschlechter

Der Brockhaus aus dem Jahre 1991, der das "Grundwissen unserer Zeit" auf einen "handlichen Nenner" bringen möchte, führt unter dem Stichwort "Geschlecht" drei Bedeutungen auf. Die erste entstammt der Biologie, heißt im Lateinischen Sexus und meint

"die Differenzierung von Lebewesen in männliche oder weibliche Gameten hervorbringende Individuen. Sind Lebewesen angelegt, Spermien zu erzeugen, so spricht man vom männlichen Geschlecht ... ist es ihre Aufgabe, Eizellen hervorzubringen, sind sie weiblichen Geschlechts."

Die zweite Bedeutung ist dem germanischen und mittelalterlichen Recht entnommen. Geschlecht ist hier

"die durch agnatische Abkunft gekennzeichnete adelige bzw. königliche Verwandtschaftsgemeinschaft. im Spät-Mittelalter auch die einflußreichen Patrizierfamilien größerer Städte. Heute Menschen, die aufgrund ihrer Blutsverwandtschaft erblich näher miteinander verbunden sind."

Um die dritte, sprachwissenschaftliche Bedeutung zu eruieren, verweist das Lexikon auf den Begriff Genus als "grammatische Kategorie", die "auf der Unterscheidung des natürlichen Geschlechts aufbaut". [11] "Darüber hinaus verzeichnet es insgesamt 19 zusammengesetzte Stichwörter mit dem Stamm "Geschlecht" von "Geschlechterkunde" über "Geschlechtskrankheiten" bis zu "Geschlechtsverkehr". Nur eines davon, das erstgenannte, bezieht sich auf den Abstammungsbegriff, alle anderen rekurrieren ausnahmslos auf die "biologische" Bedeutung. Ein Jahrhundert früher unterscheidet der Brockbaus - neben dem getrennt vermerkten sprachwissenschaftlichen Geschlechtsbegriff - eine weitere und eine engere Bedeutung von "Geschlecht". In weiterm Sinne", heißt es 1893, sei Geschlecht

"gleichbedeutend mit dem systematischen Begriff der Gattung, in engerm aber bezeichnet man durch das männliche und das weibliche Geschlecht (sexus masculinus und sexus femininus) zwei verschiedene, immer im Bau der Geschlechtsdrüsen, häufig aber auch und in sehr bedeutendem Grade in der äußern Gestalt, Stimme u. s. w. voneinander abweichende Formen..., in welchen bei den meisten Tieren und zahlreichen Pflanzen behufs einer eigentümlichen, auf die Fortpflanzung sich beziehenden Arbeitsteilung die Individuen der einzelnen Tier- und Pflanzenarten vorkommen".

Der Artikel fährt fort, den geschlechtlichen Dimorphismus in Fauna und Flora zu schildern, und wendet sich dann umstandslos und unvermittelt der bislang nicht erwähnten menschlichen Gattung zu:

"Während der Naturforscher durch Beobachtung in dem Instinkt der Tiere einen Unterschied der Geschlechter zu erblicken vermag, stellt sich dieser Unterschied beim Menschen von früher Kindheit an in Charakter und Gefühlsleben auf den ersten Blick dar. Der gesclilechtliche Dimorphismus ist bei den niedern Menschenrassen, bei welchen beide Geschlechter sich denselben Verrichtungen widmen, geringer als bei den kultivierten Rassen, bei welchen sich eine entwickeltere Arbeitsteilung herausgebildet hat." [12]

Angesichts der großen Ausführlichkeit dieser Erläuterungen kann das Lexikon die Zahl der zusammengesetzten Eintragungen klein halten. Verglichen mit der Ausgabe von 1991 steht die "biologische" Bedeutung des Begriffs "Geschlecht" 1893 eindeutig im Vordergrund. Sie wird zwar, anders als 1991, nicht als erste genannt, nimmt aber den größten Raum ein und drängt die sprachwissenschaftliche und Gattungskomponente an den Rand. Und noch etwas anderes fällt auf - Hat die "biologische" Definition von 1991 jede Differenzierung des Wortes "Lebewesen" vermieden, konstruiert der hundert Jahre ältere Artikel eine klare Hierarchie der Geschlechterverschiedenheit: je höher der allgemeine zivilisatorische Entwicklungsstand, desto ausgeprägter die Differenz. Im übrigen legt er großen Wert auf den Hinweis, daß jene Differenz nicht nur, wie es die Definition von 1991 nahelegt, in der Produktion von Spermien oder Eizellen besteht, sondern sich auch in die äußere Form, in "Charakter und Gefühlsleben" sowie in die soziale Praxis der Individuen einschreibt. Der Geschlechterunterschied teilt Menschen gleichsam in zwei besondere Klassen mit je eigenen "Vollkommenheiten" und Mängeln. Noch einmal sieben Jahrzehnte früher ergibt sich ein ähnliches Bild. Der Artikel" Geschlecht", der 1824 in der 6. Auflage des im F. A. Brockhaus-Verlag erscheinenden Conversations-Lexicons nachzulesen ist, erwähnt ebenfalls eine weitere und eine engere Bedeutung des Begriffs.

"In weiterem Verstande" meine er "jede größere Abtheilung gewisser Dinge, welche irgend ein Merkmahl mit einander gemein haben ... Daher ist dieses Wort von ziemlich allgemeinem und unbestimmten Gebrauch. So z.B. wird es oft statt Classe, Gattung, Ordnung, gebraucht; ferner bedient man sich dessen von einer Reihe von Menschen, welche zu Einer Familie oder zu Einem Stamme gehören, z. B. das Geschlecht derer von Dalberg; eben so auch von einer großen Anzahl Menschen, welche zu einer und derselben Zeit lebten oder leben, oder auch von solchen, welchen gemeinschaftlich eine gewisse Eigenschaft beigelegt wird."

Dieser klassifikatorische bzw. genealogische Mischmasch ist dem Verfasser nur wenige knappe Sätze wert. Sehr viel ausführlicher und engagierter widmet er sich dem "engern und eigentlichen Verstande" des Geschlechtsbegriffs, der "die beiden Abtheilungen aller organischen Körper, in männliche und weibliche" bezeichne. Hier verliert sich der Artikel zunächst in den metaphysischen Untiefen der Naturgeschichte, in denen sich die "Entzweiung der Gattung in die beiden Geschlechter, in das zeugende, schaffende, und das empfangende, bildende, oder das männliche und weibliche" vollzogen habe. Als nächstes nimmt er die Ausprägung dieser Entzweiung in Tierwelt und Pflanzenreich unter die Lupe. Überall entdeckt er das gleiche Muster:

"So ist im Allgemeinen das männliche im Verhältnisse zu dem weiblichen das Stärkere, jenes sich unter-werfende, das aus sich hinaus auf das weibliche überwirkende, das belebende, begeistigeride. Das weibliche, im Verhältniß zu dem männlichen, ist das zartere, jenem sich unterwerfende, das aufnehmende, fortbildende, ernährende und endlich gebärende."

Ihre höchste Steigerung und Vollendung finden diese "Grundcharaktere beider Geschlechter" beim Menschen. Hier dürfen sie sich in Körper und Geist" am klarsten offenbaren". Bereits im Physischen sei die Differenz zwischen männlicher Stärke und weiblicher Zartheit unverkennbar; spiegele die "Form des Mannes mehr die Idee der Kraft", zeige sich "in der Form des Weibes mehr die Idee der Schönheit". Fortschreitend zum Höheren, Inhaltlichen heißt es dann:

"Der Geist des Mannes ist mehr Schaffend, aus sich heraus in das Weite hinwirkend, zu Anstrengungen, zur Verarbeitung abstracter Gegenstände, zu weitaussehenden Planen geneigter. Unter den Leidenschaften gehören die raschen, ausbrechenden dem Manne, die langsamen, heimlich in sich selbst gekehrten dem Weibe an. Aus dem Manne stürmt die laute Begierde; in dem Weibe siedelt sich die stille Sehnsucht an. Das Weib ist auf einen kleinen Kreis beschränkt, den es aber klarer überschaut; es hat mehr Geduld und Ausdauer in kleinen Arbeiten. Der Mann muß erwerben, das Weib sucht zu erhalten; der Mann mit Gewalt, das Weib mit Güte - oder List. Jener gehört dem geräuschvollen, öffentlichen Leben, dieses dem stillen, häuslichen Kreise. [13]

Die Argumentation folgt einem klaren Muster: Es gibt zwei Geschlechter, deren "Grundcharakter" durch ihr Zeugungsverhalten geformt wird. Je höher das Evolutionsniveau, desto stärker prägt sich dieser unterschiedliche Charakter aus. Er erfaßt alle Bereiche menschlichen Lebens, körperliche ebenso wie geistige und psychische Strukturen. Folgerichtig baut auch die gesellschaftliche Arbeitsteilung auf der Geschlechterdifferenz auf, indem sie Männer auf Produktion und Öffentlichkeit, Frauen auf Reproduktion und Häuslichkeit verweist. Damit vollzieht die Gesellschaft den Plan der Natur, und zwar nach der Devise: je verschiedener, desto besser. Das "Geschlecht" erscheint hier als natürliches Grundprinzip gesellschaftlicher Organisation. Es wurzelt und entfaltet sich in der Natur, wirkt aber in der Gesellschaft fort. Die Entwicklungspotentiale eines Individuums legt es verbindlich und unveränderlich fest; man kann ihm nicht entkommen. Mit dem Geschlecht ist zugleich die "Bestimmung" des Lebewesens gegeben: zum "Mütterlich-Heimischen" oder zum "Zeugend-Fremden". Diese Bestimmung wird es nicht mehr los; sie schreibt sich ihm ein und definiert seine Handlungsoptionen von der Geburt bis zum Tod. Diese Botschaft hat auch der 1893 veröffentlichte Lexikonartikel transportiert. Dennoch fallen Abweichungen, verschiedene Nuancierungen ins Auge. Der Artikel von 1824 argumentiert ungleich suggestiver; er malt das Bild vollständig aus, läßt nichts im Unklaren. Beschränkt sich die spätere Ausgabe auf geraffte, richtungweisende Angaben zur psychischen und sozialen Differenz der Geschlechter, führt der frühe Text die einzelnen Ausdrucksformen dieser Differenz detailfreudig aus. Damit erhalten sie einen im Textkorpus deutlich hervorgehobenen Platz, gewinnen an systematischem Gewicht. Die Konstruktion wirkt insgesamt hermetischer, abgeschlossener, zwingender. Hier hat sich jemand große Mühe gegeben, einen Gedanken von Anfang bis Ende und mit logischer Strenge durchzudeklinieren. Welche Anstrengung und Energie darauf verwandt wurden, tritt noch deutlicher zutage, wenn man den Artikel von 1824 mit Eintragungen aus dem 18. Jahrhundert kontrastiert. Die Deutsche Encyclopädie oder Allgemeines Real-Wörterbuch aller Künste und Wissenschaften von 1787 etwa bedenkt die "naturhistorische" Bedeutung von "Geschlecht" nur mit wenigen Worten, verweist statt dessen auf Spezialartikel wie "Knochen, Muskeln, Nerven, Temperamente", in denen die Unterschiede zwischen männlichem und weiblichem Geschlecht genauer betrachtet werden. Für die systematische Ableitung der Geschlechterdifferenz, 1824 akribisch ausgebreitet, hat der Verfasser kein Auge. Ihn interessiert am Begriff "Geschlecht" vor allem dessen allgemeinklassifikatorische Bedeutung, der er den größeren Erkenntnisgewinn zuweist. [14]
Noch kürzer faßt sich das Allgemeine Lexicon der Künste und Wissenschaften des Johann Theodor Jablonski aus dem Jahre 1748. Ohnehin sehr viel schlanker konzipiert, unterscheidet es schlicht zwischen Geschlecht als "genus" und "sexus". Unter Geschlecht als Genus versteht es "die abkunfft, "das abstammen und herkommen eines menschen von dem andern"; Geschlecht als Sexus wiederum meint den "unterscheid der männlichen und weiblichen art, die sich bey menschen und thieren befindet, ja auch einigen bäumen und kräutern beygeleget wird". Beide Bedeutungen stehen hier gleichgewichtig nebeneinander; von keiner wird besonderes Aufheben gemacht. Die biologische oder naturhistorische Variante genießt keinerlei Vorrang vor der genealogischen; als Klassifikationsbegriff, wie ihn die Definition von 1787 vor allem verstehen wollte, ist "Geschlecht" nicht präsent. Dreizehn Jahre früher zeigt Johann Heinrich Zedlers Grosses Vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste gar noch mehr Zurückhaltung. Trotz eines ungleich größeren Gesamtumfangs fällt der Eintrag "Geschlecht" wortkarger aus als bei Jablonski:

"Geschlecht, Genus, Famille, Maison, die Abkunfft, das Abstammen und Herkommen eines Menschen von dem andern. In einem weitern Sinn sind alle und jede Menschen ein Geschlechte, weil sie alle von einem abstammen. In einem engeren Sinn aber werden nur diejenigen verstanden, so anfänglich von einem Vater abstammen, und dessen Namen führen." [16]

Hier findet nur die genealogische Bedeutung Erwähnung, die biologisch-naturhistorische fehlt. Das Geschlecht ist ein zusammenfassender Begriff, kein scheidender; seine Funktion besteht nicht in der Bestimmung von Differenz, sondern in der Konstruktion von Zusammenhängen und Gemeinsamkeiten. Auch die anschließend genannten Kompositionswörter weisen in diese Richtung: von "Geschlechter, siehe Patricii" über den biblischen Ausdruck "Geschlechts Gottes sind wir" bis zu "Geschlechts-Register".
Erinnern wir uns an dieser Stelle an die Definition von 1991, wird eins deutlich: Der Abstand zur lexikalischen Eintragung von 1735 könnte kaum größer sein. Aber auch zwischen 1735 und 1824 oder 1893 klaffen Abgründe. Das "Geschlecht", im frühen 18.Jahrhundert ausschließlich in seiner genealogischen Bedeutung gegenwärtig, scheint sich seit der Jahrhundertmitte allmählich mit "Naturhistorie" bzw. "Biologie" aufzuladen. Zunächst nur sehr verhalten, rückt die Differenzdefinition mit Beginn des 19. Jahrhunderts immer aufdringlicher in den Mittelpunkt und schiebt andere Bedeutungsinhalte an den Rand. Spricht man in den 1840er/1850er Jahren von "Geschlecht", denkt man offenbar nicht mehr in erster Linie oder gar vor allem an das Geschlecht Abrahams oder derer von Dalberg, sondern an das, was Frauen und Männer voneinander unterscheidet. Bei dieser Priorität bleibt es bis ins ausgehende 20. Jahrhundert. Allerdings verschieben sich die internen Gewichtungen: Scheint es im frühen 19. Jahrhundert dringend erforderlich, den "Grundcharakter des Geschlechts" nicht bloß in seinen körperlichen, sondern auch und besonders in seinen psychischen, intellektuellen und sozialen Emanationen auszubuchstabieren, gilt dies kurz vor der Jahrhundertwende offenbar bereits als entbehrlich - oder aber als problematisch. Andeutungen, kurze Stichworte ersetzen die langatmigen Erörterungen von ehedem. Das 20.Jahrhundert wird noch knapper: Die Information zum Thema "Geschlecht" reduziert sich immer mehr auf die biologische Substanz, die sich aus Psyche und Körperbau in Zellen und Gene zurückzieht. Das "Geschlecht" als Differenzbegriff verliert damit an Komplexität und Ordnungskraft; über seine sozialen Konsequenzen schweigt man sich aus.
So sehr diese semantischen Verschiebungen auch ins Auge fallen, so unscharf bleiben zunächst noch ihre Hintergründe und Ursachen. Bevor der Versuch gewagt werden kann, die Geschichte des "Geschlechts" in den letzten 200 Jahren realgeschichtlich anzureichern, sind weitere begriffsgeschichtliche Exkursionen unerläßlich. Denn es könnte ja sein, daß sich manche Bedeutungen in andere Begriffe geflüchtet haben, oder anders herum, daß Bedeutungen, die sich später im Begriff "Geschlecht" konzentrierten, früher an andere Worte gebunden waren. Im folgenden sollen deshalb die Begriffe "Mann" und "Frau" bzw. "Weib" näher betrachtet und in ihrem Verhältnis zueinander untersucht werden. Da das männliche Geschlecht dem weiblichen immer vorangestellt wird - was gewiß nicht nur alphabetisch motiviert ist - sei diese Reihenfolge auch hier beibehalten.

3. Mann - männlich

Beginnen wir diesmal im 18. Jahrhundert. An Zedlers Wortkargheit in puncto "Geschlecht" gewöhnt, nimmt man die Beredsamkeit, mit der er sich 1739 über den "Mann" verbreitet, verblüfft zur Kenntnis. Das Stichwort füllt insgesamt mehr als zehn Spalten; zählt man die zusammengesetzten Begriffe - von "Mann-Geld" über "Mann-Recht" bis "Mann-Weib" hinzu, kommt gar die doppelte Anzahl zusammen. Überraschend ist darüber hinaus die Eröffnung:

"Mann heisset überhaupt einen Bedienten ... Im Deutschen treffen wir diese Bedeutung noch in etwas in denen zusammen gesetzten Wörtern an, als in Amt-Mann, Fuhr-Mann, Hauß-Mann, Thür-Mann, Boots-Mann etc. ja auch selbst in dem Worte: Lehns-Mann."

Dementsprechend heißt es in der Eintragung

"Mann (Lehns-), Lehn-Mann, Vasal, Getreuer, Soldat":
"Und sichet man also, daß das Wort: Mann, in Lehn-Sachen, nicht sowohl den Unterscheid des Geschlechts, als vielmehr die Eigenschafft eines Vasallen überhaupt und also bey weiblichen Lehnen so wohl Weiber als Männer anzeige."

Die erste - dienende - Funktion von "Mann" schiebt sich folglich über die zweite, in der Erläuterung bereits angedeutete: Mann als Tier oder Mensch,

"dessen Geschlecht der Natur nach dem weiblichen entgegen gesetzet wird".

Diesem syntaktisch nachgeordneten Wortsinn werden sodann, sofern er sich auf Menschen bezieht, zwei verschiedene "Bedeutungen" beigelegt, eine "natürliche" und eine "moralische":

"Was den natürlichen Grund anlanget, so bedeutet es das Geschlecht, welches von Gott mit dem Vermögen zu zeugen begabet worden ist ... Dahin gehöret auch, wenn sich der Nahme Mann auf eine gewisse Zeit-Rechnung des menschlichen Alters beziehet, in welcher Absicht das Sprichwort sagt: Dreyßig Jahr ein Mann. Irn moralischen Verstande bedeutet es entweder einen Ehemann ... oder eine Person, die zu einer gewissen Profeßion und Stand geschickt ist, als wenn man sagt: ein Kriegs- Hof- Schul- Kauff- Handwercks- Mann etc." [17]

Anders als es seine 1735 vorgenommene Definition nahelegt, benutzt Zedler hier den Begriff "Geschlecht" zur Kennzeichnung der Differenz zwischen Männern und Frauen. Diese Differenz, die er "Entgegen-Gesetztheit" nennt, ruht auf einem doppelten Fundament: auf Natur und Moral. Die gottgefällige Natur stattet den Mann mit Zeugungsorganen aus, während die Moral (worunter kein ethisches Normensystem zu verstehen ist, sondern eine sittlichgesellschaftliche Instanz) ihm einen Stand als Ehemann, aber auch als Gewerbetreibender zuweist. Was Natur und Moral miteinander zu tun haben, bleibt ungesagt. Die soziale Existenz baut (noch) nicht zwangsläufig auf den natürlichen Begabungen auf. Fast scheint es sogar umgekehrt zu sein. Das Interesse liegt weniger bei der "natürlichen" Qualifikation (des Zeugens) als vielmehr bei den sozialen bzw. "moralischen" Funktionen des Dienens, später dann des Ein-Haus-Führens oder des Erwerbs. Die Differenz zwischen den Geschlechtern ist weit mehr im Sozialen angesiedelt als im Körperlich-"Natürlichen". Überhaupt drängt sich der Eindruck auf, als komme dem Unterschied zwischen Männern und Frauen, ihrem Entgegengesetztsein, 1739 kein sonderliches Gewicht zu. Der ständige Verweis auf das andere, als grundverschieden gedachte Geschlecht, die beharrliche Betonung des unüberbrückbaren Gegensatzes, die systematische Herleitung und Begründung dieses Kontrastes, die kaum zu überbietende atmosphärische Spannung zwischen den Polen männlich/weiblich - all das, was in den hundert Jahre später erscheinenden Nachschlagewerken unter dem Stichwort "Geschlecht" ausgebreitet wird, fehlt in Zedlers Lexikon. Statt dessen obsiegt eine unaufgeregte, gelassene, auf überspitzte Polarisierungen durchweg verzichtende Darstellung dessen, was einen Mann (und eine Frau, s. u.) kennzeichnet. Ermöglicht und erleichtert wird sie durch die Wahl eines anderen Referenzsystems. Nicht das Geschlecht (im biologischen Sinn) konstituiert den gleichsam apriorischen Bezugspunkt, von dem aus Platzanweisungen und Interpretationen vorgenommen werden, sondern der soziale Raum, das Netz sozialer Beziehungen und Zwecke, in die sich Personen, Männer und Frauen, einfügen. Das wird vor allem im Artikel "Mann (Ehe-)" deutlich. Hier stehen die besonderen Pflichten und Befugnisse von Ehemännern im Vordergrund: von der geforderten Enthaltsamkeit während einer Schwangerschaft der Ehefrau über die Erwerbsfunktion bis hin zum Herrschaftsanspruch "im Ehestand". Auf diesen Ehestand und seinen Zweck, nämlich Kinder zu erzeugen und aufzuziehen", rekurrieren alle Definitionen und Bestimmungen, die dem Begriff Ehemann" zuteil werden. Es geht dabei nicht um absolute und notgedrungen abstrakte Normierungen; es geht vielmehr um das Austarieren von Beziehungen, die ihren Sinn, ihren Gehalt und ihre Rechtfertigung nicht in sich selber tragen, sondern auf etwas Drittes hin konzipiert sind: die Ehe. Entsprechend vorsichtig tastend und abwägend werden die Aufgaben und Rechte eines Ehemannes markiert. Nirgendwo findet sich ein Hinweis auf angeblich unverrückbare, von der Natur autoritativ vorgegebene Sollwerte. Wenn überhaupt, entscheiden soziale Übereinkünfte über strittige Probleme.
In diesem Sinn wird beispielsweise die Erwerbsfrage gelöst:

"So lieget auch dem Manne die Sorge vor den Erwerb am meisten ob. Denn obwohl beyde Eheleute so viel erwerben sollen, als sie nach ihren Umständen vermögend sind; so finden sich doch bey den Weibern viele Umstände, die sie an dem Gewerb hindern, als da ist z. E. daß die Weiber theils bey Erzeugung der Kinder, indem sie schwanger gehen, thells bey ihrer Erziehung, mehr zu thun haben als die Männer, wodurch sie allerdings von anderer Arbeit abgehalten werden. Zudem sind auch nach unseren Sitten die Männer mehr als die Weiber im Stande etwas zu verdienen."

Diese Begründung ist weit entfernt von einem Argumentationsmodell, wie es seit dem frühen 19.Jahrhundert in Umlauf kommt. 1739 ist die "Natur" - das Schwangergehen der Frauen zwar bereits im Spiel, legt aber die Spielregeln noch nicht - und schon gar nicht bis in alle Einzelheiten - fest. Dazu paßt auch, daß das, was später als "natürliche Bestimmung" und "Liebesdienst" der Frau gedeutet wird, hier als "Arbeit" angesehen wird: als eine Tätigkeit, die von "anderer" Arbeit abhält. Diese "andere" Arbeit gemeint ist Erwerbsarbeit - ist nicht identisch mit Arbeit schlechthin. In der Ehe als männlich-weiblichem Arbeitszusammenhang rnüssen verschiedene Arbeiten bewältigt werden: neben der des Er-werbens (männlich) und der Kindererziehung (weiblich) vor allem die des "Anwendens", der "Ausgabe" dessen, was erworben wurde (weiblich). All diese Arbeiten haben prinzipiell den gleichen Wert:

"Wenn ein Weib dem Manne wohl zu rathe hält, was er erwirbet; so ist es eben so viel, als wenn sie ihm etwas erwürbe."

Ohnehin scheinen "Erwerb" und "Ausgabe", männliche und weibliche Arbeit nicht scharf voneinander geschieden zu sein. Ebenso wie sich Frauen "nach ihren Umständen" am Erwerbsgeschäft beteiligen sollen, sind auch Männer von der Sorge, "wie das Erworbene wohl angewendet werde, ... nicht ausgeschlossen". Außerdem ist der mit Befehlsgewalt ausgestattete Ehemann

"schuldig dem klugen Rathe des Weibes zu folgen, wenn sie eine Sache besser als der Mann einsiehet".

Die konkrete Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau scheint damit auf weite Strecken das Ergebnis sozialer Vereinbarungen ("Sitten") gewesen zu sein. [18]
Insgesamt wird hier ein verhältnismäßig schwach konturiertes Bild (ehe-)männlicher Funktionen und Kennzeichen entworfen, ein Bild zudem, das nicht von einer harten Trennlinie gegenüber dem Weiblichen beherrscht wird, sondern von dem gemeinsamen Flucht- und Bezugspunkt "Ehe". Oberstes Ziel ist es, dieser Lebensform zum Erfolg zu verhelfen, was 1739 vor allem durch eine größtmögliche Flexibilität männlich-weiblicher Beziehungen gewährleistet zu sein scheint. Der Mann präsentiert sich folglich nicht in erster Linie als differentes Geschlechtswesen, der Frau in Form und Funktion kraß "entgegengesetzt". Wichtiger als jene Differenz zum Weiblichen ist vielmehr der soziale Kontext, in den Männer wie Frauen mit durchaus unterscheidbaren, aber potentiell auch verschiebbaren Beiträgen eingebunden sind. Wie groß die Bedeutung dieses sozialen Kontextes für die Bestimmung von Männlichkeit ist, zeigt sich nicht zuletzt darin, daß man von einem "Mann" erst dann spricht, wenn er ein bestimmtes Alter erreicht hat. In den Lexika des 18. Jahrhunderts wird immer wieder das Sprichwort zitiert "Dreißig Jahr ein Mann". Erst in diesem Alter gilt ein männliches Individuum gemeinhin als befähigt, sich die Insignien von Männlichkeit zuzulegen: einen eigenen Hausstand, besser noch: eine Ehefrau und Kinder, denen gegenüber er das hausväterliche Regiment beanspruchen kann. Das wiederum setzt eine soziale Position voraus, ein Amt, eine "ehrbare Nahrung", die es ihm erlauben, sich und seine Angehörigen zu erhalten.
Auf dieses soziale Fundament des Mann-Seins verweist auch Jablonskis Allgemeines Lexicon aus dem Jahre 1748. Ähnlich wie Zedler differenziert Jablonski überaus deutlich zwischen dem "natürlichen" und dem "sittlichen Verstande" des Begriffs "Mann". Während er über ersteren knapp hinweggeht ("bedeutet es das geschlecht, und wird dem weibe entgegen gesetzt"), bedenkt er den "sittlichen" Aspekt mit weit größerer Ausführlichkeit. Ein Mann in diesem Wortsinn ist zunächst einmal

"eine ansehnliche person, die vor andern etwas gilt und vermag, im guten oder im bösen. Also sagt man, ein kriegs- ritters- hofschul-mann, und seinen mann bestehen, heisset, seiner ehrpflicht oder amt genüge thun."

Darüber hinaus bedeutet "Mann" vor allem "Ehemann, als wenn man sagt: mann und weib, sind ein leib". [19] Fazit: Um ein Mann zu sein, bedarf es nicht nur der Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht; es reicht, überspitzt gesagt, nicht aus, keine Frau zu sein, sondern es müssen andere, soziale Qualifikationen hinzutreten: eine angesehene, mit Ehre bedachte sozioökonomische Position, zumeist verbunden mit der Kompetenz, einen eigenen Hausstand zu begründen, zu heiraten und einer Familie vorzustehen. Von dieser lebensweltlichen Einbindung wird, das zeigt ein Blick in Nachschlagewerke jüngeren Datums, in der Folgezeit zunehmend abstrahiert. Zugleich gewinnt der Begriff "Mann" neue Konnotationen: Immer stärker hebt man nun angeblich typische Merkmale des Mann-Seins hervor, die sich im 19. Jahrhundert zu einem komplex ausformulierten männlichen "Geschlechtscharakter" summieren. Angedeutet findet sich jene Entwicklung bereits in der Ökonomisch-technologischen Encyklopädie des Johann Georg Krünitz. Dort heißt es 1806 unter dem Stichwort

"Mann, bedeutet I. einen Menschen, ohne Unterschied des Geschlechts, in welchem Sinne es indessen veraltet ist ... II. Mit dem Nebenbegriffe der Stärke, der Herzhaftigkeit, oder des gesetzten Betragens, 1) eine Person des männlichen Geschlechts, im Gegensatze des weiblichen. (Im gemeinen Leben ist dafür Mannsperson üblicher, und von Vornehmen braucht man Herr...) ... 2) Eine Person des männlichen Geschlechts nach zurück gelegtem Jünglingsalter, wo sie ihren völligen Wachsthum vollendet hat. a) Ueberhaupt zum Unterschiede von einem Knaben und Jünglinge, wo man das dreyßigste Jahr als dasjenige annimmt, wo das männliche Alter angehet. b) In engerer Bedeutung. a) Ein Mann von entschlossenem Muthe und gesetztem Betragen... b) Ein tapferer Mann... In noch engerer Bedeutung bezeichnete es ehedem einen Ritter, ingleichen einen adelichen Vasallen, der sein Lehen durch Kriegsdienste verdienen mußte... c) Ein Soldat. (Eine Fortsetzung der vorhergehenden Bedeutung...) d) Ein Ehemann." [20]

Kontrastiert man diese Begriffsbestimmung mit denen von 1739 oder 1748, fällt vor allem die Betonung von Stärke", Mut", "Tapferkeit" und "Herzhaftigkeit" auf - Charaktereigenschaften, die einen Mann nach vollendetem Jünglingsalter kennzeichnen sollen. Das "gesetzte Betragen", das ebenfalls eingefordert wird, stellt sich gewissermaßen als Ergebnis jener Eigenschaften ein und schlägt zugleich die Brücke zur letztgenannten Definition des Mannes als "Ehemann". Diese hausväterliche Dimension ist in der Aufzählung allerdings deutlich an den Rand gerückt; im Mittelpunkt steht nun unübersehbar der soldatisch-männliche Tugendkatalog. Soziale Beziehungen oder Kontexte, in denen jene Tugenden erworben, entfaltet und praktiziert werden, bleiben ausgeblendet; die Eigenschaften selber gewinnen kraft dieser Abstraktion einen gleichsam universellen Status, werden unmittelbar an das Geschlecht selber geknüpft. Einzig und allein die Altersbeschränkung enthält noch einen Hinweis auf soziale Gegebenheiten, der gleichwohl hinter Widersprüchlichkeiten versteckt bleibt. Daß das "männliche Alter" erst mit dem 30. Lebensjahr beginnt, ist wohl schwerlich durch das zu dieser Zeit angeblich vollendete "völlige Wachstum" zu begründen - es sei denn, man verstünde unter Wachstum nicht nur die physische Größe, sondern intellektuelle und soziale Kompetenzen, die eine bestimmte Lebenserfahrung voraussetzen.
In den folgenden Jahrzehnten schreibt sich die schon bei Krünitz zu beobachtende Tendenz zur Typisierung und Verallgemeinerung eines männlichen "Geschlechtscharakters" weiter fort. Der Artikel von 1806 bildet ganz offensichtlich die Vorlage für jene Texte, die seit den 1830er Jahren unter dem Stichwort "Mann" in den zahlreichen Auflagen von Pierers UniversalLexikon abgedruckt werden. Allerdings ist hier eine bemerkenswerte Abweichung und Weiterentwicklung zu beobachten. Anders als Krünitz rückt der sächsische Major a. D. Pierer die soldatisch-kämpferischen Eigenschaften nicht dezisionistischassoziativ ins Zentrum der Definition, sondern leitet sie logischsystematisch aus dem ab, was er die "Hauptnaturbestimmung des Mannes" nennt: aus dem Zeugungsvermögen. Letzteres gilt ihm als "Stammwurzel", aus der alle "körperlichen und geistigen Eigenheiten", die den Mann "im Allgemeinen von dem andern Geschlecht (s. Weib) auszeichnen", entspringen. Jene Eigenheiten werden sodann fortlaufend aufgezählt, wobei sich das Geistige mehr oder weniger aus dem Körperlichen ergibt:

"Körperlich deutet sich daher der Mann im Durchschnitt durch rnehrere Größe, stärkere Knochen, derbere Muskeln ... an, geistig aber durch einen höhern Muth, auf der Grundlage eines stärkern Kraftgefühles, daher auch durch ein höheres Vermögen an Kraft erfordernden Lebensverrichtungen, zugleich mit einem lebhaften Triebe, seine Kräfte und also auch seinen Willen, und überhaupt im Leben sich, als das vermögendere Geschlecht geltend zu machen; daher auch Krieg, Jagd, Bezähmung von Thieren und der größere Theil der körperliche Kräfte in Anspruch nehmenden Handthierungen, so gut wie ganz ausschließliche Beschäftigungen der Männer sind und überhaupt eben so im Schaffen wie Zerstören sich vornämlich männlicher Charakter bewährt." [21]

Um eben diesen "männlichen Charakter" kreisen im 19.Jahrhundert die Gedanken und Bewältigungsversuche der Lexikonautoren. Dem Begriff "Mann" assoziieren sich nicht mehr, wie im frühen 18.Jahrhundert, soziale Figurationen ("Ehemann", "Ritter", "Soldat", "Handwerksmann" etc.), sondern eine als ursprünglich gedachte Substanz von Männlichkeit, die man im Geschlechtsakt lokalisiert. Von da aus erobert sie alle Fasern und Ausdrucksformen männlicher Existenz: die Anatomie ebenso wie die Physiologie, die Psyche ebenso wie das Nervensystem, das intellektuelle ebenso wie das soziale Leben. Bezugs- und Vergleichseinheit ist immer das weibliche Geschlecht, von dem man sich abzusetzen und das man zu übertreffen sucht (man beachte nur den häufigen Gebrauch des KomparatiVs im obigen Zitat: höherer Mut, stärkeres Kraftgefühl, höheres Vermögen an Kraft, das vermögendere Geschlecht). Je mehr die Bedeutung von "Mann" und "Männlichkeit" auf die biologische "Stammwurzel" der Zeugungsfunktion zurückprojiziert und je ausführlicher diese Funktion und ihre Folgerungen beschrieben werden, desto kürzer fällt in den Nachschlagewerken des 19. Jahrhunderts die spezielle Information zum Stichwort "Mann" aus. In Meyers Großem Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände von 1851 findet sich unter dem Begriff "Mann" lediglich die knappe Eintragung: "1) s.v.a. Mensch; - 2) Person männlichen Geschlechts ... Über die Geschlechtseigenthümlichkeiten des Mannes s. Geschlechtseigenthümlichkeiten. [2] In den nachfolgenden Auflagen taucht das Stichwort "Mann" gar nicht mehr auf.

Die Leipziger Konkurrenz verfährt ähnlich. "Mann", liest man 1894 im Brockhaus,

"das menschliche Individuum männlichen Geschlechts während des Zeitraums der Reife. Das Mannesalter rechnet man von der völligen Geschlechtsreife bis zum Eintritt des Greisenalters, also im Durchschnitt vom 24. bis gegen das 60. Lebensjahr. In dieser Zeit hat der Mann seine höchste geistige und körperliche Ausbildung erlangt und steht im Vollgenuß seiner Kräfte. (S. Lebensalter, Jüngling und Greis) [23]

Selbst auf diese spärliche Information müssen spätere Leser verzichten. Die 15. Auflage des Großen Brockhaus erwähnt 1932 nur Heinrich und Thomas Mann, Männergesangvereine, Männerbünde und den Mann im Mond; der Mann an und für sich aber bleibt unkommentiert. Nur der Große Herder, das katholische "Nachschlagewerk für Wissen und Leben", bricht das allgemeine Schweigen. 1933 widmet er dem Begriff "Mann, Mannestum" einen ausführlichen, graphisch besonders hervorgehobenen Artikel. Im Mittelpunkt steht die "männliche Art", also das, was man einige Jahrzehnte zuvor noch den" Geschlechtscharakter" genannt hat. Diese Art wird nun in klassischer Manier zunächst aus physiologischen Gegebenheiten hergeleitet und dann, ebenfalls noch ganz im Stil des 19. Jahrhunderts, wie folgt geschildert:

"Zu wahrem Mannestum gehören Kraft, Tapferkeit, ehrliche Entscheidung (ohne listiges Zerreden), Weitblick, Unternehmungslust, Objektivität gegenüber Menschen und Dingen (ohne der Wirklichkeit auszuweichen), Bereitschaft zum Ernstfall des Lebens und zum Einsatz in der Gefahr. Die Teilnahme vorwiegend an den öffentlichen Dingen, der Kampf für die Aufgaben der Gemeinschaft liegen in der Art des Mannes. Das Kriegertum mit der Aufgabe des Schutzes und der Sicherung seines Gemeinschaftskörpers, der Autorität und Zucht, der Führung und Herrschaft erlebt der Mann als sein natürliches Vorrecht. Der Mann schmiedet den Staat, dessen Härte seinem Wesen entspricht, trägt die geschichtlichen Auseinandersetzungen und führt den Krieg."

Diese Charakterologie steht deutlich in der Tradition jener Definitionen, die seit dem frühen 19. Jahrhundert die Lexika beherrschen. Kraft und Mut, öffentliches Wirken, staatliche und militärische Funktionen - all das gehört zum Karton männlicher "Geschlechtseigentümlichkeiten", wie sie sich vorgeblich aus der Zeugungsfunktion des männlichen Organismus ableiten. Mit einer solchen Aufzählung jedoch - und hier tritt etwas Neues auf - gibt sich der Artikel von 1933 nicht mehr zufrieden. Vermutlich durch den Zeitgeist der späten 1920er und frühen 1930er Jahre motiviert, fügt er dem Kanon Varianten hinzu, nimmt Differenzierungen vor, bringt konkurrierende Begriffsprägungen ins Spiel. Die "Grundart des Mannes", heißt es da,

"wird aber nicht hauptsächlich vom Soldatentum erfüllt; alles Leben, das große Zielsetzung und Einsatzbereitschaft fordert, der Pionier der Kultur, der heroische Bekenner und Streiter Christi, der Heilige, verkörpern echte männliche Art nach ihren verschiedenen Werten".

Überhaupt gelte es, die "männliche Art" von der Gefahr der "Wildheit, der Roheit und Gewalttätigkeit" abzuschirmen, sie stärker auf das Väterlich-Schützende zu verpflichten und "alles Harte, Gewalttätige und Zerstörerische" in ihr zu überwinden. Mittels dieser "neuen christlichen Begriffsprägung des Mannes und Mannestums" müsse auf eine "Einschränkung und Zügelung des Ehr- und Wehrbegriffs" hingewirkt werden; "Heldentum und nationale Selbstbehauptung" sollen sich dementsprechend vom "bloß Natürlichen und Biologischen" lösen und statt dessen mehr im "Geistigen und Christlichen" verankern. [24] Dieser emphatische Appell steht zweifellos unter dem Eindruck eines kämpferisch-militärischen Männlichkeitskultes, wie ihn die Endphase der Weimarer Republik und vor allem die immer machtgewisser auftretenden Nationalsozialisten hervorbringen. Offenbar empfinden katholische Intellektuelle den soldatisch zugespitzten Gestus als Herausforderung, auf die sie mit einem Alternativangebot reagieren: dem christlich besänftigten, familial gebändigten Mann, der als Ehemann und Vater dem zeitgenössischen "Chaos", der "Brutalität und Zerstörung" trotzt. Damit aber geben sie zugleich zu erkennen, daß verschiedene Versionen von Männlichkeit auf dem Markt sind, daß "Mann, Mannestum" nicht länger fixe, unabänderliche, selbstverständliche, von der Natur festgelegte Begriffe darstellen, sondern kulturell variabel sind. Die gerade Linie, die das 19.Jahrhundert von den Geschlechtsorganen eines Mannes bis zu seinen politischen Bürgerrechten gezogen hat, wird geknickt, durchbrochen, verzweigt. Die Eindeutigkeit, mit der die Geschlechterdifferenz auf biologische Funktionen zurückgeführt worden ist, geht verloren. Wenn mehrere Konzepte von Männlichkeit gesellschaftliche Geltungsansprüche anmelden, können sie schwerlich aus ein und derselben "Stammwurzel" abgeleitet werden. Damit gerät die biologische Legitimation sozialer Figurationen ins Wanken, büßt ihre autoritative Kraft ein. Was Männer sind, wie sie sich verhalten, bewegen, orientieren sollen, erscheint nunmehr als gesellschaftliches Kunstprodukt, als Gegenstand öffentlicher Diskurse und politischer Dezision.
Obwohl die Ausführungen des Großen Herder diese Deutung bereits im Prinzip nahelegen, wird sie erst vier Jahrzehnte später explizit anerkannt und kritisch reflektiert. Bleibt in den Neuauflagen der großen Nachschlagewerke aus den 1950er Jahren das Stichwort "Mann" noch ausschließlich für die Brüder Heinrich und Thomas reserviert, taucht der "erwachsene Mensch männlichen Geschlechts" in den 1970er Jahren auf einmal wieder aus der Versenkung auf. Den Anfang macht der Brockhaus 1971:

"Mann ... der männliche Erwachsene. Die Eigenart des Mannes wird, ebenso wie jene der Frau, einerseits geprägt von geschlechtsspezifischen körperlichen und seelischen Voraussetzungen, andererseits von sozial-kulturellen Leitbildern, die als Geschlechtsstereotype von außen an ihn herantreten. Beide Bestimmungsmomente beeinflussen sich gegenseitig ... Der starke Wandel, dem die Leitbilder des männlichen >Idealtyps< im Lauf der Geschichte und bei den verschiedenen Kulturen unterliegen, ist von den meisten früheren Versuchen zur Wesensbestimmung des Mannes übersehen worden. Waren z.B. im westlichen Kulturkreis früher das Ritterideal, der Gentleman, der Soldat, der Dandy oder der Höfling bestimmend, so dürfte sich in den vergangenen Jahrzehnten eher die Vorstellung vom wirtschaftlich erfolgreichen, dabei aber jugendlichen und virilen Mann als Leitbild durchgesetzt haben. Dieser Typ kann ggf. auch moralisch skrupellos und physisch brutal sein. In der jüngsten Vergangenheit scheint sich allerdings ein neuer Wandel anzubahnen: Intellektualität und Gleichgültigkeit gegenüber materiellen Gütern treten merklich in den Vordergrund." [25]

Meyers enzyklopädtscbes Lexikon zieht 1975 mit einem in der Tendenz ähnlichen, im Akzent jedoch verschiedenen Grundsatzartikel nach. Er beginnt mit einer biologisch-genetischen Beschreibung der Geschlechterdifferenz, an die sich übergangslos eine historisch-soziologische Bestandsaufnahme anschließt:

"Die dominierende Stellung des Mannes in der Gesellschaft ist nicht in erster Linie von der Natur seines Geschlechtes bestimmt. Das Verhältnis der Geschlechter zueinander, die Beziehungen des Mannes als Vater zu seinen Kindern, sein Status im Beruf, in der politischen Öffentlichkeit usw. werden (nach idealistischer Interpretation) von den kulturellen Leitwerten oder (nach materialistischer Ansicht) vom Entwicklungsstand der Produktivkräfte und den natürlichen Grundlagen einer Gesellschaft beeinflußt." [26]

Dieser Eröffnung folgt eine ausführliche Darstellung dessen, was als "Abbau des Patriarchats" in den Industriegesellschaften des 20. Jahrhunderts bezeichnet wird. Dazu zählen der Autoritätsverlust des Mannes in der modernen Familie, der steigende Anteil weiblicher Erwerbstätigkeit, die Angleichung sozialer Rollen von Frauen und Männern, die Entwertung männlicher Berufsqualifikationen in der hochtechnisierten Arbeitswelt. Den Abschluß bildet ein knapper Rückblick auf "the world we have lost" und ihre patriarchalischen Strukturen. Die Tendenz ist unverkennbar: Das, was die "Natur" des Mannes ausmachte, wird in seiner sozialen Bedeutsamkeit zunehmend entwertet - im Meyer noch deutlicher und radikaler als im Brockbaus. Als entscheidend gelten mehr und mehr soziokulturelle bzw. sozioökonomische Faktoren, die Einstellungen und Verhaltensweisen eines Menschen geschlechtstypisch prägen. Der Mann erscheint somit als ein gesellschaftliches Konstrukt, dessen biologischem Bauplan man keinerlei determinierende Kraft mehr beimißt. Dank dieser sozialen Konnotation werden auch die Artikel zum Thema "Mann" wieder umfangreicher und ausführlicher. Der erwachsene Mensch männlichen Geschlechts, der in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts aus fast allen Nachschlagewerken sang- und klanglos verschwunden ist, nachdem man ihn im 19.Jahrhundert als Zeugungswesen verabsolutiert und in seinen biologisch fundierten "Geschlechtseigentümlichkeiten" festgeschrieben hatte er kehrt im letzten Drittel des 20.Jahrhunderts ins Lexikon zurück. Der Bürde des biologischen Geschlechts mehr und mehr ledig, avanciert er zu einem sozialen Geschlecht, dessen Tätigkeitsfelder und Bedeutungen in Zeit und Raum wechseln. Damit wird es auch wieder spannender, sich definitorisch-analytisch mit "Mann und Mannestum" zu beschäftigen. Der Mann entwickelt sich langsam, aber beharrlich zu einem wissenschaftlichen Problem, zum Gegenstand vor allem sozialwissenschaftlicher und psychologischer, allmählich auch historischer Untersuchungen. [27]
Fragt man nach den Ursachen dieser Entwicklung, sind sowohl soziale Erfahrungstatbestände als auch wissenschaftsiminanente Anregungen zu nennen. Bevor ihnen jedoch weiter nachgegangen wird, soll zunächst die Karriere des Begriffs "Frau" bzw. "Weib", wie sie sich in den Konversationslexika der letzten Jahrhunderte beobachten läßt, skizziert werden. Macht sich hier der gleiche Trend bemerkbar wie beim Thema "Mann", oder gingen die Geschlechter - zumindest begrifflich - verschiedene Wege?

4. Frau/Weib - weiblich

Schlägt man im Brockhaus von 1991 nach, vermag man einen Unterschied in der lexikalischen Aufarbeitung der Begriffe "Mann" und "Frau" nicht mehr zu erkennen. In gewohnt knapper Form wird die Frau, nicht anders als der Mann, zunächst in ihren biologischen Merkmalen (chromosomale, embryonale und sekundäre Geschlechtsdifferenzierung) vorgestellt; anschließend folgt ein ebenso knapper Absatz, der die sozialen Folgerungen reflektiert. Dort heißt es:

"Nahezu alle zugeschriebenen Merkmale, die als weiblich bezeichnet werden, resultieren aus den in den verschiedenen Gesellschaftsformen vorherrschenden Rollen der Frau und deren Überlieferung mit Hilfe spezifischer Erziehungspraktiken. Die vorhandenen biologischen Unterschiede sind verhältnismäßig belanglos und mehr Anstoß als Ursache für die sozial verschiedenartige Formung der Rolle von Mann und Frau in der Gesellschaft." [28]

Die Geschlechterdifferenz erscheint hier endgültig als sozial konstruiert, als Produkt kultureller Normen, Praktiken und Übereinkünfte. Frauen gelten, ebenso wie Männer, als Trägerinnen von Rollen, deren Inhalt gesellschaftlich festgelegt wird. Die Biologie vermittelt dafür nur Anstöße, besitzt aber keinerlei determinierende Kraft mehr.
Hundert Jahre früher denkt man darüber noch ganz anders. "Alle die körperlichen und geistigen Eigentümlichkeiten, durch die sich das Weib vom Manne unterscheidet, stehen im innigsten Zusarnmenhange mit der Bestimmung desselben, Mutter zu werden." So beginnt der Brockhaus 1898 seinen Artikel zum Stichwort "Frau". Daran schließt sich eine kurze Übersicht über die körperlichen Unterschiede zwischen Frauen und Männern an, der sodann ein ausführlicher "Blick auf die Geschichte des weiblichen Geschlechts" folgt. Den Abschluß bilden ein paar Sätze zur rechtlichen und sozialen Lage von Frauen im deutschen Kaiserreich, wobei auf ergänzende Artikel zum Thema Frauenstudium, Frauenarbeit und Frauenfrage verwiesen wird. Letzterer setzt sich mit den Forderungen der zeitgenössischen Frauenbewegung auseinander, deren Ziel es angeblich sei, "Jeden Unterschied zwischen den Geschlechtern in allen äußern Lebensbeziehungen zu verwischen". Dem stellt der Artikel "unwandelbare natürliche Verhältnisse" gegenüber, die die gesellschaftliche Stellung der Frauen ein für allemal definieren:

"Die Rolle, welche der Frau im Unterschiede vom Manne im Geschlechtsleben von der Natur angewiesen ist, macht eine völlige Gleichstellung der Geschlechter für alle Zeiten unmöglich. Sie weist ihr als erste und vornehmste Aufgabe die Ernährung, Pflege und Erziehi.ing der Kinder zu ... in diesem natürlichen weiblichen Pflichtenkreise wurzelt das Farnillenleben, dessen Hauptträger das weibliche Geschlecht ist und bleiben wird. Hiermit verbindet sich die Verwaltung des Hauswesens, die ökonomische Verwendung des vorn Manne Erworbenen. Es entsteht eine auf natürlicher Grundlage ruhende Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau, die erste und ursprüngliche ... Hinzu kommt, daß die besondern Geschlechtsfunktionen, die den Frauen zufallen, ihre Stellung von vornherein zu einer mehr gebundenen machen, ihnen das unbegrenzte Maß freier Beweglichkeit, dessen der Mann sich erfreut, für immer im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben versagen. Der natürliche Geschlechtsunterschied prägt sich überdies nicht nur in einer durchschnittlich geringern Körperkraft bei den Frauen aus, sondern auch in einer andern Richtung der geistigen und moralischen Fähigkeiten und Kräfte. Diese Verschiedenheiten der Geschlechtsqualitäten werden zweifellos durch die Kultur schärfer herausgebildet, sind aber nicht lediglich ein Kulturprodukt, sondern ursprünglich vorhanden. [29]

Nicht die Kultur, sondern die Natur also weist den Weg, den die Geschlechter beschreiten sollen; Abwege führen zwangsläufig in die Irre, tun der Natur Gewalt an und müssen sich bitter rächen. Die Warnung ist deutlich vernehmbar; ein betont offensiver Ton wird angeschlagen, hinter dem jedoch die defensive Haltung aufscheint. Offensichtlich sieht man sich um die Jahrhundertwende genötigt, den "natürlichen Geschlechtsunterschied" und seine sozialen Folgen vor feministischen Zweifeln und Kritik in Schutz zu nehmen und gegen Angriffe zu verteidigen. Selbst wenn an einzelnen Punkten Entgegenkommen signalisiert wird - in der Bildungs- und Erwerbsfrage beispielsweise - bleibt man im Grundsatz um so unnachgiebiger. Frauen gehören ins Haus, zu Ehemann und Kindern, oder, wie es Meyers Konversations-Lexikon 1894 in unübertrefflicher Prägnanz formuliert: "Dem Manne der Staat, der Frau die Familie!" [30]
Um diese Arbeitsteilung zu begründen, nimmt man Zuflucht zum biologisch fundierten "Geschlechtscharakter", der sich in der weiblichen (und männlichen) Anatomie und Physiologie abbildet. Aufgabe und Kennzeichen kultureller Evolution sei es, diesem Geschlechtscharakter die ihm angemessene soziale Umwelt zu schaffen, d. h. Bedingungen herzustellen, unter denen er sich optimal entfalten kann. Die höchste Stufe der Kultur ,gilt dann als erklommen, wenn Frauen sich, von ihren Männern geliebt und geachtet, ausschließlich auf das "häusliche oder Familienleben" konzentrieren dürfen und damit die "heiligste, festeste Grundlage menschlicher und bürgerlicher Tugend und Glückseligkeit" sichern. Jene Stufe, daran lassen die Lexikonautoren des 19.Jahrhunderts keinen Zweifel, ist in ihrem, im bürgerlichen Zeitalter erreicht, und zwar vor allen anderen Ländern in Deutschland. Christentum und germanisches Erbe verschmelzen hier zu einer kulturellen Legierung, die, was das Geschlechterverhältnis angeht, in die "richtigste Auffassung der wahren Natur und der höchsten Vernunft" mündet. Von diesem Gipfel "vernünftiger Civilisation" aus betrachtet, müssen frühere Epochen zwangsläufig als mehr oder weniger mangelhaft erscheinen." Diesen Nachweis zu erbringen ist Aufgabe der sitten- bzw. kulturgeschichthchen Exkurse, die sich seit dem späten 18.Jahrhundert in allen Lexikonartikeln zum Thema "Frau" finden. Sie unterziehen die "Stellung und Behandlung des Weibes" bei Griechen, Römern, Juden und Germanen einer kritischen Prüfung, lassen das christlich-unchristliche Mittelalter Revue passieren, mokieren sich über die übertriebene Galanterie der Franzosen und rühmen die Natürlichkeit deutscher Frauen. Nicht fehlen darf auch der Blick auf "wilde Stämme" und orientalische Völker, die Frauen angeblich als "Lasttier" bzw. "Lustwerk" mißhandeln. Das Strickmuster, nach dem solche Exkurse gearbeitet sind, bleibt sich immer gleich: Solange Frauen häuslich, sittsan-i und bescheiden leben, ist die Welt in Ordnung; verlassen sie ihre angestammte Sphäre, bricht das Chaos aus. Niemals versäumt man, den Zerfall Roms mit der Sittenverderbnis des weiblichen Geschlechts, seiner zunehmenden "WoHust, Herrschsucht und Intriguensucht" in Zusammenhang zu setzen." Die Botschaft kann kaum mißverstanden werden: Kulturelle, soziale und politische Stabilität auf hohem Niveau ist nur dann möglich, wenn Männer und Frauen im Einklang mit ihrer "Natur" leben können, wenn also die gesellschaftliche Arbeitsteilung die biologische Differenz der Geschlechter reproduziert. Diese Botschaft steht im Zentrum all jener Diskurse, die das 19.Jahrhundert über Frauen führt und die die Lexika verdichten und auf den Begriff bringen sollen. Bleibt das Signifikanduni stets eindeutig, können die dafür gewählten Ausdrücke und Begriffe wechseln. So versammelt Pierers Universal-Lexikon 1836 alle anatomischen, physiologischen, sozialen und historischen Informationen unter dem Stichwort "Weib", während man irn Brockhaus von 1824 unter Frauen" und "Geschlecht" nachschauen muß. Meyers Großes Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände füllt 1847 bereits 25 Seiten mit Belehrungen über "Frauenkrankheiten", bevor fünf Jahre später unter "Weib" die von Pierer abgeschriebenen Auskünfte zur Sittengeschichte folgen. Will man mehr über die körperlich-geistige "Beschaffenheit und Lebensthätigkeit" von Frauen erfahren,
muß man den Artikel "Geschlechtseigenthümlichkeiten" aus dem Jahre 1848 zur Hand nehmen. Dort finden sich zunächst ausführliche Beschreibungen der physiologischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen, an die sich kürzere Abschnitte über psychische Differenzen und iiber die "allgemeine Bestimmung der Geschlechter" anschließen. Ganz am Ende geht man auf zeitgenössische Diskussionen über das Geschlechterverhältnis ein, läßt kontroverse Meinungen zu Wort kommen und bezieht schließlich selber Position:

"So viel ist gewiß, daß der Mann nicht nur mehr Kraft besitzt, für das Äußere zu wirken, sondern daß er auch seiner Natur gemäß ununterbrochen seine Wirksamkeit äußern kann, während das Weib durch Menstrualfluß, Schwangerschaft, Wochenbett, Säugegeschäft, auf längere Zeit an wirklichen, ernsthaft geistigen oder sehr angreifenden körperlichen Beschäftigungen verhindert wird. Demgemäß ist das Weib mehr für das geschlechtliche Verhältnis, und für das damit in nächster Beziehung stehende Famillenleben bestimmt, wozu es wegen der sein ganzes Wesen beseelenden Liebe auch vorzüglich sich eignet, - wie besonders sein ganzes Benehmen, seine Geschicklichkeit, Manierlichkeit, Aufmerksamkeit und Beharrlichkeit in der Krankenpflege und ähnlichen Verhältnissen beurkundet. Dabei bleibt es aber Wahrheit, daß, je gebildeter, je mehr geistig kultiviert das Weib ist, selbiges, wenn es dabei seine Kräfte nicht aufs Spiel gesetzt, und seine eigentliche und 1lauptbestimrnung nicht verkannt hat, desto besser die Erziehung der Kinder, sowie das Hausund Famillenwesen zu leiten im Stande seyn wird ... Nur das auch in geistiger Hinsicht gehörig entwickelte Weib wird seinen eigentlichen Beruf erkennen und denselben irn Bewußtsein seiner edlen und erhabenen Bedeutung erfüllen, was von dem unkultivierten oft bloß nach Instinkt, und bei obwaltenden Wider-wärtigkeiten des Lebens gar häufig nur aus Zwang geschieht. Entfernt sich aber das weibliche Geschlecht von seiner eigentlichen Bestimmung, so hat es durch Schwächlichkeit und Kränklichkeit dafür zu büßen." [33]

Hier wird erneut, und zwar wiederum in Form einer Drohung, eine direkte Korrespondenz von Natur und Kultur behauptet: Frauen, die die ihnen von der Natur zugewiesenen sozialen Funktionen nicht ausüben, sehen sich mit physischer Degeneration bestraft; die Natur nimmt Rache. Zum anderen gibt der Artikel deutlich das Bemühen zu erkennen, die damals laut werdende, vor allem von Frauen geäußerte Kritik an ihrem auf "Kinder, Küche, Keller" beschränkten Handlungsradius zu unterlaufen. Während Ansprüche auf berufliche Gleichstellung schlicht mit dem Argument physischer Indisposition zur Seite geschoben werden, zeigt man sich Forderungen nach verbesserten Bildungschancen gegenüber durchaus aufgeschlossen - allerdings nur unter der Voraussetzung, daß eine solche Bildung dem "eigentlichen Beruf" von Frauen zugute komme und nicht >bestimmungsfern< investiert werde. Derartige Auseinandersetzungen über die Art und Ausgestaltung geschlechtlicher Arbeitsteilung tauchen in den Konversationslexika vor allem seit den 1840er Jahren auf. Manche Nachschlagewerke fügen um diese Zeit einen speziellen Artikel "Emancipation der Frau" hinzu, andere diskutieren das Problem unter dem Stichwort "Geschlechtseigentümlichkeiten". Das Rotteck-Welckersche Staats-Lexikon, ein besonders empfindlicher Seismograph des politisch-sozialen Zeitgeistes, mischt sich bereits 1838 in den Meinungsstreit ein. In einem 35-seitigen Beitrag zum Thema "Geschlechtsverhältnisse" sucht der Liberale Carl Welcker jenen "geistreichen Männern" und "revolutionären Frauen", die unumschränkte "Rechtsgleichheiten" für das weibliche Geschlecht fordern, das Unnatürliche und Unvernünftige ihrer Bestrebungen nachzuweisen. [34]
Selbst das zehn Jahre später erscheinende, von Robert Blum herausgegebene Staatslexicon für das Volk hält ungeachtet seiner demokratischen Grundeinstellung an der natürlichen Ungleichheit der Geschlechter fest und mokiert sich über

jene "Närrinnen", die "Hosen tragen oder Cigarren rauchen wollten". Ihre "Naturaufgabe" binde Frauen an Heim und Herd; ebenso wie ihr Körper anders gebaut sei als der von Männern, seien auch die geistigen Anlagen der Geschlechter "unendlich verschieden". Daher sei hinsichtlich der Geschlechtsverhältnisse das Verlangen der gleichen Stellung von Mann und Weib unvernünftig und unnatürlich". [35] Dieser Meinung schließt sich 1858 auch das Deutsche Staats

Wörterbuch an, das in seinem Artikel "Frauen" begründet, warum "das Weib, ... auf die eheliche Gemeinschaft und die Familie als den natürlichen Mittelpunkt seines Daseins angewiesen", keiner politischen Rechte teilhaftig werden dürfe: Die politische Gleichberechtigung der Geschlechter sei "der weiblichen Natur und Bestimmung im innersten Grunde widerstrebend". [36]
Bemerkenswert ist, daß sich solche Eintragungen nicht etwa nur in allgemeinen Konversationslexika finden, sondern auch in jenen speziellen Nachschlagewerken, die sich mit politischen ("staatswissenschaftlichen") Themen und Grundsatzfragen beschäftigen. Diese Werke, die ausschließlich Männer ansprechen und eigentlich gar nicht in die Hände weiblicher Leser gelangen sollen, sehen sich gleichwohl veranlaßt, Artikel über Frauen und Geschlechterverhältnisse aufzunehmen - nur um den Ausschluß der Frauen aus Staat und Politik schlüssig, nämlich unter Rück.griff auf die Natur, zu legitimieren. Das erklärt dann auch, warum man Artikel über Männer" überall vergebens sucht-. Ihr Verhältnis zum öffentlichen Leben gilt als unproblematisch und bedarf keiner näheren Erläuterung. So nehmen denn die Stichworte Frauenfrage", "Frauenvereine" und "Weib" in Meyers Conversations-Lexikon 1876/78 insgesamt 13 Spalten in Anspruch; über den "Mann" hingegen fehlt jegliche Information. Die Jubiläumsausgabe des Brockbaus widmet dem Mann 1898 ganze drei Sätze, während sie Frauen, ihre Arbeit, ihre Krankheiten, ihr Studium und ihre Vereine mit mehr als 27 Spalten Text bedenkt. Ganz offensichtlich sind Frauen das interessantere Geschlecht - oder zumindest das fragwürdigere. Selbst jene Artikel, die sich explizit über "Geschlechtsverhältnisse" oder "Geschlechtscharaktere" verbreiten wollen, konzentrieren sich auf Frauen. Überaus deutlich kommt diese Tendenz im Rotteck-Welckerschen StaatsLexikon zum Ausdruck, wo es unter dem Stichwort "Geschlechtsverhältnisse" erläuternd heißt:

"Frauen, ihre rechtliche und politische Stellung in der Gesellschaft, Rechtswohlthaten und Geschlechtsbeistände der Frauen, Frauenvereine und Vergehen in Beziehung auf die Geschlechtsverhältnisse."

Aber auch der ausführliche Beitrag über den "Geschlechtscharakter" in Ersch-Grubers Allgemeiner Encyklopädie der Wissenschaften und Künste macht 1856 keinen Hehl daraus, daß es ihm "vorzugsweise" um den weiblichen Charakter zu tun ist. Dies begründet der Autor Dr. K. H. Scheidler damit, daß zum einen "der des Mannes ohnehin als genugsam schon bekannt vorauszusetzen" sei, während zum andern der weibliche Geschlechtscharakter "im Leben, wie in der Wissenschaft fast überall und zu allen Zeiten mehr oder weniger verkannt und entstellt worden, und seine richtigere Würdigung eine der wichtigsten socialen und selbst politischen Aufgaben der Gegenwart ist [37] Ob der männliche Geschlechtscharakter wirklich "bekannter" ist als der weibliche, mag bezweifelt werden - er steht schlechterdings nicht zur Debatte. Um Frauen hingegen, um ihre Stellung in der Welt, entbrennen hitzige Diskussionen; hier wird Kritik laut und provoziert Gegenkritik. Ansätze dieses die Spalten der zeitgenössischen Lexika füllenden Meinungsstreits lassen sich bereits im späten 18.Jahrhundert entdecken. Auch in Krünitz' Oeconomischer Encyklopädie nehmen die Artikel "Frau" und "Frauen-Zimmer" weitaus größeren Raum (27 Seiten) ein als die Informationen, die über den "Mann" (zwei Seiten) ausgestreut werden. Dies liegt zum Teil daran, daß Themen, die das Verhältnis der Geschlechter insgesamt betreffen, in den Frauen-Artikeln abgehandelt werden, wie beispielsweise die Frage: Haben die Mannspersonen durch den freyern Umgang mit Frauenzimmern, und haben die Frauenzimmer durch den freyern Umgang mit Mannspersonen, gewonnen, oder haben sie beyderseits Schaden davon gehabt?" Ein anderer Grund für die größere Präsenz der Frauen ist darin zu finden, daß deren soziale Position eben nicht nur beschrieben, sondern kontrovers diskutiert wird. So schließt sich etwa der Erörterung, "ob die Natur dem Frauenzimmer eben so viel Stärke des Leibes und der Seele ertheilt habe, als dem männlichen Geschlechte?", eine kritische Untersuchung der zeitgenössischen Geschlechterverhältnisse an. Die These einer natürlichen Ungleichheit von Männern und Frauen weist Krünitz vehement zurück. Im Gegenteil werde eine gleichartige Erziehung auch gleiche Ergebnisse "in Ansehung der Kräfte des Leibes" und des Verstandes" zeitigen. Frauen, so lautet das Fazit, seien "eben so fähig, wie die Mannspersonen zu denken und zu handeln ... Man lasse sie wie Männer arbeiten, und sie werden Stärke genug finden, die Herrschaft der Welt mit ihnen zu theilen".[38]
Bereits 1788 ist folglich das Verhältnis zwischen den Geschlechtern - und hier vor allem die Position der Frauen - alles andere als unumstritten. Interessanterweise bezieht man sich auch damals schon auf die Natur, wenn es gilt, diese Position zu rechtfertigen oder zu verwerfen. Im Unterschied zu späteren Lesarten )jedoch entdeckt man im Zustande der Natur" nicht so sehr das Prinzip der Differenz, sondern das der Gleichheit. Erst im Zuge der "Civilisirung" gehe Frauen, so Krünitz, "ein großer Theil der Leibesstärke verloren, welche die unpartheilsche Natur ihnen so wohl mitgetheilt hat, als den Männern". Je höher die soziale "Sphäre", desto vollständiger falle der Sieg der "Kunst" über die "Natur" aus. Anders als die Autoren des frühen 19. Jahrhunderts ist Krünitz weit davon entfernt, diesen Sieg als Fortschritt zu feiern. Die vornehme Frau, meint er kritisch, sei "dem Manne nicht mehr gleich", sondern nehme "nur den zweyten Rang ein":

"Bey dem gemeinen Manne ist die Frau die Gefährtin seiner Arbeiten; in einem höhern Stande ist das Frauenzimmer der Abgott der Männer, den sie bloß anbeten und verehren, und nicht einmal wollen, daß sie sich um das geringste bekürnmern, was die Angelegenheiten des Staates oder der Haushaltung betrifft. Diese Art von Verehrung, welche man ihrem Geschlechte und ihren Reizen erweiset, ist ein bloßer Schein, und die Frauenzimmer fallen in der That dadurch in eine Art von Erniedrigung ... Die Mannspersonen, welche die ersten Stellen in der menschlichen Gesellschaft bekleiden, werden, in Ansehung ihrer, wahre, unumschränkte Herren. Sie sind es, welche befehlen, und das Frauenzimmer findet alle Zugänge zur Herrschaft verschlossen. Durch ihre Schwachheit sind ihre Anbeter ihre Tyrannen geworden, und sie sind wirklich ihre Sclavinnen, indem sie Königinnen der Welt heißen." [39]

Hier kommt eine kaum verhohlene Sympathie für die Geschlechterverhältnisse "gemeiner Leute" zum Ausdruck. Sie gelten als "natürlicher«', als weniger artifiziell und scheinen Frauen eine größere Machtfülle zu gewähren. Als "Gefährtin in der Arbeit" sei die Frau dem Manne nicht untertan, sondern gleich wertig und verfüge über ausgedehnte, "ganz eigene Rechte, Pflichten und Verrichtungen". Je nach Berufsstand - Krünitz differenziert zwischen Landwirten, Handwerkern, "Manufacturiers" und Kaufleuten - können Rechte, Pflichten und Tätigkeiten zwar sehr unterschiedliche Gestalt annehmen; immer aber stehe im Mittelpunkt die Arbeitsgemeinschaft von Mann und Frau, die beide zu einem Paar zusammenschmelze. Zweifellos gibt es auch in dieser Gemeinschaft eine fest umrissene Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern; von einer exklusiven weiblichen Zuständigkeit für Familie und Haushalt allerdings ist noch nicht die Rede. So erwartet Krünitz beispielsweise von einer "guten Handwerksfrau", "daß sie sich in den Kram und in das Handwerk ihres Mannes zu schicken wisse, und entweder einiges mit arbeite, oder doch die Waare geschickt und mit Nutzen verkaufen lerne". [40] Der Tenor der Argumentation unterscheidet sich damit merklich von späteren Deutungen. Legt es der Brockhaus 1824 darauf an, Frauen ganz allgemein als "Repräsentanten der Liebe" hinzustellen und ihre "erste Bestimmung ... zu Gattinnen, Müttern und Hausfrauen" zu beschwören [41], porträtiert Krünitz sie 1788 als Arbeitsgenossinnen ihrer Ehemänner. Von universellen, standesunspezifischen Zuschreibungen sieht er dezidiert ab; Ausgangspunkt seiner Erörterungen ist nicht etwa ein "natürliches Wesen" der Frau, sondern ihre je nach Standeszugehörigkeit variierenden "Rechte, Pflichten und Verrichtungen". Auch der notorische weibliche Tugendkatalog, auf den Krünitz sich positiv bezieht, unterscheidet sich deutlich von dem, was man Frauen einige Jahrzehnte später abverlangt. Statt Schönheit, Anmut, Anstand und Schicklichkeit" [42] erwartet er

"Gottesfurcht, Keuschheit, Freundlichkeit, einen lenksamen Sinn, Arbeitsamkeit ohne Geiz, Mäßigkeit, Geduld und Bescheidenheit" [43] - Eigenschaften also, die eher die vorbürgerliche, fest in ihrer Ökonomie verankerte Hausmutter zieren als die bürgerliche Gattin und "Repräsentantin der Liebe".

Zentraler Referenzpunkt ist für Krünitz demnach nicht eine vermeintlich unwandelbare Natur des weiblichen Geschlechts. Vielmehr sind es die sozialen Verhältnisse, in die Frauen hinein geboren werden und hineinheiraten. Lediglich Im Recht, fügt er seinen Milieuschilderungen hinzu, "wird mit dem Worte Frau oder Weib mehr auf das Geschlecht als auf den Stand gesehen". Den Stand wichtiger als das Geschlecht zu nehmen heißt jedoch auch bei Krünitz nicht, letzterem gar keine Bedeutung zuzumessen. So wie die Arbeit in jedem Haushalt nach einem bestimmten Schlüssel auf Männer und Frauen verteilt wird, gibt es auch Machtunterschiede zwischen den Geschlechtern i Machtunterschiede, deren Wurzel man in letzter Instanz in der
körperlichen Konstitution lokalisiert.
Bezeichnenderweise ist von diesem Ungleichgewicht in den Artikeln "Frau" und "Frauenzimmer" kaum die Rede; um ihm zu begegnen, muß man unter dem Begriff "Haus-Vater" nachschlagen. Dort finden sich folgende Ausführungen:

"Während es der Natur der Sache gemäß ist, daß der Schwächere von dem Stärkern, der Beschützte von dem Beschützer, der Ernährte von dem Ernährer abhängen muß: so folgt auch, daß die Frau der häuslichen Gewalt des Mannes unterworfen seyn muß. Das weibliche Geschlecht ist unstreitig das schwächere, wenn man die Sache allgemein betrachtet, ob gleich viele einzelne Weibspersonen stärker, als ihre Männer, seyn können. Die Natur hat auch bey den meisten Thieren das Männchen viel größer und stärker, als das Weibchen, gebildet. Daß aber der Mann der Beschützer und Ernährer seiner Frau ist, das ist wenigstens in allen bürgerlichen Verfassungen, wo die Männer den Bedienungen des Staates und den wichtigsten Geschäften vorstehen, wahr. Man findet zwar Völker von gegenteiligen Beyspielen, wo die Weiber die wichtigsten Geschäfte verwalten; allein, dieses sind auch fast lauter barbarische Völker, welche überdies dem Fingerzeige der Natur wenig folgen. Denn es ist gewiß, daß die Natur den Weibern durch das Schwangergehen, Gebähren und andere weibliche Zufälle, weit mehr Verhinderungen gegeben hat, die wichtigsten Geschäfte zu verwalten, als den Männern." [45]

Hier kommt nun doch die Natur ins Spiel, nicht viel anders als in den Lexikonbeiträgen des 19. Jahrhunderts. Auch Krünitz liefert sie den entscheidenden "Fingerzeig", wie die Macht in Haus und Staat verteilt werden solle. Die Frau als Gebärerin, der Mann als ihr Ernährer und Beschützer: dieses argumentative Grundmuster wird nicht erst im bürgerlichen Jahrhundert - und auch nicht 1789 - erfunden. Allerdings besitzt es im 18. Jahrhundert eine andere Valenz, steht nicht im Zentrum des Diskurses über das Geschlechterverhältnis, sondern nimmt allenfalls eine Randposition ein. Im übrigen scheint "Natur" für Krünitz eine mehrdeutige, um nicht zu sagen widersprüchliche Größe zu sein: Hat er ihr 1788 Unparteilichkeit bei der Ausstattung der Geschlechter mit gleicher "Leibesstärke" bescheinigt, zieht er ein Jahr später das Tierreich heran, um das Gegenteil zu behaupten. Diese Unsicherheit deutet darauf hin, daß die Argumentationskette im späten 18. Jahrhundert noch nicht geschlossen ist. Faßt im 19. Jahrhundert ein Häkchen ins andere, wenn es gilt, die unterschiedliche soziale "Bestimrnung" der Geschlechter aus den Zeugungsorganen abzuleiten, verwickelt man sich zuvor noch eher in Widersprüche. Über bestimmte, den Diskursen der bürgerlichen Epoche ungemein wichtige Verbindungsglieder geht man achtlos hinweg; das betrifft vor allem die psychischgeistigen Anteile des Geschlechtscharakters". Das 18. Jahrhundert - diesen Eindruck vermitteln zumindest seine Nachschlagewerke - interessiert sich weitaus weniger als sein Nachfahre für eine universelle, allgemeinverbindliche Definition des Geschlechter-verhältnisses; es legt statt dessen mehr Wert auf ständische Differenzierungen und auf den sozialen, vor allem durch Arbeit konstituierten Zusammenhang, in den sich Frauen wie Männer hineingestellt sehen. Das heißt nicht, daß sich nicht auch schon im 18. Jahrhundert Äußerungen finden ließen, die eher der universell-anthropologischen Richtung zuneigen. So spricht etwa die Deutsche Encyclopädie bereits 1785 von "unterschiedenen Charakteren", die den Geschlechtern von der "Natur" verliehen worden seien:

"Der Mann, welcher von Natur mehr Stärke hat, ist geschickt zu harter Arbeit und Feldverrichtungen, so wie die Frau zu ruhigen Beschäftigungen und besonders zur Pflegung der Kinder. Der Mann hat mehr Thätigkeit und Feuer als das Weib, er ist kühn und stark und schickt sich zu einem Beschützer, da im Gegentheil die Frau, welche zart und furchtsam ist, eines Schutzes bedarf. Der Mann, seiner Stärke sich bewußt, wird von Natur zum Regieren getrieben, da hingegen die Frau, welche ihre Schwäche kennt, zum Gehorsam geneigt ist.[46]

Auffällig ist, daß diese Ausführungen unter dem Stichwort "Frau" nachzulesen sind; der Begriff "Mann" taucht in der Deutschen Encyclopädie gar nicht mehr auf. Selbst dort, wo er noch lexikonfähig ist, hält man sich bei ihm nicht allzu lange auf. Erscheint das, was etwa Zedler in immerhin 20 Textspalten über den Mann (und entsprechende Wortverbindungen) aufschreibt, im Vergleich mit späteren Artikeln geradezu als opulent, wirkt es, gemessen an seiner Mitteilsamkeit über Frauen, wortkarg. Allein die Erläuterungen zum Begriff "Weib" umfassen 59 Spalten; hinzu kommen noch einmal 25 zum Thema "Weiber-Rechte" und 32 zur "Weibs-Person". Alles in allem summieren sich die einschlägigen Beiträge auf insgesamt 190 Spalten. Schon 1747 gibt das Weib offensichtlich mehr Rätsel auf als der Mann; es ist, zumindest in der Imagination der Lexikonautoren, präsenter, verlangt nach Definitionen, Abgrenzungen, diskursiven Erörterungen. Mit der knappen Auftaktbeschreibung ist es offensichtlich nicht getan:

"Weib, Weibs-Bild, Weibs-Person... saget man entweder von einem Stande der Verheyrathung ... Oder von dem Geschlechte, das dem männlichen entgegen gesetzet, und von Gott gewiedrnet ist, Kinder zu empfangen, zu tragen, zu gebähren, zu säugen, zu warten, dem HausWesen vorzustehen, da der Mann mit andern Dingen außerhalb beladen und beschäftiget ist. In den Rechten wird mit diesern Worte mehr auf das Geschlecht, als den Stand gesehen." [47]

Dem folgen ausgedehnte historische, theologische und philosophische Betrachtungen über Fragen wie "ob die Weiber Menschen sind?", "ob die Beschneidung der Weiber bey manchen Völckern üblich sey?", "ob die Weiber durch Kinder-Zeugen selig werden?", "ob die Weiber öffentlich lehren dürffen?", "Ob die Weiber der Academischen Ehren-Grade fähig seyn?"
Damit fängt der Autor die verschiedenen gelehrten Diskurse ein, die seit der Antike, vor allem aber in der Frühen Neuzeit über das Weib an und für sich geführt werden. Diese Diskurse tragen die Handschrift von Theologen und Philosophen und stehen mit der parallel verlaufenden Diskussion über die sozioökonomischen Qualitäten einer guten Hausmutter in keiner Verbindung. Sie schweben gewissermaßen in luftigen Höhen. Je näher sie der Erde kommen, desto mehr dominiert der "Stand" über das " Geschlecht", desto differenzierter werden die Aussagen - bis zu dem (bei Krünitz erreichten) Punkt, wo sie sich an den allgemeinen Sätzen reiben und ihnen offen widersprechen. Das 19. Jahrhundert unternimmt daraufhin den Versuch, beide Aspekte miteinander zu versöhnen. Dazu muß es auf eine Anthropologie zurückgreifen, die auf der Basis physiologischer Befunde weitreichende Einsichten in die psychischen, intellektuellen und sozialen Dimensionen des "Geschlechtscharakters" formuliert. Dieser Charakter folgt keiner göttlichen, sondern einer natürlichen Ordnung, die es in der Gesellschaft, in allen Kreisen der Bevölkerung zu verwirklichen gilt. Das Geschlecht schiebt sich hier, zumindest anspruchshalber, über den Stand bzw., wie es nun immer häufiger heißt, die soziale Klasse. Es scheidet die Menschen in zwei systematisch voneinander getrennte und aufeinander verwiesene Spezies, deren Beziehungen aufmerksam beobachtet, kontrolliert und reguliert werden. "Das Verhältniß der beiden Geschlechter", notiert Carl Welcker 1838, sei "unstreitig" "das allgemeinste und wichtigste Verhältniß der menschlichen Gesellschaft". Es berühre "die tiefsten und wichtigsten Grundlagen der ganzen gesellschaftlichen Ordnung" und sei daher auch zentral, wenngleich höchst schwierig, "für eine juristische und politische Theorie". [48]

5. Fazit

Eben jener Bezug zur politischen und Rechtstheorie der bürgerlichen Gesellschaft vermag nicht nur den semantischen Wandel der Begriffe "Geschlecht", "Mann" und "Frau/Weib" seit dem 18. Jahrhundert in einem politik- wie gesellschaftsgeschichtlichen Kontext zu situieren; er erlaubt es zudem, jenen Wandel als eine (unter anderen) Ausdrucksform(en) tiefgreifender sozialer Umbrüche zu interpretieren.
Zunächst aber seien die semantischen Veränderungen summarisch in vier Punkten zusammengefaßt:

  1. Der Begriff "Geschlecht", im frühen 18. Jahrhundert noch vorrangig oder gar ausschließlich im genealogischen Sinn gebraucht ("Menschengeschlecht", das "Geschlecht der Hohenzollern"), setzt sich allmählich flächendeckend als biologische Klassifikation durch. Er dient nicht mehr in erster Linie dazu, Abstammungsgemeinschaften zu definieren, sondern Differenzen zwischen Männlichem und Weiblichem zu beschreiben. Dabei gewinnen die körperlich-sexuellen Merkmale jener Differenzen immer mehr an Einfluß. Geht es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem darum, auf der Basis dieser Merkmale komplexe psychosoziale "Geschlechtscharaktere" zu konstruieren, reduziert sich das "Geschlecht" in der Folgezeit und besonders seit der Jahrhundertwende zunehmend auf seinen biologischen Kern. Von den intellektuellen, emotionalen und gesellschaftlichen Dimensionen der Geschlechterdifferenz ist nun immer seltener die Rede.
  2. Betrachtet man die Personifikationen des Geschlechts, wie es seit dem 19. Jahrhundert begriffen wird, fällt auf, wie ungleichgewichtig "Mann" und "Frau" bzw. "Weib" in den Lexika vertreten sind. Schon im 18. Jahrhundert nehmen Artikel über das "Weib" oder das "Frauen-Zimmer" sehr viel größeren Raum ein als solche über den "Mann"; diese Tendenz verstärkt sich im 19.Jahrhundert, bis der Mann endlich ganz aus den Nachschlagewerken verschwindet. Erst in den 1960er Jahren wird er erneut lexikonfähig, und zwar erstmalig im gleichen Umfang wie die Frau.
  3. Geändert hat sich nicht nur der Umfang der Definitionen, sondern auch ihr Inhalt. Gründet beispielsweise der Begriff "Mann" im 18. Jahrhundert noch ganz überwiegend in einem sozialen Kontext, aus dem heraus er seine konkrete Anschauungsform gewinnt, wird im 19. Jahrhundert von solchen gesellschaftlichen Bezügen zunehmend abstrahiert. Jetzt besitzen die "natürlichen" Geschlechtseigentümlichkeiten eindeutig Priorität vor den "sittlichen" oder "moralischen" Spezifika. Damit setzt sich zum einen eine allgemeine, universelle Gültigkeit beanspruchende Definition des Mann-Seins durch, die soziale Unterscheidungen und Variationen nicht gelten läßt; zum anderen erfährt die Vorstellung eines naturgegebenen Gegensatzes von Frau und Mann eine enorme Aufwertung. Das Unterscheidungspotential der Begriffe "Mann" und "Frau" steigert sich in dem Maße, wie sie in den Zeugungsorganen fundiert und aus Zeugungsfunktionen heraus bestimmt werden. Die "Biologisierung" geht daher einher mit der Dichotomisierung und Polarisierung der Geschlechter, deren Differenz betont und auf allen Ebenen der psychischen, geistigen und sozialen Organisation nachgezeichnet wird.
  4. Etwa seit der Mitte des 20. Jahrhunderts schwächt sich der Biologisierungstrend wiederum deutlich ab und macht einer "Re-Sozialisierung" der Begriffe "Mann" und "Frau" Platz. Die Biologie (im Sinne des Sexus) zieht sich in Zellen und Gene zurück, deren soziale Determinationskraft gegen Null strebt. Damit wird das, was Männer und Frauen jeweils auszeichnet, offen für verschiedene, kontroverse Interpretationen. Es erscheint als gesellschaftlich konstruiert und historisch variabel. Das soziale Geschlecht (genus) emanzipiert sich vom biologischen Geschlecht (sexus) und verliert dabei jedwede Eindeutigkeit. "Frau" und "Mann" bezeichnen keine feststehenden Größen mehr gesellschaftliche und Altersdifferenzen kehren zurück und verschieben die ehemals starr fixierten Relationen.

Was steht nun hinter diesen Tendenzen und Entwicklungen? Wie läßt sich der begriffliche Wandel im historischen Kontext deuten und vielleicht sogar erklären? Was schließlich erfahren wir daraus über das Geschlechterverhältnis selber, über seine Wahrnehmung und Konzeptualisierung, damit aber auch über seine materielle Realität? Um solche Fragen beantworten zu können, bietet sich ein Rückgriff auf allgemeinere begriffsgeschichtliche Forschungsergebnisse an. Die Herausgeber der Geschichtlichen Grundbegriffe haben seinerzeit vier Merkmale genannt, die den von ihnen vermuteten und behaupteten Bedeutungswandel polltisch-sozialer Begriffe im Übergang von der ständischtraditionalen zur modernen Welt charakterisieren: Demokratisierung, Verzeitlichung, Ideologisierbarkeit und Politisierung. [49] Lassen sich diese Befunde auf die Geschlechterterminologie übertragen, oder weicht sie davon ab?
Was die Demokratisierung betrifft, läßt sich ein erweiterter Anwendungsbereich durchaus auch für die Begriffe "Mann/Frau/Weib" belegen. Ständische Begrenzungen lösen sich zunehmend auf: Der Begriff "Frauen-Zimmer", im 18. Jahrhundert noch für vornehme Damen reserviert, kommt im 19. Jahrhundert außer Gebrauch bzw. erhält einen pejorativen Beigeschmack; die "Dame" vermag das entstandene Vakuum nur unvollständig zu füllen. Statt dessen findet das "Ehrenwort Frau" allgemeine Verbreitung, allerdings zunächst auf verheiratete Frauen beschränkt. Seit dem zweiten Drittel des 20.Jahrhunderts verschwindet dann allmählich auch diese Beschränkung, bis etwa seit den 1970er Jahren alle erwachsenen Frauen, unabhängig von Alter, sozialer Herkunft oder Familienstand, als solche angesprochen werden. Auch in seiner klassifikatorischen Bedeutung übertrumpft der Begriff "Frau" mit der Zeit alle Konkurrenten. Hat sich in den Lexika des 18.Jahrhunderts noch alles Wissenswerte über das weibliche Geschlecht unter dem Stichwort "Weib" versammelt, rückt seit dem 19. Jahrhundert die "Frau" an dessen Stelle. "Weib" wird nunmehr überwiegend im abwertenden Sinn benutzt. Die Erosion ständischer Konnotationen erfaßt auch den Begriff "Mann". Taucht er im 18. Jahrhundert noch in vielfältigen sozialen und berufsmäßigen Zusammenhängen auf, trennen sich die Berufsbezeichnungen seit dem 19.Jahrhundert mehr und mehr von diesem - ehemals den Dienstcharakter betonenden Suffix. Statt vom Handwerksmann spricht man nun vom Handwerker; den Handelsmann ersetzt der Händler, den Bauersmann der Bauer. Parallel dazu entwickelt sich "Mann" zu einem jeglicher sozialen Bezüge baren Geschlechtsbegriff, der unterschiedslos alle männlichen Erwachsenen bezeichnet. Als Anrede allerdings vermag er sich nicht durchzusetzen. Während die vornehme "Dame" nur in der Kollektivform überlebt ("meine Damen und Herren"), läßt sich der Mann auch im Singular als "Herr" ansprechen. Vielleicht ist es der Wahl dieses "Ehrenworts" zuzuschreiben, daß seine Anwendung noch lange Zeit an soziale Schranken stößt. Daß etwa ein Fabrikbesitzer Krupp seine Arbeiter im 19. Jahrhundert mit "Herr Schmidt" oder
"Herr Schulze" anredet, ist nicht überliefert. Der "Herr" erscheint aus der Perspektive von oben als ebenso unpassend und entbehrlich wie im umgekehrten Fall als notwendig und unverzichtbar. Daß soziale Zuschreibungen allmählich aus den Begriffen "Frau" und "Mann" verschwinden und ihnen damit eine universelle ("demokratische") Verwendung ermöglichen, hängt nachweislich mit dem seit dem späten 18.Jahrhundert aufblühenden Interesse für Anthropologie zusammen. Dieser zunächst vor allem von Medizinern besetzten, dann zunehmend von Philosophen übernommenen "Wissenschaft vom Menschen" geht es darum, die kohärente Gesamtheit menschlicher Organisationsformen empirisch-vergleichend zu rekonstruieren. Ausgehend vom Körper und seiner inneren wie äußeren Gliederung sucht man die Prinzipien jener Organisation in allen sichtbaren und unsichtbaren Zeichen menschlicher Existenz wiederzufinden. Anatomie und Physiologie liefern damit gewissermaßen die Grundlagenforschung für Psychologie, Ethik, Ästhetik und, nicht zu vergessen, Sozial- und Staatswissenschaften in ihrem gemeinsamen Bemühen, die "Erkenntnis des ganzen Menschen" voranzutreiben. [50] Dieser Mensch nun wird im ausgehenden 18.Jahrhundert nicht mehr in erster Linie als Angehöriger eines gesellschaftlichen Standes wahrgenommen, sondern als Teil einer universal gültigen, natürlichen Ordnung. Letztere transzendiert die vormals so wichtigen sozialen Unterschiede, ohne deshalb ihrerseits auf Differenzen zu verzichten. Neben dem Unterschied der Rasse ist es jetzt vor allem der des Geschlechts, der als Grundelement jeglicher Ordnung begriffen und ausgedeutet wird. Frauen, lautet die neue Botschaft, seien ganz und gar andere Menschen als Männer; nicht nur ihre Geschlechtsorgane seien von denen des Mannes verschieden, sondern überhaupt alle Teile des weiblichen Körpers. Diese von dem angehenden Mediziner Jakob Ackermann 1788 "nachgewiesene" These erfreut sich im 19. Jahrhundert wachsender Beliebtheit. Resonanz findet sie nicht zuletzt in den einschlägigen Artikeln der Konversationslexika, die sich explizit auf Ackermann berufen. Hat der Rüdesheimer Arzt seinerzeit noch darauf verzichtet, seine anatomischen Befunde sychophysiologisch zu überhöhen und sozial-moralisch zu deuten, nehmen ihm spätere Philosophen, Literaten und Mediziner diese Aufgabe gern ab. Ihrer Vorstellungskraft und schriftstellernden Energie ist es zu verdanken, daß seit dem frühen 19. Jahrhundert eine durch und durch polare, von krassen Gegensätzen beherrschte Sicht der Geschlechterdifferenz als tragender Säule menschlicher Organisation salonfähig wird. Obwohl diese neue Sicht, wie noch zu zeigen sein wird, ausgesprochen zeitgebunden ist und bleibt, tritt sie doch mit dem Anspruch auf, zeitlose Wahrheiten zu verkünden. Das Geschlecht als natürliches Gliederungsprinzip sozialer Strukturen und Prozesse scheint außerhalb jedes raum-zeitlichen Kontextes zu existieren; es gilt als eine Kategorie, die zwar gravierende soziale Folgen zeitigt, sich aber ohne Einwirkung sozialer Faktoren konstituiert und entfaltet. Einer willentlichen Veränderung, der in jener geschichtsphilosophisch geschwängerten Zeit ansonsten gern das Wort geredet wird, soll sie jedenfalls nicht zugänglich sein. Als "natürliche" Gegebenheit besitzt das Geschlecht absoluten Vorrang vor sonstigen Ordnungselementen kultureller, ökonomischer oder politischer Art. Nur Gesellschaften, die sich seinen Prärogativen fügen, können ein hohes zivillsatorisches Niveau erwerben und sich im internationalen Konkurrenzkampf behaupten. Kulturen, die die Notwendigkeit einer strikten Geschlechtertrennung nicht genügend beachten, in denen Frauen und Männer die natürlichen Grenzen ihres Geschlechts ungestraft überschreiten dürfen, sind demgegenüber zum Untergang oder zu hoffnungsloser Rückständigkeit verdammt.
An dieser Argumentation, die uns in den Konversationslexika des 19. Jahrhunderts ebenso begegnet wie in den zahllosen kulturgeschichtlichen und anthropologischen Schriften über Frauen bzw. Männer aus jener Zeit, fällt eine gewisse Paradoxie auf. Einerseits wird dem Geschlecht (im komplexen Wortsinn) eine gleichsam überhistorische, räumliche und zeitliche Begrenzungen unterlaufende Geltungskraft zugewiesen. Männer und Frauen gelten als in ihren jeweiligen "Geschlechtseigentümlichkeiten" unveränderliche Wesen, deren Verhältnis im antiken Mittelineerraum prinzipiell genauso strukturiert sei wie im neuzeitlichen Polynesien. Andererseits ist man sich bewußt und stolz darauf, jene "Geschlechtseigentümlichkeiten" wissenschaftlich korrekt und vollständig erkannt zu haben. Daraus folgt, daß diese Erkenntnis fortan erstmals systematisch angewandt und nutzbar gemacht werden kann. Das "Geschlecht" hält gewissermaßen als regulative Idee Einzug in die gezielte (Re-)Organisation der Gesellschaft, die, so heißt es, nur dann erfolgreich sein werde, wenn sie den vernünftigen Plan der Natur gebührend berücksichtige. Damit aber gewinnt die Kategorie "Geschlecht" eine historische Bedeutung hinzu; sie ist nicht mehr nur ein "systematischer Oberbegriff", sondern auch, zumindest der Tendenz nach, ein verzeitlichter "Ziel- und Erwartungsbegriff". [51]
Geht damit, um zum dritten Merkmal überzuleiten, ihre Ideologisierbarkeit einher? Gestus und Tonfall der einschlägigen Literatur sprechen zweifellos dafür. Um über "Mann", "Frau" und "Geschlecht" wissenschaftlich exakte und endgültige Auskünfte geben zu können, muß von ihrer konkreten und höchst variantenreichen Anschauung abgesehen werden. Es entstehen plakative Kollektivsingulare, die in ihrer kruden Abstraktheit die Imagination und "Erfindung" sozialer Realitäten in einer bislang unbekannten Weise beflügeln. Besonders "die Frau" und "das Weibliche" setzen unerhörte Phantasien frei und entwickeln sich im 19. Jahrhundert zum Ob) ekt intensiver, durchaus kontroverser Diskurse, an denen sich bildende Kunst und Dichtung ebenso beteiligen wie die Kulturgeschichte und - vor allem - die Medizin.
"Dem Mann" wird diese Ehre erst mit Verzögerungen zuteil. Nachdem das frühe 19. Jahrhundert die Bestimmung des Mannes anthropologisch festgeschrieben hat, dauert es fast hundert Jahre, bis das Thema erneut Beachtung findet. Zunächst in Kreisen der Jugendbewegung, später dann in der völkisch-nationalsozialistischen Bewegung der Zwischenkriegszeit erregt "das Männliche" gezielte Aufmerksamkeit. In Sprache und Bild entwickelt sich hier eine maskuhne lkonographie, die die zahlreichen, in der Wirklichkeit vorhandenen Varianten männlicher Existenz unter dem Oberthema "Kampf" bündelt und überhöht. Dies bleibt nicht unwidersprochen: Andere politische oder konfessionelle Gruppen entwerfen Gegenbilder, besetzen "den Mann" mit anderen Eigenschaften, Kompetenzen und Funktionen. Warum das Konzept Mann" sehr viel später als der Kollektivsingular "Frau" zum Gegenstand konkurrierender ideologischer Deutungen wird, ist nicht leicht zu beantworten. Möglicherweise würde eine genauere Untersuchung von Männlichkeitsbildern und -diskursen auch im 19. Jahrhundert schon auf derartige Auseinandersetzungen stoßen. [52] Gleichwohl darf vermutet werden, daß sie die Intensität der über "die Frau" und "das Weibliche" geführten Debatten nicht erreichen. Daß die zeitgenössischen Nachschlagewerke das Thema "Männlichkeit" bis in die 1920er Jahre hinein nicht berühren, läßt die Vermutung als plausibel erscheinen. Folgt man den Schwerpunktsetzungen der Konversationslexika, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als sei der "Mann" für das bürgerliche 19. Jahrhundert weitgehend unproblematisch gewesen, während die "Frau" ihm zunehmend fragwürdig geworden sei. Eine Erklärung könnte darin liegen, daß die Teilnehmer jener Diskurse fast ausschließlich männlichen Geschlechts sind und gleichsam automatisch mehr Neugier für das Fremde, das andere als für das Eigene aufbringen. "Der Mann", hat Immanuel Kant 1798 formuliert, "ist leicht zu erforschen, die Frau verräth ihr Geheimniß nicht." Die Wissenschaften des 19.Jahrhunderts scheinen seinem Rat gefolgt zu sein, "die weibliche Eigenthümlichkeit mehr als die des männlichen Geschlechts" zu untersuchen und auszudeuten. [53] Trotzdem greift der Hinweis auf die männliche Standortgebundenheit des Geschlechter-Diskurses zu kurz. Immerhin sind auch diejenigen, die die Männlichkeitsdebatte des frühen 20.Jahrhunderts initiieren und kommentieren, Männer - Männer, die sich auf einmal mehr für das Eigene (das ihnen möglicherweise fremd geworden ist) als für das andere (das gar nicht mehr als so anders erscheint) interessieren. Eine andere Erklärung für die Dominanz des Weiblichen im Geschlechter-Diskurs des 19.Jahrhunderts wäre in dessen Biologisierung zu suchen. In dem Maße, wie sich die "Geschlechtseigentümlichkeiten" aus dem jeweiligen Anteil an der Fortpflanzung ableiten, gerät der Mann ins Hintertreffen. Wenn sich das männliche Geschlecht ausschließlich durch sein Zeugungsvermögen definiert, liegt es nahe, die Informationen darüber knapp zu halten. Schließlich, darüber sind sich Mediziner und Anthropologen des 19.Jahrhunderts einig, nimmt das Zeugungsgeschäft des Mannes nur kurze Zeit in Anspruch; es sei, befindet der Königsberger Medizinprofessor Carl Friedrich Burdach 1837, "bloß ein Ausstoßen von Flüssigkeit, ein Verlieren und Geben". Damit ende der männliche "Antheil an der Fortpflanzung" in dem Moment, in dem der weibliche beginne. [54]
Der Mann, behauptet Jean-Jacques Rousseau schon 1762,

  • "ist nur in gewissen Augenblicken Mann, die Frau aber ihr ganzes Leben lang Frau... Alles erinnert sie unaufhörlich an ihr Geschlecht." [55] Menstruation, Schwangerschaften, Geburten, Wochenbetten, Ernährung, Pflege und Erziehung der (Klein-) Kinder -

für Frauen reduziere sich "Zeugung" nicht auf "Begattung", sondern schließe die "Fortpflanzung" und "Erhaltung der Gattung" ein. [56] Das bedeute, daß das Geschlecht - in seiner biologischen Definition - für sie weitaus folgenreicher sei als für Männer. Es drücke ihnen gewissermaßen einen nicht abwaschbaren Stempel auf, der sie ihr ganzes Leben lang begleite und all ihre Daseinsäußerungen präge.
Eine solche Sichtweise, die Frauen mehr oder weniger vollstandig mit ihrem "Geschlecht" identifiziert, hat zur Folge, daß weibliche "Geschlechtseigentümlichkeiten" weit mehr Beachtung finden als männliche. Auch die Tatsache, daß Artikel über "Geschlechtsverhältnisse" vornehmlich von Frauen handeln, läßt sich so erklären. Wenn Männer kaum noch als "Hausväter" und statt dessen immer häufiger als Personen des öffentlichen Lebens, des Berufs und der Politik dargestellt werden, vergrößert sich zwangsläufig die Distanz, die sie von den auf Haus und Familie konzentrierten Frauen trennt. Die Ehe habe für Männer, so heißt es zumindest, weniger Bedeutung als für Frauen, die (angeblich) der Liebe und nichts als der Liebe leben. Damit erwerbe das weibliche Geschlecht auch für die Gestaltung der ehelichen Beziehungen eine höhere Zuständigkeit und Kompetenz - ein Grund mehr, es bei der Diskussion von "Geschlechtsverhältnissen" besonders zu bedenken. Aber es gibt noch einen weiteren, wahrscheinlich sogar gewichtigeren Grund für die Dominanz des Weiblichen in den Geschlechter-Diskursen des 19.Jahrhunderts. Er leitet zum vierten Merkmal des allgemein konstatierten Bedeutungswandels politisch-sozialer Begriffe in der Moderne über: zu ihrer Politisierung. Auch die Begriffe "Mann", "Frau" und "Geschlecht" geraten zunehmend in den Sog deF Politischen. Spätestens seit den 1830er Jahren wird das "Geschlecht" explizit zum staatswissenschaftlichen Ordnungsbegriff, der über politische Partizipationschancen und -rechte entscheidet. Nachdem sich die sozialen Begrenzungen jener Partizipation auflösen, erscheint das Geschlecht (neben dem Alter) als einzig übrigbleibendes Kriterium, nach dem politische Rechte vergeben oder versagt werden können.
Seit nun im späten 18. Jahrhundert die Forderung laut geworden ist, dieses Kriterium fallenzulassen und Frauen ebenso wie Männern den Status vollberechtigter Staatsbürger zu gewähren, sehen sich andersdenkende Zeitgenossen (die an Zahl und Einfluß weit überwiegen) genötigt, ihre Meinung ausführlich darzulegen und zu begründen. Sie machen sich die These von der fundamentalen anatomischen, physiologischen, ethischen und sozialen Ungleichheit der Geschlechter zu eigen und garnieren sie mit einer politischen Pointe. je mehr das männliche Politiknionopol angezweifelt wird, desto rigider fallen die Versuche aus, es durch den Nachweis weiblicher Unzulänglichkeit zu rechtfertigen. Selbst Männer, die der Frauenbewegung bei Bildungs- und Erwerbsfragen weit entgegenkommen, wollen auf dem Gebiet politischer Partizipation keine Kompromisse eingehen. Bis ins 20. Jahrhundert hinein halten die von bürgerlichen Autoren für bürgerliche Leser geschriebenen Konversations- und Sachlexika an dem Grundsatz fest: "Dem Manne der Staat, der Frau die Familie!"
Nachdem die politische Grundsatzfrage 1918 anders entschieden worden ist, wird es zunehmend stiller um die "Frau" und ihre "Geschlechtseigentümlichkeiten"
Die Energie, die man bislang darauf verwandte, ihre biologisch motivierte Differenz zum Mann sozial und politisch auszudeuten, verpufft bzw. sucht sich - besonders auffällig in den 20er und 30er Jahren neue Anwendungsbereiche auf dem Feld der Männlichkeit. Ihren vorerst letzten Dämpfer erhält sie in den späten 1960er Jahren, als die Neue Frauenbewegung das Postulat der Gleichheit in bislang unbekannter Radikalität auf die politische Tagesordnung setzt. Die davon inspirierte sozialwissenschaftliche Diskussion verweist in der Folge alle Relikte biologistischer Geschlechtskonstruktionen ins Reich der Ideologie und erhebt die Begriffe "Frau" und (später) "Mann" auch offiziell in den Rang sozialer Kategorien. Inoffiziell sind sie das, wie dieser Text zu zeigen versucht hat, immer schon gewesen - auch und gerade im hochideologischen 19.Jahrhundert, das es so hervorragend verstanden hat, seine politischen und sozialen Zielvorgaben für Frauen und Männer hinter angeblichen Prärogativen der >Geschlechtsnatur< zu verbergen.

Texttyp

Lexikonartikel