Revolution 1848/49

Wie in Münster so wurden die Annekes auch in Köln Mittelpunkt einer Gruppe von Gleichgesinnten. Der Anneke-Kreis bestand aus jungen Freiheitlichen, aus Offizieren, Studenten, Schriftstellern und Journalisten, die auch zu Marx und Engels Beziehung hatten. Was in dem entlegeneren Münster vor allem literarische Schwärmerei war, wurde in Köln zu politischer Initiative.
In Deutschland hatte in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts eine gewaltige Umwälzung der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse stattgefunden. Die Bauernbefreiung, die der Freiherr vom Stein eingeleitet hatte, war darauf gerichtet, die Menschenwürde der Bauern zu heben. In ihrer Verwirklichung aber führte diese Befreiung aus einer Knechtschaft in die andere. Das Regulierungsgesetz von 1818 sollte die wirtschaftliche Auseinandersetzung zwischen Gutsherrn und abhängigen Bauern regeln. Die Gutsherrn konnten für entgangene Fröndienste Abtretung von Bauernland verlangen. Viele Bauern verloren bei diesem Vorgang jedoch so beträchtliche Teile ihres Ackerlandes, daß sie in ihren Kleinbetrieben nicht mehr zweckmäßig wirtschaften konnten. Dadurch mußten sie sich in Lohndienst begeben, sie wurden Tagelöhner, Landarbeiter und bildeten nun eine neue Bevölkerungsschicht. Gleichzeitig mit dieser Entwicklung auf dem Agrarsektor bahnte sich auch in Deutschland eine zunehmende Industrialisierung an, wodurch gewisse handwerkliche   Betriebe,   speziell   Spinnereien  und  Webereien nachteilig beeinflußt wurden. Industrien, die sich in Städten auszubreiten begannen, zogen nun die in der Landwirtschaft und im Gewerbe frei werdenden Arbeitskräfte an. Die aufstrebenden Industrien entwickelten sich auf wirtschaftlichem und sozialem Neuland mit dem einzigen Ziel, Gewinn zu machen. Das Risiko der Geldgeber war groß, daher waren sie bestrebt, rasche und hohe Profite zu erzielen. Eine Sozialgesetzgebung war noch nicht vorhanden, und so waren die Arbeiter grenzenloser Ausbeutung ausgesetzt. Aus militärischen Berichten erfahren wir, daß viele der Fabrikarbeiter, die zur Musterung erschienen, körperlich bereits so verbraucht waren, daß sie für den Militärdienst untauglich erklärt werden mußten. Frauen und Kinder arbeiteten für einen Groschenlohn bis zu 14 Stunden bei Tag und bei Nacht. Im Jahre 1839 wurde endlich ein preußisches Regulativ ausgegeben, welches Nachtarbeit für Jugendliche verbot, aber eine zehnstündige Arbeitszeit für Neun- bis Sechzehnjährige gestattete.[1]
Während sich auf unterster Ebene eine neue Klasse bildete, die nach Rechten verlangte, begann der Mittelstand, dessen Bedeutung durch die Industrialisierung gewachsen war, sich gegen die Privilegien des Adels aufzulehnen und Mitbeteih-gung, Vertretung bei der Regierung zu fordern. In dieser Zeit gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Umwälzung ergab sich so mancher Zündstoff, der schließlich zur Explosion führte. Auch ungelöste nationale Probleme, die Frage der deutschen Einheit und der staatlichen Grenzen spielten eine Rolle.
Damals entstanden »Die Wacht am Rhein«, »Sie sollen ihn nicht haben« und andere patriotische Lieder dieser Art. Aber auch Heines und Freiligraths Gedichte über die Not der schlesischen Weber erschienen um diese Zeit, so daß Herwegh mit Recht dichten konnte: »...die Fahne der Empörung trug die Poesie voran.« Und zur Empörung kam es überall in Deutschland und in Österreich. Besonders die letzte Phase der Revolution war nicht mehr von nationalen, sondern von wirtschaftlichen und sozialen Forderungen geprägt. Damals kämpften Liberale und Demokraten noch Seite an Seite. Die Liberalen gehörten zum Großteil dem gehobenen Bürgertum an. Auch ihnen  ging es um »Wohlstand, Freiheit und Bildung für alle«, um Prinzipien, die sie Se|en" über der feudalistischen Regierung von König und Ade vertraten. Die beiden Gruppen von Liberalen und Demokraten finden  ihre Personifizierung   in den Freunden Friede Hammacher und Fritz Anneke. "Der Gegensatz von Bürgertum und Proletariat war in der Revolution von 1848/49 erst im Ansatz vorhanden. Aber er bildete einen Teil der allgemeinen Unzufriedenheit.[2]
Fritz Anneke entfaltete in Köln eine rege Tätigkeit sozialdemokratisch-republikanischer Richtung. Er war Gründer und Vorstandsmitglied des Kölner Arbeitervereins und agitierte für die Interessen der Arbeiter. Sein Biograp Schulte schreibt, daß Annekes Bestrebungen weniger sozialistischer als verfassungspolitischer Natur waren; ihm ging um eine demokratische Republik. Er konzentrierte sein politische Aktivität vor allem auf das Militär und verfaßte seine Artikel und Broschüren für diese Leserschaft. Es sei Annekes Werk gewesen, berichtet Schulte, »wenn beim Kölner Putsch am 3. März 1848 - der ersten revolutionären Demonstration auf preußischem Boden überhaupt - das Militär zu den Aufständischen hielt... Dieser Tumult war weniger ein Werk der Arbeiter und kleinen Leute als eben der revolutionären Offiziere und Intellektuellen, Anneke an Spitze.«[3] Das ganze Briefmaterial und der weitere Lebensweg Fritz Annekes deuten jedoch darauf hin, daß gerade er zu jenen wenigen Intellektuellen gehörte, denen das soziale Problem am meisten am Herzen lag. Zeitlebens fand er Freunde häufiger unter den kleinen Leuten als unter gesellschaftlich Gleichgestellten, denen er oft mit Mißtrauen gegenüberstand. So stellt er es im Brief vom 15. 12. 1863 zum Beispiel auch wörtlich dar: »... es hat mich gefreut und zwar deshalb gefreut, weil die Bourgeoisie-Periode rascher zur Entwicklung des Proletariats führt und dieses schnelle Aufblühen der Bourgeoisie die Gewähr gibt, daß die Revolution in Deutschland nicht bloß eine formell-politische, sondern eine materiell-soziale sein wird.«
Mathilde Franziska Anneke  regte die  Gründung einer besonderen Art von Zeitung an, die speziell für die Arbeiter verfaßt werden sollte. Ein Freund, Fritz Beust, schloß sich den Annekes in dieser Sache an, und so erschien am 10. September 1848 die erste Ausgabe der Neuen Kölnischen Zeitung. (Bezeichnend ist es übrigens, daß diese Zeitung der Literatur allgemein als Werk Fritz Annekes beschrieben wird. Sehr richtig nennt Renate Möhrmann auch diese Angelegenheit als »Beispiel dafür, wie im Schatten der Namen ihrer Männer Frauen schon oftmals  Entscheidendes leisteten«[4] Aber nicht nur in bezug auf Redaktion, sondern auch bei Gründung der Zeitung war Mathilde das treibende Element. Dies wird erst durch den hier veröffentlichten Brief aus Jahre 1848 klar. (s. S. 43) Unter dem Titel »Was die Neue Kölnische Zeitung will«, heißt es in der ersten Ausgabe.

  • Sie ist für das arbeitende Volk bestimmt, daß es ein ernstliches Wörtchen mitspricht bei den Einrichtungen in Gemeinde und Staat, Gesetze zu machen, Erwerbsverhältnisse zu ordnen ... Dem arbeitenden Volke zur Aufklärung zu verhelfen, wird das hauptsächliche Bestreben der Neuen Kölnischen Zeitung sein. Sie wird sich bemühen, so zu schreiben, daß es auch der einfachste Arbeiter verstehen kann. Unser Wahlspruch: Wohlstand, Freiheit und Bildung für alle.

Die politische Tätigkeit brachte Fritz Anneke nicht nur einmal in Konflikt mit den Behörden und ins Gefängnis. Noch vor der Herausgabe der Zeitung, am 3. Juli 1848, wurde er verhaftet und ins Gefängnis gesperrt, wo er bis zum 23. Dezember festgehalten wurde. Über den Prozeß berichtet Mathilde Franziska Anneke in der Flugschrift Der politische Tendenz-Prozeß gegen Gottschalk, Anneke und Esser, Köln 1848, in der sie auch die Anklageschrift veröffentlichte:

  • Wir Friedrich Wilhelm, von Gottes Gnaden, König von Preußen etc. tun kund und fügen hiermit zu wissen, daß der Rheinische Appellationsgerichtshof zu Köln folgende Entscheidung erlassen hat.
 In Untersuchungssachen wird:
    1. Andreas Gottschalk, Arzt, 33 Jahre alt, geboren zu Düsseldorf
    2. Friedrich Anneke, 30 Jahre alt, Lieutnant außer Dienst, geboren zu Dortmund, und
    3. Christian Joseph Esser, 39 Jahre alt, Faßbinder, geboren zu Köln, alle drei in Köln wohnhaft, beschuldigt: im Laufe des Jahres 1848 zu Köln ein Komplott, zum Zwecke der Veränderung und des Umsturzes der betreffenden Regierung und der Erregung eines Bürgerkrieges durch Verleitung der Bürger, sich gegeneinander zu bewaffnen, gemacht, oder durch Reden in öffentlichen Versammlungen, durch gedruckte Schriften und angeheftete Plakate zu Attentaten und solchen Zwecken geradezu gereizt zu haben...

Mathilde war zur Zeit der Verhaftung hochschwanger undbrachte nur wenige Wochen später, am 24. Juli 1848 ihren ersten Sohn Fritz zur Welt. Wie tapfer und unerschrocken sie sich zu all den Geschehnissen verhielt, geht aus ihren Briefen deutlich hervor. Gänzlich auf sich allein gestellt - Fritz Beust war geflohen - führte sie die  Zeitung unter den größten Anstrengungen weiter. Als später die Neue Kölnische Zeitung wegen ihrer radikalen Richtung verboten wurde, änderte Mathilde kurzweg den Namen und führte das Blatt als Frauen-Zeitung weiter.  Erst Monate später konnte die Neue Kölnische Zeitung  wieder regelmäßig erscheinen - bis nach dem Ausbruch der Revolution. Für die Zeit ihrer letzten Ausgaben trat sie an die Stelle der von Marx redigierten Neuen Rheinischen Zeitung, die am 19. Mai 1849 eingestellt
wurde. Die folgenden Briefe und Zeitungsausschnitte geben bruchstückweise die Atmosphäre wieder, die in diesem Abschnitt von Mathilde Annekes Leben herrschte. Unter anderem berichtet sie der Mutter und den Geschwistern von einem »Versuch«, der ihr »manchmal so durch den Kopf« geht. Vielleicht handelt es sich dabei schon um die Herausgabe der Neuen Kölnischen Zeitung.

Mathilde Anneke
an Mutter und Geschwister   
Köln, 2. Sept. 1847

Meine liebste Mutter, alter Carl, lieber Julius, Pauline und Albin, fromme Johännken, klein Miksken!
So hätte ich Euch wohl alle ziemlich zusammengefaßt. Ich den e, Ihr sitzt in einem Kreise, unvermerkt trete ich zwischen Euch und grüße und küsse Euch alle mit gleicher herzinniger Liebe ... Seit einigen Wochen habe ich eine interessante Bekanntschaft gemacht, eine junge Dichterin, Verwandte von dem Eremiten Geruting, Freiherrn Hallberg, die hier mit einem Herrn Bundschu verheiratet ist.[5] Eine recht liebe Familie ohne Kinder. Die Leute sind drei Jahre verheiratet und beide noch jung, er 26 Jahre alt, sie 21. Wir sehen uns täglich, haben zusammen wöchentlich zweimal ein ästhetisches  Kränzchen von lauter Communisten. Ha! Münster bekommt ein Schaudern! Hier sind die Kommunisten sehr beliebte Leute...    .
Ich mag mir den Kopf zerbrechen - ich weiß nichts zu beginnen. Ein Versuch geht mir manchmal so durch den Kopf - aber es ist  nur eine schwache Hoffnung - ich will's aber versuchen; ist's nichts so braucht Ihr gar nicht danach zu fragen.
Es geht mir übrigens recht gut; mein Fritz trägt mich auf Händen, sein klein Töchterchen verwöhnt er nur. Ihr Kleinen solltet mal hören, wie der Papa sie schön deklamieren gelehrt hat. In einer Gesellschaft wollten die Leute sich halb totlachen über die Paddy und über den »Mir träumt ich war der liebe Gott«. Du solltest es nur hören, Mia. Als Dein Briefchen kam, hatte unser Paddychen große Freude und sagte: meine Mia hat mich doch noch recht lieb... Lebt alle wohl und bleibt gesund und munter
Eure Alte.

Fritz Anneke aus dem Gefängnis
an Mathilde   
19.7.1848, abends

Wahrhaftig mein herzliebstes Tildchen, es war auch endlich Zeit, daß Du kamst. Du hast mir aber Dein langes Ausbleiben vollständig
ersetzt durch Deinen Anblick, Deinen Kuß und Dein schönes Briefchen. Diese verschiedenen Elemente ergänzten sich gegenseitig. Du warst so hübsch. Ich muß Dir sagen, Du wirst jeden Tag schöner und frischer. Ich hätte Dich gleich in die Arme nehmen und pussieren mögen. Als ich Dein artiges Briefchen las, war's mir, als wenn Du noch vor mir ständest und mit mir plaudertest. Ich glaube, mein Herz, bei Deinem blühenden Zustande wirst Du, trotzdem der Junge so groß wird, eine sehr leichte Geburt haben. Er wird recht reif werden und sich deshalb auch recht leicht von Deinem Schoße trennen. Ich glaube auch, daß Du schon nach ein paar Tagen wieder auf den Beinen sein wirst, um mir das Produkt unserer Liebe selbst vorzuführen.
Mein Bleistiftstümpchen und die Beleuchtung, bei der ich schreibe, ist so schlecht, daß die Buchstaben entsetzlich durcheinander laufen. Wie schön hast Du aber heute abend wieder für meinen Gaumen und meinen Magen gesorgt. Aprikosen und ein Krug Bier. Verwöhne mich nicht zu sehr.

Mathilde
an Friede Hammacher
Köln, 20. Juli 1848

Mein lieber treuer Friede!
Wie der Prozeß steht, sollst du aus Druckschriften, die ich Dir senden will, ersehen. Wenn es mir gelingt, die moralische Kraft
meines Fritz, des Mannes, der die Seele meines Lebens ist, unter den Einschränkungen der schmählichsten Haft aufrecht zu erhalten,
will ich nicht klagen. Ich sehe ihn, so es mir nur möglich ist oder von dem Untersuchungsrichtern gestattet ist. Ich habe gewirkt, was ich 
gekonnt habe, glücklicher Weise bin ich noch so lange tätig gewesen, als es die höchste Not erforderte. Nun ist aber meine Zeit um,
stündlich muß ich meine Niederkunft erwarten. Neue Lebenspläne sollen nach diesem Übergang entworfen werden. Mir winkt das Land jenseits der Meereswellen. Wenn Du und Franziska mit uns ziehen wollt, d. h. nach gehörig geordneten Plänen, dann der Heimat Lebewohl! Doch das ist für diese Stunde noch zu fern.
Hab keine Sorge um die alte Mama! Du weißt nur halb, in welch Kämpfen des Lebens ich schon gestanden habe. Eine richtige Erkenntnis des Schicksals hilft, es mutig tragen. Ich bin bei der großen Hitze und den geistigen Aufregungen in der letzten Zeit oft krank gewesen, d. h. es dauerte etwa einen Morgen und des abends war ich kräftig. Täglich wollte ich Dir schreiben, aber da war dann das Dringlichste in der Prozeßangelegenheit eher zu besorgen. Und blieb an Dich zu schreiben auch noch eine kleine Zeit, da war ich müde.
Im Publikum heißt es, die Befreiung der beiden stehe in den letzten Tagen dieser Woche in Aussicht. Ich kenne aber den Stand augenblicklich zu gut, als daß ich mich mit Illusionen trösten möchte. Die Zeugenverhöre der Denunzianten haben Lappalien ergeben. Circa 200 Schutzzeugen, lauter gediegene Männer, treten heute oder morgen vor den Untersuchungsrichter. Die Rechtskammer soll schon in den nächsten Tagen entscheiden können.
Nimm mein Zischen in Deine schützenden Arme, halte sie lange recht lieb darin. Gebt mir auch Nachricht, wenn Ihr könnt, bedenkt, daß ich Sorge genug um meine nahen Lieben habe und meine fernen Lieben mir auch sehr am Herzen liegen. Unser Fritz fragt in jedem seiner Briefchen nach Dir und Deinem Zischen, Friede.
Bleibt mir treu und gut, wie ich Euch, ewig die Eure Mathilde.

Mathilde
an Fritz ins Gefängnis   
undatiert, vermutlich September 1848

Ich verlange nach Mitteilung von Dir. Gegen Nachmittag kann ich noch einmal wieder schicken. Das Ministerium gestürzt. Was wird nun kommen?
Mit unserer Zeitung, Fritzchen, wird es gewiß sehr gut gehen. Schon kommt heute morgen eine Ankündigung nach der andern zum Abonnement. Krah und Hocker werden heute den Tag über die Probenummern verschicken helfen. H. tut sogar viel für die Verbreitung, er grüßt Dich. - In Hamm freuen sie sich darauf. Becker schrieb mir gestern um schleunige Besorgung der Probebl. - Hantze ebenfalls. Ich war finanziell noch nicht »auf den Hund gekommen«, allein die Ausgaben drängen namentlich jetzt sich sehr. Wir kommen finanziell noch oben drauf. Du lachst?
Gestern abend um 10 Uhr kam von Arnsberg das Papier schon an; wir brauchten also nicht einmal für die erste Nummer, wie zu erwarten stand, Papier zu kaufen. Zu Kolporteuren sind Caspers und Falk ernannt.
Der Junge hat diese Nacht so geschrien und mich gar nicht schlafen lassen vor lauter Tollköpfigkeit.
Ich habe lang kein süß Wörtchen von Dir gehabt. - Und Du so viele von mir. -
Einer der ersten Abonnenten ist der Direktor von der Colonia, Kamp. Er schickte heute morgen seinen Diener und bat darum, schickte 27 Spr. bei. Buch wird nach Deinen Instruktionen genau geführt. Bis heute nachmittag.

Auf einem kleinen Zettel
schreibt Fritz aus dem Gefängnis
undatiert, vermutlich September 184

... Mit der Rh(einischen) Ztg (Zeitung) und deren Klicke müßten wir, nämlich da sie jetzt offen und entschieden im praktischen Leben
auftritt, unbedingt eine Allianz machen. Ohne festes Zusammenschließen geht die Demokratie völlig zu Grunde. Wir können uns deshalb jeder Anmaßung innerlich fernhalten und sie gebührend zurückweisen.
Deine leichtsinnigen Hoffnungen, liebes M.(athildchen), solltest Du doch endlich mal aufgeben. Du hast doch nun seit zwei Monaten wenigstens 20 bis 30mal gehofft, geglaubt, sicher erwartet, etc. etc. wenigen Tagen, in kurzem, in höchstens 8,14 Tagen etc. etc. wäre ich  frei. Wozu das nur immer wieder von neuem? Du schreibst nun wieder an mehreren Stellen Deines Briefes davon. Unter anderem auch, am 1. Oktober wäre ich sicher bei Dir!! Wenn die Untersuchung glücklich noch vor den Assisen zu Ende sein sollte (und das ist noch immer sehr zweifelhaft), dann ist ziemlich sicher zu erwarten, daß wir vor der Assise ziemlich spät auf die Tagesordnung kommen, ziemlich am Schluß der 40 Tage; und ebenfalls kommt es ganz auf die Zusammensetzung an! Ist das bourgeois Element vorherrschend, werden wir verurteilt! Freilich nur zur Verbannung, und das ist heutzutage eine Ehre. Gute Nacht, mein Herz! Ich kann Dir nichts Liebes mehr sagen, mein Zustand erlaubt es nicht.

Mathilde   
an Fritz ins Gefängnis   
undatiert, vermutlich September 1848

... Ich kann nicht anders denken, als daß Beust neidisch auf mich geworden, da ich ihm fast alles in praktischer Beziehung lehren und 
vortun mußte. Ich habe ihn doch mit aller Rücksicht und Zartheit behandelt. Aber er kam damals so verdrießlich von Wesel und
Xanten zurück. Hätte er nicht gar so viel verwerflichen verwerflichen Egoismus besessen, er würde wohl anders als ein gebildeter, erzogener Mensch gegen mich aufgetreten sein, da er doch einen Teil von dem Kummer der mir die Brust durchschnitt, hätte begreifen sollen.
Die Abonnements-Aufforderung habe ich nicht geschrieben - ich schreibe nicht so schlecht, was gedruckt werden soll, zumal an den Kopf des Blattes. Ich stehe fortan nicht mehr zwischen Euch beiden. Teilt Euch direkt mit, was Ihr wollt. Und habt Ihr beide Veranlassung Euer - durch mich, gegründetes Unternehmen eingehen zu lassen - meinethalben. Ich habe noch den Mut nicht verloren mit dem Rest meiner Kraft anderes zu beginnen. Glaubst Du, ich habe bisher gewagt, Beust Deinen Unwillen, den Du in meinen Briefen aussprachst, ihm kundzutun? Ei Gott bewahre! Zugleich mit Deinem Brief habe ich einen Brief von Vater aus Dortmund erhalten, der mir indes stets Vorwürfe - sei es auch indirekt - macht, die ich aber eben so wenig wie die Deinen verdiene.
Könnte ich Dir die Beruhigung geben, daß Du für Dein Weib und Deine Kinder noch gut gesorgt hast, ich wollte glücklich sein und frage nach nichts mehr.
Mathilde

an Fritz in den Kerker
undatiert, vermutlich September 1848

Mein geliebter Engel!
Du bist mein einzigstes Glück - Deine Briefe sind meine einzigste Freude. Aber die Aufregungen und Anstrengungen werden mir doch bald zu groß. Ich kann Dir fast nichts schreiben; - wirst Du auch bei etwas näherer Überlegung nicht zum zweiten Mal fragen, ob ich nicht schuld an der schlechten Feder sei. Ich glaube, niemand tut mir das alles nach, was ich tue - doch wozu darüber eine Zeile noch. Das Proletariat scheint aufs Äußerste gekommen, es will zum Kampf geführt sein - endlich bekommt es Mißtrauen gegen seine Führer. Sie haben seit acht Tagen fast nicht mehr gearbeitet; sie haben gehungert. Entweder muß es hier zum Losbruch kommen, oder wir haben morgen 30 Verhaftungen - oder durchreißen und grenzenlose Apathie, wie in Berlin. Beust sollte schon um 12 Uhr verhaftet werden. Er hielt den Appell der Landwehr, tausend Mann, auf dem Gercous-Platz ab; die Polizei, Herr Brendemour nebst xx Gend. und Polizisten, daneben Infanterie gingen auf ihn aus, fanden ihn aber nicht mehr. Wie ich höre, vigiliert man immerfort auf ihn. Was der Kongreß für einen weisen Rat gehalten, weiß nicht. - Ich höre und sehe nichts, wenn ich nicht mal von einem zeitungholenden Proletarier höre. Ich muß zur Druckerei, Fritzchen, mein lieb Herzchen Du! Der Malteser wird übrigens zerrissen, das prophezeie ich ihm. Schilt mir nicht auf die Kölner, wohl aber laß Deinen Groll los auf das Gesindel, das sich Ausschuß usw. nennt.
Mein Eisenbahner ist der, welcher sonst jedes Mal die Bestellungen von Vater aus Dortmund brachte und mir auch, während ich in Wochen, von ihnen einen Pumpernikel besorgte. Diesmal aber auf eigene Faust es tat. Leb wohl, mein Lieber, meine Nerven sind so aufgeregt. Das weiß ich alles fast auswendig, was ich in Deinem Auftrage tun muß in Betreff des Prozesses. Die Briefe habe ich mit Sorgfalt studiert.

FRAUEN-ZEITUNG
HERAUSGEGEBEN VON MATHILDE FRANZISKA ANNEKE

  • MITTWOCH DEN 27. SEPTEMBER 1848
    So machen sie's mit Einem: Da wird nun das kleine unschuldige Blättchen, die  Neue Kölnische Zeitung, das  so sehr einfach und redlich die Wahrheit sagte, mit der heutigen Erklärung des Belagerungszustandes von Köln, null und nichtig erklärt. Die Herausgeber der Zeitung, Fr. Anneke, mein Mann und Fr. Beust, mein Freund, haben nun den Verpflichtungen, die sie gegen Euch, geehrte Abonnenten haben, nicht nachkommen können; mein Mann befindet sich, wie Ihr sicher wißt, im Kerker und es ist ihm die Macht genommen, Euch zu entschädigen; mein Freund meint, er wolle eine andere ebenso kleine Zeitung wie die Neue Kölnische Zeitung unter dem Namen »Höllenstein« herausgeben; ich aber meine, dem »Höllestein« würde man wohl ein noch kürzeres Leben prophezeien dürfen als unserer kleinen Kölnischen Zeitung.
    In die Verpflichtungen der beiden Männer gegen Euch, geehrte Abonnenten, trete ich, ein Weib. Ich bringe Euch anstatt der Neuen Kölnischen Zeitung, die von heute an, wie man mir erzählt, nie mehr erscheinen soll, die Frauen-Zeitung. Begnügt Euch mit ihr, solange es geht; ich prophezeie ihr auch kein langes Leben - aber das schadet nicht. Trete ich wieder mit ihr ab von dem öffentlichen Schauplatz, auf den mich die Not herausgefordert hat, in meinen stillen häuslichen Kreis - dann ersteht sicher wieder mit weit frischerer Kraft:
  • Die Neue Kölnische Zeitung.* (*Anmerkung in Herthas (?) Handschrift: »An demselben Tag erschienen, als die Neue Kölnische Zeitung suspendiert wurde und Papa ins Gefängnis geschleppt.« worden. Wie aus dem Text selbst zu ersehen ist, und wie die Unterlagen heweisen, war Fritz Anneke schon viel früher, und zwar am 3. Juli 1848, »ins Gefängnis geschleppt« worden.)

Mathilde    -
an Friede Hammacher
undatiert, vermutlich Oktober 1884

Höre, liebster Friede, wenn Du nicht erschossen bist oder erstochen von der sauberen Brut der 25-er. Es ist eine unverzeihliche Sünde, daß Ihr mir nicht einmal einen Bericht über die dortigen Ereignisse habt gesandt. Was denkt Ihr, was aus meiner Zeitung, die ich ganz allein mache, schreibe, redigiere, drucke (ich besitze jetzt nämlich eine Druckerei) - Du lachst, es ist aber wahr, ein vernünftiger Bourgeois hat mir die auf ewigen Pump abgelassen - was aus dieser Zeitung werden soll! Oder seid Ihr alle in so gänzliche Katzenjämmerlichkeit gesunken, daß Ihr keinen Finger mehr rühren könnt.
Friede, doch ernstlich, bleib mir - ja bleib Du mir nur nicht am 21. und 22. aus, hörst Du? Du hast übrigens keinen Begriff davon, wie sehr ich mich plagen muß. Sollst aber auch sehen, es geht uns aucn noch gut - ich habe immer Mut - schlag mich so durch...
Wenn man bedenkt, daß die Kosten, die ich bar ins Arrestlokal hineingetragen, fast 150 Mark betragen, so ist leicht zu ermessen, daß mein Vorrat wieder auf die Neige. Unsere Zeitung bringt jetzt die Kostendeckung heraus; der Lohn bleibt uns im nächsten Quartal nicht aus.
Beust ist geflohen. Von den politischen Dingen wird's abhängen, wie lange er fern bleiben muß. Er ist auf dem Wege nach Paris...
Grüße mir auch meine Mutter und sage ihr, ich hätte schreckliche Sorge um sie. Ob es ihr nicht gut geht? Mir ging's gut, mußt sagen.
Bleib mir mein getreuer Friede, hörst Du, lieber guter Friede. Schreib mir aber, ich bin wie von Gott verlassen. Unserm Fritz geht es besser als sonst. Erzähl meiner Mutter doch, daß ich eine Presse habe im kleinen Kabinett. Sie wird sich freuen darüber.
Grüß mir Dein lieb, lieb Mädchen. Gib ihr einen Kuß und schließ ihr mit dem das Rosenmündchen, wenn sie über die arme Tilla schmollt.
Deine Tilla

Mathilde
an Franziska Rollmann,
spätere Hammacher   
undatiert, vermutlich November 1848

Mein Herzensengel!
Es mag jetzt aber gehen wie es will - ich plaudere mit Dir, und das eine ganze Stunde, mag da nun kommen, wer will, und wäre es Freiligrath, mit dem ich am liebsten in ganz Köln rede - nun nämlich, daß mein Fritz nicht in Köln, sondern im Kerker sitzt. Ach, Zischen,
Worte kommen einem so kahl vor neben dem vielen, das da im Herzen verschlossen bleiben sollte. Beust war fort; das Blatt, die Druckerei, das Proletariat, das in Haufen zu mir gelaufen kommt, wenn's sich um seine Rechte bedroht glaubt - Frauen sowohl Männer - alles oblag mir allein. Soeben gehen Freiligraths fort von mir. Wir sehen uns täglich; Freiligrath steht mir kräftig zur Seite. Er ist oft zweimal tags gekommen, wenn es nötig war. Klein Fritzchen bekommt jetzt Zähne und wird ein wenig verdrießlich. Sähest Du ihn doch mal. Er hat jetzt eigentlich nichts mehr nötig. Seine schönen Hemdchen sitzen prächtig. Die Ärmelchen stechen weiß unter dem Kleidchen her; seine Läppchen, kleine Kochschürzen stehen ihm allerliebst...
Da sind bei Nacht wieder herrliche Berichte aus Berlin gekommen. Nun sollte man sagen, steht der Kampf vor der Tür. Das ist eine Zeit voll der riesenhaften Wechselfälle. Was sagst denn Du zu ihr?...
Was ist seitdem wieder vergangen! Diese Wirtschaft in Westfalen. Den ganzen Sieg aus den Händen. Die belebende Hoffnung von Frankreich her. Ja von Frankreich - die Sturmvögel sind schon im Fluge - der Krieg, der letzte, der große Krieg bleibt jetzt nicht aus. Halte Du nur Deine Kraft aufrecht. Sei gestählt, Franziska Herz braucht noch nicht zu brechen... Dein Friede hält sich tapfer - sei Du es nicht minder...
Am 22., so glaube ich, oder spätestens am 23. sind wir wieder vereinigt. Leb wohl, mein Herz! Ich muß übermäßig arbeiten, wie Du denken kannst. Meine Zimmer sind Werkstätten. Beust seit vier Wochen nach Paris entflohen - Die Zeitung ist noch schlecht gedruckt, bald aber werde ich eine bessere Presse erhalten. So lange heißt's behelfen.

Mathilde
an Franziska Rollmann,
spätere Hammacher
10. November 1848

Herzensengel!
Diese stille Abendstunde, die sonst meinem armen Fritz gewidmet wird, soll heute Dir wieder einmal gehören. Ja, könntest Du bei mir sein! Aber Dein Friede, in den heißesten Stunden ist er mir nah - nah wie ein treuer Botschafter von Deinem Herzen gesandt; nah wie ein
Beschützer und ein Helfer.
Ob Fritz wirklich am 27ten vor die Schranken tritt, ist noch die Frage. Die Tyrannei wird nicht müde in ihren Ränken. Dem Versprechen des Generalprokurators zur Folge freilich, so ist nie daran zu zweifeln - allein, sicher ist's noch nicht.
Und Dein Friede wird bei mir sein! Ich hätte ja sonst auf der weiten Welt niemand, dem ich's sagen und klagen könnte. Ja, das ist noch eine harte Zeit! Ob ich den Verhandlungen zugegen sein werde, fragst Du. Nein, Zischen, ich bekenne es, ich fühle mich nicht stark genug dazu. Freiligraths Frau hat es gekonnt; ja, die mochte auch vielleicht mehr Gewißheit für die Freisprechung haben. Auch waren die Verhandlungen kürzer. Diese dauern gewiß vier, wenn nicht gar acht Tage. Ich möchte es können, wenn ich nicht die Mutter seines Knaben wäre, SEINES Knaben, dessen zartes Leben ich allein zu schützen habe. Es wird ein furchtbares Gedränge im Sitzungssaal sein; ich werde mit meinem lieben Kleinen auf dem Arme der Entscheidung ruhig und gefaßt entgegensehen.
Ich werde auch viel an Dich denken - an Dich, die Du mir Deinen Geliebten gesandt hast in diesen Tagen. Ich schreibe Dir vorher aber noch viel, mein Leben. Tu ich's jetzt nicht, so sei gerecht. Du weißt nicht, was es heißt, Fritz aufrecht zu erhalten. Dabei das Haus, die Kinder,  das  Streben unserer heiligen Sache,  die unsere Religion geworden ist. Vielleicht, daß ich Dir morgen ein Briefchen einlege, der Abdruck einer Stimmung meines braven edlen Fritz. An der Größe, der Erhabenheit seines Charakters richte ich mich auf, wenn ich mutlos bin. Ich hätte ihn nie so lieben gelernt, wenn er nicht so groß, so edel, so rein dastände.
Mathilde

an Friede Hammacher
undatiert, vermutlich 19. November 1884

Mein herzinnig geliebter Friede!
Trotzdem Du im Kerker sitzest, mußt Du dennoch Geduld mit mir haben. Der Mensch kann nicht mehr leisten, als möglich ist. Nun eine großartigere Demokratenfresserei, als Westfalen aufzuweisen hat, lebt doch auf dem Erdboden nicht mehr! Obwohl wir im Augenblick gänzlich besiegt sind, dennoch Revolution marché! Im Februar, vielleicht ein stolzer Februar tagt bald. Beust ist nach Paris entflohen. Seine Berichte von dort kommen täglich. Sie lauten gut und Du kennst sie schon mal. Deinen prächtigen Bericht habe ich der Neuen Kölnischen Zeitung an die Stirne gestellt. Ich erwarte sehnlichst die Fortsetzung. Du glaubst wohl nicht, wie ich mich quälen muß. Kein Mensch hilft mir, nur meine drei Setzer rascheln fleißig mit den Typen. Deinem Zischen habe ich viel geschrieben. Bist Du zufrieden mit dem Engel der Liebe? Erheitert sie Dir nicht die Öde Deiner Zelle? Schreib mir, wo Du gefangen bist. Ob im Inquisit, oder im letzten Zimmer des langen Korridors oben im Inquisitengebäude, die Aussicht auf die Promenade?
Nun unser Prozeß beginnt am 21. Die Anklage ist auf Null reduziert. Sollst Dich wundern. Deine Berichte sind prächtig, fort! Manuskripte werden vernichtet, sobald sie gesetzt sind. Und überrascht uns der Häscher beim Setzen, so ist die Vernichtung für den Augenblick sicher vorbereitet. Altes Philisterchen! Was für Artikel soll ich nicht schreiben? Hast mir nichts zu befehlen.
Wollte doch, ich hätte Dich auch so nahe wieder wie Fritz. Alle guten Götter sollen gelobt sein, wenn ich ihn habe. Glaub's nur, dann ist er aber auch mein Gefangener. Deinem Mädchen mußt Du wohl viel schreiben. Wir halten uns alle ewig lieb. Deine Tilla.
N.S. Druck wird besser, sobald meine eiserne Presse komm . Etwa 14 Tage noch.

Gottfried Kinkel an Mathilde
Kaiserslautern, 15. Mai 1849

Verehrte Frau!
Indem ich Ihnen zunächst melde, daß Anneke gestern als Oberstleutnant in den Dienst des Landesausschusses getreten und heute mit einer Colonne von 1200 Mann nach Ludwigshafen marschiert ist, von dort der  Revolution in Baden die Hand zu reichen (seine Stellung als Kommandeur der Artillerie gewinnt eine ganz neue Bedeutung dadurch, daß Rastatt mit 200, nach anderen 300 Geschützen, in den Händen des Volkes ist), zeige ich ferner an, daß auch mir eine vorläufige Stellung angewiesen ist, indem ich mit A. Grün Wulff und einigen Sachsen ein Nachrichtenbüro, verbunden mit einer lithographischen  Correspondenz und einer Redaktion des offiziellen Blattes übernehmen soll. Von Besoldung ist noch nicht Rede, doch genießen wir freie Station. Die Sache war allerdings nötig, denn nach außen ist die pfälzische Bewegung schlecht vertreten und sie muß selbst hier zu Lande dem Volk erst klar gemacht werden.
Ich habe den Auftrag übernommen, Sie verehrte Frau, um kurze Nachrichten aus Köln über die Stimmung, über die Möglichkeit einer dortigen Insurrektion, über etwa ausbrechende Unruhen, namentlich aber über Bewegungen des Militärs in der Rheinschweiz, sofern sie für die Pfalz bedrohlich erscheinen, zu ersuchen. Die demokratische Correspondenz werden wir für die Neue Kölnische Zeitung Ihnen täglich postfrei besorgen. Die Kölnische erhält dieselbe nicht.
Melden Sie uns doch auch einige westfälische Blätter, denen wir unsere Correspondenz zweckmäßig zuschicken können. Adresse. An die Expedition des Boten für Stadt und Land Kaiserslautern.
Erhalten Sie mir Ihre Freundschaft und seien Sie herzlich und hoffnungsreich von mir gegrüßt. Vielleicht knüpft sich wenige Tage nach diesem die Übergabe Landaus an den Namen Anneke.
Gottfried Kinkel

Mathilde
an Franziska Rollmann   
undatiert,
und Friedrich Hammacher   
vermutlich vor dem 15. Mai 1849

Herzig Mädchen und lieber Friede!
Es ist spät, ich muß jede Nacht bis zwei Uhr arbeiten, morgens um sechs wiederum. Acht Arbeiter sind in meiner Druckerei und wollen täglich beschäftigt sein. Aphoristisch nur kann ich Euch meine Mitteilungen machen.
Am Sonntag, dem 6. hätten sie mir meinen Fritz wieder gefangen. Da bin ich ihnen aber zu schlau gewesen. Montag machten sie mit Hilfe des rothaarigen Spions wieder eine Attacke. Per telegraphischen Befehl Manteuffels sollte er unschädlich gemacht werden. Dies mißlang natürlich, weil Fritz nachts, umkostümiert, auf dem Dampfboot nach Bonn in Sicherheit gekommen war.
Seit der Zeit redigiere ich nun mutterseelenallein, expediere usw. usw. Wie ich's halten werde, ebenso wohl in finanzieller Hinsicht, als auch der Anstrengung wegen, weiß ich noch nicht. Die erfreulichen, wichtigen Nachrichten von oben herab, gebieten es einstweilen noch.
In Bonn habe ich Fritz zweimal besucht. Das letzte Mal war eine Stunde vor Ausmarsch, den er mit Kinkel und einer Schar von Studenten und Scharfschützen nach Elberfeld über Siegburg (woselbst das Zeughaus herhalten sollte) unternahm. Vor Siegburg sprengte ein Reitertrupp (Dragoner) die wehrlosen Massen von etw 140. Die Studenten und Scharfschützen zerstreuten sich, Kinkel und Fritz kamen nach unsäglich beschwerlichem Marsche in Elberfeld an. Dort als Kommandanten der Stadt anfangs willkommen geheißen, hat er sich inzwischen doch nicht blenden lassen und der Wirtschaft trotz allem Geschrei den Rücken gekehrt. Mirbach hat, wie ich eben erfahre, das gerade so gemacht.[7] Nun kam Fritz in der Nacht von Samstag auf Sonntag eiligst vor mein Bett, küßte mich und unsern Jungen noch einmal und ging dann in derselben Minute wieder fort zum Dampfer, der ihn gen Rheinbaiern tragen sollte. Er ist in der Gesellschaft Kinkels und Wulffs dahin. Von Mainz habe ich Nachricht von ihm bekommen, er ging auf Kaiserslautern zu ins Hauptquartier. Dort wird er hoffentlich nun wohl den Platz gefunden den haben, seine Tatenlust zu üben.
Wenn ich das kleine Fritzchen nicht hätte, ich eilte ihm gleich nach. Wenigstens in der Nähe des Kriegsschauplatzes wollte ich sein, und nicht hier unter meinen Buchdruckern. Warum seid Ihr jetzt auch nicht schon in Aachen, ich wollte Euch gleich meinen Jungen in Verwahrung bringen. Der gute Friede hat gleich zu mir eilen wollen. Ja es ist auch wahr, Ihr seid doch meine Liebsten und Treuesten, die ich auf der ganzen Welt habe...
Niemand fragt und kümmert sich sonst um mich. Nur mein Mutter und Ihr beide. Die Zeitung meldet Euch, wenn was Besonders vorfällt, wie z.B. der heutige Besuch von Polizisten, Protoführer, Oberprokuratoren, und was für Geschmeiß mehr.
Von Eberfeld erwarte ich nichts Entscheidendes - aber die Bewegung dort wirft dennoch ein immenses Gewicht in unsere Wagschale.
Bleibt fröhlich und gesund. Wir sind es. Fritzchen war einige Tage leidend vor meiner großen Aufregung. Er erholte sich aber ein wenig und ist frech wie ein kleiner robuster Bube. Eure alte Tilla.

In ihrer Neuen Kölnischen Zeitung Nr. 112, Mittwoch, 16. Mai 1849, berichtet Mathilde Anneke:

  • Heute morgen fand in der Wohnung Annekes eine Forschung nach Waffen und Schriften statt. Dieselbe wurde von dem Oberprokurator, Herrn von Saedt, geleitet, führte indes nicht zu dem erwarteten Resultat.

Ton und Richtung dieser Zeitung sind besonders aus dem anschließenden Artikel in derselben Nummer zu ersehen:

  • Berlin, 12. Mai. Die Ereignisse am Rhein und dem allzeit treuen Westfalen selbst, welche jetzt zum hellen flammenden Aufstand geworden sind, machen die Besorgnisse der Regierung im hohen Grade rege. Es wird Ministerrat auf Ministerrat gehalten, und man sucht sich selbst und untereinander Mut einzusprechen und zu energischen Beschlüssen zu bekräftigen. Daß man alles auf eine Karte setzen, daß man das Schwert allein will entscheiden lassen, scheint gewiß. Man wird das alte preußische Spiel wieder treiben, Bürger gegen Arbeiter, Besitzlose gegen Besitzende aufzuregen, je nach den verschiedenen Verhältnissen. Man wird die konfessionelle Verschiedenheit benutzen, man wird einen Stamm durch den anderen erdrücken wollen. Man glaubt Schlesien jetzt besiegt, man wird Berlin die nötige Truppenmacht konzentriert halten und weiß, daß Preußen, Pommern und die Mark nicht zu fürchten sind. Gegen Polen schickt man Schlesier und stachelt einen pseudo-germanischen Enthusiasmus gegen sie auf. Für Süd- und Mitteldeutschland, aber und für die Rheinprovinz bedient man sich der treuen Märker und Pommerns. Ein sehr wichtiger Leitartikel der Deutschen Reform zeigt, daß man sogar daran gedacht hat, die westlichen Provinzen ihrem Schicksal zu überlassen, nur Köln und Koblenz zu halten und die ganze Kraft zur Hilfeleistung an andere Regierungen zu verwenden. Jedenfalls gilt es, diesem schlauen Spiel alle Mittel entgegenzusetzen; es ist besonders die Aufgabe der westlichen Provinzen, in einem so gefährlichen Kampfe bis auf den letzten Mann auszuharren, obwohl wir durchaus nicht verkennen, daß die eigentliche Gefahr in der Untätigkeit des Nordens und besonders Berlins liegt.

In der Neuen Kölnischen Zeitung Nr. 149, Freitag, 1. Juli 1849, heißt es:

  • Der Chefredakteur der ehemaligen Neuen Rheinischen Zeitung Herr Karl Marx, hat bei seinem Abschied von hier die Bestimmung getroffen, daß die fortwährend noch einlaufenden Berichte für die Neue Rheinische Zeitung der Neuen Kölnischen zur Benutzung übergeben werden.

Viele Jahre später, anläßlich des Todes Ferdinand Freiligraths im Jahre 1876, blickte Mathilde Franziska Anneke noch einmal auf diese Tage des gemeinsamen Kampfes zurück und berichtete darüber in einem Vortrag vor einer deutschen Gemeinde in Amerika:

  • Am Rhein, den Weg über Köln nehmend, hatten wir die Schwingungen der Sturmesglocken, die in Paris so nachhaltig angeschlagen, weiter getragen. Die Erhebung des Volkes hier, in der heiligen Stadt, die bekanntlich wohl über hundert Kirchen und hundert Kapellen hat, wurde von der Soldateska unterdrückt und ihre Führer Gottschalk, Willich und Fritz Anneke, mein Gatte, wurden in den Kerker geworfen. Kaum drei Wochen nur umfingen sie für dieses Mal die undurchdringlichen Mauern des Gefängnisses, da tobte der Sturm im Osten mit gewaltsamem Brausen und von Berlin her erscholl der Ruf ihrer Befreiung. Zwei Tage schon und eine Nacht hatten wir auf den Ausgang der Dinge in der preußischen Hauptstadt geharrt. Da, in der zweiten bangen Nacht kam sie über den Rhein, die elektrisch zündende Botschaft: Das Volk hat gesiegt!
Ich wohnte zu dieser Zeit unmittelbar am Ufer des Rheines, gerade dem Bahnhof gegenüber. Mein Haus war zu einem Hauptquartier der revolutionären Freunde geworden, die als Emissäre vom Westen nach dem Süden und Osten Europas zogen als Sturmvögel. Die Sterne glänzten funkelnd am Himmel als über den Rhein die Siegeskunde erscholl, und ehe die Sonne noch ihre Strahlen aussandte, standen wir an den Toren der Feste, die unsere gefesselten Führer barg.
    Auf den Straßen Kölns war inzwischen Leben und Bewegung wie wenn ein Festtag anbräche. Wie ein Feuer hatte die große Nachricht sich durch die Gassen gedrängt. Das Militär in seinen glänzendsten Vertretern von den Hauptwachen kommend, wich uns aus wie von dem schlechtesten Gewissen in den engen Straßen zur Seite gedrängt. An dem Gefängnis angekommen, salutierten die Wachen, die uns vordem mit Kolben den Weg verschlossen hatten, und öffneten die eisernen Tore mit aller Bereitwilligkeit. Unsere Gefangenen, die in ihrer gänzlichen Unwissenheit über die Vorkommnisse der vergangenen Tage den Schlaf der Gerechten schliefen, mußten in ihren Zelten aufgerüttelt werden, um ohne Verzug den Weg in die Freiheit mit uns antreten zu können. Flammend stieg die junge Morgensonne empor, himmlisch die junge Freiheit. Ein Morgen der Seligkeit, ein Tag der Wonne im Siegesglanz. Wer könnte ihn vergessen, wer heute den Traum fassen und begreifen, was wir damals empfanden. Der Tag sollte in unseren Gefühlen höher noch gekrönt, mehr und mehr noch verherrlicht werden.
    Der kleine Dampfer (damals waren die Ufer dieser Stelle noch nicht mit der stattlichen Brücke verbunden) furchte mit besonderer
Eilfertigkeit auf das diesseitige Ufer und auf das mächtige Tor unserer Wohnung zu und setzte uns, wie Vorboten meldeten, den
Sänger des Tages aus, der da verkündet hatte: »So wird es kommen, eh ihr's denkt!« Ja, und so war's gekommen!
    In der Mitte einiger Freunde und Genossen, die von Düsseldorf her mit ihm gelandet waren, betrat Ferdinand Freiligrath die Schwelle meines heute so dreifach gesegneten Hauses. Vom Balkon aus, der über den Fluten hing, hatte ich ihn eintreten sehen. Ich ging ihm entgegen mit hoch klopfendem Herzen. Lange Jahre vorher schon hatte ich mit dem Dichter meines Heimatlandes Westfalen in Verbindung und momentanem Briefwechsel gestanden. Er war der regsame Mitarbeiter eines von  mir redigierten Westfälischen Jahrbuchs gewesen und als solcher mir mitsamt seiner Gattin, die ebenfalls Übersetzungen von Walter Scott dafür geliefert hatte, hoch teuer geworden. Nun trat er bei mir ein als der Sänger der Revolution, für die glühend und hoffnungsvoll mein jugendliches Herz schlug.
    Schüchtern wie ein Kind stand er vor mir, der große gewaltige Mann. Ich streckte ihm meine beiden Hände entgegen, die er ergriff und festhielt. Sein Blick ruhte lange auf mir mit einem Seelenausdruck groß, klar und rein.
    Auf der Altane, von der wir einen imposanten Blick über Strom und Land genossen, neben mir und meinem eben befreiten Gatten saßen der Dichter und die Freunde mit uns vereint. Der Rhein fächelte uns mit seinem frischen Wehen Stirn und Wangen. Wir blieben lange beisammen, und was da ausgetauscht, vermag ich nicht zu melden. Aber es waren Regungen, in denen die Seele himmelhoch jubelt und jauchzt und einstimmt in des unsterblichen Ulrich Huttens Wort: »O Jahrhundert, die Geister sind erwacht, es ist eine Lust
zu leben!«
    Der Weihelenz von 1848 hatte Siege gebracht, aber keine Befreiung. Die Zugeständnisse, die den Forderungen des Volkes gemacht waren, solange es das siegreiche Schwert in den Händen behielt, waren unerfüllt geblieben, die Errungenschaften in das Reich der Märchen und Träume verwiesen. Nach der bedeutungsvollen heißen Junischlacht in den Straßen von Paris erhob die Hydra der Reaktion allüberall von neuem ihr Haupt und die Tore der Kerker öffnetem sich wiederum allerwärts. Da erscholl durchs Vaterland die mächtige Mahnung, eine Stimme aus den geheiligten Gräbern der Dahingestreckten, »Die Todten an die Lebenden«. Der Augenblick wird mir für mein Leben lang unvergeßlich bleiben, da eines Tages der Dichter in meine verödete Wohnung eintrat und mir vom Manuskript seine ergreifende Dichtung vorlas. Die Schergen der Gewalt hatten, unter empörenden Umständen nächtlicher Weile mit bewaffneter Hand eindringend in das Heiligtum meines Hauses, den Gatten mir zum zweiten Male in den Kerker geschleppt. Ich hatte wenige Tage nach dieser brutalen Tat meinen ersten Sohn geboren und eilte, in der Hoffnung, dem Vater sein erstgeborenes Kind mindestens in den Arm legen zu können, mit ihm in das Gefängnis. In das Innere
Kerkers geführt, hielten die Eisenstangen jedoch den dahinter festgehaltenen knirschenden Gefangenen fern von mir und dem Kinde und machten jede nähere Begrüßung unmöglich.
    Verstummt in meinem Schmerz saß ich allein. Da sollte mir Trost aus den Gräbern werden durch den Liedermund des unsterblichen Dichters. Ich sollte es von seinen Lippen hören, das Lied der Toten, und dann, so wollte der Dichter es, meinem Gatten in den Kerker senden, damit es auch ihm ein Hoffnungsstrahl in seiner Kerkernacht werde. Ich tat, wie er es wollte.    Einige Tage später, als er wieder nach Düsseldorf zuruckgekehrt war, woselbst er mit seiner Familie Aufenthalt genommen hatte, erfaßten den Dichter die Häscher und schleppten ihn ins Gefängnis. Die Wut des Volkes in dessen Mark und Blut die Dichtung bereits gedrungen war kannte anfangs darob keine Grenzen. Aber es ließ sich beruhigen von den »Freunden der Ruhe« und auf die zu erwartende Freisprechung des Dichters von der Anklage »die Massen aufgewiegelt zu haben« verweisen. Wohl zitterte man eine Zeit lang um das Leben des Sängers, aber die Gerechtigkeit saß zu Gericht, der Spruch war reif, und unter den drohenden Fäusten der Beherzten im Volke geschah es, daß nach mehreren Wochen qualvoller Einsperrung ein »Nichtschuldig« der Geschworenen erfolgte. Dieser Triumphzug, mit welchem das Volk seinen Dichter aus dem Kerker und durch die mit Blumen bestreuten Straßen führte, steht in den Annalen der Stadt Düsseldorf verzeichnet und der Tag als einer der größten Jubeltage der rheinischen Bevölkerung. Sein Urteilsspruch wurde dem Dichter unter einem Blumenregen verkündet, den die nicht zu zügelnde Menge ihm spendete. Ich hatte einen Lorbeerkranz für ihn gewunden, den zu meiner Genugtuung ihm in dem letzten Augenblick seiner Gefangenschaft der Staatsgouverneur selber überreichen mußte. Die Gefangenen in Köln warteten noch lange vergebens auf die Stunde ihrer Befreiung. Inzwischen hatte Freiligrath sich entschlossen, mit Frau und Kind zu uns nach Köln zu ziehen. Ich empfing von meinen geliebten Freunden den Auftrag, nahe meiner Wohnung auch ihnen ein Heim auszuwählen. Hier, am Ufer des alten Vater Rhein, lebten wir nicht fern voneinander, uns täglich begrüßend mit wechselnden Hoffnungen und Täuschungen, harrend und wirkend für die Sache der Freiheit.
    Die Neue Rheinische Zeitung, die mit den Blitzen der Gedankenmacht an dem alten Bau der gesellschaftlichen Zustände Jahre zuvor gerüttelt hatte, erstand wiederum. Die Geister hatten sich auf dem alten klassischen Boden der Tollheit und Frömmigkeit zusammengefunden und begannen von neuem den Reigen gegen das bestehende Schlechte. Freiligrath unternahm an der Redaktion einen wesentlichen Teil der Mitarbeit. Der Sturm zog über Europa dunkler und dunkler. Überall da, wo die deutsche Zunge gesprochen wurde, ward die Neue Rheinische Zeitung ein Leuchtturm in diesem Sturme. Die Klänge einer Geisterharfe brausten durch denselben. Es war die Hand unseres Dichters, der sie so machtvoll rührte.
    Jede neue Morgensonne verkündete neue Schrecken, neue Siege, und ob wir klagten oder jubelten - für jedes Leid, für jede Lust in dieser Zeit des Leides und der Lust hatte sie einen Ton für uns.
    Allein, als am 19. Mai 1849 die letzte Nummer der Neuen Rheinischen Zeitung in blutroter Schrift erschien und an ihrer Stirn das Abschiedswort, jenes unsterbliche Ade, Ade! von Freiligraths florumhüllter Harfe erklang, o wie wehe, wie tränenvoll da manches Herz und Auge unserer Nation war!
    Kein offner Hieb in offner Schlacht
    Es fallen die Nucken und Tücken.
    Nicht lange nach diesem und den letzten verzweifelten Schlachten in Dresden, Ungarn, Baden und der Schweiz, im heißen Juli des Jahres 1849 erlag die Revolution. Ihre Streiter und ihre Sänger wurden gestandrechtet oder in alle Länder verstreut. Dies war der Augenblick, in welchem der glücklich nach London entkommene Poet daran denken mochte, seine wundervolle Phantasie »Der ausgewanderte Dichter«, das Werk einer früheren Periode, in die Tat zu übersetzen.
    Sein Blick war nach dem freien Westen gewandt. Viele von den Unsrigen bereiteten sich zur Abfahrt. In Havre, als wir an Bord unseres Seglers gehen wollten, gerade in dem Augenblick traf mich das letzte Lebewohl. Nebst einem Band seiner Gedichte zum Andenken empfing ich einen Brief von ihm, darin der Dichter schrieb, daß er und die Seinen uns bald nachfolgen werden in die neue Heimat, daß er mich aber einstweilen dahin geleiten wolle mit warm empfehlenden Briefen an die ihm befreundeten großen Poeten des Landes, Longfellow und Bayard Taylor. Ich trug wie ein Vermächtnis die Aufträge, die er mir beim Scheiden vom Mutterland gegeben, über das Meer und sandte bei meiner Ankunft am hiesig Gestade die Briefe an ihre Adressen. B. Taylor war gerade damals in Ägypten. Ob er den Brief erhalten hat, weiß ich nicht. Als ich im späteren Jahre auf einer Vorlesungstour durch die östlichen Staaten in Boston weilte, erhielt ich eine Einladung in das ehrwürdige Haus und die Familie Longfellow. Ich sage ehrwürdiges Haus, denn der amerikanische Dichter bewohnte es im selben Stile und noch in der selben Ordnung, wie Georg Washington es einst bewohnt hatte, die Schlacht um Bunker Hill tobte. Unsere Begrüßung lehnte sich an die Erinnerungen an unsere deutschen Dichter, und in unserer Unterhaltungen fanden gegenseitig reifliche Erwägungen statt, ob es für  Freiligrath   geraten  sein  würde, hieher  auszuwandern. Der Freund, der amerikanische Dichter, entschied sich mit Bestimmtheit dagegen und wünschte ihn von seinem Vorhaben abzuhalten, wenigstens für den nächsten Zeitpunkt. Ob nach diesem unser alter Barde diesen Gedanken weiter verfolgt hatte, nach Amerika zu kommen, weiß ich nicht. Genug, wir wissen, wie schwer er an der Verbannung bitter Brot gegessen hat, bis endlich das deutsche Volk seiner Ehrenpflicht nachgekommen und durch ein ansehnliches Nationalgeschenk ihn zurückgeladen und ihm die mütterliche Erde heimisch gemacht hat. Ans Herz der Heimat warf sich der Poet, ein anderer und doch derselbe!

Der Brief Freiligraths an Longfellow, den Mathilde in dieser Rede erwähnt, ist datiert »Köln, am 20. September, 1849«. Er ist auf englisch geschrieben,  berichtet von der führenden Rolle des Ehepaares Anneke im badischen Aufstand und von Mathilde, die außerdem eine begabte und bewunderte Dichterin unseres Landes ist. Freiligrath fährt fort: Im letzten Winter und Frühling waren die Annekes unsere unmittelbaren Nachbarn hier in Köln - nun suchen sie ein Heim jenseits des Ozeans, vielleicht um Deine Nachbarn zu werden. Empfange sie freundlich! Frau Anneke kann Dir viel von meinem häuslichen Glück erzählen. Wenn Du Gelegenheit haben solltest, ihnen mit Rat zur Seite zu stehen, bin ich sicher, daß Du ihn diesen edlen und geschätzten Freunden mit Freude erteilen wirst...[8]

Mathilde
an Franziska Rollmann,   
spätere Hammacher  
undatiert (1849), vermutlich aus Straßburg

Meine geliebte, geliebte Franziska!
Aus der Verbannung, die ich mit meinem Fritz teile, empfängst Du jetzt Briefe von mir, und zwar nach langer Unterbrechung unseres Briefwechsels. Ich bin von Köln abgereist, ohne Dir erst geschrieben zu haben, das wirst Du mir verzeihen können, wenn Du weißt, unter welchen Umständen und in welcher Zerrissenheit des Herzens das geschah. - Ich ahnte auch nicht, daß ich am Vorabend großer Erlebnisse Abschied von der Heimat nahm und einen blutigen Morgen in den Ländern, denen ich entgegeneilte, so bald tagen sehen sollte ...
Laß mich Dir erzählen. Fritz schrieb mir einen Brief aus Kaiserslautern, daß ich zu ihm kommen möge. Ich konnte nicht, da das Geschäft und die Kinder mich ihm nicht folgen ließen. Ich hatte unter den furchtbarsten Anstrengungen die Vorbereitung der Zeitung auf einen glänzenden Standpunkt gebracht, die uns für alles schadlos zu halten versprach, als die löbliche Polizei mir das sauer eroberte Stückchen neidete. Sie legten mir ein Hindernis nach dem anderen in den Weg, nahmen mir die gemäßigt gehaltenen Zeitungen weg und dergleichen. Meine eigene Freiheit war bei solch fortgesetzten Verfolgungen auf die Dauer sicher beschränkt, und ich mußte bei Zeiten mir die Lage unserer Dinge von allen Seiten betrachten... Ich wollte Köln mit einem anderen Wohnort vertauschen und mir zu diesem Zweck nicht nur Städte am Oberrhein besehen, sondern auch mit Fritz, sofern ich ihn auffände, darüber beraten ... Ich schied mit blutendem Herzen von meinen Kindern, doch in der sicheren Hoffnung auf höchstens 14 Tage nur. Am zweiten Tag meiner Abreise war ich in Mannheim, dem kriegerisch aussehenden Mannheim. Fritz, so hieß es, sei noch in Kaiserslautern, dahin ich von Ludwigshafen in einigen Stunden gelangen könnte. Der Bahnzug dahin ging am anderen Morgen in aller Frühe ab, ich benutzte ihn. Schon beim Einsteigen in den Wagen hörte ich von einem blutigen Gefecht, das die Freischaren mit den über die Grenze gedrungenen preußischen Vorposten gehabt. Letztere waren zurückgeschlagen, und man hatte die Hoffnung, die übermütigen Freiheitsmörder noch eine Weile von den Marken des herrlichen Landes fernzuhalten. - Wir waren bis Neustadt an der Haardt gekommen, woselbst wir in einem Omnibus zwei Stunden weiter zur Fortsetzung der Bahn nach Neidenfels geschafft werden sollten. Unterwegs hieß es schon, die Bahn werde nicht mehr fahren, man könne nicht mehr nach Kaiserslautern kommen. Ich wollte und mußte aber zu meinem Fritz. -
In Neidenfels angekommen, waren die regelmäßigen Züge eingestellt. Viele Waffen, Vorräte von Kugeln und Kanonen und Kämpfer lagen zerstreut an den Abhängen des Berges und im Bahnhof selbst. Ich fragte nach Fritz, da hieß es einmal, er sei in Neustadt; das schien mir etwas fraglich. Ein abfahrender Rekognoszierungszug, der weiter gen Frankenstein fuhr, nahm mich nach einigen Vorstellungen auf. Meine Fragen nach Fritz waren auch hier wieder kraus und bunt beantwortet. Einmal hieß es, er sei mit dem Generalstab nach Neustadt, die Preußen seien in Kaiserslautern eingerückt und da habe das Hauptquartier nach Neustadt verlegt werden müssen, das andere Mal hieß es, der Anneke sei wieder gen Kaiserslautern mit Kanonen gezogen. Ich war von K. noch 5 Stunden entfernt; Bahnzüge gingen nicht mehr; ein Wagen war in diesen Gebirgen schwer zu bekommen, vielleicht ein Pferd, doch sah ich ein, daß ich mich selbst darum bemühen mußte. Mein klein wenig Gepäck ließ ich einem Eisenbahnbeamten und machte  mich bei großer Mittagshitze zu Fuß auf den Weg. In einem großen Bergkessel erblickte ich plötzlich auf dem Wege eine Menge Kanonen und Truppen, ich wußte, daß ich ihn dabei finden konnte. Meine Nachfragen hier lauteten indes noch sehr unbestimmt. Vor einer Stunde war er mit einigen Kanonen wieder auf dem Wege nach Lautern zurückgegangen, ob nach L. oder wohin, wußte man nicht. Ein junger bayrischer Bürgersoldat übernahm es, mich auf den Weg zu geleiten.
Ich ging eiligen Schrittes eine halbe Stunde, jeden Vorübergehenden fragte ich nach ihm, und die Antwort war jedesmal befriedigender, als ich ihm näher auf den Fuß kam; schon hatte ich Hoffnung, ihn auf eine halbe Stunde eingeholt zu haben, da plötzlich sehe ich von Weitem einen Reiter heransprengen. - Es war mein Fritz. Der mit der Lokomotive zu seinen Diensten hin und herfahrende Führer hatte ihm zugerufen, seine Frau suche ihn. - Wir lagen uns bald in den Armen und gingen Arm in Arm zu der  Stelle, eine schöne, enge, wilde Talschlucht, in der er sich gegen die Preußen verschanzt hatte mit seinen Kanonen. Ich stand also, gerufen von der Liebe, plötzlich inmitten des Krieges   bevor ich es selbst wußte. Wären die Preußen in diese Falle hineingegangen, sie wären schön begrüßt worden. Auf den Bergen lagen die Scharfschützen versteckt, im Tal standen die schußfertigen Kanonen. - Die Feinde hüteten sich indes wohl - anstatt in die Engpässe der pfälzischen Gebirge zu kommen, umzüngelten sie lieber mit ihren großen Massen das in den offenen Ebenen.
Es blieb uns daher nichts anderes übrig, als zur Hauptarmee zurückzukehren und mit dieser vereinigt den Kampf aufzunehmen. Abends 10 Uhr ward der Marsch nach Neustadt angetreten. Ich ritt das Pferd von Annekes Adjutanten, neben ihm und neben den Kanonen. Es war eine wundervolle Nacht, und der wilde Ritt durch dies prächtige enge Tal, an beiden Seiten himmelhohe Berge,in Gemeinschaft von wüst aussehenden Blusenmännern, die als Soldaten der R. Kanonen auf diesen Rädern gewissermaßen hingen, war so romantisch, meine liebe Franziska, daß ich Dich auf eine ausführlichere Beschreibung verweisen muß. Einmal nur, in einer tiefen stillen Schlucht hielt der ganze Troß an und lud mich in eine kleine Kneipe ein; es war ein niedriges Zimmerchen, der Wirt rieb sich den Schlaf aus den Augen und Frauengestalten krochen ängstlich aus ihren Gemächern in wunderlichen Erscheinungen. Schiller hat in seinen romantischen Räubern einst eine solche Szene beschrieben. Denke Dir lauter schöne bärtige Männergestalten mit dem Tode befreundet, um das Leben für den schönsten Traum ihrer Seele die Freiheit hinzugeben, in fabelhafter Kleidung, mit runden Hüten, von denen eine rote Feder oder ein grüner Zweig weht, bewaffnet mit Büchsen, Schwertern, Pistolen und Stiletts im Gurt. - Der Wirt brachte Wein, und die Streiter tranken mir zu und bewillkommneten mich in zarter wie in herzlicher Weise.[9]
Wir hatten 7 Stunden zu reiten. Gegen 4 Uhr morgens langten wir in Neustadt an. An Quartier im Gasthaus war nicht zu denken, wir kamen in ein Privathaus durch die Freundlichkeit eines Mannes, der das Amt des Quartiermachers übernommen hatte. Die Ruhe tat mir unendlich wohl in diesem reichen behaglichen Hause. An eine Heimkehr war nicht zu denken. Einmal konnte ich die preußische Truppenlinie, die sich schon rund um mich herumgezogen hatte, nicht wieder durchdringen, das andere Mal konnte ich Fritz nicht mehr verlassen. Meine Kleinen hatte ich einstweilen in guter getreuer Obhut - was konnte da geschehen. Ein sehr nettes Pferchen ward mir bald vom Hauptquartier zugeteilt, ich versah mich mit Reitkleidern und blieb nun stets an der Seite meines Fritz. - So bin ich denn auf dem 4 Wochen langen Zug in manchem Kugelregen, insbesonders in dem heißen Gefecht bei Übstadt gewesen, ohne von einer Kugel getroffen zu sein; ich sowohl wie Fritz sind wohlbehalten. Den ganzen Zug Dir zu schildern würde nicht gehen, meine liebe Franziska, so viel aber, daß wir uns seit dem Tage nach der Schlacht vor Rastatt aus dieser Festung durch die Flucht zuruckgezog haben, um den Preußen, die sich bereits nach Freiburg gezogen und den Rest des Badischen Landes umzüngelt haben, nicht in die Hände zu fallen. - Es ist uns unter den abenteuerlichsten Fahrten gelungen, bei Nacht und Nebel zu Schiff durch eine wahre Wasserwüste an die Grenze von Frankreich zu kommen. So sitzen wir denn hier, inmitten mehrerer Flüchtlinge und in der Nähe von unserm Freunde (Moses) Hess und seiner Frau, unmittelbar an dem reizenden Ufer der Ilm, im Angesichte der Vogesen, nahe bei Straßburg.
Wir haben in der rasenden Eile der Flucht unser sämtliches Gepäck im Stiche gelassen, und ich sitze in diesem Augenblick noch auf 1 Hemd, 1 Paar Strümpfen und, was man so nur auf dem Leibe hat, reduziert. Geld haben wir durch den Verkauf eines Pferdes noch
vorläufig und das zweite, das meinige, wird uns noch für einige Wochen damit versehen. - Von meinen Kindern habe ich keine Kunde - ich sehe stündlich Nachricht von ihnen mit wahrer Fieberwut entgegen. Das bleiche Gesichtchen meines kleinen Knaben steht mir Tag und Nacht vor der Seele. - Du glaubst nicht den Kampf wischen Liebe und Liebespflicht. - O könnte ich sie erst wieder ans Herz mir drücken - aber die Heimat wird auch mir verschlossen sein, nachdem die heroischen Anstrengungen der Freiheit so schmählich unterdrückt sind. - Der Kampf ist aber noch nicht zu Ende, er wird in der Schweiz fortspielen. - Was uns für ein Los beschieden? Das wissen die Götter. Hunderte wollen mit uns über den Ozean. - Wolltet auch Ihr mit uns - dann brauche ich nicht die Heimat zu betrauern, aber Ihr - und doch ich weiß jetzt auch nicht, was Friede noch hofft; - was anders noch als die grünenden Fluren Amerikas.
Uns fehlt es freilich an Geld; allein viele, die sich uns anschließen wollen, namentlich vom Oberrhein, haben Geld, und da schlüpfen wir mit ihnen vielleicht durch - aber was hilft das alles, ohne meine Franziska
Schreibe bald! Geht mit uns übers Meer! - Und Du gedenke Deiner Tilla in guten wie in bösen Tagen. -

Hier, »an dem reizenden Gestade der Ilm, unweit Straßburg, bei gastlichen Landleuten«, schrieb Mathilde Franziska Anneke ihre Memoiren einer Frau aus dem badisch-pfälzischen Feldzug, die sie bald nach ihrer Ankunft in den Vereinigten Staaten in Druck gab.

Was wird nicht alles erzählt worden sein über den kurzen und glücklichen Feldzug in Baden und der Pfalz! Was werdet ihr nicht alles gläubig aufgenommen haben? Die »ruhmwürdigen Siege des preußischen Kriegsheeres« und die »Feigheit der zerlumpten Insurgentenbanden« sind ohne Zweifel stehender Refrain der Bülletins gewesen, die zu Euch frank und frei Eingang fanden, während wir  Euch keine Botschaft entsenden konnten ...

So beginnt sie ihre Schilderung, die 96 Seiten füllt.

Viele von Euch im fremden wie im Heimatlande werden mich schmähen, daß ich, ein Weib, dem Kriegsrufe gefolgt zu sein scheine. Ihr besonders, Ihr Frauen daheim, werdet mit ästhetischer Gravität sehr viel schön reden über das, was ein Weib thun darf, thun soll! Ich selbst habe das auch einst gethan, bevor  ich noch gewußt habe, was ein Weib thun muß, wenn der Augenblick vor ihm steht und ihm gebietet.[10]

Aufmerksam beobachtet und registriert sie:

Wie ganz anders hier die Art und Weise die Belehrung in den Handgriffen an den Waffen, als ich sie wohl auf den Exerzierplätzen in dem preußischen Vaterlande zu hören gewohnt war! Da stand ein Haudegen, bärtisch, martialisch aussehend, den jungen ungelehrigen Kriegern hundert Mal das »Schultert's Gewehr!« oder »Schlagt an.« vormachend mit einer Geduld und Nachsicht...

Bitter klagt sie über die Tatenlosigkeit daheim:

Was konnte ich bringen, welche Kunde? - daß daheim alles in müßiger Ruhe sei, daß nichts geschehe, um die preußische Truppenmacht da unten ein wenig aufzuhalten oder zu beschäftigen, daß man nichts sehnlicher hoffe und wünsche, als der Sieg der Demokratie käme ihnen fertig zugeflogen, wie die gebratenen Tauben weiland den aufgesperrten Mäulern![11]

Und sie spricht von nur

wenigen Freunden, die hinter dem Ofen hervorkrochen und zum Kampf eilten, zu dem sie sich zu sehnen mit dem Munde so kühn vorgaben.[12]

Ihre Stellung in diesem Feldzuge beschreibt sie:

Da ich Proben meiner sattelfesten Reitkunst, die ich seit meiner frühesten Kindheit mit Leidenschaft geübt habe, bereits abgelegt und erklärt hatte, von der Seite Annekes nicht mehr weichen zu wollen, so ward mir in Neustadt ein gutes, aber gänzlich rohes Pferd aus dem 
Kriegsdepot überwiesen. Aus Dankbarkeit dafür übernahm ich die Stellung eines Botschafters, oder wenn man will, einer Ordonanz bei Anneke, welche Stelle ich mir schmeichle, bis zu Ende des Feldzuges zu seiner Zufriedenheit ausgefüllt zu haben.[13]

Sie empört sich über Brutalitäten in den eigenen Reihen und kritisiert sie scharf:

Das Verfahren dieser rohen Menschen empörte mich in tiefster Seele, aber das Verfahren der obersten Führer, die eine solche Manneszucht duldeten und einreißen ließen, empörte mich noch viel mehr.[14]

Aber sie ist von der Heiligkeit der Sache überzeugt:

Sie scheinen nicht zu bedenken, wie groß, wie ernst und heilig die Sache ist, für die sie eben in den Kampf gehen wollen. Wußten sie's noch nicht, so könnten sie's dadurch begreifen lernen, daß eben Frauen sich dem Streite beigesellen. Blicken sie hinüber in die Reihen ihrer Feinde, ob dort ein Weib ihrem Manne gefolgt ist in der Absicht, wie ich dem Meinigen folgte. Ich glaube, Sie werden keine finden, keine Frau wird an einem unheiligen und schlechten Werke Theil nehmen und ihr Leben dabei einsetzen.[15]

Tatkräftig unterstützt sie ihren Mann, wo immer es not tut:

Ich bekam die Weisung, zwei Berghaubitzen, die nicht fern von uns in der Niederung hielten, herauf zu beordern. Ich sprengte zu dem sie führenden Offizier, hatte ihn aber noch nicht erreicht, als der seine wilde Flucht anzutreten eben im Begriffe ist. Ich holte ihn 
natürlich mit meinem raschen Pferde ein, bewege ihn auch durch eine sehr nachdrückliche Meldung des Befehls zum Umkehren, indeß die uns ins Antlitz speienden Zündnadelgewehre machen auf den Feigling solchen Eindruck, daß er nicht voran will. Ich suche ihn zu ermutigen, ich sage ihm auch, er werde augenblicklich erschossen, wenn er in diesem wichtigen Momente nicht augenblicklich Folge leiste - er setzt sich auch zögernd in Bewegung...[16]

Spannend berichtet sie über die letzten Kämpfe um Rastatt und von ihrer Flucht durch das letzte offene Tor der Festung und über den Rhein. Sie schließt mit den Worten: Lebe wohl deutsche Erde, lebe wohl mein armes unglückliches Mutterland.
Mit keinem Wort berichtete Mathilde Anneke jemals über ihre Verwundung, worüber Dokumente im Generallandesarchiv Karlsruhe Zeugnis geben:

  • Von den Freischaaren wurden viele gefangen, die dann später hierher kamen. Die Freischaaren, die aus Durlach hinausgeworfen worden waren, flohen nach Ettlingen, teils folgten sie der Landstraße, teils zogen sie sich durch den Wald und die Felder über Au und Wolhartsweier, ohne den Feldern Schaden zuzufügen, zurück. Frau Anneke, die Amazone, war auch bei diesem Rückzuge, sie wurde am Ohr verwundet und fürchtete ihr Gehör zu verlieren, In Au entspann sich bei dieser Flucht ein Gefecht.[17]

Mathilde
an ihre Mutter, Elisabeth Giesler   
Zürich, den 15. August 1849

Meine liebe gute Mutter!
Während Du uns noch in »Straßburg auf der Schanz« geglaubt hast, saßen wir schon in den Schweizertälern und Bergen. Zeitungs-und Correspondenz-Nachrichten werden Dich seinerzeit schon davon benachrichtigt haben, außerdem auch meine Liliput-Briefchen an Fanny. Deine Briefe empfing ich in Zürich, dahin ich sie mir von Straßburg nachschicken ließ.
Also Du kannst nicht fertig werden mit der unglückseligen Sache und kannst daher die Reise nicht mit antreten. Die große Reise, zu der ich nun gar keine Hoffnung und Lust mehr habe. Ja, wären wir zusammen gegangen, so wär's etwas anderes. So aber - ich weiß nicht, was ich in der Neuen Welt, in den Urwäldern, mit meiner einzigen Kunst die Feder zu führen, anfangen soll. Doch ich will mir den Kopf nicht zerbrechen an dieser harten Nuß. Soll und muß ich hin - gut. Kommt Zeit, kommt Rat! Ja, wenn alle unsere Lieben zusammen den Ozean durchfurchten - aber allein - mit den zwei Kindern, die beide nicht gehen können - doch genug davon.
Unser kleines Fritzchen wird wieder ein kleiner niedlicher Bengel. Er ist keck und frech; trinkt Milch, geht in den See und tut als ob er
laufen lernen wollte. Ich schreibe den ganzen Tag und kucke zur Abwechslung einmal in das schöne Schweizerland. Wir wohnen in einem Privathause am Züricher See, wo wir Essen und Trinken etc. für ein ziemlich billiges Geld haben. Die konfuse Schweizer Küche läßt mich aber fast Hunger leiden. Beust wohnt 200 Schritte von uns. Seine Anna ist mit ihrer Mutter seit 5 Tagen hier bei ihm, nun ist der Mensch ganz glücklich. - Willich ist am Genfersee und hofft stündlich auf den Ausbruch der neuen Revolution; Beust hofft ebenfalls darauf. Fritz und ich glauben so bald nicht daran. Marquardt hat wohl recht: die Demokratie am schlesischen Webstuhl. Und auf unseren Schlachtfeldern hat sich ein großer Teil des Volksheeres tapfer geschlagen und ist mutig in den Tod gegangen. Ich habe einen Freund verloren, einen gewissen Lange aus Köln, einen der liebenswürdigsten und edelsten Menschen, die ich gekannt habe; er fiel in der Schlacht bei Durlach - starb aber erst in der preußischen Gefangenschaft an seinen Wunden. Einen andern aus Köln, einen Handwerker und mir sehr lieben Streiter habe ich auch verloren. Ich vermute, daß auch er ein Opfer ist.
Wie geht es denn meinem Fannychen? Wird es sich freuen, wieder zu uns und seinem Brüderchen zu kommen? Wenn ich »Fanny« rufe kuckt der Junge sich um. Maria unterrichtet Fanny wohl fleißig in hübschen Handarbeiten...
Ich wollte, ich könnte Euch alle zusammen mal hier an den Zürichersee versetzen, oder oben auf den Utli, der mir da so kühn über das Haupt hinweg schaut und den ich neulich bestiegen habe...
Übrigens kann man in diesem gesegneten Lande die materiellen Vorteile einer Republik praktisch begreifen lernen. Wohlhabenheit ist überall, und wer Luxus machen will, darf's wahrhaftig nicht auf Landeskosten. - Das Beamtentum ist sehr klein -  die höchsten Gehälter durchschnittlich 1600 Gulden (etwa 700 Taler). Am herrlichsten und schönsten sind die Schulen eingerichtet...
Grüßt alle Freunde und sagt, sie möchten uns lieb behalten.
Eure treue Mathilde

Mathilde
an Franziska Hammacher-Rollmann
Zürich, am 16. August 1849

Meine liebe Franziska!
Immer weiter von Dir, immer weiter sind wir gekommen. An dem tiefblauen Züricher See sitzen wir jetzt. Desto weiter wir gehen, desto mehr vergissest Du uns wohl?
Ach, es ist anders, wenn man im fremden Lande gebannt ist. Da kommen die Geister aller Lieben und aller Zeiten und rufen tausendfache   Erinnerungen  wach.  Franziska, ich muß viel an Dich denken...
Unser kleiner Fritz ist unsere Freude. Er fängt wieder an, gesund und munter zu werden. Die Schweizer Milch bekommt ihm vortrefflich, so wie die Luft, und vor allem das Bad, das er täglich in dem klaren, offenen See nimmt. Er ist ein kleiner, kühner Geselle, ein
rechter Eisenfresser.
Das wunderbare Schweizerland kann mich nur für Augenblicke entzücken. Die Gletscherhöhen mit ihrem ewigen Schneegefilde und ihren Eiszacken schauen mich im Bette an, und die üppigen Ranken der Rebenhügel kann ich aus meinem Fenster fast mit den Händen greifen. Aber was hilfts, wenn man Stimmungen, wie die heutige nicht bewältigen kann...
Die einzige freudige Nachricht, die mich noch erreichen konnte, wäre, daß Dein Friede die Advokatur in Wiesbaden erlangt hätte. Er schrieb uns vor einigen Tagen davon. Ich möchte Dich, zartes Heideblümchen, gerne in die schönen Gaue des Rheines verpflanzt sehen. Dort kann Dir an der Seite Deines Friede eine schöne Zukunft leuchten. Ich baue auf ihn! -   
Ach, wenn ich Dich so neben mir sitzen hätte, wie könnte ich da einmal mein ganzes Herz ausschütten. Was für Hoffnungen, Pläne wir haben, wirst Du mich zuerst fragen. Ich kann Dir antworten: gar keine. Weder Hoffnungen, noch Pläne. Amerika? Ja, meine Sehnsucht ist es niemals gewesen. Und in diesem Augenblick wo ich kein Mittel, nicht das Geringste zur Ausführung sehe - was hilft da Pläne machen.
Hier kam ein Brief Deines braven Friedes, unseres treuesten Menschen. Er schickte eine sehr reichliche Unterstützung, die sehr gelegen kam, da wir mit unserer Barschaft bis auf einen Batzen gekommen waren. Das ist freilich hier nicht so schlimm, da man Kost und Logis im Hause hat, zahlt, wenn es gerade Zeit ist. Unangenehm ist es aber immer, da die kleinen Bedürfnisse für ein Kind  sich in jedem Augenblicke melden. Zudem eröffnet uns Friede auch die Aussicht, nach Amerika gehen zu können. Es mag denn sein! Ich stemme mich nicht gegen das Verhängnis. Und wenn Fritz dort endlich, endlich Ruhe und Zufriedenheit erlangt, ist mein Zweck erfüllt. Friede gibt mir Hoffnung, daß er nach Wiesbaden geht. So kann ich die Freude doch mit übers Meer nehmen...
Ich weiß nicht, ob ich Dir mal geschrieben habe, daß wir unsern Adjutanten (Carl Schurz) an dem letzten denkwürdigen TAge in Rastatt nicht mehr herausbekommen konnten und Flucht ohne ihn fortsetzen mußten. Ihm ist es nun nach der Übergabe der Festung noch gelungen, mit noch zwei andern aus dem Höllennest herauszukommen. Zwar nach den unseligsten Leiden, Hunger und Durst und Schrecken, während sie sechs Tage im Versteck gelegen hatten abgemattet, daß sie fast nicht mehr fort konnten. Sie nahmen ihren Weg durch eine gänzlich unbekannte Kloake, die aus den Festungsgräben ins offene Feld führte.
Die Leute, die bis jetzt erschossen sind von den preußischen Standrechtsbestien, habe ich fast alle gekannt. Besonders leid tut mir der Kommandant Tiedemann, ein sehr interessanter Mensch, er mich einige Stunden lang aufs angenehmste unterhielt, während er mich durch das Schloß von Rastatt führte.
Ich trage den großartigsten Stoff zu einem Roman aus dieser interessanten Zeit mit mir herum. Wenn einer morgen wollte zu drucken anfangen, er könnte es wagen. Ich hätte ihm bald drei Bände voll geliefert.
Nun, meine Franziska, leb wohl. Schreibe mir, ich bitte Dich, ein liebes Briefchen. Adressiere an Beust, bei Lehrer Mayer in der Enge
bei Zürich. Ach, Du glaubst nicht, wie ich mich nach der Heimat - nach Deinem Wiedersehen sehne. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, meinen Fuß wieder auf den Boden der Heimat setzen zu können. Ich gebe sie nicht auf. -    ..
Ich umarme Dich, Franziska, mit meiner innigsten Liebe. Grüße mir Deine Schwestern und Deine Freundinnen. Bleibe gesund.
Deine Mathilde.

Mathilde
an ihre Mutter, Elisabeth Giesler
Sonntag, den 16. September 1849

Meine liebe gute Mutter!  
Heute vor acht Tagen hast Du mir gerade um diese Zeit geschrieben. Ich will schon meine Antwort beginnen, wenn ich sie Dir auch noch nicht einsende. Vielleicht erfahre ich bei Fannys glücklicher Ankunft in Basel Erfreulicheres von Dir.
An Julius habe ich unsere Ankunft gemeldet; ich habe ihm gesagt, daß es vom ersten Augenblicke unser vereinigtes Wirken sein sollt, unsere Mutter und Geschwisterchen nachzuziehen. All mein ernstes Arbeiten kann nur darauf gerichtet sein, meine gute Mutter. In Neuen Welt soll es bei etwas Intelligenz und Arbeitsamkeit leicht sein, viel viel Geld zu gewinnen. Du weißt, daß mir und meinem Fritz beides nicht abgeht. Da wäre es ja Spaß, bald so viel zu erreichen, daß wir Dich herüberholten. Ich rate Dir dann, den alten Pfuhl gänzlich unangerührt zu lassen und der Neuen Welt, wo wir Deiner mit offenem Herzen harren, entgegen zu eilen. Was Du uns dort in unserer Kolonie nützen kannst mit Deinen Erfahrunge der Gartenkunst und Ackerwirtschaft, das kann niemand.
Unsere neusten Nachrichten aus Amerika sind mehr als glänzend. Die Berichte über die Cholera lauten jetzt beruhigend. Während diese Seuche in Deutschland zunimmt, läßt sie in Amerika bedeutend nach. - Mit unseren freilich sehr geringen Mitteln, die uns nur erlauben, den allergeringsten Platz auf einem Segelschiff einzunehmen, fahren wir daher getrost und hoffnungsreich ab. Wir werden Carl wohl nicht mehr in New York, sondern wie es mir aus Julius' Brief (den ich durch Dich mit Carls in Straßburg noch richtig bekommen habe) einleuchtet, in Louisville finden. Wir richten unseren Weg sogleich von New York nach Louisville zu ihnen. Dort wird Fritz sich den Umständen nach sogleich mit Carl vereinigen und bei ihm die ersten Angriffe im Schiffbau nehmen. Unsere dortigen Mittel werden ergeben, ob wir entweder in der Gegend von Louiville zusammen bleiben oder ob wir zusammen weiter ins Innere an einem schiffbaren Fluß uns eine Pflanzung erwerben, an der wir teilweise unsere Früchte bauen sowie Schiffe zimmern. - Du siehst, daß der Plan wohl ein sehr einfacher und doch vielversprechender ist. Die Kenntnisse der beiden, Fritz und Carl, ergänzen sich wie Kopf und Hand, nicht wahr? Und die sanfte Ruhe von Fritz wird aus unserem braven Carl den ausgezeichnetsten Menschen machen. Inwiefern wir uns nun auch mit Julius verbünden werden, müßten die näheren Umstände ergeben. Ob der in unserer unmittelbaren Nähe eine zweite Pflanzstätte erkürt und die zum Empfang unseres Mütterchens und unserer Schwestern bereitet, das wollen wir sehen. Das sage ich Dir nur liebe Mutter, laß Dir nichts abgehen - und wenn Du Dir nur einige 100 Taler aus dem alten Wust herausgezogen hast, so laß alles im Stich und komm uns über Bremen nach. Diese Tour ist nämlich viel billiger, als wir es über Havre machen mußten. So schmerzlich mir auch der Verlust unserer vielen Lieblingsgegenstände ist, aber in der Aussicht auf gesündere Lebensluft ohne die verpestete Nähe der fürstlichen Speichellecker und Henkersknechte habe ich mir jetzt all den europäischen Ärger aus dem Sinn geschlagen. Das sage ich Dir, in Deutschland zerfleischen sie sich noch allesamt vor Neid, Dieberei, Wut usw. Es folgen uns gewiß noch viele...   
Das einzigste, das mir die schlimme Reise etwas erleichtert, istdaß wir in Gesellschaft von Bekannten aus dem Feldzuge her reisen. Unter andern kam vor einigen Tagen unser treuer Bursche, Stelzner genannt, der uns erklarte, wenn wir fortgingen, bliebe er auch nicht. Er wolle mit nach Amerika und zwar mit 200 Talern, die ihm als sein Kindeserbteil ausbezahlt sind ...

Der ursprüngliche Plan, »den Weg sogleich von New York nach Louisville« zu nehmen, wie Mathilde Anneke an ihre Mutter kurz vor der Abreise geschrieben hatte, wurde fallengelassen; jedenfalls stammen die ersten vorliegenden Nachrichten aus Wisconsin, wohin sie, laut Mathildens    Beschreibung an Franziska Hammacher, nach einer furchtbar schwerlichen Reise von neun Tagen von New York gleich gekommen war. Eine Erklärung für die Änderung der Pläne geht aus den Schriften nicht hervor. Vielleicht aber hatten sich die Annekes nach dem Rat gerichtet, den sie von einem Kenner amerikanischer Verhältnisse eingeholt hatten. Der folgende Brief, von Wilhelm Weitling geschrieben, rät gegen eine Niederlassung in Louisville und gibt gleichzeitig einen Eindruck davon, welche Beurteilung Mathilde Anneke unter den bedeutenden Männern ihrer Zeit gefunden hatte.

Ohne Datum- und Ortsangabe,
Vermutlich aus New York,
Herbst 1849

Liebe Frau Anneke!
Noch einige Zeilen. Wenn aus dem Anerbieten in Louisville nichts  werden sollte, so lassen Sie es sich darum nicht leid sein. Louisville ist in einem Sklaven-Staat, und ich habe in solchen Staaten Dinge mit angehört und gesehen, daß ich mir sagen mußte: Nein, unter solchen Zuständen willst du lieber in New York im Elende sein als hier im Wohlstande. Dazu kommt noch, daß man den Teil des Wahlhumbugs und der amerikanischen Partei-Publizisten los haben muß, um dort am rechten Amte zu sein. Der Mann wenigstens, der Sie eingeladen, scheint Ihre Grundsätze entweder gar nicht zu kennen, oder er ist wirklich ein Sozialreformer, was ich nicht glaube.
Aber was sonst tun? Ja wenn nicht gleich für eine ganze Familie gesorgt, Herreise, Einrichtung dgl. bestritten und für die Zukunft einigermaßen gesorgt werden müßte, dann wäre leicht zu raten, denke, Anneke könnte wohl leicht in der U St. Survey Office eine Anstellung finden. Als Publizist aufzutreten würde er doch wohl in Amerika nicht wollen, wenigstens nicht in das Risiko der Gründung einer eigenen Zeitung sich einlassen. Sie könnten das eher. Aber auch nicht so leicht als nur durch bedeutende Unterstützung anderer, da auch Ihre Kraft durch die Sorge für Ihre Kinder gelähmt werden muß. Ihr Geist verlangt eine freiere Bewegung. Aber Ihr Herz hat ihn in Grenzen gesperrt. Sie sind Weib und Mutter und haben einen guten Ruf. Sie können nicht, wie Rousseau, die Kinder der Sorge fremder Leute überlassen, ohne dadurch Ihren Wirkungskreis zu schmälern. Anneke hingegen hat eine weniger schwierige Stellung - denn er hatte ja hier sozusagen alle Hoffnung aufgegeben und wird es ihm auch darum leichter werden, sich dort heimisch zu fühlen. Ich an seiner Stelle würde mich mit Ackerbau, Gärtnerei, Jagd und dgl. dort beschäftigen. Der Vetter wird ihm dazu die nötigen Mittel schon verschaffen. Vorläufig rate ich  Ihnen  sehr  wenig d. i. Geduld. Überwintern Sie mit Geduld. Geht das aber nicht - nun so werden Sie ja Mittel finden, durch die Hindernisse zu brechen, und diese Mittel sind auch die besten. Fremde Ratschläge ohne Mittel, ohne Sicherheit und Geld sind hier nichts wert. Es ist schade, daß Sie nicht hier bleiben konnten, ja! Aber nun Sie fort sind, ist der Schaden so leicht nicht wieder gutzumachen. Sie müssen dabei jedenfalls das Beste tun und jede Verantwortlichkeit auf sich nehmen. Noch gebe ich Ihnen den Rat, sich vorzunehmen, mir in meinem oder uns in unserem Unternehmen behülflich zu sein. Alle Monat ein niedliches Artikelchen im Geiste der in den beigesandten Blättern vertretenen Prinzipien. Das wird Sie etwas beschäftigen und im Publikum in Erinnerung bringen oder Sie bekannt machen. So ganz kurze soziale Novellen oder Korrespondenten ist noch besser. Na wie Sie wollen.
Gruß und Handschlag
Ihr Weitling

Weitling redigierte seine eigene Zeitung, Republik der Arbeiter mit dem Untertitel »Centralblatt für die Verbrüderung der Arbeiter«.  Genaugenommen war Wilhelm  Weitling kein Achtundvierziger. Er war fast ein Jahrzehnt früher nach Amerika gekommen, nachdem er sich in Frankreich an sozialistischen Aufständen beteiligt hatte, eingesperrt wurde und flüchten mußte. Im Jahre 1847 kehrte er nach Hause zurück, um an der Revolution mitzuwirken, wurde aber ausgewiesen und entschied sich wieder für die Vereinigten Staaten. Dem Geiste nach gehörte Weitling zu denselben Gesinnungsgenossen, die an der Revolution von 1848/49 teilgenommen hatten und anschließend nach Amerika flüchteten.
Dieser Feldzug, der letzte der deutschen Revolution von 1848/49, trug schon von Anbeginn die Zeichen des Mißerfolges an sich. Wie Mathilde Franziska Anneke in ihren Memoiren über die Müßigen klagt, die sich scheuen, hinter dem Ofen hervorzukriechen, so berichtet Carl Schurz in seinen Lebenserinnerungen, »daß die Leute, die wir vor uns hatten, nicht zu einer entschlossenen Tat angefeuert werden konnten«. Das Revolutionsfieber war am Verebben. Und das hatte seine guten Gründe. Veit Valentin bezeichnet die Revolution von 1848/49 als humane Revolution und darum als halbe Revolution. Und darin sieht er die Ursache ihres Fehlschlages.  Überzeugender  stellt Hamerow die Gründe hierfür dar.[18] Er sieht in der Revolution nicht nur ideologische Kräfte am Werk, sondern vor allem wirtschaftliche Ursachen, die sich aus dem Übergang von einer vorwiegend agrarischen Ökonomie zum industriellen Kapitalismus ergaben. Während die bürgerlichen Schichten, vertreten durch ihre Parlamentarier, gegen die Privilegien der Adeligen und Gutsbesitzer fochten, ging es bei den niedrigeren Klassen um einen Kampf auf Leben und Tod gegen die Folgen der Industrialisation. Und das Verhalten dieser Klassen im politischen Geschehen zeigte sich im Endkampf als entscheidender Faktor. Die Ideen der Demokraten, auf die die breiten Volksmassen ihre Hoffnung gesetzt hatten, ließen sich nicht in praktische Maßnahmen umsetzen. Während das Frankfurter Parlament, einer akademischen Fakultätssitzung gleich, endlos über den Wortlaut neuer Gesetze verhandelte, ging die politisch günstige Stunde verloren. Die Reaktion nützte die Zeit und bot den Bauern und Arbeitern kleine, aber reale Konzessionen. Und schließlich erlagen die neuen, demokratischen Ideen nicht nur der wirtschaftlichen Realität, sondern auch dem Mythos des Königtums, das unter dem Motto »Mit Gott für König und Vaterland« den Untertanengeist der Massen befriedigte.
Als am 23. Juli 1849 die Festung Rastatt fiel, fiel das letzte Bollwerk der Demokratie. Damit hatte die Revolution und das Reich demokratischer Ideale in Deutschland für lange Zeit ein Ende gefunden.
Erst nach einem Jahrhundert von Kriegen und Verfolgungen wurden jene Programmpunkte der Revolutionäre zur Grundlage des menschlichen Zusammenlebens in einem neuen Staat. Die Forderungen der Revolutionäre in Baden, die damals als unerreichbar galten, sind unserer Zeit zur Selbstverständlichkeit geworden. In großen Lettern ist an den Wänden des Archives in Rastatt zu lesen:

  • Preßfreiheit
    Gewissens- und Lehrfreiheit
    persönliche Freiheit
    Vertretung des Volkes beim Deutschen Bund
    volkstümliche Wehrverfassung
    gerechte Besteuerung
    Ausgleichung des Mißverhältnisses zwischen Kapital und Arbeit
    volkstümliche Staatsverwaltung
    Abschaffung aller Vorrechte.
    »... und aus den 1849 unterlegenen politischen Gruppen entstehen die Parteien, die im 20. Jahrhundert die Demokratie schaffen und damit die Forderungen der Revolution erfüllen.«[19]

Auch die Produkte künstlerischer Leistung, die die Begeisterung jener Tage festhielten, blieben bewahrt. Wir besitzen sie in den Dichtungen der revolutionären Poeten und in den Darstellungen der Maler und Bildhauer. Für unseren Zusammenhang ist von besonderem Interesse, was in einer Notiz des Milwaukee Turner zufällig erwähnt wird: Der berühmte französische Maler Dore, der Mathilde Franziska Anneke hoch zu Roß, an der Spitze der Rebellen in die Festung Rastatt einziehen sah, bestand darauf, daß diese herrliche Schönheit ihm als Modell dienen solle. Das Gemälde, Die Göttin der Freiheit, wurde später international bekannt. Heute schmückt es die Galerie Luxembourg in Paris. Kopien dieses Bildes konnten in nahezu jedem Arbeiterhaus in Deutschland gefunden werden. Bei uns zu Hause besaß mein Vater eine große Reproduktion, auf die er sehr stolz war. Das Bild hing in unserer >guten Stube< neben  einer Radierung Lincolns, dem Befreier der Sklaven. Die Freiheitsgöttin war als eine große, stattliche Schönheit mit fliegendem schwarzen Haar, in einem griechischen Gewande dargestellt, wie sie zwischen den Proletariern, Männern, Frauen und Kindern einhergeht und den Lorbeerkranz, das Symbol der Freiheit, voranträgt.[20]
Doch damals waren für Deutschland Freiheit und Gleichheit - die Demokratie - in noch weite Fernen gerückt. Die Idealisten, die den Standrechtskugeln entkommen konnten, retteten sich und ihre demokratischen Ideen an andere Ufer. Als »The Fortyeighters«, als »Achtundvierziger«, wurden sie auch in der neuen Heimat zu einem wichtigen Faktor im Ringen um politische und soziale Gleichberechtigung für alle.

Texttyp

Briefe