Amerika 1850-1860

Die Bezeichnung »Forty-Eighter« wird in der Literatur auf zweifache Weise gebraucht: Einmal umfaßt sie die große Menge all derer, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts als Einwanderer nach Amerika kamen. Die Mehrzahl dieser Leute bestand aus Arbeitern, Bauern, Handwerkern, die die nackte Not aus der Heimat vertrieben hatte und die nun in einer neuen Heimat nach Land, Arbeit, Brot, kurz - nach einer besseren wirtschaftlichen Existenz suchten. Zum andern bezieht sich jener Begriff auf die kleinere Zahl von Einwanderern, die aus politischen Gründen, meist als Verfolgte, in den vierziger und fünfziger Jahren in den Vereinigten Staaten eine Zuflucht suchten, um in einem freien Land ein freies Leben zu führen.[1]
Eine stattliche Reihe von »Memoiren«, »Erinnerungen«, Biographien  und  historischen  Traktaten wurde von den Achtundvierzigern geschrieben, die sowohl die Erlebnisse der Revolutionsjahre als auch die Gegebenheiten im neuen Lande beschrieben, erklärten und rechtfertigten. Unter allen Achtundvierzigern, so heißt es wiederholt in dieser Literatur, ist Mathilde Franziska Anneke die bedeutendste Frau. Mit ihrem Mann und den zwei Kindern war sie am 8. Oktober 1849 von Le Havre im Zwischendeck eines Handelsschiffes abgesegelt und erreichte nach sieben Wochen auf See den Hafen von New York. Das Schiff hatte wohl, wie es damals üblich war, ostwärts Baumwolle und Tabak transportiert und westwärts die Menschenladung befördert. Mathilde Franziska Anneke schien es besser getroffen zu haben als so viele andere ihrer Landsleute, die der unmenschlichsten Behandlung durch die Reeder und das Schiffspersonal ausgesetzt waren. Jedenfalls wird in keinem ihrer Briefe über mehr als »unsägliche Strapazen« gesprochen.
Die Amerikaner hatten mit Interesse und Sympathie den Freiheitskampf der Völker in Europa verfolgt, kannten die Namen der Führer und hatten auch von Mathilde Franziskas Teilnahme am Feldzug in ihren Zeitungen gelesen. So wurden die Flüchtlinge bei ihrer Ankunft auf amerikanischem Boden mit Begeisterung begrüßt. Das finden wir auch in Mathildes Briefen bestätigt. Und hätte Mathilde bzw. Fritz Anneke die Bedeutung dieser Stunde richtig erkannt und zu nutzen gewußt, sie hätten sich beide eine günstigere Ausgangsbasis schaffen können als die, von der Mathilde berichtet. Aus ihren späteren Bemühungen, zum Beispiel ihre Memoiren in Deutschland herauszubringen, geht hervor, daß sie die günstige Stunde für die Veröffentlichung verpaßt hatte. Sie konnte die Schrift erst 1853 und nur mehr im Selbstverlag in Newark, New Jersey, in Druck geben.
Nur ungern fügte sich Mathilde Anneke der Entscheidung ihres Mannes und zog mit ihm nach dem Westen, nach Cedarburg in Wisconsin, um bei Vetter Horn eine neue Zukunft aufzubauen. Diese Reise erfolgte zu jener Zeit von New York per Schiff den Hudson hinauf nach Albany, dann per Bahn nach Buffalo, von hier mit dem Schiff über die Seen nach Milwaukee und dann mit Pferd und Wagen weiter. Für gewöhnlich dauerte so eine Reise etwa zehn Tage. Aus Mathildes Brief an Franziska Hammacher vom 3. April 1850 erfahren wir, wie es ihr in diesem ersten amerikanischen Jahr erging. Zu diesem Zeitpunkt lebten die Annekes bereits in Milwaukee, wohin im nächsten Jahr Mutter Giesler mit den zwei noch unverheirateten Töchtern, Johanna und Maria, folgte.
In den fünfziger Jahren wurde Milwaukee das Sippen-Zentrum der Anneke-Giesler-Familien, denn auch ein Bruder von Fritz Anneke, ebenfalls ein Carl, ließ sich dort als Drogist nieder. Und Milwaukee wurde trotz mancher Unterbrechungen Mathilde Annekes endgültige Heimat, in der auch der einzige sie überlebende Sohn Percy am 20. August 1850 geboren wurde. Hier schuf sie sich einen Wirkungskreis und einen Namen.
Fritz Anneke bemühte sich in einer Reihe von Berufen, Anstellungen und Beschäftigungen, einen dauernden Lebensunterhalt zu finden. Er gründete eine Schwimmschule einen Turnerbund, arbeitete für kurze Zeit als Bibliothekar, dann als Ingenieur bei der Eisenbahn. Aber es gelang ihm nirgends, festen Fuß zu fassen. Mathilde Franziska unterstützte durch Vorträge und Journalistik das Famnienbudget. Ein Versuch lag ihr besonders am Herzen. Sie hatte    eine Frauenzeitung gegründet, die sie bei verschiedenen Zeitungsverlagen drucken ließ. Als Setzer hatte sie hierfür Frauen eingestellt. Aber sie hatte nicht mit der Reaktion der Männer gerechnet. Rudolf A. Koss berichtet hierüber:

  • Es waren dies die deutschen Buchdrucker Milwaukees, die sich am 18. Mai 1852 als typographischer Verein constituirt hatten, von welchem ein Committee ernannt ward, um über die Mittel zu berathen, wie das Interesse der Buchdrucker von den Übergriffen Unberufener sichergestellt werden könne. Das vorgeschlagene bestand in einem Gesuche an die Principale der Druckereien, kein Frauenzimmer als Arbeiter anzustellen und die bereits angestellten zu entfernen. Hinter den beigefügten hochthönenden Phrasen von der Aufrechterhaltung der Weltordnung etc. barg sich der kläglichste Brodneid.[2]

Von historischem Interesse ist die Tatsache, daß sich auf dieser, gegen Frauenarbeit gerichteten Interessengemeinschaft der Männer, die Gewerkschaft der Buchdrucker gründete, die älteste, bis heute noch bestehende Gewerskschaft Milwaukees mit nationaler Affiliation.[4] Mathilde mußte den Druck ihrer Zeitung in Milwaukee aufgeben. Und so entschlossen sich die Annekes, ihr Glück doch im Osten zu versuchen. Mathilde hatte durch ihre Vorträge und feministische Agitation bereits zahlreiche Verbindungen in verschiedenen Staaten Amerikas angeknüpft und begab sich nun auf eine organisierte Vortragsreise quer durch den Kontinent,
verbunden oft mit gefährlichen Reisen, wie zum zum Beispiel einem nächtlichen Ritt über die Apalachen. Im
Banner vom 4. August 1852 wird bei ihrer Abreise berichtet, daß sie in Detroit, Cleveland, Buffalo, Boston, Pitsburg, Philadelphia, New  York und anderen Städten sprechen werde.
Die Kinder blieben einstweilen in Milwaukee bei Mathildes Mutter und Schwestern. Fritz Anneke machte sich gesondert auf den Weg, um in der Nähe von New York einen Wohnsitz und einen Zeitungsverlag zu gründen. Die Briefe die sich die beiden schrieben, die Berichte, die an die Mutter und die Schwestern gingen, schildern jene kleinen Dinge des täglichen Lebens, die wir in unseren Geschichtsbüchern so selten zu lesen bekommen.

Fritz Anneke
an Mutter Giesler   
Milwaukee, am 1. April 1850

Liebe Mama!
Mit welcher Freude wir Deinen sehr alt gewordenen Brief - er war so lange auf der Reise, weil die Dampfschiffahrt über Bremen unterbrochen war - gelesen haben, wird Dir Mathilde geschrieben haben. Die beste Nachricht darin ist die, daß Du nicht allein in diesem Sommer kommen willst, sondern auch die Mittel zu haben denkst, um kommen zu können. Die Seereise wird für die Kinder außerordentlich vorteilhaft sein. Kein besseres Mittel für ihre Krankheit als eine Reise in das hiesige Klima.
Daß es mit unseren Verhältnissen noch nicht so weit steht, wie ihr wohl denken mögt und wie namentlich Johanna meint, wirst Du auch von Mathilde hören. Wir sind nicht und kommen vielleicht auch nicht in längerer Zeit in den Stand, Dich auch nur mit einem Cent zur Reise unterstützen zu können. Auch Carl wird wahrscheinlich keine Mittel dazu haben. Ein Glück deshalb, daß Du sie doch allein zusammenbringen kannst. Ich gebe Dir den unbedingten Rat, alles zu verkaufen, was Du irgendwie entbehren kannst. Auf der langen Reise, besonders hier im Innern von Amerika, leiden die Sachen sehr viel; und dann verursacht viel Gepäck einen entsetzlichen Ballast und ungeheure Kosten, so daß man die verdammten Koffer und Kisten  tausendmal  verflucht.  Die  meisten  Sachen kauft man hier auch wenigstens so billig und gut wie dort, viele weit billiger und besser. Leinwand ist teuer hier, dafür hat man hier aber sehr schöne, viel festere und wohlfeilere Baumwolle. Vor allem, schleppe nur ja keinen alten Plunder mit; lieber ins Meer geworfen.
Carl, der, wenn er ganz für sich allein steht, sehr leicht etwas ins Bummeln kommt, habe ich neulich geschrieben, er soll hierher kommen, weil er hier mit uns beisammen sein kann und weil hier Schiffbauernarbeit gut 2-3 Dollar täglich Lohn bringt. Wenn Carl kommt, so lerne ich gleich unter seiner Leitung sein Handwerk. Mit Hilfe von Freunden glaube ich, können wir dann sehr bald etwas Selbständiges anfangen. Findet  sich   später   etwas  Besseres  für mich, z. B. die Professurstelle an der Universität zu Madison, nun so kann ich das noch immer nehmen. Du würdest hier, besonders wenn Du eine Kleinigkeit Geld mitbringst, eine Milch-Butter-Eier-und Gemüsewirtschaft  anfangen können, womit   noch   recht viel zu machen ist. Die Kinder können mit Nähen und Sticken und dergleichen Dingen ziemliches Geld verdienen. Kommt meine Schwester Ida, so können sie zusammen schon ein kleines Geschäft anfangen.
Ida nämlich und mein Bruder Karl wollen diesen Sommer wahrscheinlich im Mai auch kommen, wenigstens aber Karl. Johanna schreibt, sie wollte am liebsten per Dampfschiff reisen. Das ist gewiß am besten, aber leider wird es Euch zu teuer sein. Es kostet in der zweiten Kajüte von Europa hierher 80 Dollar oder 110 Preußische Taler à Person. Im Zwischendeck eines Segelschiffes kostet es mit Beköstigung nur 30 bis 40 Taler. Ihr fahrt am besten von Bremen aus. Das ist am nächsten und billigsten, und Ihr könnt auch dort mit den Leuten deutsch sprechen. Übrigens ist es sehr nötig, fast das Allernötigste, Englisch zu sprechen; man kann ohne das sehr schlecht in Amerika wegkommen. Auf dem Schiff müßt Ihr noch etwas gute Sachen zum Essen und Trinken mitnehmen, am besten etwas Obst, geräuchertes Rindfleisch, einige Zitronen, Zucker und besonders Bier in Krügen, das größte Labsal auf dem Meere. Zucker und Zitronen sind gut um das Wasser zu verbessern. Auch frische Eier sind sehr angenehm. Euer Bettzeug müßt Ihr im Zwischendeck selbst haben. Es gibt nur leere Lager für je vier Personen, alle neben-und übereinander. Auf den meisten Schiffen kann man für billige Vergütung einen Abschlag haben. Seht zu, daß Ihr den bekommt; besonders wenn Ida mitgeht, mag es leicht sein, für vier einen solchen Raum zu bekommen. Das Schiff müßt Ihr Euch in Bremerhaven selbst aussuchen und vorher inwendig ansehen, besonders daß es rein ist und hinten Luftluken hat im Zwischendeck. Macht nirgend, auch nicht in Amerika Kontakt mit Agenten, die alle ihren Profit nehmen. Wendet Euch direkt an die Gesellschaften, denen die Schiffe gehören, oder an die Kapitäns.   
Auf dem Meere geht es sehr bunt zu; es ist aber nicht so gefährlich wie es aussieht. Krank werdet Ihr alle. Das schadet aber nicht wenn es nicht lange dauert. In New York werden Eure Sachen    von einem Zöllner durchgesehen. Ihr müßt die Sachen keinen Augenblick aus den Augen lassen, bis Ihr sie im Wirtshaus habt. Bleibt solange auf dem Schiff, bis Ihr die Sachen bekommen könnt, dann nehmt einen Fuhrmann, solche stehen immer da - das kostet einen halben bis einen Dollar - und geht nach dem Shakespeare Hotel zu Lièvre, Ecke von der Douane und William (Street d.h.Straße).
Das Geld in Amerika ist: Dollar (die Deutschen sagen Taler) zu hundert Cent. Es ist so viel wie 1 Taler 12 Sch.; ferner halbe Dollar zu 50 und Viertel Dollar zu 25 Cent; kleine Stücke zu 10 und zu 5 Cent, die Deim und halben Deim heißen. Außerdem Spanische und Mexikanische Münzen, die Schilling heißen und wonach fast immer gerechnet wird. Sie gelten 12 1/2 Cent; acht für einen Dolar. Ein halber Schilling gilt sechs Cents und heißt Sixpence. Alte europäische Münzen gelten hier auch; bei den  meisten ist aber    Verlust. Ein preußischer Taler z. B. gilt nur 66 Cents und sollte eigentlich 72 Cent gelten. Französisches Geld gilt voll, fünf Franken sind 94 Cent, 20 Franken Stücke sind drei Dollar 76 Cents. Am besten sind zehn Guldenstücke, gelten gerade vier Dollar. In Acht nehmen muß man sich in Amerika mit dem Papiergeld. Es gibt wenigstens hunderterlei und viel falsches dabei. In New York heißt es besonders: die Augen auf, damit man nicht betrogen und übergefahren wird. New
York hat 50.000 Einwohner, sehr viel Spitzbuben und so viel Fuhrwerk, wie ich nie gesehen habe. Man kann leicht übergefahren werden.
Von New York fährt man mit dem Dampfschiff über den Hudson Fluß nach Albany, von da mit der Eisenbahn nach Buffalo, und von Buffalo kann man entweder über alle die großen Seen, wo es viele Stürme und Seekrankheit gibt, per Dampfschiff gleich nach Milwaukie fahren, oder man fährt per Dampfschiff nach Detroit, von da per Eisenbahn nach New Buffalo und dann per Dampfschiff nach Milwaukie. Man hat überall zwei Plätze, der zweite bedeutend wohlfeiler. Auf dem ersten wird es gegen 20 Dollar à Person kosten. Im Sommer, glaube ich, kann man es schon auf dem zweiten aushalten. Man hat im Sommer auch noch eine andere Fahrt, die zum großen Teil über einen Kanal mit Dampfschiff geht. Am besten werdet Ihr Euch recht genau bei Lièvre im Shakespeare Hotel erkundigen, ich weiß nicht genau, wie die Verbindungen im Sommer sind. Geht nur zu keinem Agenten, um Billets zu bekommen. Für die Eisenbahn nehmt Ihr sie auf dem Bahnhof, auf den Schiffen beim Kapitän, wo Ihr aussteigt, müßt Ihr gleich für das Gepäck sorgen. Überall sind gleich Fuhrleute zu finden, die für zwei bis vier Schilling fahren. Beim Aussteigen wird gewöhnlich die Überfracht bezahlt, die sehr viel kostet. Fahrt Ihr zweite Klasse, dann ist es wenigstens aut der Eisenbahn gut, Essen und Trinken mitzunehmen. Portionen werden in den amerikanischen Wirtshäusern nicht gegessen. Morgens, mittags und abends gibt es warme Mahlzeiten, morgens mit Kaffee, abends mit Tee. Alles wird von einem Teller gegessen, und alle Speisen werden gleichzeitig aufgetragen.
Der siebte April folgt bald dem ersten. Da ist Dein Geburtstag, welchen wir im künftigen Jahr mit Dir zu feiern hoffen. Herzliche Grüße an die Kinder und etwaige Freunde in Münster, von Deinem Sohn
F. Anneke

Mathilde  
an Franziska Hammacher
Milwaukee, den 3. April 1850

Meine geliebte Franziska!
Heute ist mein Geburtstag, ein Tag, den Du mir immer so lieblich gefeiert hast - Ob Du meiner wohl gedenkst in dieser Stunde. Es ist noch früh am Morgen; mein großer und mein kleiner Fritz, meine Fanny und mein deutsches Liesbethchen haben mich eben mit all ihrer Liebe erfreut und geschmückt; und nun komme ich zu Dir. Ich glaube, wir begegnen uns auf den Wellen des stürmischen Ozeans, warum sollten wir nicht - die Ferne, die zwischen uns liegt, die endlose Tiefe, die sich dehnt unter diesen nassen Pfaden, sie hindert uns ebenso wenig als die kurze Wegstrecke der sandigen Heide Westfalens, um zueinander zu kommen.
Als ich heute früh aus meinem Schlafzimmerchen ins Wohnzimmer trat, stand der kleine reizende Fritz mit seinem blonden Lockenköpfchen, einem lächelnden Gesichtchen, wie ein kleiner Festesherold auf dem Tische, hielt in seinem linken Händchen einen gemalten Kranz von Rosen und Vergißmeinnicht mit ausgestrecktem Arm mir entgegen und rief, »Mamas Burtstag«. Er stand zwischen den kleinen niedlichen Angebinden meiner Lieben, der Vater zur Rechten, die beiden andern zur Linken, und bildete so den Mittelpunkt eines lebendigen Tableaus. Der Papa hatte dem kleinen Engel seine Rolle gut einstudiert.
Da hast Du einmal wieder den Ausdruck unseres glücklichen Familienlebens, das wir lange entbehrt hatten. Nach Landflucht, Schlachtenpathos und Meeresgebraus wieder einmal dies sinnige Stilleben; weißt, oder ahnst Du, wie das wohl tut? Ich habe Dir nicht geschrieben, mein Herz, mein teures Engelsherz, glaubst Du darum ich habe Dich einen Tag vergessen? Weißt Du nicht, welche Harmonie meiner Seele gehören muß, um zu Dir aus der ganzen Fülle reden zu können? Ich hatte an niemand, nur an meine arme alte Mutter geschrieben. Ihr bekümmertes Herz mußte beruhigt werden, das war meine Kindespflicht. Dich wollte ich nur mit den heitersten, aber auch mit den echtesten Farben der Wahrheit erfreuen, ich schwieg daher. Kannst Du mir verzeihen, daß ich mit der Brust voll Heimweh schwieg? Daß wir mit dem Leben das diesseitige Gestade erreicht, das wurde Dir bekannt; die törichten Zeitungsnachrichten waren diesmal, wie sie immer sind, Blendwerk.
In New York hatten wir bei unserer Ankunft ein allerdings freundliches Willkommen. Es boten sich uns von allen Seiten Mittel und Wege dar, zu einer brillanten Stellung zu gelangen. Ich hätte durch die Verwirklichung meiner Pläne enormes Geld verdienen können. Allein die Anerbiten, die mir (nachdem meine Memoiren aus dem badisch-pfälzischen Feldzuge im Manuskript gelesen worden waren) von einigen literarischen Notabilitäten bei literarischen Unternehmungen gemacht wurden, sicherten uns unsere Zukunft. Nun erst die Aussichten, die sich Fritz boten!! Der hatte nun aber leider auf die Macht seines Vetters im Westen gebaut, der glaubte durch niemand anders sein Glück finden zu können. Ich äußerte meinen sehr großen Zweifel an ein so Ungewisses und folgte dem definitiven Ruf per Telegramm nur mit trübem Vorgefühl und Verzichtleistung all meiner Aussichten. Wie sehr wir uns nach einer furchtbar beschwerlichen Reise von neun Tagen von New York hieher getäuscht sahen in dem, was uns der Vetter zu bieten hatte, sei es nun an Lebensplänen oder an eigener Liebenswürdigkei
Person, davon will ich schweigen. Kurz, der Winter, Erkrankungen in Folge der Reise, Mißmutigkeit über verfehlte Hoffnungen usw. ließen uns kein Mittel ergreifen, dem traurigen Aufenthalt im Hause Horn zu Cedarburg ein Ende zu machen. Jetzt, nachdem die Sonne einmal wieder die amerikanische Flur im Westen beglänzte, brachen wir mit Hilfe meines Freundes Geisberg, dem es hier so sehr glücklich ergeht, aus unserem Versteck auf und zogen hieher in die bedeutendste Stadt des Westens, Milwaukie.
Es gefällt uns hier nun recht gut, um so mehr da wir einsahen, daß man nur eine Arbeit zu beginnen braucht, um glücklich existieren zu können. Dazu sind die staatlichen Einrichtungen so vortrefflich, um jedem Menschen das zu gewähren, was ihm zu seiner menschlichen Entwicklung not tut. Der Unterschied der Stände fällt hier ganz fort. Die Bildung ist im allgemeinen auf einer viel höheren Stufe wie in Deutschland, allein die feinere Bildung, die wahrhafte Ästhetik, die ist nicht zu finden. Ein näheres Anschließen an die Menschen hier würde mir, so glaube ich jetzt, schwer werden. Drum habe ich denn auch keine einzige Freundin - und ich sehne mich immer nur nach Einer, die nun so fern, so fern ist. Ach, wenn es dem Friede wirklich ernst wäre, nach all den vergeblichen Kämpfen in Deutschland, eine andere Heimat zu suchen, wie bald würde es ihm gelingen, sich ein glänzendes Los zu schaffen. Kommt Ihr alle hieher, machen wir uns vereint (d. h. jeder verfolgt in ungebundener Freiheit seine eigenen Lebenspläne) diese wunderschöne Fremde zur Heimat, so will ich Deutschland mit seinen Herrlichkeiten, sowie mit seinem Geschick vergessen, will mich niemals wieder in dies liebliche Land, das so viel Elend dennoch trägt, sehnen. Aber kommt Ihr nicht, laßt Ihr uns allein, allein, so hoffe ich mit jedem Morgenstrahl auf die Erhebung meines Vaterlandes, das mich wieder aufnehmen soll.
Was ich beginne, fragst Du? Nun, ich erziehe und pflege meine Kinder, stehe mit Hilfe eines guten Mädchens meiner sehr einfachen Haushaltung vor, die, nebenbei gesagt, hier nicht die Hälfte Arbeit erfordert durch so viele gewerbsmäßige Einrichtungen o. ä. - und schreibe. Viele Anforderungen sind an mich ergangen zur Mitwirkung an verschiedenen Journalen und Zeitungen, allein der Erwerb ist, wenn man nicht unmittelbar an dem Unternehmen hier beteiligt ist, sehr gering.  Vielleicht werde ich der Aufforderung Amalie Struwes, einer lieben Freundin von mir, Folge leisten und den von ihr herausgegebenen Frauenalmanach mit Beiträgen unterstützen. Sie hat mir verschiedene Themata aufgegeben, welche ich schreiben soll, aber die Zeit ist mir zu philosophisch, Abhandlungen zu kurz, und dann nimmt mich auch das Studium zu einer Vorlesung, die ich in acht Tagen in einer hiesigen Kirche halten soll (erschreck nicht, die Kirchen sind hier nichts anderes als Meeting Häuser, schöne, prächtige, geheizte und brillant erleuchtete Hallen) zu sehr in Anspruch.
Ich habe hier keine große Freude daran, wie ich es z. B. in New York hatte. Einesteils kann hier die Einnahme nur ein 1/16tel sein, und andererseits kann ein glückliches Auftreten hier mir für die nächste Zukunft nichts nutzen. Von New York aus wäre ich gleich nach Boston, Philadelphia etc. gegangen. Von dort aus waren alle die respektabelsten Blätter, die im ganzen Lande gelesen werden, bereit, mich zu empfehlen. Hier ist es nur ein augenblicklicher Erwerb, nichts als Erwerb.
Ich beabsichtige Dir in New York, gleich nach meinem ersten erfolgreichen Auftreten zu schreiben, Du solltest zuerst davon gehört haben. Als nun aber alles so zunichte ward, da solltest Du auch nichts hören... Wie verständig ist es von Fritz Kapp, daß er nach New York ziehen will, dort ist für einen intelligenten Menschen alles zu beginnen ...

Mathilde   
an ihre Mutter Giesler   
Elgin, Staat Illinois, 12. Dez. 1850

Mein liebes gutes Mütterchen!
Ich sitze hier in einem niedlichen Städtchen und in einem glücklicheren Staat, in einer bescheidenen häuslichen Einrichtung... und schreibe.
Diese Zeilen sind eigentlich nur eine Begleitung des lange angekündigten Manuskripts. Es wird Dich - vielleicht auch nur Dich - interessieren. Vielleicht auch findest Du einen Verleger, der Dir nebenbei auch noch eine kleine Freude macht. Ich gebe Dir in betreff dessen folgende Ratschläge: Crävele in Paderborn - seine Zeitung
hat, wie man hört, an Bedeutung gewonnen. Er wird meine Memoiren als Feuilleton Art gut gebrauchen können. Biete sie ihm selbst in meinem Auftrag an; tu es gleich und sprich nicht erst mit langwierigen Freunden darüber. Crävele muß Dir 50 Thaler in Gold dafür zahlen. Er hat dafür das Recht, sie außerdem als Broschüre
erscheinen zu lassen...
Im Laufe dieses Winters schreibe ich vielleicht noch viele amerikanische Novellen, die in Europa Interesse finden möchten ...
Die klimatischen Einflüsse, denen die Einwanderer hier im Westen unterliegen, dieserhalb allein sollte man raten, in der Heimat zu bleiben. Ich bin augenblicklich zwar gesund, allein der harte Winter, der vor uns steht, bringt keine Früchte. Und der darauf folgende versengende Sommer ist auch nicht erquicklich. Carl ist noch in Milwaukie; von Julius bekomme ich fleißig Briefe, er lobt seine Stellung sehr. Ich habe ihn ernstlich ermahnt, Dir bei solch guten Umständen bald einen Wechsel von einigen Dollar zu senden.
Fritz ist in seiner Stellung als Zeichner oder Ingenieur bei der Eisenbahn sehr zufrieden. Sein Gehalt beläuft sich auf 50 Dollar - genug um ruhig zu leben. Ida und Carl Anneke sind in New York gut angekommen. Ida ist zu ihrem Bruder Emil in den Staat Pennsylvanien gegangen...
Du sei geküßt von Deiner ewig treuen Mathilde
P.S. Hoffmann und Campe wird vielleicht das Honorar von 50 Thalern Gold übersteigen. Weniger darf er nicht geben

Fritz Anneke
an Mathilde   
New York, 25. Oktober 1852

Meine liebe Mathilde!
Heute ist Montag und bis zur Stunde habe ich noch keine weitere Nachricht außer Deinem ersten, vorigen Dienstag geschriebenen, Donnerstag hier angekommenen Brief. Die günstige Kritik Deines Vortrages in der Freien Presse habe ich bereits gelesen, und noch kein Wort von Dir!...
Von Erfolgen Deiner Zeitung habe ich noch nichts gehört, auch keinerlei Mitteilung für das Blatt erhalten, außer einem Brief von Frau Luise Weiß aus Buffalo. Sie schickte $ 6.- Abonnentengeld ein und wünschte ein Exemplar der Nummern 2, 3 und 4. Das Geld war für sechs Abonnenten (zwei für ein Jahr), worunter drei Namen, die nicht im Buch standen. Die andern Abonnenten erwähnte sie nicht. Ich habe ihr gleich geantwortet und gefragt, wie es mit diesen andern ist.
Die nächste Nummer der Zeitung soll bis Ende dieser Woche fertig sein. Wenn dann nur Geld genug hier angekommen ist, um sie zu bezahlen; sonst wird mein kleines Kapital zur Errichtung der Druckerei durch Druckkosten und Boarding ganz aufgefressen. Mein Leben ist ein entsetzlich langweiliges. Du glaubst nicht, wie ich mich danach sehne, daß wir wieder im Familienkreis zusammen sind. Bald träume ich von Dir, bald von den Kindern.
Aber endlich, endlich kommt Dein Brief vom Freitag-Sonnabend-Sonntag. Mit Freuden sehe ich, daß es Dir gut geht. Eben hatte ich bereits im Gradeaus gelesen, daß Du heute Deinen dritten Vortrag halten würdest.

Fritz Anneke
an Mathilde
Jersey City den 21.11 1852

... Heute, meine herzliebe Mathilde, schreibe ich Dir so vergnügt wie lange einst. Die Kinderchen spielen um mich herum, alles ist ziemlich aufgeräumt, und Fanny wäscht das Frühstücksgeschirr...
Von der Staatszeitung holte ich noch Deinen Brief mit Beilage von $ 40.-. Das machte unsere Freude vollständig. Ich hoffe nur, Du hast mittlerweile meine drei oder vier Briefe, die ich nach Cincinnati Adresse Hassaurek - geschrieben, die zwei, die ich nach Pittsburgh, und den einen, den ich noch nach Baltimore geschickt, alle erhalten. Wo und wann Dich nun diese Briefe erreichen werden, weiß ich nicht.
Was unsere Finanzen angeht, so sieht's damit noch schlecht genug aus, trotz Deiner Sendungen. Die Sendungen sind eben alles, was ich erhielt. Für die Zeitung geht nicht das Geringste ein. Ich höre kein Wort, auch von Philadelphia nicht. Ich habe jetzt den Satz für die letzte Nummer zu bezahlen und den ganzen Rest von früher, wo namentlich die Anschaffungen darin enthalten sind. Im ganzen zwanzig Dollar. Bezahle ich das nicht, so bekomme ich auch die Sachen nicht. Bis zum Erscheinen der nächsten Nummer ist die Zeit zu    kurz als daß ich die nötigen Anschaffungen für die Setzerei machen und dann noch den Satz fertig bringen könnte. Nur wenn in diesen Tagen noch viel Geld eingeht, ist es möglich, durch Zuhilfenahme eines Lesesetzers. Meine Auslagen für die Hauseinrichtung haben zwanzig Dollar betragen, dazu die Miete und die letzten
Nummern des Blattes, und Du siehst, wie das Geld aufgegangen ist.
Daß es Dir gut geht und Du bei Freund Rehfus aufgehoben bist hat mich unendlich gefreut. Wenn ich auch in Cincinnati viel für Dich erwartet hatte, hätte ich doch nicht gedacht, daß Du eine so ungeheure Versammlung haben würdest... Ich kann Dir heute nicht mehr schreiben, meine Herzens-Mathilde; die Kinder lassen keine Ruhe. Ich hoffe, in zwei bis drei Wochen haben wir Dich. Lebwohl, mein Herz! Grüß herzlich Rehfus und sonstige Freunde.
Dein Fritz.

Mathilde
an ihre Familie
Boston, November 1852

Meine Liebsten!
Viel kann es nicht sein, aber etwas Nachricht sollt Ihr doch haben. Es geht mir hier sehr gut. Die Menschen wollen mich gar nicht fort lassen von hier. Sogleich fahre ich in einer großen Gesellschaft von  Amerikanerinnen nach Cambridge zu den dortigen Mobilitätn Longfellow, Parker usw. Meine beiden Vorträge haben außerordentliche Sensation erregt. Mein Geld liegt noch in der New England Zeitungsredaktion in Depositum. Wieviel meine Einnahme ist, weiß ich nicht, allein die zweite Vorlesung war ziemlich stark besucht. Meine Freunde Wesselhöffts, die mich den Freunden Geist abnehmen, wollen mit aller Gewalt auf Pläne sinnen, uns alle hierher zu ziehen. Es ist hier ein wahrhaft reizendes Leben...

Die Vortragsreise wurde ein großer Erfolg, auch in finanzieller Hinsicht. Mathilde schreibt darüber: Man hatte vernommen, daß es mein Wunsch sei, eine kleine Druckerei zu besitzen. Die zu einer Ehrenmünze bestimmten Goldstücke wurden nicht umgeprägt, mir vielmehr in Natura zu diesem Zweck übergeben.[4]
In Newark fand sich die Familie wieder zusammen, nachdem Fritz vorausgezogen war, um einen geeigneten Platz für eine Wohnung und ein Amtslokal zu finden. Das Newarker Adreßbuch des Jahres 1854 führt ihn als Schriftleiter und Herausgeber der Newarker Zeitung mit Wohn- und Amtssitz in der Marktstraße 72 an. Von 1855 bis 1858 wird neben der Geschäftsadresse in der Marktstraße, Shipmanstreet 20 als Wohnung aufgeführt. Über Fritz Annekes Newarker Zeitung (wofür Mathilde die Finanzierung beschafft hatte) erfahren wir aus der Geschichte des lokalen Pressewesens, daß sie die erste deutsche Tageszeitung in Newark war, begründet am 9. Februar 1853 von Fritz Anneke [5] und daß seine mit Recht gefeierte Frau ihn bei der Herausgabe der Zeitung tatkräftig unterstützte.[6] Aber auch Fritz Anneke war für Mathilde eingesprungen und hatte während ihrer Vortragsreise die Frauenzeitung weitergeführt. Aus dem vorhandenen Urkundenmaterial läßt sich leicht erschließen, daß das Ehepaar sich in allen beruflichen, geistigen und politischen Angelegenheiten beriet und gegenseitig unterstützte. Wir können auch annehmen, daß bei den verschiedenen Gelegenheiten kultureller und politischer Natur, bei denen Fritz Annekes Name erwähnt wird, Mathilde ungenannt beteiligt war. Diese Gemeinsamkeit in öffentlichen Dingen spiegelt sich in der Atmosphäre des Familienlebens, dessen Wärme und Harmonie aus den Briefen ersichtlich wird.
Auch finanziell ging es der Familie damals sehr gut. Überblickt man ihren gesamten Lebenslauf, so kann man die
Newarker Jahre als einen Höhepunkt des wirtschaftlichen Erfolges bezeichnen. Die Zeitung florierte und brachte ein gutes Einkommen. Annekes wohnten in einem behaglichen Heim und besaßen sogar ein Stück Land, »eine Farm«, wie sie es nannten, in der Nähe von Philadelphia.
Zur Familie gehörte damals noch Fanny, Mathildes Tochter aus erster Ehe, die ihrer Mutter, besonders zur Zeit der Geburt der Zwillinge, eine große Stütze war. Wenig spater heiratete sie und zog in einen entfernteren Stadtteil vo Newark. In der Familie Anneke folgte auf den Sohn Fritzchen, der noch in Köln geboren war, 1850 Percy, der in Milwaukee zur Welt kam. Nach einem im Archiv der State Historical Society of Wisconsin befindlichen Stammbaum wurden nach Percy zwei Mädchen geboren. Rosa starb mit zwei oder drei Monaten, Irla mit drei Jahren. Am 5. Dezember 1855 wurden die Zwillinge Irla und Hertha geboren.

Mathilde
an ihre Mutter   
Newark, den 15.7.1853

Meine liebe, liebe Mutter!
... Deinen Brief hätte ich augenblicklich wieder beantwortet, wäre Irla nicht gerade sehr krank gewesen. Wir leiden furchtbar mit dem Kinde. Es ist nur ein Skelettchen, ohne die geringste Kraft. In voriger Woche glaubte ich, es wäre mir gestorben. Allein die unermüdliche Pflege und unserer aller Liebe für das Kind scheint es zu
erhalten. Ich gebe auch die Hoffnung nicht auf, obwohl wahrscheinlich niemand wie nur ich beim Anblick des jammervollen Kindchens sie noch hegen mag. Gleichviel, wenn nichts hinzutritt, bringe ich's über diese Periode hinweg...
Wir sind jetzt recht zufrieden. Unser Geschäft ist jetzt schön und fest begründet und wir zweifeln nicht daran, daß wir's nach 2 Jahren vorteilhaft verkaufen können. Die kleinen Schulden darauf sind nun bald gänzlich abgetragen, und an Vergrößerung der Zeitung werden wir auch bald denken dürfen. Gesund sind wir mit Ausnahme von Irla alle. Selbst mein Halsleiden ist seit der Wärme gänzlich geschwunden und ich kann wieder frei sprechen, ja selbst singen, wenn's not tut...

Mathilde
an ihre Mutter
17. Dezember 1855


An meine liebe  gute Mutter sollen  meine ersten Zeilen wieder gerichtet sein, nachdem meine beiden niedlichen Kinderchen heute zwölf Tage alt sind. Was hast Du wohl gesagt zu diesem Doppelsegen? Ich habe ihn mit Freuden hingenommen, die Doppelsorgen und Mühen gewiß nicht verkennend. Wir sind alle im Hause sehr glücklich darüber, von meinem alten Fritz an bis zu dem jungen Fritz, samt Percy. Und Fanny gar, die herzt sie beinahe tot. Dazu fühle ich das große Glück der rasch wiederkehrenden Gesundheit. Es ist nach solchen Strapazen wahrhaftig beinahe ein Wunder,  hier sitzen und schreiben zu können. Ich habe faktisch drei Wochen Tag und Nacht in Kindesnot geschwebt. Und die Entbindung selbst von zweien, ist wahrhaftig nichts Kleines. Ich habe alles gern getragen, nun ich sehe, wie alle so glücklich dadurch geworden sind. Meine natürliche Schwäche wird sich bei der guten Pflege, die Fanny mir so musterhaft angedeihen läßt, und die von Papa durch alles mögliche unterstützt worden ist, gewiß bald verlieren. Von meiner Korpulenz ist nicht mehr viel zu sehen...

Mathilde
an ihre Mutter   
Newark, 5.Juli 1857

Meine liebe beste Großmama!
Das war gestern ein freudiger Sonntag! Der erste wahre Sonnentag, den wir in unserer neuen Wohnung und in unserm Weingarten verlebten. Es war gerade unter dem Geknalle des 4. Juli morgens, da trifft Dein fröhliches Briefchen ein. Ich hoffe, diese Vorfeier Deiner Ankunft ist gleich eine glückliche Vorbedeutung derselben. Die Bestimmtheit, mit der Du sie ankündigst, erregte unter uns allen, groß und klein, das rechte Bewußtsein der Freude des Wiedersehens mit unserm Stammütterchen. Und dieser lange, schön geschriebene Brief, der uns Deine alte Kraft und Deine rüstige Gesundheit wieder andeutet! O, wir zählen jeden Tag und kalkulieren, daß es von heute an noch etwa 4 Wochen dauern kann, bevor Du hier bist. Schreib uns nur gehörig, wie Du die Reise machst, damit wir Dich zur rechten Zeit und am rechten Ort in Empfang nehmen können. Dein Zimmerchen soll zunächst gefixt werden; ein recht luftiges Gemach, das neben dem Deiner Enkel liegt. Fritzchen sagt, er wird Dein Gentleman werden. Unsere Wohnung ist so allerliebst ausgefallen, liebe Mutter, daß wir uns nicht genug darüber freuen können; so bequem und niedlich, dabei vom blühenden Garten umgeben mit so vielen reichen Fruchtschätzen, daß es eine Pracht ist. Wir haben zehn tragbare Kirschenbäume, der Genuß daran ist so groß, daß die Jungen schon ihre Portionen verschmähen. Johannistrauben sind in solcher Fülle, daß ich nichts mehr bedaure, als daß Du wohl zu spät kommen wirst, um Deinen herrlichen Johannisbeerwein kaltern zu helfen. Ob ich's allein unternehme? Die feinsten Birnen stehen in Aussicht; zwei Bäume hängen angereift voll wie Perlenschnüre. Die besten Isabella-Weintrauben durchziehen den Garten und umwölben eine wahre Laubhalle. Küchengewächse sind ebenfalls reichlich vorhanden. 3 Beetchen Zwiebel, 1 Kohlrabi, 1 Wurzeln, 2 Gurken, mehrere Salat, Bohnen, Sweet corn, Rhabarber usw. Von Fannys Wohnung wohnen wir etwa 6 Häuser entfernt; sie besucht mit dem kleinen  Mathildchen häufig  »Großmamas Farm mit den guten Früchten«. Irla und Hertha gerieren sich in diesem Besitztum wie westfäliche Schulzenfrauen.
Nun genug von meinen Lokalitäten, die besondern Reiz erst dadurch gewinnen, wenn wir als Zentrum davon ein bekränztes Großmutterstühlchen haben. Marias Hochzeit ist also auf den 25. Juli festgesetzt. Sie selbst hat in ihrem Glück ganz ihre vereinsamte Schwester vergessen. Nichtsdestoweniger wünsche ich ihr das beste Wohlergehen. Scheffer steht uns aus seinen Jünglingsjahren in recht gutem Angedenken; und können wir ihn gewiß nur gerne als neuerwählten Bruder begrüßen. Du bist eine glückliche Mama! Die letzte Deiner Sprößlinge vollendet den herrlichen Reigen, wie Du's gewünscht, und nun hältst Du Rundschau bei all Deinen Töchtern fängst mal wieder bei Deiner Alten an.
Was werden wir uns nur alles vorzuplaudern haben! Ein ganzes Jahr und noch mehr wird es dauern, ehe wir fertig sind. Glaubst Du wohl? Wie werden meine Kinder staunen! Die Großmama ist Deine Mutter, so sprechen die Jungens und dann besinnen sie sie. Auf Fanny scheint die Nachricht auch einen tiefen Eindruck zu machen, daß die Großmama kommt. Von ihrem Mann weiß ich nichts, ich sehe ihn selten. Er ist ein Duckmäuser und paßt nicht zu unseren offenen Charakteren. Dazu der Grad seiner Bildung auf Null zu rechnen ist. Fannys Untugenden, die sehr versteckt sind, rottet der sicher nicht aus. Schade! Sie ist so geschickt und gescheit. Fritz freut sich mit mir auf Großmamas Ankunft. Seine Kinder hat er sehr verzogen, und bei ihren Unarten tröstet er sich schon,
seitdem Du kommen wolltest, immer damit, daß er den Plagegeistern zuruft »Wartet nur, wenn Großmama kommt!«...
Lebe recht wohl, liebe, beste Mutter! Schreibe nur selbst oder durch Johanna oder Maria. Wie lange es noch währen kann, ehe wir Dich bei uns haben? Bleibe recht gesund und kehre recht glücklich in unserem Häuschen ein. Deine alte treue Mathilde.

Mathilde
an ihre Schwester Johanna Weißkirch   
Newark, 14.Juli 1857

... Leicht kannst Du denken, gute Johanna, wie wir uns alle auf das Wiedersehen mit unserem Mütterchen freuen. Freilich aber sollte es mit irgendeinem Unfall oder mit dem Einbüßen irgendwelcher Bequem- oder Annehmlichkeit unserer Mutter verbunden sein, die gewiß beschwerliche Reise zu machen, so verzichte ich auf die höchste Freude, die mir in meiner Isoliertheit zu Teil werden kann
Ihr selber könnt da nur entscheiden, wie weit Mutter fähig ist, ohne die helfende Hand einer Frau zu reisen. Ich denke gewiß nicht ohne Bekümmernis daran. Habe ich sie erst hier, dann will ich schon alles aufbieten, sie aufzuheitern und zu pflegen...
Wenn das neue Mädchen hier ist, so ruht doch nicht alle Sorge und Arbeit auf meiner einzigen Hand. Da gibt's jetzt zu waschen, zu pflücken, zu putzen, zu kochen, zu graben, zu jäten. Alles Arbeiten, die ohne Zweifel sehr ehrenvoll und verdienstlich sind, aber mein Himmelsglück, das ich nun mal allein auf der Erden suche, liegt gerade nicht in solcher Arbeit. Etwas waschen, etwas pflücken, etwas graben und jäten, viel kochen, dazu kann ich mich immer noch verstehen. Allein vor einem Berg von kaputten Strümpfen zu sitzen, sechs Hosen für jeden Jungen alle Woche, und ditto, ditto, ditto für Mädchen auszuwaschen, alle Hemden zu nähen, das ist doch für meine Fähigkeiten in dieser Branche too much trouble. Fünf Monate habe ich mich nun mit einem kleinen, ziemlich geschickten Mädchen eingearbeitet, da geht sie nun fort und das alte Lied des Anlernens, des Ärgerns geht von vorne an.
Wenn Mutter und Marianne hier sind und ich der häuslichen Sorge ein wenig entlastet bin, so beginne ich meine »Deutsche Töchter Schule«, zu der ich drei erwachsene Töchter von Dr. Dunker, Deutsch-Amerikanerinnen, angemeldet habe. Augenblicklich verleben sie die Sommerzeit auf dem Landgute. Hoffentlich wird sich die Zahl meiner jungen Damen vermehren, obwohl ich nicht allzu große Hoffnung habe in dieser Stadt.
Ach die Stadt ist so schön, liebe Johanna. Schöner, sage ich Dir, als Milwaukee, dem ich auch Gerechtigkeit zolle. Allein Du solltest nur Newark sehen in seiner Ausdehnung, den prachtvollen Straßen und Gebäuden, und diese Aussicht! Ich blicke z. B. von unserer Straße, die sehr hoch liegt, über die ganze Bay von New York, über die sonnighellen blauen Hügel auf der ganzen Staten Island, dieser prachtvollen Insel, und so aufs hohe Meer hinab. Mutter wird sich sehr wundern. Die Stadt ist schön, aber ihre Menschen sind gar nicht schön. Könnte ich helfen, eine Schönheitskultur bei dem weiblichen Geschlecht, den Trägerinnen der Menschheit zu pflegen, so machte ich mich um Newark verdient, nicht wahr? Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich dann auch um meine eigenen Finanzen etwas verdient machen. Wenn es mir gelingen sollte, zehn bis zwanzig junge Schülerinnen zu haben, so könnte es sein ... Wenn unser Geschäft gerade in diesem Augenblick nicht so flau ginge, ich würde manches für Mutters Ankunft, was Bequemlichkeit und Schönheit erheischt, anschaffen. Es geht jetzt aber nicht. Seit die demokratische Konkurrenz hier mit allen schlechten Mitteln uns aus dem Feld zu räumen versucht, hat Fritz mit vielen Sorgen zu kämpfen. Könnten wir es für zweitausend Dollar verkaufen, so täten wir es. Die drei Pressen (darunter eine Schnellpresse), Typen, zwei Marmorplatten, jede zu zwanzig Dollar, sind das Geld wert. Nun, unser Leben machen wir aber noch immer gut. Und habe ich erst wieder eine Beschäftigung, die mir zusagt, und etwas Gemütsleben im Austausch von Gedanken und Gefühlen, dann bin ich zufrieden und warte bis wieder gute Zeitpunkte eintreten. Jedenfalls haben wir uns ein kleines Eigentum errungen, in den Farmplätzen und der Druckerei. Ach, für einen redlichen, noblen Menschen ist es hier nicht so leicht, reich zu werden.
Vorgestern hatten wir hier einen Kunstgenuß, wenn man so sagen will. Der zukünftige Regisseur der Milwaukee-Bühne, Herr Fürst, gab mit seinem kleinen Wunderjungen, ein in der Tat begabtes Kind, eine dramatische Vorstellung, »Der Rettig Junge«. Der Mann selbst ist ein sehr natürlicher Schauspieler. Ob er gerade ein Künstler ist, kann ich nicht beurteilen, nach der Rolle die ich von ihm sah. Ich wünsche, daß Mutter die Anwesenheit großer Künstler hier genießt.
Bisher kamen sie alle hierher, um Newark zu beglücken. Allein Newark beglückte sie nicht wieder. Konzerte, die die La Orange, Thalberg usw. usw. gaben, blieben leer. Nach solchen Enttäuschungen wird unsere schöne Stadt wohl bei den Notablen in Verruf kommen. Ach die La Grange! Mir tönt immer noch ihr Flötenton nach, und ihre Gestalt ist so edel, und ihr Wesen so hehr, möchte ich sagen. Ich hörte sie nur drei Mal.
Meine Zwillinge werden allerliebst. Sie plaudern wie die Äffchen. Meine Jungens wachsen tüchtig. Der Fritz und ich, wir arbeiten von morgens früh bis abends spät...
Lebt wohl alle, und schickt uns das Urgroßmütterchen bald.
Eure alte treue Mathilde

Mathilde
an ihren Bruder Julius   
Newark, Februar 1858

... Vor Weihnachten ging's mit unserm Geschäft etwas besser. Unsere Druckerei ist sehr renoviert, könnten wir sie nun gut verkaufen und dann eine etwas bessere Stellung in Eurer Nähe bekommen, so wäre das gewiß sehr gut. Aber einen alten Platz muß man in solchen Verhältnissen wie unsere Familie, in diesem Lande behaupten, ihn wenigstens nicht leichtfertig preisgeben.
Für die Frank Leslie illustrierte deutsche Zeitung arbeiten wir; anfangs glaubt er, mich für »Höflichkeitsformeln« engagieren zu können. Ich dankte aber und brach ab. Jetzt ist er von selbst wieder gekommen und trägt mir literarische Arbeiten gegen Honorar auf, die seit vier Wochen regelmäßig geliefert worden sind. Ist es bis jetzt auch noch genug, was ich verdiene, so ist es doch beständig, und habe ich eine Zeit lang so fort gearbeitet, so wird er mich schwerlich entbehren können. Das Yankee Unternehmen kann auf die
Dauer gut werden. An Inhalt nicht, aber an äußerem Glanz ist es brillant. Ich möchte am liebsten wieder stets in der Literatur beschäftigt sein; es ist doch mein Steckenpferd, das mich auch bescheiden nährt.
»Bescheiden nährt!« ja, Du sollst Dich wundern, wie bescheiden wir uns überhaupt nähren. Im Äußern haben wir's zwar so weit gebracht, daß wir alles anständig haben. Ich bin sehr bequem und nett eingerichtet, unsere Kleinen sind alle sehr nett in Kleidern, und zum täglichen Leben brauchen wir fabelhaft wenig. Auf alle Vergnügungen, welcher Art sie auch sein mögen, habe ich seit langem verzichte.
Du weißt doch schon, daß Mutter jetzt endlich ihren Vermögensrest reguliert bekommen soll. Wenigstens hat Besemann dies im Briefe an Schenk erklärt. Gut wenn das Mütterchen wieder selbst etwas zum Verwalten und Schalten hat. Es macht ihr solche Freude.
Bekommst Du unsere Zeitung auch noch regelmäßig? Hast Du auch unseren brillanten Trägerneujahrsgruß empfangen, den ich auf Kommando gedichtet hab?
Lebe wohl, mein lieber Julius! Recht bald schreibe ich Dir wieder.
Deine alte treue Mathilde.

Etwa sechs Jahre lang lebten die Annekes in Newark und beteiligten sich aktiv am politischen und kulturellen Leben der Stadt. Newark ist heute gewiß nicht mehr die Stadt, die sie war, als die Familie Anneke so voll das Glück genoß, die Großmutter in einem bequemen Haus mit großem Obstgarten willkommen zu heißen. Wo einst der Anneke-Garten blühte, ist Asphalt, ist ein Parkplatz, auf dem Abfälle verstreut liegen. Verrußte, häßliche Zinshäuser stehen auf einer Seite der Shipmanstraße, auf der andern ist ein leeres Warenhaus, dessen eingeworfene Fensterscheiben das trostlose Bild der Verwahrlosung vollenden. Die Straße liegt im nordwestlichen Teil der Stadt, von wo die Hügelketten New Jerseys ansteigen. Blickt man von hier nach Osten, muß man viel Phantasie aufbringen, um sich vorzustellen, welch hübsches Bild sich einst dem Auge geboten haben mag. Man muß sich den Schmutz, die sich auftürmenden vernachlässigten Häusermassen wegdenken, die den Blick verstellen und den Ort zum Slum der Gegenwart machen. In Newark wurde den Annekes aber auch der schwerste Schicksalsschlag zuteil, der ihnen schließlich die Stadt verleidete und sie veranlaßte, alles Erworbene aufzugeben.

Mathilde
an ihre Mutter   
Februar 1858

Meine liebe Mutter!
Meine Kranken haben für einen Augenblick zu jammern aufhört, da gebe ich Dir gewünschte und versprochene Nachricht. Hertha befindet sich, ich glaube es, außer Gefahr. Die Blattern haben ihre Entwicklung erreicht und zwar, wie der Arzt sagt, in seltener Ausdehnung. Ihr Fieber ist nur gering, allein ihre Schmerz augenblicklich sehr groß. Ihre Augen sind gänzlich überdeckt und natürlich geschlossen. Percy hat die erste, gräßliche Krisis   der Gehirnentzündung überstanden und liegt augenblicklich ruhig in den Blattern, die keine nadelgroße Stelle  an seinem ganzen Körper verschont gelassen. Fritz ist in diesem Moment in der größten Gefahr. Er hat das Nervenfieber und die Pocken dabei noch nicht gänzlich entwickelt. Diese Nacht mußte ich mal wieder den Doktor holen lassen. Jedenfalls sind wir etwas mutiger und hoffen, die eben schwebende Krise von Fritz sowie die folgenden noch einmal glücklich zu überstehen.
Die eben vergangene Woche war wieder mal eine Leidenswoche. Fritz, der große, selbst noch nicht genesen von seinem nervösen Fieber, half natürlich gleich pflegen und nachtwachen. Dabei wurde er mir ganz gemütskrank, und ich fürchtete um ihn fast so sehr wie um die Kinder. Nachdem wir nun bei Herthawieder feste Hoffnung schöpfen, scheint er sich auch wieder aufzuheitern, und ich denke, daß seine Verwirrungen im Gehirn gänzlich aufgehört haben. Die Pflege ist sehr schwer. Die Knaben phantasieren rasend und sind noch immer nicht im Bett zu halten. Sie springen mit einem Satz heraus, trotzdem sie schon matt und mager geworden sind. Diese Nacht sang der Fritz seine schönsten Liedchen und wie melancholisch mir zu Herzen gehend durch die traurige Stille der Nacht: »eine Zeitlang muß ich scheiden«. Percy spricht oft von seinem lieben Irlachen. Es ist zur Großmutter gegangen, so hat man Hertha zum Trost gesagt. Aber er phantasiert in gräßlicher Wahrheit: »Wenn wir zur Großmutter gehen, finden wir's? Nein, Hertha, glaub's nicht. Glaub's nicht, Hertha!« Vor vier Wochen noch meine blühenden, sich prächtig entwickelnden Kinder, und heute diese verwaisten Räume!

Mathilde   
an ihre Schwester Johanna Weißkirch   
Newark, 8. März 1858

Geliebte Johanna!
... Ich zweifle jetzt nicht mehr, daß wir Percy gerettet haben Wenn wir ihn über die Trauer hinwegheben können, werden wir ihn behalten. Er fragt nicht, wo ist der Fritz? Er fürchtet die Antwort. Aber er klagt und weint im stillen. Herthachen späht in jede Ecke des Zimmers und nennt seinen Namen in schmerzlichsten Klagelauten. O Johanna, welch ein zerstörtes Mutterglück liegt hinter mir! Was soll ich anfangen? Die Epidemie rast hier furchtbar fort. Fast der ganze südliche Teil der Stadt ist davon ergriffen. Fanny wohnt glücklicherweise viel nördlicher, weit von uns. Ich leide gar nicht, daß sie kommt. Kaum daß sie mir im höchsten Notfall mal ihr Mädchen schicken darf...

Unfertig, fortgesetzt von Fritz:

Ich beeile mich, das von Mathilde angefangene Briefchen zu schließen. Mathilde ist zu unwohl, um schreiben zu können. Sie leidet an einem bösen Geschwür in der Brust, das ihr Kopfschmerz verursach und ihren Arm lähmt. Ich habe zwar auch einige Geschwüre in den Fingerspitzen und im Arm, namentlich eines in einem der Schreibfinger, fühle mich aber nicht sehr dadurch behindert...
Wir wären längst schon zu Euch geeilt, liebe Johanna, wenn wir das Geschäft hätten verkaufen können. Aber alles hier liegen und stehen lassen und nur fort von hier gehen, mit einer drückenden Schuldenlast, das ginge wohl nicht an. Und doch, hätten wir nur ahnen können, welch ein furchtbarer Schlag uns hier treffen würde, wir hätten uns gern auf und davon gemacht - und hätten wir uns fortbetteln sollen.
Wir haben jetzt wieder Aussichten zum Verkauf. Sollte ich es um ein paar hundert Dollar billiger hergeben, in welchem Fall uns freilich fast nichts bliebe, so könnte ich auf der Stelle abschließen. Mathilde ist entschieden dagegen. Ich würde es jedoch tun, wenn ich keine andere Gelegenheit sehe. Wann wir übrigens würden reisen können, das steht noch in weitem Feld.
Percychen war wieder sehr unruhig, ist aber etwas stiller geworden, nachdem ich ihm zu trinken gegeben und Gesicht und Hände tüchtig mit Öl bestrichen habe...

Mathilde
an ihre Schwester Johanna Weißkirch   
18. März 1858

Unser armer Percy fängt heute erst zu genesen an. Ach, wie sieht das arme, arme Kind aus! Ich trage ihn auf meinen Armen umher, sein Rücken ist durchgelegen, sein ganzer Kopf wund. Fast alle Haare sind geschwunden. Sein Augenlid deckt schwer sein fast verschlossenes, fast erloschenes Auge...
Unser Auge richtet sich nach Euch im schwachen Hoffnungsstrahl auf eine etwas trostreichere Zukunft. Was Sicherung Existenz betrifft, so haben wir viele Aussichten für dort gewonnen ... Fritz hätte die Druckerei schon verkauft, wenn ich nicht noch zurückgehalten. Sie wird für den gebotenen Preis über die Hälfte fortgeschenkt. Allein, was soll's! Da uns hier nichts mehr fesselt als drei Gräber. So mögen wir denn forteilen von diesem Stückchen Erde...

Mathilde
an ihre Mutter
19. März

Meine liebe gute Mutter!
Percy war gestern sehr wohl. Wir hofften auf eine bessere Nacht nach solch einem erfreulichen Tage. Er hat wiederum die ganze Nacht nicht geschlafen, und schon ist es elf Uhr morgens und noch immer schließt er seine müden Augen nicht. Noch steht es traurig um ihn.
Ja liebe Mutter, da stünde ich denn an meiner Lebenswende bar aller Hoffnungen, die ich so reich getragen. Die schönsten, die ich mir durch tausendfache Stürme hindurch geschützt, genährt mit meinem besten Herzblut, und die in der andern Hälfte des Lebens zu meinem innigsten Glück sich entfalten und gestalten sollten, dahin -dahin.
Du liebe Mutter, bist die einzige gewesen, die noch einmal unserem geschlossenen Kranz zugeschaut hat. Ach, unter den blühenden Bäumen meines vorjährigen Gärtchens, wie lachte und lebte unsere Schar dahin! Die Großmutter kommt, so jauchzte es. Ach, und wie Du gekommen warst, o warum hielten wir die Zeit nicht an? Warum trank ich ihre reine Wonne nicht in tausendfachen Zügen? Kindes- und Mutterglück zugleich. Ja, es war der Gipfelpunkt meiner Seligkeit, die das Leben mir schuldig war - einmal. Einmal genießen zu lassen! An Irlachen verloren wir unsere Lebensfreude, usere Lust. An Fritzchen verloren wir unser Glück, unsere ganze Hoffnung.

Mathilde
an ihre Mutter   
Am 16.April 1858

Liebe Mutter!
... Morgen in acht Tagen geben wir unsere letzte Newarker Zeitung heraus und die folgende Woche benutzen wir zum Packen und zur Abreise - wenn uns bis dahin kein besonderes Mißgeschick wieder zu Leide will, so reisen wir schon zwei Tage vor dem ersten Mai ab.
Percy nimmt  nach der letzten Operation zu; die Eiterungen werden geringer, nur sein Mündchen ist noch sehr leidend. Nach dem Speichelfluß fielen ihm die besten Zähne aus. Und wie es scheint sind die Kinnladen so sehr zerstört, daß schwerlich so bald wieder Zähne anwachsen. Ach, wie verändert sieht der sonst so hübsche Junge aus! Du wirst ihn kaum wiedererkennen. Und Herthachen! Ach das arme, einsame Kindchen ist so ganz anders, als es das ehemalige »Gesellschaftsvögelchen« war. Oh, dies Suchen nach Irla das will mir manchmal das Herz brechen ...
Von Carl Anneke empfingen wir gestern einen Brief. Er hat große Sorgen um unser Fortkommen dort. Er schlägt vor, die Lindemansche Sommerwirtschaft zu übernehmen. Für Fritz hält er Kommissionsgeschäfte ratsam. Was meine Wirksamkeit betrifft, so kann ich mich, bevor ich bei Euch an Ort und Stelle bin, für nichts entscheiden. Am allerwenigsten für Kaffeewirtschaft oder Erziehungsinstitut. Für ersteres taugt mein Humor nicht mehr, denn ich   bin in der Tat tief melancholisch, noch ist es zweitens meine Absicht, mich mit fremden Kindern abzuquälen, deren Erziehung gewissenhaft zu leiten, jetzt da ich selbst nur noch die zwei habe.
Die Kommissionsartikel und -agenturen, die Fritz mit hinüber  nimmt, häufen sich unter sehr günstigen Bedingungen. Wenn davon nur einige gehen wollen, so müssen sie uns ein reichliches Auskommen sichern. Fritz wünscht, daß ich ihm bei diesem Geschäft, was wenigstens die Office- und Magazinarbeiten betrifft, unterstützen soll. So weit ich kann, werde ich's anfangs tun. Später sieht man, wie's weiter geht...

Vier Kinder mußten die Annekes in Newark begraben. Ein Kind war schon kurz nach seiner Geburt gestorben, dann verloren sie ein Dreijähriges, dann kam es zur Pocken-Epidemie, die den ältesten, zehnjährigen Sohn Fritz und eines der Zwillingsmädchen, Irla, wegraffte. Der Vetter in Cedarburg, bei dem die Annekes ihren ersten Aufenthalt in Amerika genommen hatten, berichtet in seinen Cedarburger News, daß er den Vater gefragt habe, warum er die Kinder nicht hatte impfen lassen. Die Antwort war: »aus Prinzip«. Bedenkt man den Stand der medizinischen Kunst jener Zeit, so waren solche »Prinzipien«, über die sich der Vetter mokierte, durchaus gerechtfertigt. In der medizinischen Literatur werden die Übelstände, die damals mit der Impfung verknüpft waren, ausführlich dargestellt. Es war zum Beispiel üblich, daß die Impfung von Drogisten, Priestern oder alten Frauen vorgenommen wurde. Ja, die damaligen medizinischen Blätter befürworteten sogar solche Praxis, um dadurch eine möglichst große Verbreitung der Impfung zu erzielen.[7] Auch die Qualität des Impfstoffes ließ viel, wenn nicht alles zu wünschen übrig. Selten fand das Präparat den erforderlichen Schutz, der es gegen Kälte, Hitze und Feuchtigkeit sichern sollte. Um diese Zeit war auch die Impfung von Arm zu Arm üblich, die nicht nur in sich selbst gefährlich war, sondern auch die Übertragung von anderen ansteckenden Krankheiten, vor allem der Syphilis mit sich brachte. Noch am 23. März 1901 brachten die Newark Evening News eine allerdings bestrittene Meldung, daß in nicht wenigen Fällen Personen, die geimpft worden waren, mit Diphtherie, Typhus und ähnlichen Krankheiten angesteckt worden waren. Erst 1870 wurden die Gefahren und Schwierigkeiten der Impfung in den Vereinigten Staaten beseitigt, indem man den Impfstoff statt von Menschen, von Rindern nahm.[8] Das kam aber für die Anneke-Kinder zu spät.
In den sechs Jahren ihres Newarker Aufenthaltes erlebten die Annekes also höchste Zufriedenheit und größtes Unglück. Über den Verlust ihrer Kinder ist Mathilde Franziska zeitlebens nicht hinweggekommen. Auch das bisher so innige Familienleben fand sein Ende. Teils durch äußere Umstände, teils durch Ruhelosigkeit ihres eigenen Wesens bedingt, gelang es dem Ehepaar nicht mehr, auf einem Platz längere Zeit beisammen zu bleiben. Zunächst kehrten sie nach Milwaukee in den größeren Kreis der Verwandtschaft zurück. Von den vielversprechenden Plänen, die in Newark für Milwaukee vorbereitet wurden, hört man weiter nichts. Wohl scheint Fritz Anneke den Vertrieb gewisser Waren begonnen zu haben, denn in einem seiner Briefe verweist er auf Eintragungen einen Taschenverkauf betreffend, und Mathilde schreibt, daß sie von Milwaukee nicht fort könne, denn wie sollten wir für unser Wachstuch ... etwas bekommen. Ein gewisser Herr Stirn schien die Dinge zu verwalten: Stirn zahlt mir gar nichts. Ob er nichts verkauft, wie er sagt, es mag sein. (23. September 1859.)
Im Mai 1859, etwa ein Jahr nach der Übersiedlung von Newark nach Milwaukee, machte sich Fritz Anneke nach Italien auf, um als Korrespondent für verschiedene amerikanische Zeitungen über den Freiheits- und Unabhängigkeitskampf der Italiener zu berichten. Mathilde Franziska blieb mit den Kindern zurück. Sie scheint mit diesem Schritt ihres Mannes nicht einverstanden gewesen zu sein.

Fritz Anneke
an Mathilde   
Detroit, Michigan, am Montag,dem 30. Mai 1859

... Die Trennungsstunde, meine Mathilde, hat uns beiden erst zum vollen Bewußtsein gebracht, wie lieb wir einander sind. Dir nicht weniger als mir. Und wenn wir den ganzen Schmerz dieser Trennung gewußt hätten, ich würde vielleicht nicht gegangen sein und Du würdest mich wahrscheinlich nicht haben ziehen lassen. Ich glaube auch Du würdest Dir und mir die Beruhigung gewährt haben, die letzte Nacht an meinem Herzen zu ruhen Nur deshalb kam ich in der Nacht auch an Dein Bett. Die Trennungsstunde, Mathilde, werde ich nicht vergessen ...    ... ,
Detroit ist jetzt im schönsten Frühlingsschmuck. Es ist wirklich ein wunderschöner Ort, wenigstens verdienen einige seiner Straßen dieses Prädikat, so Jefferson Avenue und Fourth Street, die sich durch ihre herrlichen Bäume, ihre hübschen Häuser und prachtvollen Gärten, mit denen jedes dieser Häuser umgeben ist, auszeichnen ...

Mathilde
an Fritz Anneke   
Milwaukee, 1859

Lieber guter Fritz!
... Du wirst über den furchtbarsten Schmerz der Trennung von den Kindern und von mir jetzt ein wenig hinweggekommen sein. Ich wenigstens suche mich durch fleißige Pflege unserer zwei Kleinode, die Du mir allein anvertraut hast, sowie durch sonstiges fleißiges Arbeiten, und durch die Liebe meiner Freundin über die Entsetzlichkeit der Trennung, soweit es möglich ist, hinwegzuheben. Ist diese auch überwunden, so bleibt doch immer noch Wehmutsvolles genug in unserem Geschick, das mich gegen alles, was mich sonst noch umgibt, absterben läßt...
Nicht nur beim Abschiede, lieber Fritz, brauchte mir erst wieder klar zu werden, wie sehr ich Dich geliebt. Meine Liebe, vom Augenblick ihres ersten Erwachens bis zu dem heutigen, ist mir in ihren verschiedenen Graden so klar und bewußt wie etwas. Ich wußte vorher, wie eine Trennung endlosen Gram über uns alle bringen würde. Aber ich wußte auch, wieviel endloser das Unglücksein würde, ungeliebt von Dir, das Leben neben Dir als Dein Weib zu verbringen. Wir hätten uns nicht vermählen, wir hätten Freunde bleiben sollen, lieber Fritz. Wir wären beide vielleicht glücklicher geworden. Wir lieben uns jetzt zwar mehr als Freunde, wir lieben uns in der innigsten Verwandtschaft durch unsere Kinder, aber wir lieben uns nicht wie Liebende, die beide einig sind in dem Bewußtsein, daß die Sehnsucht, die ihr Sein erfüllt, nur in dem Kuß gestillt wird, der von reinen, unentweihten Lippen dargereicht wird. Meine grenzenlose Liebe hat es nicht vermocht, Dich von dieser Wahrheit zu überzeugen - so hat sie denn allein verbluten müssen. In unseren lieben, guten Kinderchen hätten wir ein verlorenes Eden reiner Liebe wieder finden können. Wir können es immer noch, mein lieber Fritz. Und wenn Du vielleicht einstmals wieder bei uns bist, so laß uns vor allem durch das lebendige Wort klar werden, wie und was wir fühlen...

Als die Annekes mit den ihnen verbliebenen Kindern Percy und Hertha im Jahre 1858 wieder nach Milwaukee zurückgekehrt waren, hatten sie die Einladung des Ehepaares Booth angenommen, zu ihnen ins Haus zu ziehen. Sherman Booth war zehn Jahre vorher aus New Haven, Connecticut, nach Milwaukee gekommen, war Journalist und Schriftleiter des Wisconsin Free Democrat und schrieb aggressive Artikel gegen die Sklavenhaltung. Seine Frau Mary war auch Schriftstellerin. Auf politischem  Gebiet war Sherman Booth ein bedeutender Mann und ist als Held und Ideal in die Geschichte Wisconsins eingegangen. Als Privatmann wirkt er weniger sympathisch. Er war ein triebhafter Mensch und hatte nicht nur einmal junge, unschuldige Mädchen verführt. Mary Booth hat Mathilde anscheinend einiges anvertraut, und Mathilde schien auch ihre eigenen Beobachtungen zu machen. Er ist gemein im wahren Sinne des Wortes, schreibt sie über Booth an Fritz Anneke. Um diese Zeit war Booth in einen Sittlichkeitsprozeß verwickelt, über den Mathilde berichtet. Als Ehemann und Ernährer seiner Familie ließ er viel zu wünschen übrig. Immer hatte er salbungsvolle Bibelsprüche zur Hand, die er stets auf andere, speziell auf seine Frau, nie auf sich selbst mahnend und klagend verwendete. Mathilde trat ihm oft scharf entgegen und schützte Mary vor seinen Angriffen. Die Scheidung der Ehe war damals im Gange. Für seine Frau und seine beiden Töchter hat er sowohl in Milwaukee wie  auch später, während Marys Aufenthalt in der Schweiz, nur sehr spärlich zur Lebenshaltung beigetragen.
Mary Booth schloß sich Mathilde in inniger Freundschaft an, und Mathilde schreibt wiederholt an Fritz über die gegenseitige Zuneigung und Liebe, deren sie sich erfreute. Die Freundschaft und Liebe Marys zählte Mathilde Anneke stets zum Schönsten, was ihr das Leben beschert hat. Trotz der Abneigung, die sie Booth gegenüber empfand, war Mathilde objektiv genug, seine guten Eigenschaften zu schätzen, speziell da er politisch für dieselben Ideale kämpfte, die sie befürwortete. Allgemein bekannt wurde Booth durch seine beherzte Tat, einem entlaufenen Sklaven, der gefangen worden war, zur Flucht zu verhelfen. Durch diese Tat hatte er sich gegen das Sklavenfanggesetz vergangen und wurde eingesperrt. Damit war ein komplizierter Rechtsfall entstanden.
Das Oberste Gericht Wisconsins setzte Booth mit der Begründung wieder frei, daß das Sklavenfanggesetz der Konstitution des Staates Wisconsin widerspreche. Der Oberste Gerichtshof der Union hob diesen Rechtsspruch wieder auf und kerkerte Booth wieder ein...
Es handelte sich in diesem Fall um eine Sache, für die sich Mathilde Anneke immer und überall eingesetzt hätte und die sie immer wieder zum Gegenstand ihrer Schriften und Vorträge nahm.
Aufmerksam beobachtete Mathilde Anneke in dieser Zeit auch das politische Kesseltreiben auf lokaler Ebene, und was sie sah, enttäuschte sie. Besonders ärgerte sie sich darüber, daß Carl Schurz im politischen Ränkespiel Mitspieler geworden war und trotz seiner jungen ]ahre allzu schnell auf der politischen Leiter aufgestiegen war. Mit der Zeit entwickelte sie, wohl auch durch Fritz Anneke beeinflußt, einen Antagonismus gegen Carl Schurz, dessen Diplomatie und Pragmatik für ihn selbst und für die Sache, die er vertrat, entscheidende Erfolge zeitigten. In dem Verhältnis der Annekes Carl Schurz gegenüber gewinnt man den Verdacht, daß persönliche Faktoren mit hereinspielten. Und Mathilde denkt und handelt in dieser Sache unwürdig ihrer selbst, wie wir aus ihrem Brief vom 26. September 1859 urteilen können. Schadenfroh wie ein Schulmädchen freute sie sich, daß sie Carl Schurz ein Schnippchen schlagen und seine Wahl zum Gouverneur des Staates Wisconsin verhindern konnte. Ob Schurz tatsächlich aus den von ihr geschilderten Gründen nicht nominiert wurde, scheint jedoch sehr fragwürdig zu sein.
In der größeren politischen Arena sammelte sich inzwischen der Explosivstoff in gefährlichem Ausmaß an. Die Streitfrage über die Ausdehnung der Sklavenhaltung in westlichen Territorien hatte Kansas in ein Schlachtfeld wandelt. Der Kleinkrieg in dieser Gegend fand seinen Höhepunkt im Überfall auf die Stadt Lawrence und als Gegenschlag dazu in John Browns blutigem Anschlag am 25. Mai 1859 auf die Pottawatomie-Creek-Siedlung, wo 200 Menschen ihr Leben lassen mußten. Mathildes Sympathien lage auf seiten John Browns, des Rebellen, der die Sklavenfrage mit Gewalt zur Lösung bringen wollte. In ihrer Einstellung stimmte sie mit ihrem Freund Gerrit Smith überein, der zu jener Gruppe von Neu-Engländern gehörte, die John Brown finanziell unterstützt hatten, so daß Brown zuerst in Kansas dann in Virginia, in Harper's Ferry, einen Sklavenaufstand vorbereiten konnte, dessen Plan es war, einen freien Staat flüchtiger Sklaven in den südlichen Apalachen zu errichte und von dort aus die Rebellion in den Süden zu tragen. Nachdem John Brown seine Mission in Kansas erfullt hatte zog er im Sommer des Jahres 1859 ostwärts und sammelte in den Nordstaaten Kontributionen von einigen tausend Dollars, die »der Sache« dienen sollten. Er mietete sodann eine Farm in Maryland, die er als Hauptquartier für sich und seine Leute einrichtete. In historischer Symbolik wählte er für seinen Anschlag den Staat Virginia, wo im Jahre 1619 die Sklaverei eingeführt worden war. Er war überzeugt, daß sich die Sklaven der Südstaaten anschließen würden und er sie zu einem allgemeinen Sklavenaufstand werde führen können. Mit 18 Mann, darunter drei seiner Söhne und und fünf Neger, bemächtigte er sich am 16. Oktober desselben Jahres des Arsenals in Harper's Ferry und begann, an die Sklaven Waffen auszuteilen. Sein Angriff mißlang, und er wurde am 2. Dezember 1859 in Charleston gehängt.
Der blutige Aufstand wurde auch im Norden verurteilt. Von vielen aber wurde John Brown als Märtyrer und als
Held betrachtet. Emerson schrieb über ihn als den »neuen Heiligen, den die Liebe zu den Menschen in Konflikt geführt und in einem Tod erhöhte, der den Galgen so ruhmvoll macht wie das Kreuz«. Die Deutschen verglichen John Brown mit verschiedenen Heldengestalten  ihrer  Geschichte. Einmal wurde er »Ferdinand von Schill, dem Vorkämpfer oder Märtyrer des Volkes im Kampf gegen die Napoleonische Tyrranei«[9] gleichgesetzt. Oder man schrieb über ihn als »eine der Gestalten, wie sie der Bauernkrieg und die Reformationskämpfe in Deutschland, die Hugenottenkriege und die    englische und französische Revolution mehrfach hervorgebracht haben«.[10] Theo Olshausen, Redakteur von Der Demokrat in Davenport, brachte einen Nachruf auf John Brown    mit breitem schwarzen Rand. Und die angesehensten Deutschen von Davenport umflorten die Fenster ihrer Häuser mit Schwarz und trugen schwarze Armbinden.[11] Auch in Mathilde Annekes Schriften finden sich teilnehmende Worte:

  • Es war an einem Karfreitage - ich werde nie den Schmerzenstag vergessen - ein kleines Häuflein Getreuer - Deutsche wie Amerikaner - hatte sich versammelt dort oben in der Markthalle, um denTod des großen Toten zu beklagen und um die Hinrichtung des edelsten Menschen, um John Brown, laute Klage zu führen. Das Henkersglöcklein war das Präludium zu einem Siegesgeleute für die Befreiung von fünf Millionen Menschen. Sein Seherauge, das läutete, als er den Karren bestieg, sah im frühen Morgenrot die Erfüllung.
    
Unter dem Galgen sprach John Brown die zukunftsschweren Worte: Ihr Leute im Süden müßt euch darauf gefaßt machen, daß die Abrechnung wegen der Sklaverei noch bevorsteht. Mich könnt ihr ja aufhängen, aber Hunderttausende von Rächern werden aus meinen Gebeinen erstehen.[12]

John Browns Prophezeiung sollte sich nur allzubald erfüllen.
Senator Seward, der Spitzenkandidat für die republikanische Präsidentschaftswahl, war verdächtigt worden, von John Browns Anschlag Vorkenntnis gehabt zu haben, und hatte daher einiges an Reputation eingebüßt. Um sich von seinem Rufe als Erzradikaler reinzuwaschen, hielt er seine berühmte Rede vom 29. Februar 1860, die in der Presse unter dem Titel »Kapital und Arbeit« veröffentlicht wurde und mit der er sich von John Browns Tat distanzierte. Zwar gelang ihm, was er beabsichtigt hatte, doch verbitterte er die Radikalen, speziell die Radikalen unter den Deutschen.

Mathilde
an Fritz Anneke   
undatiert, vermutlich Juni 1859

Lieber guter Fritz!
... Maria bleibt immer gleichmäßig liebevoll. Vor einigen Abenden hat sie mir eine sehr interessante Eröffnung gemacht. Niemandem in der Welt hat sie es jemals erzählt, weder Booth noch B. und auch nur auf mein Bitten gestattete sie mir, Dir's auch zu erzählen, daß sie Abkömmling einer Indianerin ist. Diese Eröffnung hat mich
so amüsiert, die Art und Weise ihrer Mitteilung, ihr Stolz und wiederum ihre Selbstverleugnung. Es hat uns eine halbe Nacht an Schlaf gekostet. Ich glaube, ihre Urgroßmutter war die Tochter des Waldes, eine der letzten Mohikanerinnen. Der Urgroßvater, ein Korse, heiratete sie als die Tochter eines Chiefs. Ich enzählte ihr, Du habest es schon früher gesagt, daß sie indianisches Blut habe. Sie freut sich, daß Du es ihr selbst nicht gesagt hast, sie wurde Dich deshalb habe hassen müssen. Ihre Abstammung habe ihr das ganze Leben hindurch so viel Kummer gemacht. Alles Böse in ihr sei von ihrer bösen Mutter immer als Erbteil der Indianerin vorgeworfen.
B. hat also geschrieben und in einem entsetzlich verworrenen Stil gesagt, daß er nie aufhöre sie zu lieben, aber daß er sich nicht mit ihr vereinigen könne etc. etc. Maria ist einigermaßen davon bestochen, denn sie hat mir erklärt, er könne nicht aufhören sie zu lieben, wie sie nicht aufhören könne usw. usw. Mich soll wundern, wie der Roman im ganzen endet.
Großmutter ist die Alte. Johanna und Emil erfreuen sich ihr Glücks, und damit ist's alle...

Mathilde
an Fritz Anneke
Milwaukee, 15. Juli 1859

Geliebter Fritz!
Gestern nachmittag brachte Percy mir das erste winzige Briefchen von der Post, das mir die Gewißheit gab, daß Du wieder festen Boden unter den Füßen erlangt hast. Schwedler sandte es mir mit einigen freundlichen Worten und der Notiz, daß er auf Deinen speziellen Wunsch mir den wöchentlichen St. Demokrat zusenden würde, und den ersten zwar mit Deiner Korrespondenz. Deine 6 Rosenblättchen und die Nachricht, daß Du fleißig Wein tränkst, machten die ganze kleine Familie, Maria natürlich nicht ausgenommen, glücklich. Am Abend sollten wir noch mehr Kunde von Dir erhalten. Ich empfing zwei Stunden später Deinen Brief aus Southhampton, den Du während der Meerfahrt an uns geschrieben hattest. Großmutter kam gerade während des Lesens, und da war's denn ein wahres Fest, lieber Fritz, uns Deiner glücklichen Überkunft zu erfreuen...
Ich kehre also zu unserm Familienfest zurück. Meine kleine Geldverlegenheit währte nicht lange, denn Lexow, dem ich für die Spalte 1 1/2 gefordert hatte, schickte mir für meine »Frauenbilder« 25.87 und für 4 Korrespondenzen à 2 1/2 10 $, also im ganzen 33,87$. Ich kaufte Percy gleich ein Paar neuer Stiefel, Hertha ein Käppchen und sagte, daß Papa das geschickt hätte; zahlte meine Postbox, kaufte mir einen Sommerhut, einen recht kühnen breitrandigen schwarzen Strohhut, und kaufte zwei Flaschen Wein nebst Backwerk und wir tranken in Limonade Deiner Erinnerung. Percy ist, wie Du ganz recht vermutest, noch immer der kleine Schläfer, Hertha die erste,
die erwacht. Nur des Sonntags morgens, da finde ich ihn schon nicht mehr im Bette wenn ich aufstehe. Da ist er schon ganz hübsch seinen Turneranzug, den ich ihm habe machen lassen und der ihm jeden Samstag abend mit frischer Wäsche übergeben wird, geschlüpft, und da springt er mit einem Stück Brot in der Hand zur Turnhalle, woselbst er des morgens bis 10 oder 11 Uhr verweilt. In die Zündtsche Privatschule geht er gerne; ich bin viel ruhiger, seit ich ihn da habe. Herthachen will auch in die Schule gehen. »Ja, wenn ich in die Schule gehe«, sagt sie, »dann kann ich auch ein Briefchen für meinen Papa machen.«

Den 16. Juli
Meine arme Maria liegt im Bette und leidet an geschwollenem Gesicht. Sie war seit einiger Zeit ziemlich gesund, obgleich sie mit ihrem Herzen noch manchen Kampf zu bestehen hatte...
Maria birgt in ihres Herzens Tiefe keinen anderen Gedanken, als frei zu werden von diesem sinnlichen husband in law, und wahrhaftig, sie hat recht! Mag jeglicher Support für sie und und die Kinder mit ihm fortfallen - sie hat recht; ich wollte den Mann auch vor der Welt nicht mehr als meinen Gatten haben. Seine guten Eigenschaften kennen wir, Du und ich - aber seine bösen in der Verführung unschuldiger Mädchen, in seinen sinnlichen Trieben hast Du vieleicht noch nicht so gekannt, als wie ich sie jetzt oft höre. Er ist gemein im wahren Sinn des Wortes. Mir bleibt er in der gehörigen Entfernung - er fürchtet mich. Seit Du von uns gegangen, hatte ich
ohne irgendeine weitere Provokation eine etwas determiniertere Stellung eingenommen. Er durfte nicht mehr auf mein Zimmer, welches stets abgeschlossen, kommen etc. etc...
Mit dem Geldpunkt scheint es sehr bös zu stehen. Er sorgt, für die Familie nur in einzelnen Dingen, in anderen gar nicht, und da habe ich die Sorge. Ich teile mit Marien gern was ich habe, sie tut's auch mit mir. Was der Armen bleiben wird, nach dem Ausgang der Dinge, ich weiß es nicht, sie selbst weiß es nicht. Und doch - ich weiß es - ich bleibe ihr die treue Freundin; ich will sie niemals verlassen, sie mich auch nicht...
Heute finde ich in der Criminalzeitung meine letzte Korrespondenz über die Fahrt des Editoren Kongreß nach Grand Rapids, einem allerliebsten Städtchen. Diese Tour hat mir recht viel Freude gemacht. Aller nur möglicher Komfort war uns von unsern Gastgebern, der Railroad Comp., geboten; Maria war ziemlich heiter, schönes Wetter, blauer See. - Wir waren zwei Nächte und einen Tag fort. Skizzen, die Hölzlthaler gezeichnet, und meine Beschreibung liegen für Frank Leslie bereit; er wünschte sie, bekommt sie aber nicht, bevor die alte Schuld bezahlt ist. Booth hat in unserem Interesse an ihn geschrieben. Meinen Brief, den ersten nach Zürich dirigierten, wirst Du hoffentlich empfangen haben, als Du in Zürich ankamst. In Straßburg wirst Du mit Vater zusammengetroffen sein, ich freue mich, darüber zu hören. Carl Anneke ist seit gestern nach Grand Rapids; er schwärmt für die Idee, dahin zu ziehen; Emil wird er dort treffen.

Montag Morgen:
Ich habe eben Deine Korrespondenz »from our European Correspondent« mit großer Leichtigkeit gelesen. Nichts - nicht ein Wort darin ist mir unverständlich; das Englisch ist viel leichter als meine Story, Eliot Granger. Diese Geschichte erscheint in den fortlaufenden Nummern der Stripes and Stars, und wie sie kommt, übersetzte ich sie. Booth sagt mir während des Frühstücks: Die Korrespondenz sei recht gut. An Deinem »Germanischen Englisch« haben sie im Sentinel nur noch zu fixen gehabt. Maria findet die Korrespon zu trocken und Deinen Proletarierhochmut hervorblickend. Deine Fahrt in der II. Klasse hätten die faschionablen Leute nicht zu wissen nötig gehabt. Sie hätte gewünscht, Deine Korrespondenz wäre etwas ornamenter für Ladies. Maria sagt übrigens, Dein Englisch sei recht schön...
Mein kleines liebes Plauderdöschen spielt den ganzen Morgen um mich herum und schwätzt Englisch. Ich wünschte nur, daß Du das hören könntest. Solch niedliches Englisch hast Du wohl nie gehört. Selbst Maria sagt, wie hübsch sie spricht. Es ist ein kleines, liebes Schlauköpf chen. Wenn Du erst an Ort und Stelle einen Brief von mir direkt erhalten kannst, so schicke ich Dir wieder ein Bildchen von den Kindern. Von den Gräbern unserer Toten erhielt ich ein Immergrünzweiglein ...
Eben empfange ich einen Brief von Dr. Brandis, worin er mir schreibt, daß Leslie die Fortsetzung des englischen Romanes nicht haben könne, daß ich also aufhören müsse mit meiner Übersetzung, es sei denn, daß ich geneigt sei, den letzten Teil des Romans für lhn selbst zu schreiben. Wenn nur die Geschichte nicht so entsetzlich amerikanisch kombiniert wäre, so täte ich das mit Vergnügen. Aber es ist so viel schlechtes Rowdy Pack darin aufgetreten, die ich alle tot haben muß, und da glaube ich, wird mir's schwer werden, es zu Ende zu bringen. Ich bin mit der Übersetzung beim 10. Kapitel und müßte etwa noch zwanzig schreiben, um ein vernünftiges Ende herbeizuführen.
Mit altem Mut und inniger Liebe bin ich Deine Mathilde

Fritz Anneke
an Mathilde   
Zürich, den 1. Juli 1859

Meine geliebte Mathilde!
Welche Erinnerungen habe ich seit vorgestern durchlebt! Ich sitze am »Tiefen Brunnen« in demselben Zimmer, wo wir vor zehn Jahren saßen, und denke nur und nur an damals. Mein Auge ist immer verdunkelt und das Papier wird mir naß. Die Feder zittert und ich kann mit dem Schreiben nicht vorankommen.
Eben war ich in dem Garten am See und habe dort ein purpurnes Röschen gepflückt, von welchem ich Dir die beiliegenden Blätter schicke, und ein Weinblatt von den Stöcken, die an dem Geländer stehen, wo Fritzchen das Gehen lernte und von denen er immer die Beeren abpflückte. Der schöne Garten und das Haus sind noch gerade wie damals und auch der Bauernhof ist so geblieben, wo ich mit Fritzchen das Obst suchte und er zuerst sprechen lernte »Baum«. Herr Coßmann und seine Frau erkannten mich gleich wieder. Es ist den Leuten gut gegangen. Sie haben jetzt acht Kinder. Die kleine Friedericke, die ich damals mit Fritzchen zusammen in den See hinnahm, ist zur Jungfrau herangewachsen...
Den größten Teil meiner äußeren Erlebnisse, meine liebe Mathilde, mußt Du aus meinen Korrespondenzartikeln entnehmen, ich muß mit der Zeit ebenso wie mit dem Gelde ökonomisieren. Gleichzeitig mit diesem Brief wird die erste Correspondenz zu dem Free Democrat abgehen, die ich in Straßburg angefangen habe. Sie wir Dir gefallen und auch den Lesern des Blattes, wenn ihr amerikanischer Dünkel sich auch etwas verletzt fühlt...
Den Vater Rhein sah ich bloß für einen Moment in Basel, als wir in einem Omnibus durch die Stadt von einem Bahnhof zum andern fuhren. Auf der letzten französischen Station mußte ich noch meinen Paß zeigen. In der Schweiz fragte niemand darnach...
Eine Stunde lang habe ich hier im Garten am Seeufer gestanden und das klare blau-grüne Wasser und die spiegelglatte Fläche angesehen und die kleinen niedlichen Dampfschiffchen und die unbeholfenen Boote und alle die schönen Häuser und Dörfer an beiden Ufern des Sees und die Bergketten rechts und links. Der alte Ütli, auf den wir die romantische Nachtpartie hinauf machten, hat sein Haupt in einen Wolkenschleier gehüllt, und die anderen Berge wurden nur hier und da von einem Streiflicht beschienen, das sich durch Nebel und Wolken Bahn bricht...
Wie ist es nur möglich, so lange auszuharren in dem tristen, öden, großen Freiheitsstall, der bewohnt von Gleichheitsflegeln,[13] während alle Herrlichkeiten der Welt auf dieser Seite des Ozeans liegen. Wenn ich zurückkomme, so komme ich nur, um Euch abzuholen. Meine zahlreichen Korrespondenzarrangements werden uns die beste Gelegenheit zu einem dauernden Erwerb von hier aus bieten.
Beust habe ich gestern nach langem Suchen aufgefunden. Er wohnt nicht mehr in dem früheren Lokal am See, sondern weiter aufwärts und näher der Stadt zu. Es geht ihm, seiner Anna und seinen zwei hübschen Jungens wohl. Er hat fünf Pensionäre und eine Schule von etwa fünfzig Zöglingen ... Ich ging spät abends in einer Stockfinsternis durch Berg- und Waldpfade wieder zum »Tiefen Brunnen«, wo alle schon im tiefsten Schlafe lagen. Man geht hier im allgemeinen um neun Uhr ins Bett und löscht dann sorgsam alle Lichter aus ... Vater kommt nicht, wie ich erwartet habe. Er schickt mir aber auch kein Geld ... Ich sitze jetzt hier festgebannt, da ich mit meinen 65 Francs nicht nach Italien reisen kann. Mich kränkt dabei nur, daß der ganze wohlangelegte und bis dahin so gut gelungene Plan mir vereitelt wird, und daß ich vor den Blättern, mit denen ich mich in Verbindung gesetzt habe, eine sehr unangenehme Blamage erlebe. Das einzige was ich tun kann, ist, so viel wie möglich von hier Artikel schreiben...
Von meinem Zimmer aus kann ich die Schneealpen sehen. Es ist ein prachtvoller Anblick. Die waren heute morgen so klar und sahen so nahe aus, als könnte man sie mit Händen greifen. Die Luft ist wieder köstlich balsamisch, der Duft von Tausenden Rosen und anderen Blumen und Büschen und Weinstöcken und Wäldern und Bergen - strömt mir ins Fenster herein. Wie bedaure ich's, daß Ihr nicht auch hier seid.
Beusts Schule ist ein ganz ausgezeichnetes Institut. Da war unsere Newarker nichts dagegen. Eine so vorzügliche Unterrichtsmethode und so reiche Hilfsmittel für den Unterricht habe ich nie gesehen ...

Fritz Anneke
an Mathilde   
Zürich, am 19. Juli 1859

Geliebte Mathilde!
... Der Friede hat in meinem Korrespondenzunternehmen eine böse Störung gemacht. Hätte ich mich noch so sehr beeilt, ich würde nicht einmal rechtzeitig zur Schlacht von Solferino am 24. Juni eingetroffen sein. Ich weilte an diesem Tage noch in Southhampton. Dann kam, während ich in Zürich war, der unglückselige Waffenstillstand und ein paar Tage später der unglückselige Friede, wenigstens einige Berechtigung für meine Korrespondenzen zu haben, müßte ich notwendig noch nach Italien. Ehe die Verhältnisse dort wieder »reguliert« sind, wird noch einige Zeit vergehen und es wird noch manche Schwierigkeit und Kämpfe geben, die in der Nähe zu sehen, würde jetzt meine Hauptaufgabe sein. Ob die Revolution jetzt in Italien ihr Haupt erheben wird, wird wesentlich von den verbleibenden französischen Truppen abhängen. Bleiben sie da und werden als Exekutionstruppen zur Unterdrückung der allgemeinen Unzufriedenheit der Italiener über den schmachvollen Frieden, welcher sich am deutlichsten in dem Rücktritt des Ministeriums Cavour ausspricht, zur Wiedereinsetzung der Fürsten von Toscana, Modena und Parma und zur Wiedereroberung des Kirchenstaates für den Papst verwendet, so kann Italien vorderhand wenig machen. Es sei denn, daß die französischen Soldaten zu einem solchen Schergendienst sich nicht hergeben; möglich wäre das. Eine verbürgte Nachricht aus Mailand sagt, daß viele französische Offiziere ihre Säbel zerbrochen und ihre Epauletten und Orden heruntergerissen haben, aus Zorn über den schmählichen Frieden. Daß Garibaldi und daß namentlich Mazzini jetzt nicht müßig sind, läßt sich denken. Was sie aber eigentlich treiben und vorhaben, darüber ist hier nichts erfahren. Nur die unbestimmtesten Gerüchte vernimmt man hier. Verbürgte Nachrichten kommen erst spät...

Mathilde   
an Fritz Anneke   
Milwaukee, im August 1859

Mein lieber Fritz!   
Es war gerade am 22. Juli, ich feierte in aller Stille den Tag der Geburt unseres unvergeßlichen Kindes, unseres Fritz. Ich feierte den Tag unseres Wiedersehens mit ihm in Straßburg. Ich war mit meiner lieben Maria allein zu ihrer Grabstätte hinausgefahren, und da im Schatten der großen weinumrankten Eiche habe ich mich ausgeweint und ihr gesagt, welch ein harter Tag es für mich war. Von den Hügeln zurückkehrend lenkte ich das Pferd der Post zu und empfing Deinen lieben Brief aus Zürich, den ersten aus diesem Eldorado so wehmütiger Erinnerungen. Dein Brief hat mir den ganzen Abend Tränen, bittere Tränen ausgepreßt. Die Erinnerungen an Fritzchen überwältigten mich bei den dunklen Rosen- und Weinblättchen so sehr. Ich sah das Kind wieder in seinem grünen Kleidchen und blauen Samtröckchen, sein kleines liebes Gesichtchen, wie es jeden Tag mehr und
mehr zunahm, nachdem es die gute Schweizermilch täglich genoß.
Ach Gott, was ist seit dieser Zeit und heute nicht alles zu Grabe gegangen - alles, alles. Nichts ist geblieben, was ich in dieser Zeit zu besitzen geträumt habe. Alles Traum, Traum. Und wie ich nun in einer so ganz anderen Welt stehe, andere Kinder als damals, anders lieben, andere Blumen, andere Fluren, andere Lust, andere Erde, andere Heimat - ich glaube, ich habe hier auf dieser Erde schon viele Leben ausgelebt... Über Vaters Art und Weise Deiner Begrüßung in der Heimat haben mir dann doch die Haare zu Berg gestanden. Daß Dir nach einem solchen Willkommen nicht der ganze väterliche Boden verhaßt wurde, das ist ein wahres Wunder. Diese Spießbürger, dieses Philistertum - bei Gott, da will ich lieber die Bären und Wölfe des Urwaldes ertragen als Eure von Unnatur und verborgener Roheit balsamisch geschwängerte Heimatluft. Ich vergesse nie die Zeit Deiner Gefangenschaft, die mir so grausam zum Vorwurf gemacht wurde. Nachher sollte ein Geldgeschenk alles verschmerzen helfen. Ich habe es niemals vergessen. Und jetzt mußt Du eben eine zweite Auflage dieser Kränkung erleiden. Armer Fritz, der Du von der Liebe zum Vater, von der Sehnsucht, ihn noch einmal wieder zu sehen, hauptsächlich mit angetrieben wurdest, Deine zweite Heimat zu verlassen und das Weltmeer wiederum zu durchkreuzen.
Booth steht vor den Schranken. Du kannst Dir diesen originellen, wenn auch verabscheuungswürdigen Kauz nicht denken. Meiner Ansicht nach wird er freikommen. Jedenfalls wünsche ich ihm nicht, so schlecht er auch ist, das Staatsgefängnis. Maria befindet sich besser, als ich gefürchtet habe. Bis jetzt ist ihrer kaum erwähnt in den
Verhandlungen...
Wie angenehm muß Dir der Aufenthalt in Zürich sein. Wie oft denke ich jetzt wieder an das schöne Land. Manchmal ist mir's, als ob ich Heimweh nach dem blauen See hätte. - Und Herwegh war auch zum Schützenfest da. Das Alpenglühen hat seine Poesie wieder erweckt. Wie hübsch sein Gedicht vom 6. Juli, das hier durch die Blätter schon die Runde macht. Grüße ihn von mir, willst Du... Wie gelegen Dir doch der Friede kommt. Ich hoffe nämlich nur, daß er ein temporärer sein wird. Auch der Kongreß der Gesandten findet in Zürich statt. Da bist Du ja von einem guten Stern zurückgehalten ...

Mathilde
an Fritz Anneke   
am 17. August 1859

... Der Prozeß Booths hat elf Tage gewährt. Die Verhandlungen waren der zweideutigsten Art. Kein anständiger Deutscher, der auf seine gute Reputation was gegeben, hat ihm beigewohnt. Das Ende ist von ihm, daß ein zweiter Prozeß folgt. Die Jury konnte sich nie einigen. Sie stand sieben gegen fünf für ihn. In sechs Wochen soll der andere folgen. Die arme Maria, sie fühlt immer mehr die Notwendigkeit, von ihm los zu kommen. Sie verachtet ihn seiner Leidenschalten wegen so gründlich, während sie ihn seiner Talente und guten Eigenschaften wegen so schwesterlich duldet. Seine Sorgsamkeit für ihren Komfort ist in Wirklichkeit eine nicht sehr große. Da, wo er sie zur Dienerin seiner Eitelkeit machen kann, zeigt er sie ...

Mathilde
an Fritz Anneke   
Milwaukee, 23. September 1859

...Meine Lebensweise ist eine sehr einförmige. Ich sitze den ganzen Tag am Schreibtisch oder am Flicken. Abends gehen wir dann und wann zur Großmutter. Ich gehe nie ohne Maria. Wir verlasse uns keine Stunde. Sie sitzt neben mir, wenn wir arbeiten, und wir sind glücklich, daß wir uns gefunden, um uns nie wieder voneinander zu trennen. In ihr gutes, liebliches Gemüt blicke ich täglich tiefer, und ihre kleinen Schwachheiten im gewöhnlichen Leben sind mir so lieb als ihre Tugenden. Ich weiß, sie liebt mich auch, und ich fühle mich mal wieder glücklich, geliebt und verstanden zu werden.
Dein schöner Plan, lieber Fritz, diesen Winter zu Dir zu kommen, gerinnt zu Wasser. Wie sollten wir hier für unser Wachstuch, wie für unsere Möbel etwas bekommen? Das Geld gehört hier beinahe in Reich der Fabel. Es ist ein trauriger Zustand hier, und ich weiß nicht, wie es anders wird. Stirn zahlt gar nichts. Ob er nichts verkauft, wie er sagt, es mag sein...
Heute abend gehen wir in die Oper. Die Tickets zu ihr sind sehr sparsam verteilt. Ich habe aber sogar zwei vom Verein bekommen. Märklin und Linchen besuchen uns abends bisweilen. Auch Carl und Henriette fanden es in unserem Parlour sehr angenehm. Zur besseren Unterhaltung und  zur Zerstreuung Mariens hatte ich bisweilen kleine Gesellschaften, dazu Herrn Klien als guten Klavierspieler eingeladen. Herr Balatka ist für die nächste Wintersaison Theaterdirektor. Ein ungarischer Komponist, Sobolewsky, der sich hier niedergelassen, hat eine schöne Oper (indianisch), The Flower of the Forest, geschrieben, die hier zum ersten Mal aufgeführt werden vom soll vom hiesigen Musikverein. Diese Sachen geben mir immer interessanten Stoff für meine »papers«.
Über die politischen Affärs hat Maria Dir geschrieben. Ich glaube, es ist für den jungen Mann (Carl Schurz) ganz gut, nicht Exelenz geworden zu sein. Er ist schon eitel genug. Vor der Parteiklapperei habe ich aber einen wahren Schrecken bekommen. Dies Gebaren der Parteibosse! Elenderes kann man sich nicht denken.

Fritz Anneke
an Mathilde   
Zürrich, am 31. August 1859

Gestern, liebe Mathilde, schrieb ich Dir noch durch die Illinois Staatszeitung. Heute schreibe ich durch den Sentinel. Aus der Staatszeitung wirst Du ersehen, daß ich den Doktor juris Hammacher wenigstens zu einer Zeitungskorrespondenz ausgebeutet habe. Ich habe ihm gestern zum letzten Mal geschrieben, um ihm einige Fragen zu beantworten und ihm Lebewohl zu sagen. Meinen habe ich mir kopiert. Ich sage ihm darin: »Den Doktor juris Hammacher habe ich nie gekannt, sondern nur den Friede, und der lebt nicht mehr, wie ich sehe. Und mit dem Doktor juris kann ich keine konventionelle Korrespondenz führen. An Zeit fehlt mir's ebenso gut wie Dir.« »Dir wird es an Zeit nicht fehlen«, sagt der Mensch. »Ich bin von Arbeit fast erdrückt und muß mir zu gemütlichen
Allotrias«, so nennt er auch das Schreiben an mich, »die Zeit stehlen.« Die Zeitungskorrespondenzen füllen meine ganze    Zeit, trotzdem würde ich die Muße zu einer Korrespondenz mit meinem Freund Friede finden. Als gemütliche Allotrias finde ich sie nicht, und ich will ihm die Zeit auch nicht rauben, der sie unzweifelhaft besser finanziell zu benutzen weiß als ich. Dann fragt mich der Mensch, ob ich nicht endlich eine feste Anstellung als Offizier oder Ingenieur nehmen will. Ich antworte: »Als Offizier? Mutest Du mir zu, irgendeinem Fürsten als Roßknecht zu dienen? Meine militärische Stellung als Oberstleutnant in einer Revolution wieder aufzunehmen, dafür ist jetzt noch keine Gelegenheit. Als Ingenieur? Ja wenn man die Stellung nur so nehmen könnt. Aber wenn man nicht vom Glück heimgesucht wird, nimmt man das, was man in seiner Macht hat.« Dann gesteht er, daß es ihm ganz gut gegangen ist, daß er ein guter Preuße ist und eigentlich nie etwas anderes war, und meint, wenn ich besseres Glück gehabt hätte, würde ich auch andere Ansichten bekommen haben. Ich sage: »Wenn ich ein Millionär geworden wäre, würden meine Ansichten und Gesinnungen nicht darunter gelitten haben und ich würde sie gerade so gut verfechten, wie jetzt. Ich schließe mit einem Lebewohl für Zischen und Friede...«

Fritz Anneke
an Mathilde
Zürich, 10. September 1859

Liebe Mathilde!
... Hätte ich nicht Beust hier gefunden, ich hätte mich bei irgendeiner Fremdenlegion anwerben lassen oder wer weiß was sonst beginnen können, anstatt für Zeitungen zu schreiben. Meine Briefe an die verschiedenen Zeitungen, denen ich Korrespondenzen geschickt hatte und von denen ich das Honorar erbat, blieben ohne Antwort. Die einzige Antwort, die ich bis jetzt erhalten habe, kam gestern von Schwedler in 13 Tagen von New York bis hierher. Er schreibt mir, die Korrespondenzen hätten seit dem Frieden von Villa Franca für ihn keinen besonderen Wert. Indes wolle er ein übriges tun und für jede Korrespondenz aus Italien mir drei Dollar bewilligen - sonst zahle er nur zwei Dollar für einen Brief - er könne jedoch nur zwei per Monat nehmen. Von Geldschicken sagt er kein Wort. Ich hatte nach den akkordierten Sätzen bis heute für 344 $ korrespondiert, so viel als ich irgend zu leisten vermochte...
Von Rückkehr nach Amerika kann für mich jetzt keine Rede sein. Abgesehen davon, daß bis zum nächsten Jahre jedenfalls wieder Krieg sein wird, daß es also töricht wäre, wenn ich jetzt durch eine Rückreise Zeit und Geld verschwenden wollte, sehe ich auch gar nicht ab, wie ich in den Besitz des erforderlichen Geldes gelangen 
sollte. In meinem Mailänder Brief hatte ich Dir den Vorschlag gemacht, womöglich noch in diesem Jahre herüberzukommen. Ob es tunlich und ratsam ist, mußt Du von dort aus am besten beurteilen können. Jedenfalls würdest Du, wenn es möglich wäre, wohl daran tun, eine Fülle amerikanischer »Stoffe« mitzubringen; damit ist
Ende noch am meisten zu machen. Ich habe die kleine Freude gestern gehabt, im Morgenblatt meine »Altertümer Wisconsins« und »Bilder aus den amerikanischen Seekriegen, die Schlacht auf dem Eriesee« zu sehen. Die letztere nahm allein fünf Spalten ein...
Hier in Zürich würdest Du Dich sehr behaglich finden, indem auf dem hiesigen Museum wenigstens 30 bis 40 Zeitschriften und tausende von Büchern und Broschüren sind, die in Dein »Fach« einschlagen. Weibliche Wesen gehen zwar nie hin nach dem Museum, aber Du würdest diese Unsitte brechen. Zürich strotzt von Blumen,
eine Fülle von Dahlien, Rosen, Astern, Winden, Oleander, Geranien,  Fuchsien etc.  Auch der Blütenbaum, von Dir Senne genannt, ist zahlreich und in allen Farben vorhanden.

Mathilde
an Fritz Anneke   
Sept. 26.-30. 1859

Geliebter Fritz!   
Mein letzter Brief war, glaube ich, vom 20. September. Heute schreiben wir den 26. Jener war so voll von Geschäften, daß es mir notwendig erscheint,  Dir schon bald wieder zu sagen, daß wir gesund sind, viel von Dir sprechen und überhaupt noch anderes zu denken haben als Business-Angelegenheiten. Am Sonntagmorgen - ich gehe jeden Sonntag mit meinen beiden Kinderchen zur Großmutter, speise dort, fahre nachmittags mit ihr ein Stündchen spazieren und kehre gegen vier Uhr zu meiner Maria zurück, die mich dann schon mit Sehnsucht an der Türe erwartet - diesen Sonntag also war ich zu Mahlers zu einer Opernprobe geladen. Es ist nämlich seit einiger Zeit ein, wie Domschke im Atlas behauptet, in Deutschten berühmter Komponist, Herr von Sobolewsky hier, der eine nationale amerikanische Oper geschrieben hat: Mohega, die Blume des Waldes. Der Stoff ist dem Unabhängigkeitskampf entnommen, die Heldin ein indianisches Mädchen Mohega. Der alte Komponist, ein Mann wie ein alter Haudegen, ein Zukunftsmusiker, schrieb den Text selbst und schuf auch die Musik dazu, die jetzt in Gestalt einer Oper am 11. Oktober von unseren hiesigen Kräften und seiner Tochter, einer famosen Sängerin, gegeben wird. Ich muß sagen, daß mich das Werk in Erstaunen versetzt hat. Es ist so etwas ganz Frisches darin, etwas Lebendiges und Wahrheitsvolles, wie ich es stets in den Opern vermißt habe. Die Aufführung wird uns viel Freude machen. Frau Mahler ist die »Blume«. Maria hilft ihr ein charaktervolles Kostüm ausarbeiten, und dabei ist Maria so recht in ihrem Element. Ich sehe sie dann selbst fortwährend als Indiana - den Charakter kann sie nun mal nicht verleugnen. Wenn ich viel zu verschleudern hätte, würde ich von allen Seiten in Anspruch genommen sein, mit tätig zu sein in den schöngeistigen und künstlerischen Bestrebungen. Allein, meine Korrespondenzen, mein Roman, meine Kinderchen, dazu auch Familienrücksichten und tausenderlei Geschäfte und Laufereien gestatten mir kaum, zu meiner eigenen Zerstreuung nur einen Besuch zu machen. Auch leide ich beständig an Kopfweh oder anderen Wehen. Du wirst sagen, klagen ist nun mal meine Sache. Booth und Maria sind mir in jeder Weise sehr behilflich. Überhaupt genießen wir alle sehr viel Liebe von Booths; sie könnten sich nicht denken, daß wir je im Leben getrenn waren. Unser Wurstclub ist wiederum ins Leben getreten, aber als Klub mit aesthetischen Tendenzen ...
Was Booth beginnen wird, weiß ich nicht. Für die größeren Anschaffungen wie Mehl, Holz, Milch usw. lasse ich ihn sorgen. Für das andere (Fleisch, Zucker und kleinere Ausgaben) sorge ich. Nach seinem Prozeß wird er sich wahrscheinlich drücken. In der Partei vermissen sie ihn sehr. Er war der Kopf dieses elenden Körpers in Wisconsin. Nun er sich aus Smartness zurückhält, weiß das stupide Volk nicht, was es tun soll. Er ist ein Feind Randalls. Er hatte es in es Hand, unser eitles Landsmännchen zur Nomination zu verhelfen, aber wir (Maria und ich) ließen ihn nicht nach Madison gehen, und so konnte er seinen Einfluß gegen Randall nicht geltend machen,    Vor der Nomination kamen alle Delegierten vom Lande zu ihm und wollten seinen Rat. Er wollte denselben in Madison selbst geben, kam er aber nicht hin, und die Bande war rat- und taktlos. Denke nur, nachdem sie Randall nominiert, wird ihnen die Geschichte leid, sie senden eine Delegation zu ihm,  die ihn veranlassen soll, die Nomination abzulehnen. Der Sprößling Old Hickorys tut's aber nicht und wird jetzt wahrscheinlich Gouverneur. Daß Schurz nominiert wurde, war mir schon vorher so klar wie Wasser. Sein Exzellenzen-Diplom ist in Wisconsin für alle Zeiten dahin. O Hutten lerne zu warten!
Ist es möglich, daß wir Dich im Frühjahr besuchen können, so tun wir es. Diese Zeit würde für Maria eine recht gute Unterbrechung sein. Quälen darf er sie nicht mehr, er tut's auch nicht, und wenn er es wagt, so schütze ich sie. Ich fürchte mich nicht vor ihm...   
Der Philister Friede Hammacher ist ein Normalkerl. Das Land, das solche Produkte zieht, soll mich nie wieder zur Bewohnerin haben, da bleibe ich lieber im Urwald. Überhaupt fühle ich mich, seit ich ein Herz in diesem Lande gefunden, nicht mehr in der Verbannung. Ich fühle jetzt Heimatluft hier wehen. Unsere Kindchen nach jenseits zu führen, hieße, sie der Fremde zuführen - und o Gott, wie kalt eine Fremde! Das habe ich zehn Jahre lang empfunden. Zehn Jahre, die besten meines Lebens!
Ich sende mit der heutigen Post fünf Zeitungen an Dich. Ich dachte, es würde Dich freuen, Deine Korrespondenzen zu lesen. Gestern Abend hatten wir in unserem hübschen Parlor eine angenehme musikalische Unterhaltung. Frau und Herr Mahler und einige andere waren bei uns. Maria wird von unseren deutschen Freunden sehr geliebt. Wir haben unter ihnen angenehmen Umgang. Maria nimmt an allem Teil, was ihr in dieser Weise geboten wird...
 Lebe wohl, lebe wohl, lieber Fritz. Bleibe gesund und laß Kopf nicht gleich so hängen, wenn's nicht schnurstracks so geht wie Du gedacht und gerechnet hast. Ich küsse und umarme Dich, Deine liebende Mathilde.

Mathilde   
an Fritz Anneke
Milwaukee, 12. November 1859

Lieber Fritz!
Dein Brief vom 17. Oktober samt Einlagen für die Kinder und Maria habe ich an Blums Todestag empfangen. Die 
Kinder waren sehr glücklich mit ihren Bildern und Briefchen...
Es geht uns im ganzen  recht gut. Die drei Kinder leben in geschwisterlicher Einigkeit. Das Bild Irlas scheint unsere Hertha in dunkler Erinnerung fort und fort zu umschweben. Sie erzählt Lili von ihrer Irla, die beim Fritzchen wohnt, und will den Tod gar nicht begreifen lernen. Booth hat den Kleinen einen niedlichen Wagen machen lassen, darin fährt sie oft spazieren. Percy liebt sein Herthachen unaussprechlich. Er selbst spielt täglich zwei oder drei Partien Schach mit Booth, und wenn dieser nicht zu seinen beliebten Winkelzügen greift, so kann er ihn gar nicht mehr bezwingen.Ich schicke ihn wieder den weiten Weg zur Engelmannschen Schule. Zündt hat seine Probezeit nicht durchführen können; er soll wie ich höre, jetzt Mitredakteur beim Atlas geworden sein. Schon recht ein Mann für das Milch und Wasser Blatt. Die republ. Partei verkündete uns gestern ihren Sieg. Ob davon Früchte für den edlen Atlas abfallen werden, ist zweifelhaft, da er eine solch traurige Stellung unter der Aegide Schurz u. a. einnahm und den Hikory Randall so erzürnte. Ich habe in der Freien Zeitung Deine Ansicht über die Know Nothing Schweinerei nicht gelesen. Du hast aber sehr recht, wie kindisch Schurz sich bei der Affaire benommen, das haben die Demokraten sehr richtig bezeichnet. Schurz kommt meiner Meinung nach hier in die Kategorie der traurigsten Politiker. Sein Ehrgeiz zeigt sich in der Tat in der empfindlichsten Weise. Da
feierten wir z. B. diese Woche das Schillerfest. Man hatte ihn vor drei Monaten gefragt, ob er die Festrede halten wolle. Er sagte zu. Das Kommittee hatte zwei Exhibitionen vorbereitet. Nachmittags eine freie, abends eine für zwei Schilling Entree. Schurz kam kurz vor Eröffnung der Nachmittagsfeierlichkeiten von Waterloo an; das Auditorium war nachmittags voraussichtlich kein so brillantes, da es von vornherein für die Mittellosen berechnet war. Das Kommittee hatte die Festrede dem Programm des Nachmittags einverleibt. Schurz erklärte bei seiner Ankunft, er werde nicht nachmittags, sondern nur abends sprechen. Warum nicht? Weil er noch nicht fertig mit seiner Vorbereitung sei. Der Festpräsident Feisel gefiel mir in seiner energischen Erklärung: Wenn Herr Schurz nachmittags nicht spreche, abends werde er nicht sprechen. Herr Schurz bequemte sich, seine Rede abzulesen, nachdem alles vorhergegangen, was aufzufahren war.
Zu mir kam man und bat, ein Gedicht von Schiller vorzutragen. Ich deprezierte. Abends trug ich die »Resignation« vor. Böckl überließ ich das Freiligrathsche Gedicht, welches mir vom Philadelphia Kommittee geschenkt war. Das Gedicht kann durch den Vortrag gewinnen; im ganzen ist es schwach - der Barde sinkt.   
Du wirst auch gesagt haben »horch, die Lawine kommt in Schuß«, nachdem Du von der mutigen Schilderhebung Old Browns gehört. Mehr als alle Eure dortigen Kämpfe ist mir die Schlacht dieser handvoll Mutigen wert. Old Brown, der amerikanische Ziska, und Cook werden gehängt. Den getreuen Gerrit Smith hat man in ein Asylum gesperrt, weil er verrückt sein soll. Der abolitionistische Nordosten erhebt sich nicht. Ich kann eigentlich nicht begreifen, wozu man von Kriegführen noch spricht, wenn in solchem Augenblick Massachusetts nicht rüstet und gen Virginien marschiert...
Du erzählst uns in Deinem Brief von der üppigen Blumenflur der schönen Schweiz, noch Rosenblättchen aus dem lieben Garten am See sendest Du uns, während wir hier schon im tiefen Schnee sitzen und seit zwei Monaten einheizen müssen. Von Booth' Prozeß höre und sehe ich nichts mehr. Ich hoffe, er wird wohl zu den Toten gegangen sein und seine Auferstehung nimmer feiern. Der erste hat dem armen Staat schon Geld genug gekostet, so bis 3-4000 Dollar. Er lebt sehr stille und solide, soweit  ich beurteilen kann. Im Hause macht er niemandem Beschwer. Er ist sehr zufrieden, wenn man ihm etwas Aufmerksamkeit gönnt, mit ihm Schach spielt und guten Kaffee einschenkt. Er ist gegen Maria sehr artig; sie behandeln sich gegenseitig wie Geschwister, die beide großes Interesse fürs persönliehe Wohlergehen hegen. Er verwaltet seine etwas derangierten Verhältnisse jetzt, die sich nach und nach vielleicht wieder restaurieren. Wir leben sehr sparsam. Ich gebe aus wenn und was ich habe, er schafft die größeren Bedürfnisse an und setzt dafür einen übermäßig hohen Preis an, doch meinethalben. Ich habe Marien gesagt, daß es mir gleich sei, was Booth für Rechnungen mache, ich gebe aus, was ich könne und damit Basta. Auf Nachrechnungen ließe ich mich nicht ein. Übrigens führe ich über alles genau Buch - über Deine Berechnungen mit den verschiedenen Blättern - sowie über die kleinlichen Haushaltsangelegenheiten. Im ganzen lebe ich sehr ungeniert. Alles was zu meinem Comfort geschehen kann, wird im Hause gestattet. Unser geistiges Leben ist angenehm angeregt... Gestern abend war in unserer kleinen Soiree Oberst Blenker. Er trat mit Gallo, Ott, Finkler und einigen anderen ein. Scholewskys musizierten sehr schön. Der alte Meister und ich führten aus Hiawatha ein sehr schönes Melodram auf, das allgemein entzückte. Meine Vorlesungen inspirieren den Alten zur augenblicklichen Komposition, die wirklich Zukunftsmusik genannt werden kann. Kennt Fräulein Bertha diesen grauen Zukünftler nicht? Nicht seine Oper Komala und andere von ihm? Der unglückliche Mann, so alt und grau er ist, hat sich in Maria verliebt; ich tröste ihn damit, daß er solch Schicksal mit vielen seines edlen Geschlechtes zu teilen habe.
Blenker ist Miteigentümer der illustrierten Familienblätter Diltheys geworden. Eine gefährliche Konkurrenz für Leslies Illustrierte. Die sogenannte Schillernummer ist ein Prachtexemplar...
Maria läßt Dich grüßen und Dir »ihre Liebe senden«. Deutsch spricht sie jetzt sehr niedlich. Lili spricht es ebenfalls; mit Hertha spricht sie englisch, mit mir nur deutsch ...   
Sei recht vergnügt und erzähle uns von Deinen hübschen Ausflügen. Das freut uns so sehr, als wenn wir sie selbst mit Dir machten
Deine Dich liebende Mathilde.

Mathilde
an Fritz Anneke   
Milwaukee, 16.1.1860

... Mary füllt mir eine große Lücke in meinem Gefühlsleben aus. Allein, Du kennst doch die Schwierigkeiten im Verkehr mit den uns selbst lieb gewordenen Amerikanern. An eine tiefere Unterhaltung, aus der wir Resultate unseres Denkens und Wissens schöpfen können, ist nach gewissen Seiten hin gar nicht zu denken. Die Verschiedenheit des Standpunkts, die der Sprachen selbst noch treten in den Weg. Booth mit seinen notions und  seiner Heuchelei in gewissen Dingen ist mir recht zuwider, daß ich jede Unterhaltung mit ihm darüber abbreche. Maria, ihr Gemüt, ihre Liebe, der ihr angeborene Schönheitssinn, den sie überall in Anwendung bringt, ihre Sorgfalt für mich, entschädigen mich für Vieles. Ich liebe sie immer mehr und mehr...
Du korrespondierst mit Vater, wie ich sehe. Seine Meinungen, die er stets liebt dem stupiden Bruder in Bonn in den Mund zu legen, haben mich recht ergötzt. Hast Du den Leuten noch nicht begreiflich gemacht, daß der amerikanische Bürger nie und nirgends eine »feste Anstellung« haben kann? Herr Gott, wie könnten mich diese alten und jungen Rinkwärter wahnsinnig machen!...
An die Kölnische Zeitung sandte ich vor langer Zeit meine Novelle Pokahontas. Ich wünsche doch auf alle Fälle zu wissen, was die für ein Geschick gehabt hat. Ich bitte Dich, bei der Redaktion deshalb anzufragen...
Der große Unglücksfall, der unsere arme Großmutter betroffen hat! Samstag Nachmittag bei einem Spaziergang in der Masonstraße fällt sie nieder, zerbricht nicht allein den Knochenhals im Oberschenkel, sondern dislogiert auch den Beckenknochen. Sie hat zehn Minuten auf der Straße gelegen. Von niemandem als von Ida und Alma war sie begleitet. Endlich ist sie von einer amerikanischen Familie aufgenommen und mit vier Mann Hilfe in einen Schlitten und nach Hause gebracht worden. Zwei Ärzte wurden geholt... Als ich erst sehr spät am Abend von dem Unglück in Kenntnis gesetzt wurde, holte ich Wolcott, einen der geschicktesten Chirurgen, der dann die Konsultationen leitete und selbst die Verbände angelegt hat. Die Verrenkung ist eingelenkt unter den furchtbarsten Schmerzen. Ob der Bruch heilen wird - im besten Falle, dennoch sie wird nie wieder gehen können...
Ich habe ein Appointment von der Tagessatzung der Turner als Rednerin für den Kreis Wisconsin erhalten. Es ist freilich zu viel Ehre, die mir da widerfahren, aber ich will dennoch annehmen, da kleine angenehme Reisen und etwas Einkommen damit verbunden sind. Ich soll namentlich über Frauenrechte sprechen...
Großmutter war drei Tage und Nächte bei uns. Die arme Großmutter, sie kann nicht von der Stelle kommen. Das Unglück hat sie um ihre letzte Lebensfreude gebracht. Wir hatten ihr in dem kleinen Parlour ein Bettchen zurechtgemacht, das gefiel ihr. Maria tat alles, was möglich war, sie zu erheitern. Maria spricht solch allerliebstes Deutsch mit ihr...
Wenn Du noch eine Möglichkeit siehst für mich, mit den Kindern übers Weltmeer zu kommen, so nimm sie nur. Geld habe ich keines und weiß auch keines zu bekommen. Du weißt, wieviel wir hier Leuten noch schulden. Zum Leben habe ich fast nichts mehr. Mein schreckliches Leberleiden hat mich wieder abgehalten, ich bin ganz gelb und es ist Zeit, daß mein Brief abgeht. Du hast mich krank verlassen und wirst mich wohl nie gesund wiederfinden.
Mein Sterben würde vielleicht ein Glück für Euch alle sein. Und doch, Deine Kriegslust, wenn die Dich wieder von den Kindern zöge. Ich glaubte nach Deinem letzten Brief zu schließen, Du wärest schon auf dem Wege zu uns zurück. Aber nun Du wieder den Krieg siehst - Niemand da draußen weiß, was über uns gekommen ist. Niemand, daß die Liebe sich von uns gewandt, daß Du uns nicht allein zurücklassen konntest, wenn Du mich geliebt hättest. Du gingst ohne ein Wort zu sagen, daß wir Dir folgen sollten. Du gingst und sagtest nur im letzten Augenblick, daß wir uns wiedersehen würden...
Booth' Haft währt fort. Das ist ein Irrtum von Dir, wenn Du glaubst, die Geldstrafe sei gezahlt. Er hat das meines Wissens auch niemals gesagt. Das ganze Londoner Projekt ist natürlich fürs erste gescheitert. Wenn er wieder frei ist, dann wird er vor der Präsidenten Campaign sein Vaterland nicht verlassen. Ich würde das an seiner Stelle auch nicht tun. Ob er überhaupt vorher frei wird, ist auch noch die Frage.
Maria hat immer noch die Idee, daß Booth, vorausgesetzt, daß Prozeß niedergeschlagen werden kann, aus dem Kerker seiner politischen Haft entfliehen und nach England gehen soll, um Vorträge über Sklaverei zu halten und Korrespondenzen zu liefern. Aber ich sehe nicht ein, wie wir dadurch das Geld zur Überfahrt bekommen wollen. Wieviel hätten wir nötig mit den Kindern? Marias Vermögen ist erst in zehn Jahren einen jährlichen Ertrag von etwa 5000 wert. Das Building, das jetzt wieder ihr gehört, ist so lange belastet. Von ihrem Lande kann sie jetzt auch nichts für einen Cent verkaufen. Das Wohnhaus werden sie nicht behalten können. Maria läßt jedoch die Idee nicht fallen, im September zu übersiedeln, und zwar zu Dir nach der Schweiz hin, während Booth in England bleiben könnte. Ich sehe nicht ab, wie aus all diesem Wirrwarr einen Weg herauszufinden.
Percy ist eben wieder angekommen. Auch von Dir zur gleichen Zeit ein lieber Brief. Das zusammen macht mich ein wenig fröhlicher. Percy sieht gut aus. Er hat viel Freude gehabt, ist mit Kühen und Pferden umgegangen. Ich habe zu einem andern Arzt, einem alten renommierten amerikanischen Doktor meine Zuflucht nehmen müssen. Ob der mich kurieren wird? Meine anderen Ärzte habe ich noch immer nicht bezahlt. Und so habe ich gerne Marias Vorschlag angenommen, mir diesen kommen  zu lassen. Wisconsins Klima trüge eine große Schuld an meinem Leiden, behauptet er. Dein Briefchen mit den schönen blauen Veilchen wird mich wieder viel gesünder machen.
Vor 14 Tagen habe ich eine arme Familie vom Hungertod errettet. Zündts litten wirklich Hunger. Ich habe schnell auf meine eigene Gefahr in der Turnhalle eine musikalisch-dramatische Vorstellung arrangiert, machte Knell und mich selbst zum Aktionskommittee und erlangte fünfzig Dollar Reinertrag. Ich tat nichts als die Sache einleiten und arrangieren. Beinahe bin ich nun selbst auf demselben Standpunkt angekommen. Percy läßt Dir sagen, daß man ihm nicht erlaubt habe, mit Booth im Kerker Schach zu spielen.

Mathilde
an Fritz Anneke   
Milwaukee, 30. Jänner 1860

Lieber Fritz!
Morgen ist Dein Geburtstag. Ich will schon heute anfangen, ihn zu feiern, und zwar mit Kuchen und dem Schreiben eines Briefes an Dich. Seit gestern habe ich zu meiner großen Beruhigung Nachricht von Kapp erhalten, nach welcher Du jetzt längst im Besitz nötiger Geldmittel sein mußt. Er sandte am 13. Dezember $ 70 und am 14. Januar $ 60 vom Journal of Commerce. Nun wirst Du Dich wohl zum Geburtstag selbst beschenken und zwar mit warmen Ober- und Unterkleidern. Uns ist es leider nicht vergönnt, Dir kleine Freuden zu bereiten, wir müssen uns auf unsere Erinnerungen beschränken. Großmutter, die arme gute Großmutter, liegt auf ihrem Streckbettchen. Sie ist fortwährend in der Behandlung von Hopfe und Wolcott. Ob sie je wieder gehen lernt, ist zu bezweifeln. Aber sie ist gefaßt, selbst heiter, soweit es ihr Zustand zuläßt. Sie läßt Dich auch herzlich grüßen und nochmals danken für das schöne Andenken. Booth wird ihr von der Stadt eine Entschädigung von vier- bis fünfhundert Dollar vermitteln. Er so wie andere sind überzeugt, daß man ihr solche nicht vorenthalten kann. Da hätte sie doch ein wenig Trost. Nur Johanna scheint die eigene Ehre dadurch gekränkt zu halten, ein so allgemeines Verfahren einzuleiten. Schreib nächstens selbst einmal einige Worte an Mutter. Sie ist wie ein Kind erfreut über jede kleinste Aufmerksamkeit, die ihr zuteil wird. Maria und ich besuchen sie täglich. Maria macht ihr bisweilen so viel schnurriges Zeug vor, daß sie lachen muß. Sie kann sich hübsch mit Großmutter verständigen in ihrem Deutsch.  Im ganzen ist unser Leben sehr einförmig. Die Menschen hier in Milwaukie sind ziemlich aufgeblasen, und Maria und ich ziehen es vor, so wenig wie möglich mit ihnen zu verkehren.
Booth schwärmt für seine Idee: das Korrespondenzbüro in London. Er baut natürlich auf Deine Beteiligung. Du wirst natürlich Dein Engagement beim Journal in keinem einzigen Fall als Dein alleiniger aufgeben. Es ist Dir immer mehr sicher. Deine Briefe im Free Democrat finden so allgemeinen Beifall, daß ich Freude daran habe.  Mrs. Jennings, eine sehr gebildete Amerikanerin, die uns gestern besuchte, richtete gleich bei Ihrem Eintreten die Frage an mich: Ist das Ihr Gatte, der die interessanten Briefe aus Zürich für den Free Democrat schreibt? Die Farmer im Lande haben solche Freude daran, daß sie kommen und Butter u. dgl. anbieten und nach dem Korrespondenten und den Korrespondenzen fragen... Was hältst Du von Booth' Unternehmen? Greeley hat ihn so dafür enthusiasmiert, daß er mit einer Energie auf sein Ziel lossteuern wird. Du glaubst nicht, wie der Mensch alles anpackt, was er beginnt. Wenn Du Dich mit ihm einläßt, mußt Du die Geldangelegenheiten alle mitüberwachen. Er kann nobel und selbst generös sein, aber er benutzt auch alles, was möglich ist, um sich zu bereichern. Ich zeige ihm, wenn und wo es nötig ist, überall mein Mißfallen, meine Verachtung. Er nimmt es hin und bemüht sich anders, besser zu erscheinen.

Mathilde   
an Fritz Anneke   
Milwaukee, am 31. März 1860

Mein lieber Fritz!
Es ist heute der letzte März. Die ersten Frühlingslüftchen und einige recht warme Sonnenstrahlen beeilen sich, uns annehmen zu machen, daß der Winter vorüber ist. Die letzte Woche mahnte er noch ernstlich an sein Dasein...
Booth sitzt immer noch in einer schmachwürdigen Gefangenschaft. Er darf seit acht Tagen keinen Menschen mehr sehen. Mary und ich haben nur bei verriegelter Tür zur Schadenfreude seiner Wächter, gesprochen. Alle Schriften sind ihm entzogen, kein    Buch, selbst die Bibel, kein Papier, keine Tinte, nichts ist ihm erlaubt. Vor seinem Fenster sind eiserne Gitter angebracht, und die eisernen Fesseln sind ebenfalls geschmiedet, mit denen er auf das Vereinigte Staatenschiff »Erie« gebracht werden soll. Kein englisches Blatt, kein Atlas nimmt sich des Gefangenen an. Die Elenden können das bißchen persönlichen Haß nicht abstreichen oder sind froh, seiner entledigt zu sein. New York Independent nur läßt über ihn erscheinen, was es eben über ihn erfahren kann. Free Democrat brachte vor acht Tagen seine »Stimme aus der Bastei«, die Maria und ich geschmuggelt hatten. Ein derbes Wort an das Volk von Wisconsin, das den Beschützer des Sklavenfanggesetzes auf seinen höchsten Richterstuhl gesetzt hat. Nach dieser Veröffentlichung trat die äußerst brutale Behandlung ein. Das Wort »Staatsrechte« vor einem Jahr bei der Wahl auf alle Fahnen geschrieben, ist heute »not the question«. Mr. Schurz, der honorable, macht in fashionabler Politik, läßt sich antoasten und bewundern, seinen geistreichen Sarkasmus belächeln und unterstützt die herrschende Opinion von dem fugitive slave law...
Man wollte heute einen Befreiungsversuch unternehmen, allein Booth' eigener Wunsch, der letzte Nacht auf sehr geheime Weise in unser Privatmeeting gelangt ist, geht dahin, bis Donnerstag die Attacke aufzuschieben. Es ist hier in dem Loch doch zu viel Gemeiner Plebs aber sind fast alle die deutschen Kreaturen ohne Ausnahme. Da findet man nichts mehr von Gesinnung, Freiheitsbewußtsein oder auch nur Rechtsbewußtsein. Die Stadtwahlen sind vor der Tür. Die Kandidaten werfen mit Tausendern um sich, das Volk säuft um die Wette den Herren Besten (deutsche Bierbrauer, d. Verf.) die Keller leer. Das ist eine Wirtschaft, die weder anzusehen noch anzuhören ist. Dann diese Schimpfereien, diese systematischen Schlechtmachereien in den Lumpenblättern! Oh, Gott, ich wollte, ich wäre in der Schweiz...
Booth sitzt in einem scheußlichen Gefängnis. Seit vier Tagen ist ihm jeder Strahl Tageslicht entzogen. Erst seit gestern wird ihm die Gasflamme angezündet. Kein Mensch kann zu ihm gelangen. Die Straßen werden mit bewaffneten Bütteln belagert. Die öffentliche Stimme scheint jetzt lauter zu werden. Schurz aber schweigt zu allen Greueln wie das Grab. Booth wird noch eine Zeitlang in seinem von schlechter Luft verpesteten Gefängnis schmachten. Schurz, den ich gestern auf der Straße traf, der sich entschuldigte, Großmutter noch nicht einmal besucht zu haben, warf ich voll Hohn entgegen, daß solch ein fashionabler Politiker ja wirklich keine Zeit habe. Ich wollte ihm mehr sagen, aber er nahm Reißaus. Er sieht zu und wiegelt die Herren Staatsrechtler an. Booth wird körperlich sicher herunterkommen. Seine Gesundheit war ohnehin schwach geworden, und jetzt diese Mißhandlungen. Maria tut unter Aufopferung alles, was sie tun kann. Wie oft wünschen wir Dich her. Ich glaube, Du verließest am Ende den legalen Boden und holtest ihn heraus. Es bedürfte nur eines solchen energischen Winkes. Wir haben schlimme Zeiten durchzuleben ...

Mary Booth
an Fritz Anneke   
9. April 1860

Lieber Fritz!
Am Sonntag war mein Geburtstag, und das Röschen, das Du mir letztes Jahr gabst, war voll neuer Blätter. Ich nehme an, es war Dein Einfluß, der es gerade zur rechten Zeit grünen ließ. So nahm ich es neuerlich als ein Geburtstagsgeschenk von Dir an.
Ich bekam wunderbare Dinge von Franziska Maria.[14] Zunächst einen neuen Reifrock, der in all seiner Glorie vom Kronleuchter im Parlor schwebte. Dann eine wunderbare Torte, mit »Meiner lieben Maria« darauf, und Blumen und vieles mehr.
Wir kommen im September zu Dir, wenn nichts Unvorhergesehenes eintritt und wir genug Geld haben. Wir müssen es möglich machen, denn Franziska Maria jammert ständig nach Dir. Mir ist nicht gut - mehr kann ich nicht schreiben. Dein Englisch wird von Brief zu Brief besser.
Herzlichst, Deine Maria

Mary Booth       
an Fritz Anneke   
14. Mai 1860

Lieber Fritz!
Wir machen uns zur Abreise fertig, so schnell wir nur können. Es ist unwahrscheinlich, daß Mr. Booth bald loskommt, zumindest scheint dies gegenwärtig so. Kann ich einen Schaukelstuhl und dergleichen nach der Schweiz bringen? Wenn nicht, so vergehe ich. Es wird Dich vielleicht auch interessieren zu hören, daß wir alle sehr guten Appetit haben und sehr gesund sind. Franziska Marias Pillchen haben ihr sehr gut getan. Alles ist jetzt grün und wunderschön. Dein  Röschen steht vor mir mit sechs vollen Blüten. Der US Marschall hat tödliche Angst vor Franziska Maria. Er läßt drei Männer die Tür hüten, wenn sie Mr. Booth besucht. Er sagt, sie habe den Teufel in sich und würde alles tun, was sie kann - z. B. mit Mr. Booth die Kleider wechseln und ihn so entkommen lassen usw. Ich hoffe Dich bald zu sehen. Wie immer, Deine Maria

Fritz Anneke
an Mathilde
Zürich, den 1. Mai 1860  

Meine liebe Mathilde!
...Was  beginnen,  um wieder zusammenzukommen?  In dem Punkt bin ich einige Tage völlig ratlos gewesen. Es drängt mich, zunächst sofort wieder aufzupacken, zu Euch hinzueilen, sobald ich das Reisegeld beisammen haben würde Aber Dein Wunsch, hierher zu kommen, ist immer lebhafter geworden, und Du sprichst ihn jetzte so bestimmt aus, daß er mir unbedingt als maßgebend gilt. Bedenke ich dabei, wie sich die Verhältnisse drüben nach Deinen Schilderungen und nach dem, was ich in den Zeitungen sehe, immer erbärmlicher gestalten, so gewinne ich die Überzeugung, daß wir beide unter solchen Verhältnissen nie wirkliche Befriedigung finden können, und daß es mir außerordentlich schwer wenn, nicht unmöglich sein würde, dort wieder zu einem Erwerb zu gelangen. Mit einer so verkommenen Partei, wie die Republikanische, einen großen ihrer deutschen Mitglieder eingeschlossen, könnte ich nicht mehr Hand in Hand gehen. Für sie zu arbeiten, wäre mir unmöglich. Und mit einer so schoflen Presse wie Atlas Anzeiger des Westens und Konsorten in Verbindung zu treten, würde ich niemals mehr mich gewinnen können. Mit dem sozialen Milwaukee konnte ich mich schon früher nicht befreunden  Nach Deinen jetzigen Mitteilungen wäre es mir vollends unmöglich. Du zerfällst auch im mehr und mehr mit der prätendierten Metropole des amerikanischen Deutschtums. Wollen wir unseren  Kindern eine gute Erziehung geben, so kann es nur in Europa geschehen, namentlich hier, wo alle Anstalten bis zu den höchsten vereinigt sind...
Mein Plan ist nun, da ich auf das London Projekt gar nicht mehr rechnen kann, dieser: Ich suche so viel als möglich literarische Verbindungen in Deutschland anzuknüpfen, um uns einen ausreichenden Erwerb zu sichern, und gebe dagegen von meinen amerikanischen Korrespondenzen, die mich immer mehr anwidern, das auf, was nicht wert ist. Wahrscheinlich wird dies Michigan Journal, freie Zeitung, und Kriminal-Zeitung sein. Ich habe an alle diese Blätter geschrieben, ich müsse mich nach den bösen Erfahrungen, die ich mit der deutsch-amerikanischen Presse gemacht, auf eine andere Beschäftigung werfen und mit dem größten Teil jener Presse abbrechen. Ich ersuche sie deshalb, zunächst augenblicklich an Dich zu senden, was sie schuldig seien, vorerst was sie können, dann aber bestimmt mitzuteilen, ob sie eine Fortsetzung der Korrespondenz wünschen und dafür $ 3 per Brief pünktlich zu zahlen willens und im Stande seien. Antworten sie binnen sechs Wochen nicht, so nehme ich das als Verneinung meiner Frage an und breche die Korrespondenz ab. Kann ich irgend eine lohnende »feste Beschäftigung« finden, so nehme ich die auch an.
Euer  Hierherkommen   bleibt  der  schwierigste  Punkt. Mary schreibt schon zum zweiten oder dritten Mal mit positiver Bestimmtheit, we shall come in September. Worauf sie das basiert, weiß ich nicht, kann sie Land verkaufen? Fort mit Schaden! Wo sonst das Reisegeld herkommen soll, vermag ich in diesem Augenblick nicht abzusehen. Ich zweifle aber nicht, daß sich Rat finden wird, und werde alles zu diesem Zweck aufbieten... Alles, was ich erübrigen kann, werde ich Dir sofort anweisen, weil ich dessen nicht bedarf, nachdem ich jetzt den Plan der Rückreise nach den Vereinigten Staaten definitiv aufgegeben habe. Aber wie lange wird es jetzt noch dauern, bis Du wieder bei mir sein wirst?? Ich zähle die Stunden, Tage, die Wochen...
Booth' Brief an das Volk von Wisconsin, den ich im New Yorker Democrat gelesen habe, ist sehr gut - der Wisconsiner Pöbel erbärmlich. Das ganze Gesindel vom ersten bis zum letzten ist keinen Schuß Pulver wert. Wie die den Vorkämpfer gegen die Sklavenbestialität so schmählich im Stich gelassen, die noch im vorigen Jahre in
achtspaltenlangen Reden den Booth Prozeß so kräftig für die Wahl auszubeuten wußten. Jetzt aber, da ihnen eine Antiparole von Leithammeln in Washington, von dem abgeblitzten Herrn Seward und Konsorten gegeben worden ist, nicht einmal das Maul auftun, sondern sich kuschen wie die gehorsamen Pudel, denen ein Prinzip nichts anders ist, als ein Gebet für die Wahl, für die Förderung ihres persönlichen Vorteils, den sie beiseite werfen, wenn er nicht mehr wirkt, wie sie sich in den glühendsten und blühendsten Phrasen ergehen, an deren Verwirklichung sie niemals denken, Leu Schurz, Domschke und Konsorten. Und doch, diese schmähliche tyrannische Behandlung des Gefangenen auf dem Boden des »freien« Staates Wisconsin! Da sind wirklich die heutigen preußischen Zustände erträglicher. Preß- und Redefreiheit ist dort ziemlich wieder hergestellt, Polizei-Spionage abgeschafft und das Rechtsgefühl erhebt sich täglich mehr im ganzen Volke...
Die kriegerischen Aussichten in der Schweiz sind einstweilen wieder vorübergezogen, weil die Behörden, wenn auch nicht gerade nachgegeben, leider ihre Energien verloren haben. Aufgeschoben ist aber nicht aufgehoben. Früher oder später wird es doch zum Krieg kommen mit dem Banditen in Paris, und die Schweizer werden ihm noch ihre überlegenen Fäuste zu kosten geben.
In vier Wochen wird es schon ein Jahr, daß ich von Euch fort bin und wie lange wird es noch dauern, bis wir wieder beisammen sein werden? Brächte ich zusammen, was ich vom Journal of Commerce zu fordern habe, so könnte ich am Jahrestag meiner Abreise wieder bei Euch sein. Aber ich muß darauf verzichten, wenn wir unsere  übereinstimmende Absicht, uns auf europäischem Boden niederzulassen, ausführen wollen und baue auf ein besseres Glück in den nächsten Monaten. Dieser Entschluß ist für mich ein harter gewesen, liebe Mathilde,  aber ich bin überzeugt, Du wirst ihn billigen...
Deine hiesigen Freunde grüßen Dich und wünschen alle, mögest recht bald hier sein. Mit herzlicher Liebe, Dein Fritz.

Mathilde 
an Fritz Anneke   
Milwaukee, 14. Mai 1860

Lieber Fritz!
Wir sind fortwährend mit den Vorbereitungen zu unserer Abreise beschäftigt. Sobald wir von Dir Antwort empfangen und einigermaßen unsere Mittel zusammengebracht haben, brechen wir auf...
Sag ausführlich, was wir mitbringen sollen. Bettwerk (das ist nicht mehr viel wert) versteht sich von selbst. Teppich, Gardinen, soviel wenigstens, um unseren täglichen Aufenthalt komfortabel einzurichten. Silber, ferner Bücher - welche von den unseren, welche von Mariens Bibliothek? Ich kann nicht denken, daß wir länger denn zwei Jahre fort von unserer zweiten Heimat bleiben. Eine Haushaltung werden wir natürlich nicht einrichten können. Wo Du uns aber eigentlich aufnehmen willst, das kann ich noch nicht recht absehen. Im »Tiefen Brunnen«, unserm alten Exil, mit all den lieblichen und schmerzlichen Erinnerungen an Fritzchen, möchte ich wohl am liebsten wohnen, wenn wir ein recht schönes Zimmer dort haben könnten, in welchem Maria sich wohl befände. Die einzigste, die mir die Verbannung zur Heimat gemacht, möchte ich mit allem Schönen meiner verlorenen Heimat dafür wieder segnen. Sie ist heute unwohl und sehr traurig. Ich empfehle ihr Castoröl, aber mitten in ihren Tränen sagt sie: »I had never known that castor oil is good for a broken heart.« (Ich habe nie gewußt, daß Rizinusöl gut ist für ein gebrochenes Herz.)...
Wenn  ich  an den Abschied von Großmutter  denke!... Sie schleicht nun auf zwei Krücken dahin. Heute nachmittag nehme ich ein Buggy und fahre sie aus. Herthachen fährt mit. Wenn das kleine Ding auf dem Fluß ein großes Schiff sieht, so sagt sie, in solch einem Schiff ist mein Papa nach Italien gereist. Wirst Du das kleine idependente Ding noch erkennen? Wirst Du Dich recht freuen, die Kinder wieder zu haben? Sag mir's. Die armen Tierchen haben sich lange vergebens nach Dir gesehnt. Ich hoffe, wenn wir alle die großen Sorgen und Gefahren überstanden haben, wirst Du und wir alle recht glücklich sein.
Augenblicklich tagt in Chicago die republikanische Konvention. Seward wird wohl nominiert und wahrscheinlich Präsident werden. Ob Douglas der Gegner wird? Ich glaube nicht. Die Demokraten tagen in der anderen Woche in Baltimore...
Da donnern die Kanonensalven, sie künden wahrscheinlich die Nomination des künftigen Präsidenten. Sie wiederholen sich Krach auf Krach... Gestern um diese Zeit fand die erste Abstimmung statt. Das donnert gewaltig. Die Extras werden gleich fliegen. Die Kunde der Erwählung werden wir drüben erfahren müssen. Dieser Feldzug wird mir die tiefste Trauer in der Erinnerung unseres lieben Fritz hervorrufen. Denkst Du noch bisweilen an seine Begeisterung rur Freemont? An das Aufschießen seiner politischen Embleme und am Ende sein Disappointment? Der kleine liebenswürdige Fahnen-Junker!
Lincoln von Illinois nominiert. Meine Antipathie für Seward hat ihre Satisfaktion. Ich glaube, ich hätte lieber für Douglas als für Seward mich begeistert. Ein Schnippchen all den fashionablen Politikern, diesen regulären Parteiklappern mit Carl Schurz an der Spitze. Lincoln wird Präsident. Die Illinois Staatszeitung wird Trauer anlegen, aber doch nur gute Miene zum bösen Spiel machen müssen. Die glaubten Seward so fest im Sack zu haben. Seit dieser Seward so diplomatisch  über den alten Brown  sich ausließ, habe ich den modernen Griechen gehaßt...

Fritz Anneke
an Mary Booth   
am 24.6.1860

Liebe gute Mary,   
Du bist eine sehr willensstarke, tapfere Frau. »Das Geld muß kommen, weil es muß.« Das ist ein sehr zutreffendes Motto für den Anfang. Wenn diese lästigen Leute mir endlich für meine Korrespondenzen zahlen würden, wäre genügend Geld in Euren Händen, die Reisekosten von Milwaukee nach Zürich zu decken. Ich werde Dich das entzückendste und süßeste Mädchen nennen, das jemals auf Erden existierte, wenn Du Dich, Franziska Maria und die Kinder an die Küste des alten Europa bringen wirst...
Um eines brauchst Du Dich bei Deinen Vorbereitungen nich zu bemühen, Reifröcke und Krinolinen. Sie sind hier aus der Mode. Jene weiblichen Wesen, die aus ihrem Unterteil Ballons machen wollen, verwenden gesteifte Unterwäsche, Unterröcke und dergleichen statt Krinolinen. Aber die große Mehrzahl hat sich wieder einer natürlichen Bekleidung zugewandt. Sogar diese schrecklichen Ärmel, die ich Saucen-Taucher genannt habe, weichen jetzt schmalen Ärmeln. Was Deine Dutch-Bewunderer betrifft, so bitte ich Dich, sie alle über Bord zu werfen, mit Ausnahme des einen, der Dir diese Zeilen schreibt. Willst Du mir diesen Gefallen tun?
Ich brauche Dir nicht zu sagen, daß ich die Stunden zähle, bis Du kommst, und ich vergehe, um Franziska Maria und Dich und küssen zu können.

Fritz Anneke
an Mathilde
Zürich am 25. Juni 1860

Meine liebe Mathilde!
Besonderes mitzuteilen habe ich Dir eigentlich nicht, als daß ich die Zeit nicht erwarten kann, wo ich Euch in Havre oder in Basel empfangen werde. Seit vorgestern hat hier endlich die schöne Jahreszeit allen Ernstes begonnen. Es wäre doch schön und gut, wenn Ihr davon noch möglichst viel profitieren könntet...
Daß Ihr Booth im Loch sitzen lassen müßt, ist sehr fatal. Aber was ist da zu machen? Durchbrennen, wie Du ganz richtig sagst, ist für ihn das einzige Mittel, wenn alles ihn im Stich läßt, wenn von Habeas Corpus, von Begnadigung, von Zahlen der Strafsumme keine Rede ist. Ich habe ihm schon früher geraten, auf jede Weise zu sehen, daß er seine Freiheit wieder erlangt. Empfiehl ihm das doch noch einmal dringend. Durch Entfernung seines Bartes kann er sich ganz unkenntlich machen und glücklich aus den Vereinigten Staaten fortkommen. Wird die Sache ordentlich in den New Yorker Zeitungen ausposaunt, so wird ihm in England usw. eine sehr gute Aufnahme werden und er kann mit Vorlesungen und Artikelschreiben für Londoner Blätter über amerikanische Verhältnisse money machen.
Wirst Du, wie Schelmchen Mary sagt, im siebten Himmel sein, wenn Du hier bist, meine liebe Mathilde? Sei herzlich geküßt und küß die Kinder. Grüß auch Großmama und alle die andern. Dein Fritz

Mathilde
an Fritz Anneke   
Milwaukee, 4. Juli 1860

Ich will den Unabhängigkeitstag mit Schreiben an Dich feiern. Unsere Koffer stehen gepackt, der Paß für Maria ist da. Der meinige kann nicht eher angefertigt werden, bis ich meine Naturalisationspapiere herbeigeschafft habe. Das kann morgen geschehen. Senator Dunker besorgt unsere Geschäfte in Washington. Auf den 20. dieses Monats haben wir die Abreise festgesetzt. Ob wirklich so viel Geld vorhanden sein wird, um das Wagnis antreten zu können, kann ich Dir noch nicht bestimmt sagen. Das erste, was wir von verschiedenen Seiten erwarteten, war Geld, das zweite die Befreiung Booth'.
Seit 14 Tagen hatten Mary und ich die Konspiration geleitet. Der Stadtgeologe Daniels, ein Mann der in Kansas gefochten und der in Ripon (150 Meilen von hier) wohnt, übernahm die Ausführung. Der Streich sollte gestern morgen fünf Uhr geführt werden. Die Arrangements konnten hier besser getroffen werden. Am 2. Juli benachrichtigten wir unsere entfernter wohnenden Mitverschworenen (Farmer, echte alte Republikaner aus den alten New England Staaten, die wirklich tiefen Schmerz darüber empfanden, die Schmach tragen zu müssen, die Freiheit in ihrer Mitte gefesselt zu sehen an dem Tage ihrer Unabhängigkeit). Percy und ich fuhren noch am späten Abend mit einem hurtigen Pferde 13 Meilen weit, um die Männer zu benachrichtigen. Daniels traf nachmittags ein. Waffen und Munition waren bereit, die Nacht gebrauchten wir zum Laden. Um vier Uhr trafen die Verschworenen ein, um 5 Uhr, kurz nachdem die Post Office aufschließen, sollten acht Mann mit Revolver bewaffnet, mit Stricken versehen, kräftige, energische Leute, die Stufen hinaufgehen, sich der Wache bemächtigen, während Daniels mit dem Dir bekannten Schlüssel die Türe aufschließen und den Gefangenen herausführen sollte. Zwei Mann fehlten von diesen acht. Ich hatte diejenigen, für die ich verbürgte, zur Stelle geschafft. Unsere Reserven waren vorbereitet und eine Anzahl von 25 in einiger Entfernung. Daniels Leute, auf die er alles gebaut, blieben aus. Nur einer, ein Student, der in Kansas an Browns Seite wie ein Löwe gefochten hatte, traf fünf Stunden später ein. Seine Order lautete auf den 4. statt auf den 3. Ob dies Daniels Schuld, ich habe weiter nicht gefragt. Unser Haus war das Hauptquartier des engeren Ausschusses. Die Stunde war da, alles fertig, nur nicht die Zahl vollständig, die den ersten Griff zu wagen übernommen hatte. Wir entließen die Anwesenden, aber in der festen Voraussetzung, der Angriff werde gemacht. Verfehlte Hoffnung. Sie kamen zurück mit dem Bemerken, aufgeschoben bis 10 oder 12 Uhr; die weniger zuverlässigen Reservisten konnten nur zu bald das Geheimnis brechen. Der Aufschub - ob es Feigheit des Führers oder einiger Verschworener, das kann ich zu diesem Augenblick noch nicht erfahren, war zu lange. Booth gab Zeichen von seinem Fenster aus, die empfahlen, nicht vor 12 Uhr anzugreifen. Daniels war krank  geworden,  nicht etwa simuliert, wirklich krank - die Hitze ist schrecklich. Sein Freund, der Student, ein echter Revolutionär, der steht bis er fällt, kam an. Daniels sollte ihm die Führung übergeben haben. Er tat es nicht. Um 12 Uhr war wiederum alles vorbereitet. Unser Reservechor war auf 50 angewachsen, die sich teilweise in und um das Post Office aufhielten. Da mit einem Male entfalteten die Wachen ihre Kräfte und - es war Feigheit, behaupte ich - schon auf der ersten Stufe zieht Daniel der erste, zieht er sich vor den bewaffneten Wachen zurück. Es ist eine alte Geschichte - Bis an die Zähne stecken sie jetzt wieder im Eisen. Wie eine Feste ist das Post Building armiert. Zu nehmen ist es natürlich nicht. Nur durch eine Überrumpelung ist Booth herauszubringen. Und die ist fürs erste Mal wieder unmöglich geworden. Heute lassen wir Plakate anschlagen: »Free men to the custom house, at 2 o'clock to prove our Day of Independence a reality. Booth will address the people from his prison window.«
Sein Fenster geht auf eine Allee hinaus. Daniel ist krank abgereist. La Grange, das ist der Kansas Fighter, bleibt, geht vielleicht die Nacht, aber kommt wieder. Um zwei Uhr war eine Masse Menschen da. Booth hatte seine Rede aufgeschrieben, und wir haben sie um 12 Uhr herausgeschmuggelt. Als Booth zum Fenster kommt, kommen seine Wachen drei Mann hoch auch. Booth kann nicht sprechen, sein Fenster war geschlossen, die eisernen Blenden vorgelegt. La Grange springt aufs Dach eines gegenüberliegenden Schuppen und liest nach einer revolutionären Introduktion Booth' Rede. Das ist nun eben geschehen. Einige Brave in der Menge waren bereit, die Schmach an ihrer Freiheit augenblicklich zu rächen. Aber sie wären verloren gewesen, wenn sie wirklich einen Versuch gemacht hätten. Wir hatten uns vorgenommen, lieber Fritz, ehe wir abreisen, alles zu versuchen, Booth' Freiheit zu erlangen. Ich hatte es für eine Leichtigkeitkeit gehalten und wahrhaftig, wenn ich hätte Führer der Leute sein dürfen, er wäre jetzt frei, so wahr ich lebe. In diesem Augenblick sind wir ratlos.
Schurz ist ein smarter Politiker geworden. Du hast ganz recht, daß er von seinen obersten Kommandos Befehl bekommen. Es ist sicher, daß Seward die Parole gab,  »Staatsrecht fallen lassen«. Die rot verschrienen Pains, der elende Herr Domschke, pfeifen alle aus einem Horn. Das Heer der Abolitionisten, die einzig Getreuen, ist klein. Reiß zog ich am Morgen des 3. Juli in die Konspiration. Er war mit einigen Anhängern stets auf dem Platz, und bewährte sich sehr zuverlässig. Wilhelm Steinmeier, den ich rekrutierte, ohne daß sein Vater oder seine Mutter davon wußten, war mit auf dem Platz, war morgens 4 Uhr auf der Stelle; wir gebrauchten ihn als
fliegenden Boten. Im Notfalle hätte ich ihm den Platz als Pistolenlader angewiesen. Der Junge zeigte sich prächtig. Ich muß ihn Dir loben...
Dein Reiseplan ist so ausführlich, daß wir ihn gleich, ohne die geringste Änderung antreten können, wenn wir das Geld bereit hätten. Es ist dann immer noch schlimm genug, Booth im Kerker zurückzulassen. Aber er selbst und die Leute müssen sich am Ende darüber hinwegsetzen. Er tut eigentlich nichts für seine Familie. Ich  glaube, er denkt nicht daran, ob und wie sie durchkommt. Nur wenn er Sympathie erregen will, spricht er von ihr und daß sie nichts zum Leben haben. Wahrlich, Maria ist ein sehr unglückliches Weib...
Wegen unseres Haushalts bin ich wirklich in Zweifel. Muß ich die Sorge für den tragen, so ist meine literarische Wirksamkeit nicht viel zu verwerten. Habe ich, wie sonst, zwei-, dreimal am Tage an sechs hungrige Mägen zu denken, so bleibt nicht viel Zeit übrig. Dazu sind wir so anspruchslos, so republikanisch einfach, amerikanisch sparsam geworden, daß Du kaum mit uns in diesen Tugenden zu konkurrieren verlangen wirst...
Sobald wir im Besitz des Notwendigen sind, ziehen wir ab. Auf  die Ermäßigung des Preises für die Fahrt hoffen wir, auf freie - ich glaube nicht. Wenn etwas mehr Ehrenhaftigkeit in der republikanischen Partei wäre, wahrlich, Maria müßte mit Glanz absegeln können. Aber das verhängnisvolle »help yourself« erstreckt sich auf jeden im amerikanischen Volk. Nur Booth scheint eine Ausnahme. Er liebt es sehr, zu lamentieren und Gelegenheiten zu benutzen, auf jede Art money zu machen... Ich gehe ein bis zwei Tage nach Newark, dem trostlosen Newark...
Du sprichst von einer neuen Wirtschaft im »Tiefen Brunnen«. Ich habe nicht gewußt, daß Roßmanns nicht mehr Wirte sind. Ich denke, wir wählen unsere Wohnung in der Nähe der Stadt, etwa am See? Wir bringen nur Transportables und nur Schönes mit. Bücher lasse ich meist alle hier. Aber wo und was, weiß ich selbst noch nicht.
Die Stadteisenbahn wird von der armen Großmutter viel benutzt. Sie schleift mit ihren Krücken einen Block weit und fährt zum Amüsement vom Berg nach Walkerspoint und so zurück. Diese Einrichtung ist die rentabelste Gesellschaft in Milwaukee.
Leb wohl, lieber Fritz! Ich und unsere lieben Kinderchen umarmen Dich. Es ist ein furchtbares Schicksal für uns alle, so auseinandergerissen zu sein. Aber wir wollen hoffen auf ein baldiges und glückliches Wiedersehen. Bleibe gesund. Deine alte, Dich innig liebende Mathilde.
P.S. Du wirst Dich über meine Korpulenz wohl erschrecken. Ich gewinne täglich trotz der mäßigsten Lebensweise.

Mathilde Anneke führte in Milwaukee ihre journalistische Tätigkeit weiter und scheint sich speziell der Theater- und Musikkritik zugewandt zu haben. Aus dieser Zeit finden wir in der von Lexow betriebenen Belletristischen Zeitung auch längere Artikel über hervorragende Frauengestalten, wie Margarete Füller, Mary Wollstonecraft, Louise Aston.[15] Über letztere brachte sie den auszugsweisen Nachdruck ihres in Europa verfaßten Flugblattes, Das Weib im Conflict mit den socialen Verhältnissen. Mathilde berichtete auch über die vielen »schöngeistigen und künstlerischen Bestrebungen« in Milwaukee, zu deren Teilnahme man sie eingeladen hatte und erwähnt, daß sie neben ihren Zeitungskorrespondenzen mit dem Schreiben eines Romans beschäftigt sei. Wie in Newark, wo sie ein »Lesekabinett« geführt hatte, versammelte sie auch in Milwaukee einen Kreis kunstbeflissener Leute um sich, wo musiziert, gelesen und vorgetragen wurde. Die Schilderung einer musikalisch-literarischen »Soiree« vom 12. November 1859, bei der sie mit dem Musikdirektor der Stadt Milwaukee Longfellows Hiawatha in Freiligraths Übersetzung als Melodrama vortrug, erinnert an die literarischen Salons, die uns aus Europa bekannt sind. Wie dort, so steht auch hier das private Haus offen, Gäste treten mit ungezwungener Selbstverständlichkeit ein zu einem geselligen Beisammensein mit geistreicher Unterhaltung: Gestern abend war ich in unserer kleinen Soiree Oberst Blenker. Er trat mit Gallo, Off, Finkler und einigen anderen ein. Und wie dort finden Künstler Anregung für ihr weiteres Schaffen: Meine Vorlesungen inspirieren   den Alten zur augenblicklichen Komposition..., schreibt sie über den Musikdirektor Sobolewsky.
Trotz mancher Klage über ihre Mitbürger schien Mathilde in diesem Jahr beruflich, politisch, gesellig, kulturell sehr aktiv und ausgefüllt gewesen zu sein. Die Freundschaft mit Mary Booth machte ihr Milwaukee und damit Amerika zur Heimat, die sie nun wirklich lieben lernte: Ich fühle jetzt Heimatluft hier wehen. Und doch versuchte sie nicht, Fritz zur Rückkehr zu bewegen, sondern entschloß sich, mit Mary und den Kindern zu ihm in die Schweiz zu ziehen. Was sie zu diesem Schritt bewog, geht aus den Briefen nicht klar hervor. Natürlich waren beide Annekes bestrebt, die Familie wieder zusammenzuführen. Das hätte aber einfacher und billiger durch Fritz Annekes Heimkehr geschehen können. Denn noch hatte sich Fritz Anneke ja nur flüchtig etabliert und in der Schweiz noch keine Wurzeln gefaßt, keine wirtschaftliche Sicherheit für die Familie geschaffen. Ruhelosigkeit und Abenteuerlust mögen wohl zu der Entscheidung auf beiden Seiten beigetragen haben. Vielleicht war für Mathilde Marys Haltung ausschlaggebend, die mit sichtlicher Begeisterung den Gedanken förderte. Mary beschaffte auch, vermutlich durch Landverkauf, die Mittel für die Reise.
Als die beiden Frauen am 21. Juli 1860 mit ihren Kindern Milwaukee verließen, befand sich Sherman Booth noch in Haft. In »Amerikanische Skizzen: Heimwärts« schildert Mathilde Anneke den Abschied und ihre Gedanken, als sie den Dampfer bestieg, der sie über den Michigan-See ostwärts führen sollte.
Sie betrachtete diese Reise wohl als Heimkehr nach Europa. Rückblickend bringt sie ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck mit einem Land, dessen ideelle Grundsätze mit der Realität des politischen Lebens nicht übereinstimmten:

  • Die Iowa, einer der stärksten und elegantesten Propeller, die das blaue Gewässer des Michigan-Sees durchfurchen, wollte am 21. Juli mittags um 12 Uhr den Hafen von Milwaukee verlassen. Wir hatten unserem Freund noch Lebewohl zu sagen, der als Gefangener in der kalten Marmorbastille für seine menschenfreundliche Tat, einen Sklaven seinen Häschern zu entreißen, von dem sklavereifreundlichen Gouvernement hinter eisernen Toren festgehalten wurde, und den gewaltsam zu befreien wir seit Wochen vergebliche Anstrengungen gemacht hatten ... Unser Abschied war kurz, aber von doppelten Sorgen als bei einer gewöhnlichen Trennung begleitet. Ein Händedruck, eine Mahnung, standhaft zu bleiben, und eine Träne, in welcher sich die Hoffnung einer baldigen Befreiung spiegelte, ein aufleuchtender Glanz im Auge, der den Dank im Namen der Freiheit bekundete, dann ein Lebewohl, auf Wiedersehen.
    Die Schergen der Sklavenhaltermacht entriegelten die Türe, die Wachen führten uns die großen eisernen Stufen hinab und entließen uns zum letzten Male. Von dem Fenster der Bastille aus konnte der Gefangene den weiten blauen See überschauen. Es war »Am Turm am Strand«, in welchem er schmachtete und litt, ein Opfer der Willkür und des Barbarismus im Lande der Freiheit und Unabhängigkeit ... Von der stolzen Bastille wehte das triumphierende Sternenbanner und daneben aus einer kleinen Fensteröffnung wurde das weiße Tuch geschwenkt von den gefesselten Händen unseres gefangenen Freundes. Fürwahr, eine klagende Parodie auf jenes stolze Freiheitsgedicht, das wie Sphärenmusik uns dereinst umrauschte. Einige Sterne sind matt und tonlos geworden, und es ging die Harmonie der Hymne verloren unter dem Geklirr der Sklavenkette ...